Hirschjagd

Auf, auf! Zum fröhlichen Jagen...

Still und schwer lag die Nacht über Koschwacht. Der Ruf von Eule und Uhu durchschnitt bisweilen die Ruhe. Das Plätschern der nahen Bäche, tagsüber im Orchester des Waldes noch untergegangen, konnte nun laut und klar im Solo tönen. Nur waren kaum Zuhörer für das erfrischende Spiel des Wassers anwesend: Lediglich einige niedere Jagdknechte, einfache Bauern im Frondienst, drehten in reichlichem Abstand zum Jägerlager ihre Runden. Doch diese waren taub für die Schönheit und Eleganz, die dem akustischen Werk des Wassers innewohnte.
So lag die Nacht über der Koschwacht.
Manch einer schlief tief und fest, hieß die Gaben Borons mit weiten Armen willkommen. Andere schliefen vor schierer Aufregung und Angst nicht ganz so gut. Doch half es alles nichts: Ob schlafend oder nicht, alle miteinander wurden nach gefühlt viel zu kurzer Zeit vom hellen Ton des Hifthornes geweckt, in welches auf der Stelle das helle Geläut der Hundemeute einfiel.
Ehrfürchtig stand Aureus vor der Hütte der Jägersleut und spielte die alte Melodie „Auf zur Jagd, auf zum Tode!“, mit welcher schon seit jeher die Waidleute zur Jarlaksjagd und anderen bedeutsamen Jagden geweckt wurden. Kaum waren die ersten Töne verklungen, gesellte sich Barnabas zum Jagdmeister. Ebenso andächtig wie dieser erhob auch er sein Hifthorn und stimmte in das Spiel des Meisters mit ein. Sie spielten so lange, bis alle Jäger versammelt waren und ein jeder Waidgeselle gab der Melodie eine neue Kraft und Stimme mit seinem eigenen Horne bis zum Schluss das Lied laut tönte. Eine Strophe spielten sie so vereint, dann endete das Lied und die Jäger machten sich auf, ihre Arbeit zu verrichten: Im Schein des Madamals, welches die Nacht fast schon taghell erleuchtete, wurden die Pferde gesattelt und Bernbrecht, der Rüdemannn, brach zusammen mit dem Knaben Madawin zur Vorsuche auf.
Aureus indes hielt Zwiesprache mit dem Führer der Treiberwehr, dem Bauern Rodiak. Doch es hatte in der Nacht keine Beobachtungen gegeben, welche eine Anpassung des aufgestellten Schlachtplanes notwendig mache würde. So wünschten sich die beiden Männer eine gute Jagd und einen guten Tod, ehe beide zu ihrem Werk zurückkehrten. Mittlerweile vertrieb auch schon die Dämmerung die Schatten, welche zuvor im Schein des Madamals geworfen wurden. Die blaue Stunde war angebrochen und nun war es an der Zeit, die Herrschaft zu wecken. Dieses gebührte dem Jagdmeister und dem ältesten Waidgesellen, während der Rest der Waidleute die Pferde hielt.

Nun, da das Hohe Wecken erschallte, erhob sich die Edle von Bilgraten von ihrem Lager. Hellwach. Mit ruhiger, ja beinahe andächtiger Geste benetzte sie sich das Gesicht mit klarem Wasser. Alles Weitere wurde getan und vollzogen wie bei einem Ritual: Sie stand aufrecht, atmete einmal tief durch, während ihr das Wasser vom Kinn tropfte. In Gedanken wandte sie sich an ihre Herrin mit jener Bitte, welche bereits ihre Mutter vor diesen Jagden an die Sanftmütige gerichtet hatte: „Gnädige Herrin Ifirn. Ich bitte dich, wenn ein Opfer von meinen Jägern gefordert wird, so möge der Grimme es schnell geschehen lassen. Und jede Qual, die mit dieser Bitte fortgenommen wird, werde ich am Ende meines Lebens gerne selbst tragen, wenn es dem Grimmen gefällt!“
Dass dieser fromme Wunsch mehr war als nur ein Wunsch, konnte Leuina selbst bezeugen: Auf den Jagden ihrer Mutter hatte niemals ein Jäger oder Gast übermäßig lange auf den Tod warten müssen. Doch ihr eigenes Sterben hatte sich über Monate gezogen, bis sie endlich am Wundfieber den Tod erfahren hatte.
Noch einmal atmete sie tief durch. Was hatte Aureus immer gesagt? „Ignoriere den Tod nicht, der neben dir reitet – dann macht er dir nur Angst. Aber du musst ihn auch nicht immerzu anstarren...“ So kleidete sie sich an, legte ihre lederne Brustplatte mit dem Familienwappen an und gürtete ihr Schwert.
Und erneut ein tiefes Durchatmen. Mit den Fingern tippte sie sich an die Schläfe, dem Heiligen zum Gruße, und schlug dann den Vorhang beiseite, der ihre Schlafstatt von den anderen trennte, und trat hinaus.

Der Edle von Wildenberg hatte die Nacht über gewacht. Ob dies eine so gute Idee gewesen war, er konnte es selbst nicht sagen. Aber er hatte beim besten Willen nicht einschlafen können und ehe er durch sein beständiges Hin- und Herwälzen noch jemanden weckte, hatte er sich hinausgeschlichen und sich, die Jagdmontur bereits übergeworfen, abseits des Lagerplatzes niedergesetzt, den alten Sauspieß des Vaters im Schoß, den Blick in den Wald gerichtet.
Mehrmals hatte er Bewegungen im Walde gesichtet und mit angehaltenem Atem ausgeharrt, doch das, worauf er tief in seinem Inneren gehofft, selbst wenn er sich dies niemals zugestehen würde, hatte sich nicht gezeigt.
Erst zum Klang der Hifthörner hatte er sich aufgerichtet, die halbtauben Glieder durch kräftiges Recken dem Schlaf entzogen und, den Frieden der nächtlichen Stille mitführend, seinen Weg zurück vor das Jägerlager gefunden, die Augen ein wenig umschattet, aber eine tiefe Ruhe in Antlitz und Gedanken.

Biora hatte sich nach den wenigen Stunden Schlaf (waren es drei gewesen? Oder gar noch weniger?) mit schierer Willensanstrengung von ihrem Lager hochgequält. Ihre Schulter pochte noch immer in dumpfem Schmerz. Tar'anam war schweigend an ihre Seite getreten und hatte ihr geholfen, den geliehenen Brustharnisch anzulegen, denn selbst wäre sie dazu kaum in der Lage gewesen. „Oh Firun, ich hoffe, Du hast einen guten Grund, mich noch vor der Jagd halb mit Kampfunfähigkeit zu schlagen,“ sandte sie ein kurzes, stummes Stoßgebet gen Alveran, wobei sie mehr Inbrunst hineinlegte, als es die reine Wortwahl hätte vermuten lassen, hätte sie einen menschlichen Zuhörer gehabt. Zum Glück war nicht ihre Schwerthand behindert, doch das Halten der Armbrust würde nicht einfach werden.
Doch schließlich war Biora endlich gerüstet, hatte Yidariwin gegürtet und die Armbrust auf das Pferd gespannt und harrte dem Fortgang der Nacht.

Als Flussgardist war es Anselm gewohnt, gelegentlich mit wenig Schlaf auszukommen. Allerdings wollte ihn Bishdariel in dieser Nacht überhaupt nicht erhören, und so schälte er sich nach dem Wecksignal mühsam aus der Schlafstatt. Was nur hatte er sich gedacht? Wieso nur trieb er sich hier im nördlichen Gratenfels herum? Hätte er nicht allen Anstand beiseite schieben und in Elenvina bei Lioba bleiben können? Zwar war Anselm inzwischen überzeugt, dass seine Schreckensvision während der Messe nicht vom Grimmen Jäger gesandt war, sondern von seiner Sehnsucht nach ihr rührte, doch das machte es nicht erträglicher. Er sandte ein Stoßgebet zum Wintergott, sein Herz zu verschließen, solange die Jagd als heiliger Dienst zu seinen Ehren währte, doch fürchtete er, dass der Schmerz hinterher nur umso stärker gegen ihn branden würde.
So kleidete und rüstete sich der Hauptmann, prüfte noch einmal den Mechanismus seiner Armbrust und trat hinaus zu den anderen und den Pferden.

Als die Hörner erschallten erhob sich Garobald von seinem Lager. Er war müde, hatte er diese Nacht doch kaum Schlaf gefunden. Zu sehr beschäftigte ihn die Vision während dem Firunsegen. Um munter zu werden klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann wusch er sich und zog sich an. Zuletzt legte er den geliehenen Harnisch an, gürtete das Jagdschwert und nahm sein Bündel auf. Der Edle warf noch einen letzten Blick auf den Zweihänder, unschlüssig ob er ihn nicht doch mitnehmen sollte. Den Kopf schüttelnd nahm Garobald von diesem Ansinnen Abstand und ging nach draußen, sein Pferd satteln.

Kurz war die Nacht, und durchsetzt mit Träumen – und dennoch erwachte Lucrann mit einer seltsamen Mischung aus Erholung und Anspannung. Nach einem kurzen Gebet zu dem Schweigsamen kleidete er sich an, rüstete sich und kümmerte sich um sein Pferd, von dessen Wohlbefinden ein guter Teil seines Jagderfolges abhängen würde – von seiner eigenen Gesundheit im Fall der Fälle ganz zu schweigen. Interessiert beschnupperte der Rapphengst seinen Reiter, neugierig, was dieser Aufbruch zu nachtschlafender Zeit zu bedeuten habe, aber weder über Gebühr überrascht noch beunruhigt. Dem schwarzen Konya schien das Procedere nicht über Gebühr fremd und mit gespitzten Ohren wartete er auf die Dinge, die ihm da begegnen sollten.

“Was für eine Nacht!“, waren die ersten Gedanken die dem Vogt durch den Kopf gingen als er die Hörner schallen hörte. Er konnte nicht genau sagen ob es nun die schmerzende Nase oder die nächtliche Unruhe der anderen Jagdgäste war die ihn so schlecht schlafen gelassen hatten. Den Schlaf aus den Augen reibend begann er langsam, mit allem was seiner Sicht dazu gehörte, sich für die Jagd zu recht zu machen. Bei einigen günstigen Luftzügen boten die Vorhänge gelegentlich einen Blick auf das Nachtlager der anderen Gäste und so konnte er, wohl eher unbeabsichtigt aus dem Augenwinkel, das ankleiden der Baronin von Rickenhausen verfolgen. Da Biora aber wohl etwas früher dem Nachtlager entstiegen und bereits beinahe fertig bekleidet war, gab es wenig Anzügliches an der Situation. Bevor sich Melcher auf den Weg zu seinem Pferd machte, kramte er aus seinem Gepäck einen kleinen Beutel mit Gulmondblättern und schob sich einige davon in den Mund. Nach so einer Nacht und vor so einer Jagd sollte man lieber wach sein, befand er. Mit der schweren Armbrust über der Schulter trat er nun aus der Hütte, bevor er jedoch sein treues Pferd bestieg, spannte er die Armbrust am Boden ohne einen Bolzen einzulegen.

Nachdem alle Gäste versammelt waren, richtete Leuina ein letztes Wort an diese:
„Vor dem Herrn Firun gebe ich als Schirmherrin des Wildes auf diesem Lande zur Jagd beim Beritt frei: Vom Rehwild die Böcke, vom Schwarzwild reife Keiler, Überläuferkeiler, Überläuferbachen, so nicht führend, und Frischlinge. Vom Rotwild sollen allein die Spießer bejagt werden!“
Es mochte den Gästen auffallen, dass im Gegensatz zum Vortage eine sehr ernste Stimmung von den Jägern und der Gastgeberin Besitz ergriffen hatte. Es wurde nicht gescherzt und nicht gelacht, nicht einmal gelächelt. Selbst Aureus schaffte es, noch finsterer als sonst zu schauen und schien jeden Gast mit dem Blick dahinstrecken zu wollen, während seine Edle ihre kleine Ansprache hielt.
„Wo es das Gelände erlaubt, werden wir in Doppelreihenkolonne reiten, sonst in einfacher Kolonne. Vorweg werden Seine Hochgeboren von Rabenstein, Jagdmeister von Mauser und ich selbst reiten – wir dürfen von niemandem überholt werden. Den Abschluss bildet Marisya, welche selbst niemanden überholen darf. Bögen und Speere sind frei nach dem Signal ‚Jagd auf!“. Nach dem Signal „Wild in Ruh’!“ wird kein Wild mehr angegangen, außer aus Hegegründen. Die Jagd endet nach dem Streckelegen und dem Signal „Jagd vorbei, grimmer Jäger und wir leben noch!“. Auf dann, Waidmannsheil!“ ---


-- Main.KennyS - 30 Jun 2014