Grotte der Stille

Dem kleinen Pfad zwischen Traviakreis und dem Kräutergarten folgend, gelangte man zu zwei dunklen, etwa zwei Schritt hohen Säulen. Auf der einen stand ein großer, dunkler Pflanztopf, aus dem eine Weihrauchpflanze ihre Blätter hinabfallen ließ, während aus einer dunklen Räucherschale auf dem anderen Pfeiler eine duftige Wolke ihrer verbrannten Pflanzenteile hinaufstieg. Zwischen den Säulen, hinter einem Vorhang aus Efeu, der die Felswand hier wie auch an anderen Stellen hinabwuchs, konnte man einen kleinen verborgenen Felseingang betreten. Nach einem kurzen, verwinkelten Stück erhob sich eine vier oder fünf Schritt hohe Höhle. Wer sich dort auf einem der kalten Steine zum Verweilen niederließ, konnte sich dem geschäftigen, geschwätzigen Treiben im Garten einen Moment entziehen und sich der vollkommenen Stille im Inneren des kühlen Gesteins hingeben.

Schweigend und angemessenen Schrittes betrat Baldos von Münzberg die Grotte. In ihrem Zentrum blieb er stehen, ließ Zeit verstreichen bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und schaute sich dann genauer um. Hoffentlich war Ansualda tatsächlich hier, dass würde es ihm ermöglichen seinen Brief schnell und unkompliziert zuzustellen.

Dort saß sie. Inmitten der Grotte. Inmitten der Stille. Ihr Gesicht war immer noch das einer gutaussehenden Frau. Obgleich kein Lächeln ihr Antlitz zu der Schönheit machte, die sie einmal gewesen war. Mit kalten, traurigen Augen blickte sie auf. Weniger schmerzlich, weniger bitter war ihr Blick im Vergleich zu ihrem letzten Treffen, als sie ihren kleinen Sohn hatte begraben müssen. Und doch lag weiterhin tiefe Trauer darin

Die Trauer in den Zügen seiner entfernten Verwandten, betrübte Baldos sehr. Viel zu selten hatte die Familie Gelegenheit mit ihr in Kontakt zu treten. Höflich verbeugte er sich und erhob leise die Stimme: „Im Namen der Familie soll ich Euch grüßen Hochgeboren. Schmerzlich vermisst man Euch und so bat mich mein Herr Vater Euch diese Nachricht zu überbringen.“ Noch immer in seiner Verbeugung befindlich griff er an seine Gürteltasche und holte einen säuberlich gefalteten und gesiegelten Brief heraus um ihn Ansualda zu überreichen.

Als sie danach griff, berührten ihre Hände kurz die seinen. Eiskalt waren sie, als habe sie Stunden hier verbracht, anstatt sich draußen an der glühenden Praiosscheibe zu wärmen. Kurz lächelte sie ihn. Ein Lächeln, das nicht bis zu ihren traurigen Augen drang: „Habt Dank. Grüßt Euren Vater auch von mir. Ich hoffe ihr könnt es einrichten zur Hochzeit meiner Tochter zu kommen. Wir werden die Familie bei den Einladungen nicht vergessen.“ Sie schob den Brief sachte in den Ärmel ihres Gewandes. Sie wollte ihn nicht zerknicken. Ihn später lesen. Er gab ihr das Gefühl weiterhin Teil einer Familie zu sein, wo sie die ihre doch verloren hatte.

Ernste Sorge machte sich im Gesicht des jungen Ritters breit. Er wusste, dass Ansualda hier am Hof des Barons sehr abgeschottet lebte, doch musste er nun einsehen, dass isoliert eine bessere Bezeichnung der Situation war. „Ich werde meinen Vater selbstverständlich Eure Grüße ausrichten, Hochgeboren, und bin mir sicher, dass er einer Einladung nur zu gern nachkommen wird.“ Erneut verbeugte er sich vor ihr. „Wenn Ihr möchtet leiste ich Euch gern noch etwas Gesellschaft, ich kann es aber auch verstehen, wenn Ihr lieber Eure Ruhe haben wollt.“

„Mögt ihr die Stille mit mir teilen?“ fragte sie mit trauriger Stimme. „Oder möchtet Ihr, dass ich euch um den Efferdteich führe? Dann könnt ihr mir ein wenig von zu Hause erzählen. Meine Erinnerungen auffrischen.“

Seine Miene hellte sich bei der Aussicht auf etwas Bewegung und die wärmenden Strahlen der Praiosscheibe direkt auf. „Wenn Ihr mir die Wahl überlasst, Hochgeboren, so zöge ich ein wenig Bewegung vor und gern berichte ich Euch von Neuigkeiten und Altbewährtem aus Heimat und Familie.“

Seine ritterliche Ausbildung gebot ihm dabei genauso wie die Höflichkeit, dass er sich erneut leicht vor der Baronin verbeugte und ihr die Hand darbot, um ihr beim Aufstehen Stütze zu sein. Als sie langsam losgingen, hatte er ihr den Arm angeboten, denn auch das gehörte für ihn zu den Geboten einer guten Kinderstube. Er würdigte die Stille, die mit dem Ort verwoben war, und respektierte die Idee seines Schöpfers, in dem er anfänglich das Schweigen wahrte. Erst als sie sich etwas von der Höhle entfernt hatten, erhob er das Wort und berichtete von den Veränderungen in der eigentlich nahen und doch ach so unerreichbar weit entfernten kyndocher Heimat. ---

Kategorie: Briefspielgeschichte

-- Main.CatrinGrunewald - 10 Dec 2018