Heimkehr

Burg Tannwirk, Baronie Witzichenberg

Peraine 1046 BF

Liliane Eberwulf von Tannwirk, Ziehmutter der Baronin Melinde, schritt gerade die Treppe des Palas hinab, als sie am Tor einen Reiter sah, der von den Wachen angehalten worden war. Sie kniff die Augen zusammen, um die Gestalt besser zu sehen. Eigentlich kannte sie den Fremden nicht, aber in ihrem Geist stieg eine Erinnerung auf. „Kann es sein? Irre ich mich?“, murmelte sie, während sie weiter die Treppe hinunter ging. Sie legte die Hand auf die Brüstung, um nicht zu stolpern, ließ sie doch den Mann am Tor nicht aus den Augen. Unten angekommen, ging sie stracks zum Burgtor.

Einer der beiden Wächter hatte sich umgewandt, um im Palas zu fragen, ob er den Gast vorlassen dürfe. Er blieb vor Liliane, die auch das Amt der Haushofmeisterin innehatte, stehen, aber sie beachtete den Mann gar nicht und rannte schon fast auf den Ankömmling zu. „Bist Du das? Bist Du das wirklich? Nach all den Jahren?“ Ihrer Stimme war anzuhören, wie tief bewegt sie war.

Der Reiter blickte auf und sah sie an. „Bist Du das, Liliane?“ „Ernbrecht? Mein Bruder?“ Der Mann stieg langsam ab. „Liliane! Du bist es!“ Er ging auf sie zu, um sie in die Arme zu schließen. Liliane ließ es in ihrer Verwirrung zu, doch dann schob sie ihn von sich. „Was willst Du hier?“ „Ich komme heim, Liliane.“ „Nachdem Du 50 Götterläufe fort warst? Ohne ein Wort, einen Brief oder irgendeine andere Nachricht? Wir glaubten schon lange nicht mehr, Dich noch einmal wieder zu sehen. Wussten nicht, ob Du unter den Lebenden weilst oder in Borons Hallen eingekehrt bist. Und jetzt…“ Die alte Frau rang nach Atem. „Und jetzt tauchst Du einfach wieder auf, als wäre nichts gewesen!“ Sie rang um Fassung. „Bitte versteh‘ doch…“, flehte ihr Bruder. „Halt den Mund!“, wies ihn Liliane mit ihrer gewohnten energischen Art zurecht und Ernbrecht schloss umgehend den Mund. Liliane wandte sich an den Gardisten: „Das Pferd in den Stall und erstmal zu niemand ein Wort!“ Der Gardist nickte und folgte ihrer Anweisung. Ernbrecht nahm seine Satteltaschen und wartete auf Lilianes nächste Reaktion. Mit einem herzlichen Empfang hatte er nach all der Zeit nicht gerechnet, aber immerhin war er noch nicht hinausgeworfen worden. Seine Schwester wies ihn an, ihr zu folgen. Sie führte den unerwarteten Besucher zum Zwölfgötterschrein. „Du wartest hier auf meine Rückkehr. Ich muss Dich behutsam ankündigen. Alrik ist nicht mehr gesund und Dein unerwartetes Auftauchen könnte ihn zu sehr aufregen. Außerdem ist Deine Großnichte hochschwanger, auch sie braucht im Moment keine Aufregung.“ Liliane verließ den Schrein und begab sich zurück zum Palas. Ernbrecht wartete ziemlich lange. Ein Küchenmädchen erschien mit einem Tablett und knickste vor ihm. „Gnädiger Herr, die Herrin Liliane sendet Euch eine kleine Mahlzeit.“ Sie platzierte das Tablett vor ihm, knickste erneut und verschwand eilig, aber nicht ohne dem Fremden noch einen neugierigen Blick zuzuwerfen. Ernbrecht konnte ihr gerade noch danken, bevor sie verschwunden war. Mit einem Seufzer wandte er sich dem Tablett zu. Er war wirklich hungrig. Die Reise von Elenvina zu Pferde hatte ihn angestrengt und seine alten Knochen schmerzten.

Nach einem weiteren Stundenglas kehrte Liliane endlich zurück, es begann bereits zu dämmern. „So, ich habe Dich angekündigt. Folge mir!“ „Wem hast Du mich angekündigt?“ „Der Baronin Melinde, Deiner Großnichte und auch Deinem Bruder. Ich habe ihm durch den Leibmedicus einen Trunk geben lassen, der beruhigende Wirkung hat und erst, als der wirkte, habe ich ihm von Deiner Ankunft berichtet. Er ruht jetzt, aber Melinde, ihr Gemahl Ingrawin und der Rest der anwesenden Familie wird Dich empfangen.“ Sie erreichten den Palas. In der Halle nahm ein Diener Ernbrecht das Gepäck ab. Eine Zofe hielt ihm eine Schüssel mit Wasser und Seife hin, so dass er sich die Hände waschen konnte. Liliane reichte ihm ein Handtuch. Im Anschluss führte sie ihn in den Rittersaal, den Weg kannte er natürlich noch, obwohl er mehr Lebenszeit an anderen Orten zugebracht hatte, als hier auf der Burg.

Der Rittersaal, wenig hatte sich verändert, neuere, bequemere Möbel, die Wände weiß getüncht, über dem wuchtigen Kamin der große Wappenschild mit dem Wappen der Tannwirks: eine schwarze Tanne auf weiß-grünem Grund. Das hatte bereits in seiner Jugend dort gehangen. Die Menschen aber, die dort gespannt auf ihn warteten und ihn musterten, als er sich näherte, waren ihm alle fremd und doch waren sie seine Familie. Im schummrigen Licht konnte er ihre Mienen erst ausmachen, als er ihnen nahekam.

Alle hatten sich erhoben und zollten ihm Respekt, auch die Baronin, eine junge Frau, von Tsa gesegnet. Liliane führte ihn vor Melinde und ihren Gemahl, wo er sich formell verneigte. Auch die Baronin neigte das Haupt, wenn auch nur ganz leicht. „Oheim, ich heiße Euch Willkommen auf Burg Tannwirk! Es ist uns eine Ehre, Euch hier bei uns zu haben!“ „Euer Hochgeboren, ich danke Euch für Eure traviagefällige Gastfreundschaft!“ „Auf ein Wort, bevor wir uns zusammensetzen wollen. Mir sind die Umstände bekannt, unter denen Ihr Witzichenberg verlassen habt. Seid Ihr gekommen, um alten Streit aufleben zu lassen?“ „Nein, Euer Hochgeboren, ich suche Versöhnung!“ „Gut, so sei es! Bitte nehmt Platz“, und wies ihm einen Platz am Kamin an. Dann wurde ihm die übrige Familie vorgestellt und die vielen Gesichter und Namen verwirrten ihn, dennoch lächelte er alle freundlich an und schüttelte ihre Hände.

„Wenn Euer Hochgeboren erlauben, möchte ich mich gerne zurückziehen. Ich bin ein alter Mann und die Reise hat mich ermattet. Etwas Ruhe wird mir gut tun.“ Melinde nickte und entließ ihren Gast. Liliane führte ihn zu seinem Gemach im Gästetrakt. Das Zimmer war klein, aber mit allem nötigen eingerichtet. Liliane ging ihrem Bruder etwas zur Hand. Das Küchenmädchen, ihr Name war Titina, wie Ernbrecht nun erfuhr, brachte eine Terrine mit heißer Suppe, dazu Brot und Früchte sowie Wein. Sie deckte den kleinen Tisch, wo Liliane ihrem Bruder gegenüber Platz nahm. Sie leistete ihm Gesellschaft, Essen würde sie aber später mit der Familie. Sie berichtete ihm, was sich im Wesentlichen in Witzichenberg in den letzten 50 Götterläufen zugetragen hatte und auch von ihrem Gemahl, dem Perainegeweihten Dragowin Malter, der ihr bereits vor 18 Götterläufen in einem kalten Winter durch eine Lungenentzündung genommen worden war, und von ihren drei Kindern, von denen keines in Witzichenberg geblieben war und das Gut Kreuzweiher hatte übernehmen wollen, so dass sie ihre Lehnsherrin gebeten hatte, sie von ihrem Eide zu entbinden und auf die Burg gezogen war, wo sie weniger Arbeit hatte und die Gesellschaft Melindes und ihrer Töchter genoss.

Auch Ernbrecht erzählte ihr von den wichtigsten Ereignissen seines Lebens. Aber um ihn nicht noch mehr anzustrengen, zog sie sich zurück, sobald er seine Mahlzeit beendet hatte.

Ernbrecht begab sich zu Bett, es war behaglich weich und warm, ein Diener hatte es mit einer Wärmepfanne vorgewärmt. Die Erschöpfung der Reise ließ ihn tief schlafen, aber am nächsten Morgen wachte er früh auf. Vogelgezwitscher drang durch das mit einem Laden verschlossen Fenster und versprach einen sonnigen Frühjahrstag. Der alte Mann erhob sich mühsam und kleidete sich an, dann begab er sich in den Garten. Das Gesinde war schon bei der Arbeit, aber die Familie ruhte noch in ihren Gemächern.

Ernbrecht verließ den Palas, um sich auf dem Burggelände umzusehen. Sein geübtes Auge erkannte, dass die Burg gut in Stand gehalten wurde. Er wandte sich Richtung Bergfried. Der steile Anstieg ermüdete ihn rasch. Er blieb stehen und sah sich um. Auf einer Bank im Burggarten saß ein alter Mann, in warme Mäntel und Decken gehüllt.

Ernbrecht drehte um und ging zu dem Mann, in dem er seinen Bruder Alrik vermutete. „So, Du bist also zurückgekehrt?“, knurrte dieser ihn an. „Guten Morgen!“, wünschte Ernbrecht. Alrik schwieg zuerst. Nach einer Weile: „Was willst Du hier, nachdem Du diese Ewigkeit fort gewesen bist?“. Ernbrecht zögerte einen Moment, dann gelangte er zu der Überzeugung, es sei besser, nicht um den heißen Brei herum zu reden: „Nun, Bruder, wir stehen am Ende unseres Weges, zählen beide über 80 Götterläufe und früher oder später werden wir auf Golgaris Schwingen das Nirgendmeer überqueren. Ich habe das Bedürfnis mit Dir Frieden zu schließen, bevor wir die Augen für immer schließen.“ Beide schwiegen. Alrik seufzte. „Auch wenn ich Dir Unrecht getan habe, hättest Du nicht fortgehen dürfen, nicht ohne ein Wort und kein Brief und keine Nachricht in all der Zeit!“ „Alrik, Du hast mir meine Braut ausgespannt! Ich habe sie geliebt, wahrhaft geliebt!“ „Das habe ich auch!“ „Und trotzdem hättest Du respektieren müssen, dass sie mir ihre Zuneigung zuerst geschenkt hat!“ „Ich habe sie erblickt und konnte nichts anderes mehr sehen! Nur SIE, SIE allein. Sie hat mir den Kopf verdreht, ich war toll! Dieses Lachen, ihr Haar und wie sie ihren Kopf neigte. Ich hätte alles für sie getan! Ein Wort von ihr und ich hätte Dere in Brand gesteckt, wenn sie es gewünscht hätte!“ Alrik seufzte, seine Augen wurden feucht, bei der Erinnerung an die erste Begegnung mit Ludmilla. Ernbrechts Eingeweide verkrümmten sich vor Schmerz, als er an damals dachte. Als er merkte, dass Ludmilla ihm entglitt, ihre Liebe zu ihm schwand und sie sich ihrem Bruder zuwandte und das, als er sie nach Hause brachte, um seiner Familie die künftige Braut vorzustellen. Eine Weile saßen beide schweigend nebeneinander auf der Bank. Ein Rotkehlchen beäugte die beiden misstrauisch von einem Strauch in der Nähe, dann hüpfte es weiter zu einer Futterstelle, die Liliane im Garten hatte aufstellen lassen. Alrik saß seit seiner Rückkehr aus Elenvina, wo er viele Götterläufe bis zu seiner Erkrankung verbracht hatte, oft im Garten und beobachtete die Vögel. Er hatte das Leben in Elenvina in vollen Zügen genossen, bis zu dem Tag, als ihn der Schlag traf und es klar wurde, dass er sich nicht mehr vollständig erholen würde. Er kehrte nach Hause zurück, wo seine Familie ihn versorgte. Er war froh, sie um sich zu haben, besonders seine kleinen Urenkelinnen, und seine jüngere Schwester Liliane, die ebenfalls auf die Burg zurückgekehrt war. Alles hier erinnerte ihn jedoch an seine verstorbene Frau, mit der er mehr als ein Vierteljahrhundert verheiratet gewesen war. Es waren glückliche Jahre und schöne Erinnerungen, die ihm aber noch immer die Härte ihres Verlusts vor Augen führten. „Wie ist es Dir ergangen? Wohin hat Dein Weg Dich geführt?“, fragte Alrik. „Zunächst bin ich einfach nur gereist. Es war mir egal, wo ich war, wenn ich nur nicht Euer Glück mitansehen musste. Dann bin ich irgendwann in Kyndoch gelandet.“ „Und dann?“ Alrik lag es auf der Zunge zu fragen: „Hast Du geheiratet und eine Familie gegründet oder bist Du allein geblieben?“, aber er stellte diese Frage, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigt hatte, nicht. „In Kyndoch habe ich ein Mädchen kennengelernt, der ich gefallen habe und die mir nicht unsympathisch war. Ihre Familie verhalf mir zu einer Anstellung. Ich wurde Burgsasse auf Burg Halburg, in den Diensten der Barone von Kyndoch. Mit dem Mädchen, ihr Name war Zidonia, ging ich den Traviabund ein und wir bekamen drei Kinder, die alle gut geraten sind.“ „Bist Du über Ludmilla hinweggekommen?“ „In der ein oder anderen Weise schon. Ich habe meine Frau sehr geliebt, aber nicht mit der gleichen Glut wie SIE. So ein Blitz trifft einen nur einmal und wenn man das übersteht, ist man danach nicht mehr der gleiche Mensch.“ Alrik seufzte während Ernbrechts Bericht, der fortfuhr: „Zidonia war eine kluge, zärtliche Frau und wir haben viel zusammen gelacht. Sie hat mich vor 18 Monden verlassen. Ich habe noch einen Götterlauf meinen Dienst versehen und bin dann in den Ruhestand gegangen. Ich habe mich zunächst in Elenvina niedergelassen, aber dort nicht wohl gefühlt. Und dann wurde mir klar, dass es Zeit ist, nach Witzichenberg zurückzukehren und mich mit Dir auszusprechen, wenn möglich.“ „Ich war mit Ludmilla sehr glücklich, aber unser Bruch und Dein Verschwinden haben dieses Glück getrübt. Und eine Frage war da noch, die mich nie ganz Ruhe hat finden lassen: Wie konnte es sein, dass SIE sich für mich entschieden hat, nachdem SIE zuerst Dir ihre Gunst geschenkt hatte? Hat SIE mich wirklich mehr geliebt als Dich oder hat SIE Titel und Vermögen geheiratet? Verstehe mich nicht falsch, sie hat mir nie Anlass gegeben, an ihr zu zweifeln, aber trotzdem… Vielleicht war das die Strafe der Götter für mein Handeln.“ Alrik liefen einige Tränen die Wangen hinab. „Liliane hat mir von Euren Kindern erzählt.“ „Ja, wir wurden von Travia mit sechs Kindern gesegnet. Lechdan ist im Heerzug gegen Haffax gefallen. Roana, meine Erbin, hat die Baronie an ihre Tochter Melinde übergeben, und hat die Nordmarken verlassen. Wir wissen nicht wo sie und ihr Gemahl sich befinden. Roana ist mir sehr ähnlich, liebt das Abenteuer und die Unterhaltung. Ich habe immer gerne in Elenvina gelebt…“ Er besann sich einen Moment. „Wie gerne würde ich Roana noch einmal wiedersehen, bevor ich von dieser Welt scheide, aber ich glaube nicht, dass mir dieses Glück vergönnt sein wird.“ Mit einem tiefen Seufzer fuhr er fort: „Leon ist hier auf Burg Tannwirk Burgoffizier – treu und bodenständig, ein typischer Tannwirk. Die Zwillinge Quendan und Quelina gehören der magischen Zunft an und haben lange in Elenvina studiert und geforscht. Quendan ist inzwischen Melindes Hof-Magus. Meine jüngste Tochter, Tsaja, – es ist ein Wunder – sie gleicht ihrer Mutter wie keines der anderen Kinder. Sie ist ihr lebendiges Abbild! Ludmilla starb bald nach ihrer Geburt. Liliane hat sich dann um das Mädchen gekümmert, Tsaja hat später einige Götterläufe bei Ludmillas Familie in Almada gelebt und ist nach dem Tode ihrer Großeltern heimgekehrt. Bald darauf hat sie geheiratet, meinen früheren Knappen Geribold, der nun Baron zu Tommelsbeuge ist.“ Erschöpft blickte er Ernbrecht an, der seine Hand drückte.

„Ich bin froh, dass Du zu guter Letzt heimgekehrt bist! Ich fühle, wie meine Kräfte schwinden und es wird nicht mehr lange dauern, bis der Unausweichliche mich zu sich befehlen wird. Ich bitte Dich um Vergebung für das Leid, das ich Dir zugefügt habe!“ Alrik sank in sich zusammen, das Gespräch hatte ihn sichtlich erschöpft. Ernbrecht legte einen Arm um seinen Bruder: „Ich hätte früher zurückkommen sollen!“