Herbstgeister

Erzählung aus der Lichtkarz
(gehört in Nord-Gratenfels; Ursprung unbekannt)


Wenn im Herbst die Tage kürzer und kürzer werden, die Bäume ihre dürren Astfinger gen Himmel strecken und ein jeder froh ist um ein bißchen Licht, ein bißchen Wärme, ist die Zeit der Herbstgeister gekommen. Überall funkeln nun, wenn es dunkel ist, ihre Glutmäuler und flackernden Augen. Sie stecken und stehen auf Zäunen, auf Gemarkungssteinen, in Türeingängen, vor Fenstern, an Stalltoren, manche gar an Hausgiebeln.

Natürlich wissen wir alle, daß sie nicht mehr sind als ausgehöhlte Rüben oder Kürbisse, löchrige Töpfe oder alte Bienenbeuten, allenfalls hohle Tierschädel, illuminiert von Kienspänen, Talglichtern, glühenden Kohlen, seltener Öllämpchen oder echten Kerzen. Manche lachen einen an: 'Komm, wärm dich an mir!' Die meisten blicken grimmig, blecken spitze Zähne und ängstigen nicht nur Kinder.

In manchen Familien hält sich noch der Brauch, einen fertigen Herbstgeist im nächsten Tempel segnen zu lassen oder doch wenigstens ein Praiosgebet darüber zu sprechen, bevor sie das erste Mal eine Flamme darin entzünden. "Damit nicht der Runkelmaa reinfahren kann!", erklären dann die Großmutter oder der Ähne ernst, aber die Jüngeren lachen nur darüber. "Runkelmaa, komm mir nicht nah!", singen sie spottend, "Runkelmaa, faß mich nicht aa!"

Auch ich habe gespottet und gelacht ...

Dann hatte ich einmal, es war schon spät im Herbst, etwas ins Nachbardorf zu bringen. Wie das so ist: 'Bleib noch, das Apfelbrot kommt grad' aus dem Ofen!' – 'Komm rein, wir haben heißen Most aufgesetzt!' – 'Wart, ich muß dir was zeigen!' So wurde es Nachmittag, die Dämmerung kam, und als ich mich endlich auf den Heimweg machte, war es Nacht.

Der Weg ist schwer zu verfehlen, ohnehin kannte ich ihn gut und hatte sogar ein Windlicht mit Unschlittkerze mitbekommen. So wurde mir erst ein bißchen bang, als es das Stück durch den Schweinehau ging und an dem Steinmal vorbei, wo vor nicht mal fünfzig Jahren die Wildhüterin ermordet worden sein soll. Mein Licht ließ das Dunkel des Waldes noch dunkler erscheinen, Astlöcher erschienen wie Fratzen, Schatten duckten sich weg – was war ich erleichtert, als ich vor mir weitere Lichter sah, von anderen späten Wanderern, vielleicht schon von den ersten Häusern des Dorfes!

Seltsam war nur, daß sie sich so gar nicht an den Weg zu halten schienen. Außerdem kamen nach dem Schweinehau ja noch heckenumsäumte Felder und der Eschenbühl, bevor man überhaupt freien Blick aufs Dorf bekam. Erst da fielen mir die Herbstgeister ein. Wieder Erleichterung! Ich lachte sogar vor mich hin, über den Einfall, sie schon so weit draußen auf die Zäune zu stecken.

Oder in Sträucher und Bäume zu hängen, wo jeder Lufhauch sie wackeln und tanzen ließ? Warum so viele? Vier, fünf links des Wegs, zwei, drei, nein, mehr auf der rechten Seite! Grausige Fratzen mit spitzzahnigen Mäulern, zu Schädeln geformte Rüben, aus deren Augen und Nasen Funken stoben, ein brennender Bienenkorb, dessen unterer Rand wie ein Kiefer auf und zu klappte. – Runkelmaa, komm mir nicht nah ...!

Flammen loderten in den Köpfen, heller und heißer als jede Kerze. Ein Etwas mit lodernden Augen, qualmenden Nüstern und feurigem Schlund fuhr auf mich zu, entriß mir das Windlicht. Rot glühende Löcher, Spalten, Rachen tanzten um mich herum, kleinere, größere, aufklappend, zuschnappend – Runkelmaa, faß mich nicht aa!

Ich entkam, rennend, schreiend, um mich schlagend. Das halbe Dorf kam angerannt, jemand zerrte mich zum Brunnen, schüttete mir Wasser über den Kopf. – Als ich wieder zu mir kam, waren meine Haare versengt, ich hatte Brandwunden im Gesicht und an den Händen, Brandlöcher in den Kleidern.

Von den Herbstgeistern des Dorfes fand man am Morgen nur verkohlte Klumpen und aschene Schemen, als sei eine Feuersbrunst über sie hinweg gegangen. Nur zwei saßen unversehrt, wo man sie am Vorabend hingesetzt hatte: beide waren gesegnet und gefeiht worden.

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(C) fs, 12/2023