Im Tempel des Lux

Kapitel 5: Im Tempel des Lux

Cupida stand wieder in der Stadt, genau an der Stelle wo die Ruine des Praiostempels in Herzogenfurt stand. Doch wie zuvor stand hier ein anderes Gebäude. Es war breit angelegt und bestand aus lehm-braunen Wänden und unzähligen Türmchen, die kegelartig und spitz in den Himmel ragten. Es wirkte unsymmetrisch, dass es in der so geordneten Umgebung wie ein Fremdkörper wirkte. Nur ein kleiner Durchgang schien in diesem abweisenden Bau zu führen und genau dort stand sie davor. Erst jetzt bemerkte die Gärtnerin das Gewand mit Kapuze, das sie trug. Es war leicht und fein mit braunen Federn bestickt. Langsam echote es in ihren Gedanken, eine Stimme, die ihr sagte, einen Umhang zu tragen, der sie unsichtbar machte. Ein Geschenk von Tannenfels. Wieder fiel ihr der seltsame Mann auf, der nun wenige Schritte von ihr entfernt stand. Er hatte einen langen und gepflegten Bart, gehüllt in einer purpurfarbenen Robe, Goldschmuck an Fingern und Ohren und mit einer kegelartigen Kappe auf dem Kopf. Er schaute nur kurz zu ihr rüber … und sah durch sie hindurch. Ihr Blick wanderte wieder zum Eingang. Vorsichtig schritt sie hinein und fand sich in einem Gang wieder, der links und rechts abging. Eine Treppe vor ihr führte in die Tiefe.

Cupida war immer noch unsicher, auch und vor allem was den Mantel anging. Was man wohl mit ihr machen würde, wenn man sie hier entdeckte? Sie versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. War sie in dieser Welt schon einmal hier gewesen? Zögerlich betrat sie die Stufen hinunter in die Tiefe. Wenn sie hier einen Stab verschließen, dann werden sie dies wohl in einem Verlies machen - so würde es zumindest Cupida handhaben. Die Treppe windete sich in die Tiefe und endete vor einem purpurnen Vorhang, auf dem goldene Kronen und Kelche gestickt waren: Symbole der Macht! Die Luft war mit Weihrauch geschwängert, doch konnte Cupida nicht ausmachen, woher er kam. Hinter dem Vorhang eröffnete sich ihr eine Kammer, die an Wandhaken Roben beherbergte. Geradezu ging es in einen weiteren Raum, der beleuchtet war. Flackerndes Licht deutete auf Feuer hin. Cupida blieb stehen und lauschte in den Raum hinein. War sie allein? Und was für Roben hingen hier an der Wand. Sie atmete tief durch und versuchte, sich zu fokussieren. Die junge Gärtnerin war gekommen, um diesen Stab zu holen - sie würde ihn suchen, an sich nehmen und wieder verschwinden. Ohne sich von anderen Dingen ablenken zu lassen.

Als sie durch den Durchgang hindurchschlüpfte, fand sie sich Augenblicke später hockend hinter einer Statue wieder. Wie war sie hierhergekommen? Ein vorsichtiger Blick um die Ecke offenbarte Cupida, dass sie sich in einem großen Tempelraum befand. Weiße Capillare säumten die Halle, an deren Kopfende eine riesige Statue stand. Eine gesichtslose Gestalt saß auf einem Thron, der von vier goldenen Kelchen getragen wurde. Ein Schauer lief ihr den Rücken runter. Doch dann hörte sie Stimmen. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. “Meine Schwester Sumandena wird ohne den Stab der Tsatuara keine Bindung zu unserer Göttin haben. Sie wird fallen. Fordert eine Demonstration, wenn Jel-Horas die Stadt erreicht hat. Er wird sie als Ketzerin verbrennen lassen.
Sicherlich auch den Tempel. Bewahrt ihn also gut. Wenn ich dann mit meinen verbündeten Schwestern erscheine, werde ich dem Kaiser die Macht Tsatuaras zeigen. Mit deiner Hilfe, Rotulus, werden wir bald Macht über Stadt und Land haben. Unsere Götter Hand in Hand”, sagte die Frau. “Im Namen des güldenen Lux, du kannst mir vertrauen, Liandara. Doch mein Gott fordert einen Preis, 13 Goldmünzen”, sagte der Mann. Wieder flackerte die Umgebung um die Gärtnerin und sie war allein im Tempel. Zu Füßen des Gesichtslosen lag ein Stab. Cupida hatte es inzwischen aufgegeben, sich über das zu wundern, was ihr hier in dieser seltsamen Welt widerfuhr. Es war ein Traum … ja genau, das musste es sein! Dennoch verstand sich auch, dass sie an diesen Stab gelangen musste, um wieder nach Hause zu kommen. Und dieser Stab lag nur wenige Schritt von ihr entfernt am Boden. Doch wie sollte sie da ran kommen? Einfach hinlaufen konnte Cupida nicht, weshalb sie sich zurückhielt und abwartete.

Augenblicke später bemerkte Cupida, dass sie rannte, den Stab eng umschlungen. Ein Stab in Form einer Schlange, die an beiden Enden einen Kopf besaß. Sie erinnerte sich nun, dass sie diesen öfter in den Händen der Hohepriesterin der Tsatuara gesehen hatte … hatte sie? Noch immer in den verwirrenden Gedanken versetzt, sah sie nun endlich den Tempel der Hohen Mutter vor sich. War alles gerettet? Ein inneres Gefühl sagte ihr, dass das hier kein gutes Ende nehmen würde. Am Absatz der Tempeltreppen stand Tannenfels. Der Halbelf lächelte ihr zu. “Soll es hier enden? Oder möchtest du weiter gehen?”, hörte sie seine fragende Stimme, ohne dass er seine Lippen bewegt hätte. “Enden?”, fragte sie verwirrt. “Ist es denn das Ende? Was passiert jetzt mit dem Stab … und meiner Schwester und Sumudra … dings?”

“Die Dinge sind schon längst geschehen. Du bist die Wanderin in deinem Gedächtnis, Cupida. Doch kannst du ihre, deine, Geschichte weiter verfolgen. Doch wenn du erwachen möchtest, zurückkehren in dein Jetzt, so steht dir das frei.” Erst jetzt bemerkte sie, dass die Welt um sie herum erstarrt war. Die Hohepriesterin Sumandena stand oben an der Treppe und blickte sie hoffnungsvoll an. “Aber was hat das alles zu bedeuten?”, fragte die junge Frau. “Warum war ich hier?” Cupidas Blick ging zwischen Tannenfels und der Hohepriesterin hin und her. “Weil du da warst. Du bist schon sehr lange ein Teil dieses Ortes. Du wirst immer wieder geboren und bist das Gedächtnis der Lilien”, sagte die Stimme Tannenfels’. Die Welt flackerte wieder. Sie sah die Stadt in Flammen, niedergebrannt … und doch war sie wieder da. Anders, doch wieder erwacht. Die Hjaldingerin, die Thorwalerin, Kirkegard Sörensdottir sprach zu ihr: "Die Unendlichkeit und das Ewige sind das einzig Gewisse, Cupida." Dann verschwand die Welt in Dunkelheit.