Legende vom Wirselsee

Die Legende vom Wirselsee

(wie man sie in der Baronie Rickenhausen erzählt)
Einst lebte der Korbflechter Grendemir in einer Hütte nahe des Dorfes Plückbach am Rande eines großen, dunklen Waldes, des Spechtswaldes, in der Baronie Rickenhausen. Grendemir ärgerte sich darüber, dass eine kleine, freche Blütenfee sich jedes Mal einen Spaß daraus machte, ihm Streiche zu spielen, wenn er den See, den die Dorfbewohner den Wirselsee nannten, im nahen Wald aufsuchte, um dort Wasser zu schöpfen. Dessen kristallklares Nass schmeckte so viel besser als das aus dem Bach hinter seinem Haus oder das aus dem Brunnen im Dorf, außerdem schien es ihn gesünder und jünger zu machen, und je öfter er davon trank, desto schlechter schmeckte ihm normales Wasser, bis zu dem Punkt, wo er solches gar nicht mehr hinunterbrachte, ohne sich zu übergeben.
Doch wann immer er den See aufsuchte, trampelte er achtlos über die schönen gelben, blauen und roten Blumen hinweg, die dort fast zu jeder Jahreszeit wuchsen und in denen die Blütenfee lebte, was Grendemir aber natürlich nicht wusste, denn er hatte wenig Augen für die Natur und war ein unfreundlicher, mürrischer Geselle, deswegen lebte er auch außerhalb von Plückbach, da die Leute dort möglichst wenig mit ihm zu tun haben wollten. Doch Körbe flechten, das konnte er gut, viel besser und schneller und billiger als andere seines Berufsstandes in Hottenbusch oder Ulmück, daher tolerierten die Dorfbewohner seine Anwesenheit zähneknirschend. Wann immer also Grendemir den See aufsuchte, weil seine Wasservorräte erschöpft waren, stahl die Fee, die übrigens Magyiffliantiarabjyellilanih hieß, was kein Mensch aussprechen könnte, weswegen wir sie fürderhin Magy nennen wollen, ihm Essen oder verwandelte mitgebrachten Schnaps in Apfelsaft oder machte ihm schlimmes Nasenjucken oder verwandelte seinen schönen Ledergürtel in einen Strick.

Da die "Streiche" Magys immer schlimmer zu werden schienen, ärgerte sich Grendemir irgendwann so sehr, dass er auf Rache sann, denn mittlerweile konnte er nichts mehr anderes trinken als das Wasser aus dem See - oder Schnaps, aber niemand kann allein von Schnaps leben, Zwerge vielleicht ausgenommen. Er entsann sich, dass tief im Wald die finstere Hexe Rankatrith leben sollte, über die die Dorfbewohner nur hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Doch wäre es dennoch möglich, mit dieser einen Handel einzugehen, dazu müsste man in einer Neumondnacht eine Lichtung im Wald aufsuchen, auf welcher eine große Steinplatte liege, die auf kleineren Steinen ruhe, fast wie ein Tisch. Wer auf dieser Platte ein paar Tropfen seines Blutes vergieße, so hieß es im Dorf, dem würde ein düstergrünes Licht erscheinen, welches ihn oder sie zur Hütte der Hexe führe.
Grendemir hatte wie jeder Mensch in der Umgebung Angst vor der Hexe, die selbst der Baron dieser Lande bisher nicht hatte vertreiben können. Doch als Grendemir nach einem weiteren Besuch beim See plötzlich bemerkte, dass er alle Haare am Körper verloren hatte und diese auch nach ein paar Tagen nicht mehr nachwuchsen, überwand er seine Angst - denn was würde die Fee ihm das nächste Mal antun? - und er machte sich am Abend auf in den Wald, denn es war just die Nacht des neuen Madamals angebrochen.

Es war nicht einfach, im Dunkeln, nur mit einer Fackel, den rechten Weg zu besagter Lichtung zu finden, aber Grendemirs Verzweiflung - oder etwas anderes - leitete ihn, und schließlich fand er die Lichtung mit der großen, schwarz im flackernden Fackellicht glänzenden Steinplatte. Fast verließ ihn da doch noch der Mut, allein der Gedanke, dass er bald wieder Wasser vom Wirselsee würde holen müssen, verhinderte, dass er die Flucht ergriff, denn auf der Lichtung war nicht das leiste Geräusch aus dem Wald ringsum zu hören, und er fühlte sich von tausend Augen beobachtet.
Grendemir riss sich also zusammen und legte die Fackel auf den Steintisch, dann zückte er sein Messer und schnitt sich in die Handfläche. Dunkel quoll sein Blut aus der Faust und tropfte auf den schwarzen Stein, und siehe da, schon nach dem dritten Tropfen erhob sich aus der Mitte der Platte ein düstergrüner Funke, steig in die Höhe und bewegte sich dann auf den Rand der Lichtung zu, dorthin, wo im Licht der Fackel das Unterholz am dichtesten zu sein schien. Grendemirs Herz pochte laut und schmerzhaft, doch er nahm die Fackel, deren Licht schwächer geworden zu sein schien, wieder auf und folgte dem Funken. Und wie durch Zauberei wichen die Äste und Zweige der Büsche und Bäume vor ihm zur Seite, als er den Rand der Lichtung erreichte.

Grendemir wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, doch nach einem längeren Marsch durch den dunklen, kalten, von Nebelschwaden durchzogenen Wald kam er auf eine weitere Lichtung, und dort stand eine einzelne Hütte, Licht drang schwach aus einem einzigen Fenster, Rauch steig aus dem Dach. Der grünliche Funke verging und die Tür der Hütte öffnete sich wie von Geisterhand. Seine Füße trugen Grendemir fast gegen seinen Willen in das Innere. Dort saß die Hexe Rankatrith, denn wer sollte es sonst sein, auf einem Schaukelstuhl und rührte mit einem großen Löffel beiläufig in einem Topf, der über einem Feuer hing.

Grendemir verschlug es die Sprache beim Anblick der Hexe, deren Haar und Augen wie Kohle waren, doch die Kohle ihrer Augen brannte, als sie ihn ansah. Doch der Korbflechter musste gar nichts sagen, die Hexe schien schon zu wissen, wieso er hier war. Mit einem schwarz lackierten Fingernagel deutete sie auf ein kleines, schiefes Tischchen neben der Tür und sprach mit einer Stimme, die wie Glockenhall aus einem tiefen Brunnen klang: "Nimm das Säckchen dort und streue das Pulver darin über die Blütenfee, wenn du das nächste mal am Wirselsee bist. Das wird sie flugunfähig machen und betäuben." Ihr langer Zeigefinder wanderte weiter und deutete auf einen kleinen, silbernen Käfig, welcher auf dem Fensterbrett stand. "Dann sperre die Fee in diesen Käfig und bringe sie in der Nacht zur Lichtung mit dem steinernen Tisch. Stelle den Käfig darauf und geh. Das ist dein Teil des Handels." Am Morgen fand sich Grendemir in seinem Bett wieder, er hatte keine Erinnerung mehr daran, wie er zurück gekommen war. Doch auf dem Schränkchen neben seinem Bett lagen der Beutel und der silberne Käfig, also konnte seine nächtliche Wanderung kein Traum gewesen sein! Der Schrecken der Begegnung mit der unheimlichen Hexe steckte ihm noch in den Knochen, doch er spürte, dass er nun keine Wahl mehr hatte. Er mochte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn er seinen Teil des Handels nicht erfüllte, mal ganz abgesehen davon, dass er das Wasser des Wirselsees brauchte. Also beschloss er, die Sache hinter sich zu bringen. Nach einem lustlosen Frühstück packte er die Gaben der Hexe in einen Sack und machte sich auf zum See.

Es war ein schöner, sonniger Tag, der Weg zum See war ein angenehmer Spaziergang - oder wäre es gewesen, wenn es Grendemir nicht so klamm ums Herz gewesen wäre. So konnte er es kaum erwarten, dass alles vorbei war. Am Ufer des Sees angekommen - wieder hatte er achtlos einige der schönen Blumen, die dort wuchsen, niedergetrampelt - holte er den Beutel mit dem Pulver hervor, dann nahm er den großen Wasserschlauch ab, den er an einem Riemen um die Schulter trug, entkorkte ihn und tauchte ihn in das Wasser, wobei er sich verstohlen umsah. Und tatsächlich, kaum hatte sich der Schlauch ein wenig gefüllt, schoss die zarte Gestalt Magys aus der Sonne auf ihn zu, das kleine, hübsche Gesichtchen wütend verzogen, die Arme erhoben. Aber Grendemir war vorbereitet, er packte den von ihm vorher bereits geöffneten Beutel mit dem Pulver der Hexe an einem Zipfel und schleuderte ihn mit einem lauten Schrei der Fee entgegen. Eine Wolke schwarzen Staubes hüllte diese da plötzlich ein, fast schien es, als verdunkele diese sogar die Sonne, dann fiel Magy wie ein Stein ins Gras. Grendemir holte nun auch den Käfig aus seinem Sack, steckte die leblose Fee hinein und füllte vollends seinen Wasserschlauch, dann hastete er nach Hause.
Den ganzen Tag war er rastlos und konnte sich auf nichts konzentrieren. Welche Arbeit er auch anfing, nichts gelang, auch der Korb für den Bauer Munzinger wurde ein schreckliches Machwerk, den er wieder auseinandernehmen musste. Als es endlich Abend wurde, packte er fast schon erleichtert den Sack mit dem Käfig und Magy darin und eine Fackel und machte sich auf den Weg in den Wald.

Diesmal schien es ihm fast schwerer zu fallen als beim ersten Mal, die Lichtung mit dem schwarzen Steintisch zu finden, doch schließlich, es musste schon nach Mitternacht sein, schaffte er es. Hastig packte er den Käfig aus und wollte ihn schon auf die Steinplatte stellen, da erkannte er, dass die Fee erwacht war. Doch sie sah elend und krank aus und hatte überall schwarze Punkte, ihre zarten Flügel muteten wie verwelkte Blätter an. Magy hatte noch nie mit Grendemir gesprochen, doch nun hörte er ein dünnes, schwaches Stimmchen. Fast gegen seinen Willen beugte er sich nach vorne, um Magy besser zu verstehen. Und da hörte er folgende Worte, welche trotz des elenden Zustands des kleinen Wesens fast wie Gesang klangen:

"Du hast mich gefangen,
aus bösem Verlangen.
Doch will ich verzeihen,
mehr Leben dir leihen,
gibst du mich frei.
Der Hexe Gier
gilt dem Elixier
gewonnen aus Blut,
Funken und Glut,
zu ihrem Gedeih.
Ich bin die Quelle,
du der Geselle.
Sei einmal im Leben
dem Guten ergeben,
sonst ist es vorbei!"

Das kaum zu verstehende Flehen der zerbrechlichen Blütenfee rührte etwas in Grendemir an, von dem er selbst nicht gewusst hatte, dass es da war. Er zögerte, doch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, schoss plötzlich der düstergrüne Funken aus dem Tisch nach oben, nur war es diesmal kein bloßer Funken, sondern eine glosende Kugel aus schwarzgrünen Flammen, in welcher ein brennendes Stück Kohle gefangen war. Ein eisiger Schauder durchlief Grendemir vom Kopf bis in die Zehenspitzen, er fühlte einen Druck auf den Ohren und den Augen und fühlte sich, als würde sein Innerstes nach außen gekehrt. Da ergriff namenlose Panik den Korbflechter, er ließ den silbernen Käfig mit der zarten Blütenfee darin aus seiner Hand auf die schwarze Steinplatte fallen, der schrille Schrei des gefangenen Wesens ging ihm durch Mark und Bein, als er sich herumdrehte und floh, hinein in den dunklen Wald, ohne Fackel und ohne Ziel.

Die ganze Nacht rannte Grendemir so, Äste und Zweige peitschten durch sein Gesicht, zerrissen seine Kleidung, seine Füße verfingen sich in Wurzeln, immer wieder stürzte er zu Boden, doch namenloser Schrecken trieb ihn jedes Mal wieder hoch und weiter, immer weiter. Als der Morgen dämmerte, stolperte er zwischen den Bäumen heraus an das Ufer des Wirselsees und fiel unendlich erleichtert auf die Knie und dankte dem Schicksal für seine Rettung. Zerschunden, müde und geschwächt, wie er war, schöpfte er Wasser aus dem See und trank gierig, doch da spürte er ein Brennen und Stechen in der Kehle und den Eingeweiden und musste sich übergeben, immer wieder, bis er nur noch keuchend und röchelnd im Gras des Ufers lag. Und so lag er dort und starb, denn ohne die Blütenfee Magyiffliantiarabjyellilanih hatte das Wasser des Wirselsees seine heilende Wirkung verloren, und da Grendemir verlernt hatte, etwas anderes zu trinken, war dies sein Tod.

Als viele Tage später eine Dorfbewohnerin zufällig an die Stelle des Seeufers kam, wo Grendemir sein Leben ausgehaucht hatte, fand sie dort zu ihrer Überraschung einen kleinen Hügel vor, der über und über mit roten, blauen und gelben Blumen bewachsen war, den sie nie zuvor gesehen hatte, doch es zeigte sich keine Blütenfee, die zum Scherzen oder Lachen oder Singen aufgelegt gewesen wäre. Doch weil sie neugierig war und sich genau umsah, fand sie etwas anderes: Einen winzigen, silbernen Ring, der nicht einmal auf ihren kleinen Finger passte. Und dieser trug eine ebenso winzige Inschrift, welche die Frau auf wundersame Weise lesen konnte:

"Madamal auf Flügeln zur Kobra
Tau der Nacht in Silber
Morgen ohne Sonne ohne Auge
Spur der Tränen zur Verzweiflung
Teuer der Schlaf, Preis der Erlösung"

Die Dorfbewohnerin hat den Ring mitgenommen, auch wenn sie mit den Worten der Inschrift nichts anfangen kann, und seither wird der Ring in ihrer Familie vererbt. Wenn du, Reisender, einmal nach Plückbach in Rickenhausen kommst, vielleicht findest du dort ja jemanden, welcher einen winzigen silbernen Ring an einer Kette um den Hals trägt. Vielleicht hat derjenige oder diejenige dann eine Geschichte zu erzählen.