Feldzug Rabenmark, Kapitel 8: Gen Rahja bis zur Trollpforte

Gen Rahja bis zur Trollpforte

Gen Rahja

Von Gallys aus folgte der Zug der Nordmärker und ihrer Verbündeten nun der Reichsstraße gen Rahja. Sie passierten kleinere Gehöfte und mehrere Schonungen entlang des Weges, der sie in Richtung der Gebirge führte, die sich immer weiter vor ihnen auftürmten.
Das Wetter hielt sich stabil, war milde, auch wenn der Himmel meist bedeckt blieb und in der Ferne tagsüber dunkle Wolkenfronten vorüberzogen. Vom Regen blieben sie jedenfalls noch verschont, was die Reise angenehm machte, auch wenn das stundenlange Sitzen auf dem Pferd auf Dauer für niemanden ein Vergnügen war. Manch einer murrte deswegen.
Die Stimmung innerhalb der Zweckgemeinschaft war freudig und entspannt gewesen, als man Gareth verlassen hatte, Rommilys gesehen und am Ochsenwasser vorbeigezogen war. Nun jedoch wuchs die Anspannung, denn man näherte sich der Rabenmark, dem Ziel des kleinen Feldzuges. Die Kämpfe, die ihnen dort wohl bevorstehen würden, machte viele, vor allem der unerfahrenen Teilnehmer, nervös und zum Teil gereizt.
Die Menschen, die ihnen begegneten, waren wortkarg und verschlossen. Ja, hatte man dem Zug in den im Efferd der Trollzacken liegenden Grafschaften freudig zugewunken, flüchtete die Landbevölkerung nun bei dem Anblick der Streiter.

Oft dachte Alrik während dieser Zeit an das letzte Mal zurück, als er eben diese Strecke geritten war. Damals hatte Marcorion noch gelebt, hatte Ulinai noch gelebt, hatten so viele, die nicht mehr heimgekehrt waren, noch gelebt. Viele mutige Streiter des Reiches, doch hatte er diese nicht gekannt. Es waren die flüchtig oder über lang bekannten Gesichter deren er sich nun entsann. Was wäre wohl alles anders, wenn einige von ihnen überlebt hätten? Wie sähen Schnakensee, Tommelbeuge oder Vairningen aus, wenn nicht ihre Barone an der Tesralschlaufe gefallen wären? Er wusste es nicht und würde es vermutlich auch nie tun. War es womöglich so, dass das Wetter seinen inneren Zustand wiedergab? Nach Außen hin gab er sich unberührt, während in seinem Innern vom Sturm der Zeit getrieben, graue und düstere Gedanken durch seinen Geist getrieben wurden.
Umso mehr war Alrik froh über etwas Ablenkung und so nahm er bereitwillig die Gelegenheit war und gönnte seinem Ross regelmäßig etwas mehr Bewegung, in dem er den Zug flankierend der Länge nach abritt.

Unter Beobachtung

Es war der junge Knappe Folcrad im Gefolge der Ritter des Eisensteiner Barons, dem ein seltsamer Umstand auffiel. Schon, als sie entlang des Ochsenwassers gerittern waren, hatte er es bemerkt, aber noch als Zufall abgetan. Nun aber beschlich den Baldurstolzer die seltsame Ahnung, dass es eben keine Laune der Natur war, dass es ganz im Gegenteil etwas zu bedeuten hatte, dass er immer wieder denselben Raben sah.
Der Vogel hatte sie, den Zug des Heeres selten überflogen, doch saß er des öfteren auf Bäumen, in kleinen Schonungen oder Waldstückchen, an denen sie vorbeiritten oder die sie durchquerten. Es gab kaum Zweifel. War es nicht immer das selbe Tier? Hatte der Rabe nicht besonders buschige Federn an der Brust, etwas, das ihm bisher noch bei keinem Vogel dieser Art aufgefallen war. Würde er ihn doch noch einmal fliegen sehen. Wenn er sehen würde, dass ihm eine Schwungfeder fehlen würde, wäre er sich ganz sicher.
Folcrad kannte natürlich die Geschichten, die sich die Bewohner des Edlengutes Hinterwald über den Schwarzmagier Tunich-Guhd, sein “Schloss” und seine Tochter erzählten. Manches mochte wahr sein, vieles erfunden und das ein oder andere aus einer anderen Geschichte übernommen, doch hatten solche Märchen immer auch wiederkehrende Elemente, wie den Hexenkater oder den Unglücksraben. Und hieß es nicht sogar, dass so manches bösartiges Zauberweib ihre Feinde mit Hilfe eines zauberfähigen Tieres verfluchen konnte? Und diese Tiere unterschieden sich in diesen Geschichten auch immer von ihren Artgenossen, weil sie größer, stärker oder prächtiger waren.
Der Knappe spürte, wie sich sein Magen verkrampfte und er fällte eine Entscheidung. Vielleicht machte er sich damit lächerlich, vielleicht fiel er dadurch sogar in Ungnade, vielleicht würde man ihm sogar deswegen den Ritterschlag verwehren, aber das war allemal besser, als diesen Heerzug in die Arme einer feindseligen Hexe oder eines wütenden Druiden zu treiben. Er blickte noch einmal auf den toten Baum, in welchem der Rabe platz genommen und vergewisserte sich die Stelle wiederfinden zu können. Dann hielt er nach einem der Orgilsbunder ausschau. Doch er konnte keinen finden. Von hinten sahen sie alle gleich aus in ihren Rüstungen und nicht alle trugen ihre eigenen Farben, waren doch etliche Teil eines Hauses. Natürlich hätte er auch warten können, bis zur nächsten Rast, denn er wusste, dass sein Schwertvater sich wieder mit dem blonden Ritter treffen würde, an dem er einen Narren gefressen hatte, die Götter wussten warum. Obwohl - Folcrad hatte da so eine Ahnung…
Als er schon fast verzweifeln wollte und sich überlegte den Trossmeister persönlich zu informieren, da fiel ein Sonnenstrahl auf bosparanienrotes Haar. Das muste die Plötzbogen sein. Er wusste, dass sie ihn nicht mochte, das hatte sie im Tempel nur allzu deutlich gezeigt, und er wusste nicht einmal warum, doch sie war die erste, die er sah. Also ritt er etwas schneller und holte zu ihr auf: ”Verzeiht Hohe Dame, aber ich habe etwas zu vermelden!”
Die Rickenbacherin stöhnte, und stemmte die Hände auf den Sattelknauf. “Zu vermelden… aha.” wiederholte sie seine Worte überrascht, während sie einen kurzen Blick nach vorn warf, wo Folcrads Schwertvater mit den Seinen ritt. Ihr schien allerdings, als wolle Folcrad tatsächlich zu ihr. Warum auch immer. “Ja, was denn?” ließ sie sich schließlich dazu hinreißen, sich einfach mal anzuhören, was der junge Mann zu sagen hatte.
“Mir ist aufgefallen, dass wir seit Tagen von einem Raben verfolgt werden. Vielleicht ein Zeichen der Götter, vielleicht auch Zufall, aber vielleicht ist es auch der Spion einer Hexe. Da Ihr bereits gegen Übernatürliches ins Feld gezogen seid, dachte ich, Ihr solltet einen Blick auf dieses Federvieh werfen.”
“Ein Rabe sagst du? Und du bist dir sicher, dass es immer der gleiche Rabe ist? Seit wann folgt er uns?” Die Sache interessierte sie nicht so sehr, doch war ihr jede Abwechslung recht, dem Dahintrotten für einen Moment zu entfliehen. Ihr Waffenknecht Darek war nämlich eher von der schweigsamen Sorte. “Erzähl mal näher!” forderte sie den Knappen auf, nun mit einem deutlichen Interesse. “Ich kann nämlich nicht einfach --” sie hielt inne und formulierte neu: “Ich habe einen Trupp zu führen,” erklärte sie, froh darüber, dass sie sich eben nicht verplappert hatte. Sie wollte keinesfalls riskieren, dass sich der nicht nur der Kettenhund des Kettenhunds sondern auch der Besitzer der beiden sich wieder an etwas, was sie machte, rieb, wenn der Knappe seinem Schwertherrn berichtete, was die Plötzbogen schon wieder tat. Nein nein, zuerst wollte sie hören, was der Bursche noch zu ...vermelden… hatte. Erst dann wollte Ira entscheiden.
“Das erste Mal aufgefallen ist er mir in der Nähe des Ochsenwassers. Ich habe mir damals nichts dabei gedacht, aber jetzt kommt es mir komisch vor, da ich ihn immer wieder mal erblicke. Er hat sehr buschige Brustfedern und ihm fehlt eine Schwungfeder. Man kann ihn also leicht wieder erkennen.” Während der Knappe ihr berichtete, fiel Ira einmal mehr die Ähnlichkeit mit ihrem Bundbruder Gereon auf. Es waren nur Kleinigkeiten, hier eine Geste, dort ein bestimmter Blick und dieselben Gesichtszüge, wenn er lachte. Komisch war nur, dass er nie von einem Baldurstolz erzählt hatte.
“Und du bist dir wirklich sicher, dass es immer der gleiche Vogel war? Hm.” Rabenkrähen waren allerorts zuhauf anzutreffen. Allerdings klang Folcrads Bericht ernst, und irgendetwas in ihr mahnte Ira, die Sache nicht als unwichtig abzutun. “Wenn das so ist, dann solltest du als nächstes zu Meister Rhys reiten. Das ist der Hofmagus seiner Hochgeboren Jost. Du, ähm, müsstest ihn vorn an der Spitze des Zugs finden. Sag ihm einen schönen Gruß von mir, er soll sich das Federvieh bitte mal ansehen.” Beiläufig musterte sie den Knappen weiter. “Und dann sehen wir weiter.”
Der Knappe schluckte. Warum tat sie das nur? Er sollte den Orgilsbund über besondere Vorkommnisse informieren. Das hatte er getan, aber sie schickte ihn nun zu einem … Zauberer. Sie konnte an seinen Augen sehen, dass ihm nicht ganz wohl wahr, dennoch antwortete er:”Zu Befehl, Hohe Dame!”, und gab seinem Pferd die Sporen. Er durfte keine Zeit verlieren, denn wahrscheinlich würde der Rabe bald seinen Standort wechseln und bis zur Spitze des Zuges war es noch ein gutes Stück. Hoffentlich würde er rechtzeitig mit dem Magier zurück sein.
Es war nicht schwer den Magus zu finden. Wie die Plötzbogen gesagt hatte, ritt er an der Spitze des Zuges, an der Seite des Barons von Hlutharswacht. Das allein war jedoch nicht der Grund, warum der Knappe ihn sogleich erkannte.
Rhys Gwenlian trug dem Codex Albrycus entsprechend eine weiße, naja eher staubig- weiße Robe mit verschnörkelten Stickereien, die mit Hilfe von Silberfaden eingearbeitet worden waren. Der spitze Hut mit der weiten Krempe und der lange Blutulmen-Stecken mit der Kristallkugel an der Spitze rundeten das Bild ab und ließen keinen Zweifel: dies war der Mann, den Folcrad suchte.
Wie nur sollte er ihn ansprechen, einfach zu ihm reiten und ihn anrufen? Zumindest dies wäre möglich, denn die anderen Mitglieder des Zuges schienen Rhys Gwenlian wenn nicht zu meiden, dann doch zumindest Abstand zu ihm zu wahren.
Der Hofmagus des Hlutharswachters galt als Sonderling. Sein entstelltes Gesicht und all die Gerüchte - eines besagte, dass er imstande war Feuer aus seinen Händen schießen zu lassen, ein anderes, er habe in Medena leibhaftige Dämonen exorziert. Seine Gegenwart bereitete vielen Unbehagen, einige hatten sogar Angst vor ihm.
Der Knappe lenkte sein Pferd in die Nähe des Magiers. Er spürte, wie es unruhig wurde und brachte es unter Kontrolle. “Dir geht es wohl wie mir.”, flüsterte er ihm ins Ohr und sah dann hinüber. Es half alles nichts. Er hatte einen Auftrag. “Verzeiht bitte, Meister Rhys. Habt Ihr einen Augenblick?” Unruhig wartete er auf eine Antwort.
Irritiert wandte der Magus betont langsam seinen Kopf in Richtung des Knappen. Einige Herzschläge lang musterte er Folcrad mit steil aufgestellter Augenbraue, doch dann lenkte Rhys Gwenlian sein Pferd in die Richtung des Knappen, brachte es jedoch nicht zum Stehen, sondern hielt weiterhin das gemächliche Tempo des Heerzuges.
"Was gibt es denn junger Herr", fragte der Hofmagus schlicht und hinterließ dabei keinerlei Zeichen von Überheblichkeit oder Arroganz bei Folcrad. Nein, er schien ihm gar zumindest vom Ton her freundlich verglichen mit vielen der hohen Herrschaften im Zug.
“Ich bin Folcrad von Baldurstolz, Knappe des Edlen zu Hinterwald, Ritter Vitold von Baldurstolz und wurde als einer der Meldereiter der Nachhut bestallt, welche den Rittern des Orgilsbundes Ungewöhnliches zu melden haben. Die Ritterin Ira von Plötzbogen, von der ich Euch grüßen soll, hat mich zu Euch geschickt, da ich etwas beobachtet habe, was von magischer Natur sein könnte.” Er wartete auf ein Zeichen weitersprechen zu dürfen und fuhr dann fort:”Seit einiger Zeit schon ist mir ein Rabe aufgefallen, der uns zu folgen scheint. Es ist immer dasselbe Tier, ich erkenne es an seinen buschigen Brustfedern und daran, dass ihm eine Schwungfeder fehlt. Falls er noch an Ort und Stelle ist, könntet Ihr vielleicht einen Blick darauf werfen?”
Die Worte des Knappen waren gerade ausgesprochen, da zügelte der Magus schon sein Pferd und brachte es abrupt zum stehen. Das, “ich hoffe inständig du irrst dich”, war mehr zu sich selbst, denn zu Folcrad gesprochen.
“Wunnemar”, rief Rhys den Trossmeister im alarmierenden Ton an, der sich noch in Hörweite befand. “Zwei der besten Bogenschützen mir hinterher.”
Ohne eine weitere Erklärung abzugeben, wandte sich der Magus wieder zu Folcrad. “Zeig mir, wo du den Raben gesehen hast. Reite möglichst unauffällig, ohne Hast. Ich folge mit Abstand, um ihn nicht aufzuscheuchen.”
Folcrad tat wie ihm geheißen. Der junge Baldurstolzer nickte knapp und wendete sein Pferd. Derweil suchte der Trossmeister etwas verdattert dem ‘Wunsch’ des Magus nachzukommen.
Vor lauter Aufregung brachte Folcrad keinen Ton heraus. Auf dem Rückweg sah er erst den fragenden Blick seines Schwertvaters, dann den neugierigen der Plötzbogen und schlußendlich den wütenden des Wasserthalers. Er fing an zu schwitzen, dennoch ritt er ruhig weiter, vorbei an all den hohen Herrschaften, denen er später Rechenschaft würde ablegen müssen. Weiter an der halben Nachhut, bis er die Stelle fand. Es war ein kleines Gebüsch, ein paar Schritt vom Weg entfernt, aus dem drei Linden und eine tote Eiche hervorragten. Auf einer Astgabel der Baumleiche hatte sich der Vogel breit gemacht und schaute mit blitzenden, intelligenten Augen dem Treiben zu. Folcrad täuschte einen Hustenanfall vor und beugte sich dabei in die Richtung der kleinen Baumgruppe, bevor er weiter nach hinten ritt, ganz so als wolle er die Nachhut kontrollieren. Er hoffte inständig, dass der Magus und die Schützen dieses Zeichen verstehen würden.
Das Federvieh aber sah dem Knappen hinterer, als dieser von dannen zog, nur um dann den Kopf in eben jene Richtung zu drehen, aus der er gekommen war.
Mit einem laut vernehmbaren Krächzen, so dass auf Folcrad es hören konnte, stieß sich der Rabe von dem Ast ab, auf dem er gesessen hatte und breitete die Flügel aus. Kräftige Schläge brachten den Vogel rasch und scheinbar in exakt gerader Linie auf den Magus zu, dessen spitzer Hut für den Knappen noch von weitem eindeutig auszumachen war.
Rhys indes erkannte das dem Tier eine Schwungfeder fehlte, der Junge hatte also nicht gelogen. All dies war Anlass genug. Er hob einen Arm und deutete auf den Raben. Die beiden Bogenschützen, die im Laufschritt zu ihm aufgeschlossen hatten, spannten sogleich die Bögen, Pfeile waren schon eingelegt gewesen.
Kurz bevor die Geschosse die Sehnen verließen drehte der Rabe in einer engen Kurve bei und war ganz plötzlich verschwunden. Es war als sei er von der Luft verschluckt worden. Die Pfeile gingen ins Leere.
Folcrad aber wurde im selben Moment durch ein erneutes, lautes Krächzen alarmiert, das in seinem Rücken erklang. Wie konnte das möglich sein? Wie… Seine Gedanken rasten als er sich im Sattel sitzend umdrehte und den Vogel mit der fehlenden Feder erblickte, der sich im Anflug auf ihn befand.
Dann, als sei das bisher geschehene nicht schon ungewöhnlich genug, passierte das unglaubliche. Folcrad vernahm eine Stimme in seinem Kopf. Sie war böse und allein ihr Ton jagte ihm eine höllische Angst ein.
"Verflucht seist du, dazu verdammt keine Ruhe zu finden, bis ihr zur Vernunft kommt, umkehrt und das Land der wahrhaftigen Götter wieder verlasst."
Wie vom Blitz getroffen viel der Knappe aus dem Sattel und schlug hart auf dem Boden auf. Der Rabe aber gewann nun rasch an Höhe und brachte sich in Sicherheit.
Als Folcrad wieder zu sich kam und versuchte sich stöhnend aufzurichten war der Magus bereits vom Pferd gesprungen und bei ihm.
"Was ist geschehen?" Rhys Stimme war erregt.
Am Rande registrierte der Knappe, dass um sie herum leichter Tumult herrschte. Die Szene war nicht unbemerkt geblieben im Tross, wenn auch niemand wirklich verstehen konnte was geschehen war. Das Auftauchen des Magus am Ende des Zuges und die beiden Bogenschützen, die Pfeile verschossen hatten, führten zu wilden Gerüchten.
Folcrad fiel es schwer sich zu konzentrieren. Sein Schädel dröhnte und er vernahm die Worte des Magus nur dumpf. Dennoch konnte er verstehen, was er sagte. Die restlichen Schmerzen von der geprellten Schulter und dem verstauchten, vielleicht aber auch gebrochenen Arm, spürte er, dank seines Schockzustandes, derzeit nicht. Nur, dass langsam Panik in ihm hochstieg. “Er...ich...ich glaube er hat mich verflucht”, stammelte er und Tränen füllten seine Augen. Der pflichtbewusste und zur Tapferkeit erzogene Knappe fühlte sich plötzlich ganz klein und hilflos. “Da war eine Stimme in meinem Kopf, die sagte ich solle keine Ruhe mehr finden, bis”, er schluckte, “bis wir zur Vernunft kommen, umkehren und die Lande der...wahren Götter”, er spuckte diese Worte förmlich aus, “verlassen.” Er schniefte und ihm wurde schwindelig:”Was hat das zu bedeuten? Hat...hat er mich ...verzaubert?” Das pure Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Die Wangenknochen des Magus begannen zu mahlen. Wut kochte in ihm. "Wie anmaßend", zischte er und seine entstellte Miene wandelte sich zu einer Fratze. "Wir haben die Rabenmark noch nicht einmal erreicht und sie bezeichnen dieses Land schon als das ihrer 'Herren'." Das letzte Wort stieß Rhys Gwenlian hasserfüllt aus.
Mit einer herrischen Geste deutete er den Bogenschützen, dass sie sich entfernen dürften. Er selbst halb rasch Folcrad auf.
"Wir müssen dem Baron und dem Trossmeister Bericht erstattet. Unterwegs überlegst du wie der genaue Wortlaut des Fluches lautete, das ist wichtig", bestätigte der Magus indirekt die Befürchtung des Knappen.
"Muss ich dir aufs Pferd helfen oder geht es?"
Der junge Baldurstolzer stöhnte: ”Es wird schon gehen, erst die Pflicht, dann das Lazarett”, er lächelte mit halb schmerzverzerrtem Gesicht und zog sich schwerfällig auf sein Pferd. “Wir können”, sagte er knapp und trabte los.

Wenig später schon hatten Rhys und der Knappe Folcrad wieder die Spitze des Zuges erreicht. Ohne Erklärung bahnte sich der Magus auf seinem Pferd den Weg zum Baron von Hlutharswacht und seinem Schwiegervater, dem Eisensteiner. Wie selbstverständlich wurde ihm Platz gemacht, auch wenn ihm so mancher Blick zugeworfen wurde, der von Abneigung, ja zum Teil sogar weit mehr noch sprach.
Den Magus jedoch kümmerte die Meinung der meisten von Madas Gabe nicht gesegneten nicht, einzig Jost hatte er sein Vertrauen geschenkt, ihm galt seine Loyalität, zumindest in gewissen, von Rhys selbst definierten Grenzen.
"Der junger Herr hier ist mit einer gesunden Auffassungsgabe gesegnet", begann der Hofmagus ohne Titulation gegenüber den hohen Herrschaften und dem Trossmeister, der sich auch unter denjeniegen befand, die am Kopf des Heerzuges ritten. "Ihm haben wir zu verdanken, dass wir nun wissen, dass wir ausgekundschaftet werden. Man erwartet uns anscheinend schon auf der anderen Seite."
“Hat der junge Herr auch einen Namen?” Ließ der Baron von Hlutharswacht streng verlauten. Seine Stirn faltete sich, wohl jedoch nicht nur, weil Rhys mit einem unbekannten Jungen ankam und sich der Besuch nach Ärger anhörte.
“Er heisst Folcrad von Baldurstolz und ist der Knappe seines Onkels, Vitold von Baldurstolz, einem meiner Ritter. Ich habe ihn nach dem Heerzug belehnt. Ein tüchtiger Mann. Vertrauenwürdig.” dröhnte die Stimme von Josts Schwiegervater, der neben ihm geritten war, eine Erklärung.
Rhys nickte Folcrad aufmunternd zu. "Bitte, berichte was vorgefallen ist und sei so genau wie nur irgend möglich."
“Gut”, Folcrad nickte und bereute die schnelle Kopfbewegung sofort, “Ich bin Folcrad von Baldurstolz, Knappe des Edlen zu Hinterwald, Ritter Vitold von Baldurstolz, der in Diensten seiner Hochgeboren Rajodan von Keyserring steht und ihm ein treuer Vasall ist, Euer Hochgeboren. Vor ein paar Tagen, am Ochsenwasser, da ist er mir zum ersten mal aufgefallen. Es war ein Rabe mit buschigen Brustfedern, dem eine seiner Schwungfedern fehlte. Ich habe mir nichts dabei gedacht, aber später am Tag, und auch an den darauffolgenden, habe ich ihn immer wieder gesehen. Ich habe ihn auch fliegen gesehen, aber mir ist nicht aufgefallen, dass er uns hinterher oder voraus flog. Und da fielen mir die Geschichten meiner Heimat ein, über den Schwarzmagier Tunich-Guhd und seine Tochter. In manchen dieser Geschichten ist sie eine Hexe und hat ein besonderes Tier, mal eine Kröte, mal eine Schlange und mal ein Rabe. Da ich als Meldereiter dem Orgilsbund Bescheid geben soll, wenn mir was Ungewöhnliches auffällt, bin ich gleich los und fand die Hohe Dame Ira von Plötzbogen, diese schickte mich den ehrenwerten Magus zu informieren und wir sind gleich aufgebrochen.Obwohl ich versuchte ein unauffälliges Zeichen zu geben, muss das Untier meine List erkannt haben. Eure Bogner konnten es nicht treffen und obwohl ich weiter geritten war, tauchte es plötzlich hinter mir auf und…” Folcrad stockte, denn es lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinab, als er daran zurück dachte,
“Sprich, Junge!” forderte der Baron auf und dass ihm diese Unterbrechung, diese Geschichte gar nicht passte, wirklich überhaupt nicht, sah man Jost an. Er tauschte einen genervten Blick mit seinem Hofmagus.
”und dann...hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Sie war nicht krächzend, wie die eines Raben, aber auch nicht menschlich, sie war...sie war...einfach böse.” Folcrad brach ab, denn er musste plötzlich würgen und hatte Mühe die Galle zurück zu drängen.
“Beherrsch dich, Junge!”
Kreidebleich fuhr er fort:” Sie sagte folgendes zu mir: Verflucht seist du, dazu verdammt keine Ruhe zu finden, bis ihr zur Vernunft kommt, umkehrt und das Land der wahrhaftigen Götter wieder verlasst. Dann wurde mir schwarz vor Augen.” Der Knappe schwieg und man konnte förmlich sehen, wie unzählige Gedanken ihn gleichzeitig plagten.
“Bitte WAS? Stimme in deinem Kopf? - Rhys, wenn so etwas auftaucht: erst schießen, dann fragen!” tadelte der Baron ungehalten.
Der Magus indes schien zufrieden über die Ausführung Folcrads, was er mit einem aufmunterndem Nicken ausdrückte. Dann jedoch sah er erwartungsvoll zum Initiator des Feldzuges, dem Eisensteiner und dem Trossmeister herüber.
“Wir werden also bereits erwartet”, war alles was er dazu noch zu sagen hatte.
Jost schnaubte verächtlich. Er hatte mit Widerstand gerechnet, aber so früh?
“Was ist in deiner Heimat los, dass unser Vorhaben schon solche Wellen schlägt. Und wann habt ihr es euch da drüben mit Hexen verscherzt??” Fragend sah er seinen Dienstritter an.
Der Trossmeister wusste darauf spontan keine für ihn schlüssige Antwort zu geben, deswegen brauchte er einen Moment, um Worte zu finden.
"Soweit mir bekannt ist, sind auch einige Hexen von den Lehren Borbarads versucht worden. Glorana war wohl die bekannteste von ihnen."
Frauen - was sollte man auch sonst vom schwachen Geschlecht erwarten. Angewidert zog der Eisensteiner einen Mundwinkel nach oben.
"Sehr richtig", pflichtete der Magus Wunnemar rasch bei. Er hatte dazu noch mehr zu sagen. "Die Töchter Satuarias sind ohnehin schon gefährliche Gegner, da ihre Magie sehr unberechenbar ist, wild und emotional gesteuert. Unter denjenigen, die dem Bethanier gefolgt sind, gibt es auch solche, die Pakte mit siebtsphärischen Entitäten eingegangen sind. Ihre Beschwörungskünste bergen große Gefahr, selbst für einen so großen Heerhaufen."
Wunnemar ergänzte. "Mir sind keine Hexengeschichten zu Ohren gekommen aus der Heimat. Druiden soll es hingegen geben in den Sümpfen, das weiß ich”, räumte er ein. “Aufgrund der Ereignisse müssen wir aber wohl mit einer entsprechenden Gegnerin rechnen."
"Ich kenne auch keine solchen Berichte", mischte sich nun auch die Junkerin von Galebfurten ein, die leicht versetzt hinter dem Trossmeister auf ihrem Pferd saß. Jolenta stand in ständigem Briefkontakt mit der Baronin von Tälerort, die hatte wohl den besten Einblick in die Gegebenheiten an ihrem Ziel.
„Wunnemar, einmal mehr bin ich froh, eine so bunt gemischte Truppe zu befehligen. Wir haben ja nicht nur einen, sondern gleich zwei Priester des Sonnengottes dabei - zumindest Hane sogar mit Veteranenerfahrung aus zwei Feldzügen. Ich denke, mit einer Hexe werden wir fertig. Und als letzte Instanz haben wir ja unseren Rhys hier in unserer Mitte, der wird mit seinen feueraffinen Forschungen der letzten Monate sicher das eine oder andere praktische gegen Hexen in seinem Repertoire mit sich führen.“
Und etwas ernster fügte er an: „Den Kampf gegen magische, überderische Wesen müssen wir perfektionieren. Noch einmal lasse ich mir von so etwas nicht auf der Nase herumtanzen - geschweige denn, mich bloß stellen.“
‘Ich hoffe, du wirst recht behalten’, dachte derweil der Magus bei sich und ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Keiner konnte wissen, was sie erwartete und es war töricht anzunehmen, dass die Kunde des Feldzuges in die Rabenmark sich nicht auch so weit verbreitete, dass man sie rechtzeitig erwarten würde. Es war gut möglich, dass der Feind sich vorbereitet hatte. Wie gut war die Frage.
Der Trossmeister teilte die Bedenken des Magus, behielt sie jedoch auch für sich.
“Bogenschützen entlang des Zuges in Sichtweite auffächern. Federvieh wird vertrieben. Schießen nach eigenem Ermessen. Wir müssen vermeiden, dass auch Internes belauscht wird.”
Jost nickte. Es war ein Nicken, das einerseits ‘einverstanden, aber auch ‘ich verlasse mich auf dich’ ausdrückte.
Da das geklärt war, richtete sich Jost wieder an den Knappen: “Du hast gut getan, jetzt nimm deine Aufgabe wieder auf“ sagte Jost zu dem Halbstarken, wobei Folcrad kein Lächeln erwarten konnte.
Jost erwartete nun viel eher, dass Rhys seine Arbeit tat, um dies alles aufzuklären.
Bangend und hoffend blickte Folcrad den Magus an.
Dieser lächelte aufmunternd, wohlwissend, dass der Bursche einige sehr harte Tage und höchstwahrscheinlich noch härtere Nächte vor sich hatte.
“Komm, reiten wir zu deinem Schwertvater”, forderte Rhys Folcrad auf. “Wir haben einiges zu besprechen.”

Rajodan seufzte derweil, wie schön es wäre, wenn nicht solch finsteren Kreaturen hier im Osten überall lauerten. Und immer wieder Magie. Sollte man nicht langsam erkannt haben, dass all diese Magiewirker des Übels Kern waren? Er schüttelte den Kopf. “Womöglich sollten wir ab sofort zu jedem Sonnenaufgang einen Praiosdienst für alle lesen lassen. Das würde uns in die Gunst des Götterfürsten stellen. Und das scheint mir nicht das Schlechteste.” schlug er seinem Schwiegersohn vor.
“Das ist eine gute Idee. So werden wir es tun.”

~*~

Der Knappe verabschiedete sich von den hohen Herrschaften, wohl wissend, dass diese ihn längst nicht mehr beachteten. Schließlich gab es wichtigeres zu besprechen. Dann wendete er sein Pferd und ritt zurück, bis er seinen Schwertvater erreicht hatte. Der Baldurstolzer sah seinen Knappen auf ihn zukommen und hob fragend die Augenbraue, dann bemerkte er den Magier. Vitold hatte schon den einen oder anderen im Kampf gesehen, sowohl auf seiner, als auch auf der gegnerischen Seite und stand der Magie eher pragmatisch gegenüber. Auch wenn ihm viele widersprachen, so betrachtete er die Magie eher wie ein Schwert. Es kam darauf an, wer sie einsetzte, zu welchem Zweck und aus welcher Motivation heraus. Dennoch verstand er sie nicht und sie war ihm ein klein wenig unheimlich, doch ließ er es sich nicht anmerken, als er den Zauberer ansprach: ”Den Zwölfen zum Gruße, Hochgelehrter Herr, was kann ich für Euch tun?”
“Die Zwölfe zu Gruß Hoher Herr”, erwiderte der Magus und ging mit seinem Pferd längsseits zum Ritter, um sich vorzustellen. “Ich bin Rhys Gwenlian, Hofmagus des Barons von Hlutharswacht.”
Knapp nickte er in Richtung Folcrads. “Ihr habt einen aufgeweckten Knappen, der mit einer bemerkenswerten Auffassungsgabe gesegnet ist- gut für uns, leider weniger für ihn selbst.
Folcrad hat einen Spion ausfindig gemacht, den Raben einer Hexe, der uns seit längerem verfolgt. Leider konnte das Mistvieh- oder besser die Hexe selbst euren Knappen verfluchen, bevor wir ihn davon gejagt haben. Euer Knappe wird vermutlich einige Tage keinen Schlaf finden oder wenn von Albträumen geplagt sein.
Höret meinen Rat. Wenn ihr ihn des Nachts nicht permanent unter Beobachtung haben könnt, dann fesselt ihn. Das mag sich drastisch anhören, bedenket aber das der Junge wohlmöglich nicht Herr seiner Sinne ist, wenn er im Traum umherwandeln sollte.
Des Weiteren möchte ich euch bitten Folcrad zu mir zu schicken, falls sein Zustand besorgniserregend werden sollte. Ich führe Kräuter und Tinkturen bei mir, die seinen Schlafentzug und Angstzustände lindern können.”
Die Miene des Ritters verfinsterte sich bei diesen Worten:”Ich verstehe!”, war seine knappe Antwort. “Gibt es noch etwas, was ich tun kann?”
Der Knappe indes riss erschrocken die Augen auf und zeichnete zuerst die Sonnenscheibe, mit der Handfläche, und danach das Auge in die Luft.`Verflucht! Ich! Von einer Hexe! Praios hilf mir!`
Der Magus seufzte und zeigte nach der eher beherrschten, ja eher nüchternen Ansprache echtes Bedauern. “Nein, leider nicht.”
Dann wandte Rhys sich nochmals direkt an den Knappen. “Ich weiß, dass du Angst hast. Ich mache dir nichts vor, ich weiß nicht, wie die kommenden Tage und Nächte aussehen, doch die Auswirkungen des Fluchs gehen vorbei.
Wisse, die Hexe hat keine Macht über dich.
Du hast uns heute einen großen Dienst erwiesen Folcrad von Baldurstolz. Zögere nicht im Gegenzug um Hilfe zu bitten. Ich mag in den Augen vieler hier im Zug ein Ärgernis sein, allein weil ich Praios Ordnung durch Madas Gabe beleidige, aber ich bin nicht der Feind, deiner schon gar nicht.”
“Danke, das werde ich”, brachte der Knappe kreidebleich hervor. Vitold nickte:”Auch ich habe zu danken. Solltet Ihr einmal einen Kämpfer an Eurer Seite brauchen, so fragt nach mir.”
Mit einem knappen Nicken in Richtung beider verabschiedete sich der Magus. Sein Pferd tänzelte bereits nervös, als wüsste es, dass es sich nun bewegen solle.
Mit dem Rondragruß und einem Neigen des Kopfes verabschiedete sich Vitold von dem Magier. Als dieser außer Hörweite war rief er seinen Knappen zu sich:”Komm her, Junge.” Mit sanfter Stimme fuhr er fort:”Wir schaffen das schon. Ich bin für Dich da. Alles wird wieder gut.” Dann beugte er sich zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. “Nun reite zum Wasserthaler und berichte ihm, was geschehen ist, ich überlege mir, wie wir weiter vorgehen werden.”
Folcrad nickte und wendete sein Pferd. Ihm war immer noch unwohl, aber dass sein Schwertvater ihm in aller Öffentlichkeit seine Zuneigung zeigte, bedeutete dem jungen Mann viel, war er doch wie ein Vater für ihn.

~*~

“Verdammt nochmal, wo will der Bursche hin?” Polterte Radulf von Wasserthal ungehalten, als der junge Knappe von Baldurstolz einfach aus dem Zug ausbrach und ohne Erklärung weg ritt. Hatte irgendwas an den Flanken die Aufmerksamkeit des Jungen erregt? Aber da war nichts! Kurz war der Ritter versucht selbst hinterherzureiten oder Palinor loszuschicken, was er aber wieder verwarf. Dabei hatte der junge Folcrad bisher einen guten Eindruck gemacht. Grummelnd ritt der Wasserthaler weiter. Er würde sich den Knappen später vorknöpfen, sobald dieser wieder zurück war.

~*~

Einige Zeit später sah Radulf den jungen Baldurstolzer auf sich zureiten, nachdem dieser eine ganze Weile an der Spitze des Zuges zugebracht hatte. Der Knappe sah besorgt aus, fast ängstlich und war immer noch kreidebleich.
Radulf trieb sein Pferd an und ritt dem Knappen entgegen. Scheinbar fürchtete er das Donnerwetter das ihn gleich erwarten würde. “So, der Hohe Herr beehrt uns wieder mit seiner Anwesenheit. Sagt an, was war so wichtig, dass Ihr einfach ohne jede Rücksprache losprescht? Würde der Hohe Herr mir einfachem Ritter das vielleicht erklären?” Wütend kanzelte Radulf den Knappen ab. Dabei entging ihm völlig, dass den Knappen etwas anderes umtrieb, als die Angst vor der Standpauke. Palinor war scheinbar nicht in der Nähe, ansonsten hätte er seinem neuen Freund zweifelsohne beigestanden.
Folcrad blickte schuldbewusst zu Boden. Konnte der Tag nicht endlich enden? Hatte er heute nicht schon genug durchgemacht? Doch es half alles nichts, der Wasserthaler hatte recht. Folcrad hatte Pflichten und die musste er erfüllen. “Ich habe einen Raben gesehen, der mir merkwürdig vorkam, da er mir schon seit ein paar Tagen aufgefallen ist. Ich habe es, wie es meine Aufgabe ist, dem Orgilsbund melden wollen und bin zu Ritterin Ira von Plötzbogen. Diese schickte mich weiter den Hofmagus zu holen, damit er sich das Tier mal ansähe. Es stellte sich als ein Hexentier heraus, das uns ausspionieren sollte. Es konnte entkommen und hat mich dabei verflucht. Ich hätte mich an die Befehlskette halten sollen. Es tut mir leid.” Der Knappe war zutiefst geknickt und es schien fast so, als hätte ihn der Lebensmut verlassen. Er wagte es kaum dem Ritter in die Augen zu blicken, auch weil er mit den Tränen zu kämpfen hatte.
Beinahe augenblicklich verflog der Zorn des Ritters und machte der Sorge um seine Leute platz, zu denen er auch Folcrad zählte. "Komm das nächste mal erst zu mir, bevor du einfach lospreschst, damit ich im Bilde bin und reagieren kann." meinte er mit ruhiger Stimme. Radulf führte sein Pferd direkt neben Folcrads und legte dem Knappen die Hand auf die Schulter. "Folcrad, es tut mir leid, was dir widerfahren ist, aber lasse dich davon nicht unterkriegen. Wenn du möchtest, beten wir später gemeinsam zum Götterfürsten damit er dich behüten möge.” Kurzentschlossen griff der Ritter nach einer Kette und zog sie sich vom Hals. Daran hing ein goldener Anhänger in Form eines Greifen. “Hier, vielleicht mag es dich beschützen. Mein Vater gab es mir bei meinem Ritterschlag. Achte gut darauf, ich möchte es wieder haben, wenn wir von diesem Feldzug zurückkehren.” Damit klopfte Radulf dem Knappen aufmunternd auf den Rücken.
Mit offenem Mund starrte Folcrad auf das glänzende Stück Metall in seiner Hand:”Ich danke Euch, aber das kann ich nicht annehmen. Das...das ist viel zu kostbar, selbst als Leihgabe.” Er war einfach zu überwältigt von der noblen Geste des Wasserthalers.
Radulf ergriff die Hand des Knappen, welche den Anhänger hielt und schloss dessen Finger um den Greifen. “Ich bestehe darauf. Solange du deiner Aufgabe hier nachgehst bin auch ich für dich verantwortlich.” Folcrad sah sich einer weiteren Musterung des Wasserthalers unterzogen. “Danke”, flüsterte der Knappe und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Dann legte er die Kette an und verstaute den güldnen Greifen sicher unter seiner Tunika.“Fühlst du dich soweit wohl? Dann könntest du die Bogenschützen vom Aussehen dieses Vogels unterrichten und vielleicht schaffen sie es beim nächsten Aufeinandertreffen dieses Vieh vom Himmel zu holen.”
“Ja, danke. Das werde ich.” Auch wenn es sanfter formuliert war, so nahm Folcrad den Befehl als solchen wahr und setzte ihn dienstbeflissen in die Tat um. Und er war froh darüber, denn es hielt ihn davon ab an die kommenden Nächte zu denken.

~*~

Weiter vorne ritt die Lichtträgerin Praiodara neben ihrem Amtsbruder und unterhielt sich angeregt mit ihm. Ihr leiblicher Bruder Aureus war hinten mit den anderen Orgilsbundern unterwegs, und so hatte sie sich dem anderen Praioten einfach angeschlossen. Von den Ereignissen hatte sie nichts mitbekommen, nur, dass Folcrad an ihnen vorbei geritten war und wenig später wieder zurück ritt, wobei ihm der Magus kurze Zeit später folgte. Und dann auch noch zwei Bogner. Sie wunderte sich zwar und man unterhielt sich auch darüber, was das ganze zu bedeuten hätte, doch sorgte sie sich nicht, wusste sie sich doch sicher in der Hand ihres Herrn.
Auch Hane schien erst einmal nicht viel darüber zu denken. Er kannte den Baron von Hlutharswacht und daher auch einige von dessen Eigenheiten. Wer wusste schon, welches Kommando er befohlen hatte.
Ein paar Minuten später allerdings schoben sich die Wolken beiseite und ein einzelner Lichtstrahl traf auf ein blank poliertes Metallteil von Praiodaras Zaumzeug und blendete sie. Wie hypnotisiert starrte sie in das Licht, riss dann die Augen weit auf, hauchte das Wort: Fluch! und fing an zu schwanken, als ihr schwarz vor Augen wurde. Glücklicherweise konnte ein aufmerksamer Waffenknecht, der auf ihrer Höhe des Zuges marschierte, sie gerade noch rechtzeitig durch einen Ruf von Hochwürden Hane von Ibenburg-Luring alarmiert mit festem Griff auffangen, bevor die Geweihte auf den Boden stürzte, wie der arme Knappe weiter hinten im Tross. Der Mann schaffte es den Fall der Praiotin zu stoppen und legte sie so behutsam, wie es ihm möglich war, auf den staubigen Grund der Reichsstraße.
Hane zog die Zügel an und rutschte augenblicklich vom Sattel. Ihm war es egal, ob sie mitten auf der Straße und damit allen anderen im Weg waren. “Anhalten, bei Praios!!” befahl er den Männer und Frauen mit hocherhobener Hand, die auf ihn und die Geweihte zumarschiert kamen.
Danach hatte er sich niedergekniet und beugte sich über die Ohnmächtige, fühlte der blonde Praiosgeweiht den Herzschlag und auch in seine Glaubensschwester hinein.
“TURI!” rief er dann laut nach seine Frau, die weiter hinten neben einem Wagen geritten war, auf dem beider Ziehtochter reiste.
Weitere Bilder und Sinneseindrücke drangen derweil auf die Geweihte ein und die Art der übernatürlichen Wahrnehmung ließ sie wie ein gewaltsames Eindringen in ihren Geist erscheinen.
Überall waren Flammen, Feuersbrust, Schreie, entsetzliche Schreie derer, die bei lebendigem Leib verbrannten. Sie sah entsetzliche Bilder von entstellten Opfern, denen das Fleisch blasenschlagend von den Knochen fiel.
Mit überschlagender Stimme schrie Praiodora ihr blankes Entsetzen solange hinaus, bis sie versagte und in ein Hinauswürgen von beißender Galle überging. Alle Personen um die Geweihte des Götterfürsten teilten ihr Entsetzen soweit, als dass ihre Stimme, weder ihr Ton, noch ihre Lautstärke rein menschlicher Natur sein konnten. Rundherum sah man bleiche Gesichter, die den Anschein machten, in einen bodenlosen Abgrund geschaut zu haben.
Ruhe kehrte ein, angsterfüllte Stille.
Madalbirga war in Gedanken gewesen, hatte die Stimmen der Personen um sie herum nur noch als Hintergrundrauschen wahrgenommen. Sie hatte über das Land geschaut und nicht auf Wunnemars Worte gehört. Nun kamen Schreie von etwas weiter hinten im Zug, wenn sie nicht alles täuschte, sogar von zwei Stellen. Sie scherte aus und blickte zurück. Ja, solche Schreie hatte sie schon häufiger gehört… In der Dritten Dämonenschlacht, beim Fall des Todeswalls und häufig, wenn ihnen die finsteren Dämonendiener ihre unheiligen Kreaturen auf den Hals gejagt hatten. Sie trieb ihr Pferd an und ritt zurück. Zuerst erreichte sie Praiodara, die sich inzwischen in Galle übergab. Sie wirkte weggetreten. So hatte sie Kämpfer gesehen, deren Geist an schlimmen Schrecken zerbrochen waren oder die von Dämonen besessen waren - aber die Praiosgeweihte? Madalbirga zögerte einen Moment, dann saß sie ab, kniete sich ebenfalls neben die Geweihte und begann ein Gebet zu Boron. Wer, wenn nicht der dunkle Herr des Vergessens und der Träume könnte ihr jetzt helfen?
“Was ist passiert?” Thankmar war seiner Frau nachgeeilt und stieg nun seinerseits vom Roß, als Madalbirga bereits bei Praiodara war.
Der Zug hatte an der Stelle des Geschehens den Anschluss verloren, war zum Stehen gekommen, während die Spitze immer noch weiter marschierte.
Mittlerweile fand sich auch die Gemahlin Seiner Ehrwürden Hane an der Stelle ein. Eine merkwürdige Frau: geradezu mager war sie, die weiße Magierrobe schlackerte um ihre Gliedmaßen, die braunen glatten Haare waren zu einem strengen Topfschnitt frisiert, ihr Blick unbeugsam und klar, außerdem besaß die Magierin nur noch einen Arm. Sie beschäftigte sich jedoch erst einmal profan mit der am Boden liegenden Geweihten, prüfte ihre Augen, öffnete der Bewusstlosen den Mund, sah sich die Atmung, die Beschaffenheit der Zunge und die Flüssigkeit an, die die Geweihte nach oben gewürgt hatte und drehte deren Gesicht weitestgehend zur Erde, damit der Speichel aus ihrem Mund fließen konnte. Und was sich sonst noch in diesem befand.
Der Geweihte unterdessen wandte sich mit lauter Stimme an die Umstehenden: “Wer kennt Ihre Ehrwürden von Altenwein näher? Weiß jemand, ob sie krank war, oder ist?...Sie erzählte mir von einem Bruder… Kennt ihn jemand? Man sollte ihn verständigen, dass seine Schwester einen Anfall hatte, sie vielleicht sogar vom Schlag getroffen wurde.”
Dieses Schicksal dauerte den Geweihten zwar, aber die Wege des Herrn schienen zumal unergründlich und wer wusste schon, was Praios mit seiner Dienerin vorhatte? Weitere Sorgen machte Hane sich nicht. Sie waren hier auf kaiserlichem Boden. Und die Schwarzen Lande noch fern.
Die Geweihte rang mit dem Bewusstsein, ihr Herz raste, ihre Atmung ging ungesund schnell und ihre Augenlider flatterten. Es schien Hane, Turi und Madalbirga unweigerlich so, als versuche sie sich selbst aus einem Fiebertraum zu befreien, indem sie gefangen war und die Magierin erkannte, dass die Alarmsignale ihres Körpers ernst waren. Sie mussten die Geweihte aufwecken, sonst stand es schlimm um sie. Ihr Herz konnte diese Überanstrengung unmöglich noch viel länger durchhalten.
Praiodara fühlte sich allein, hilflos. In ihrem Kopf herrschte das totale Chaos und sie war mittendrin. Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren. Um sie herum Krieg, Tod und Zerstörung. Und etwas dunkles, kaltes, was irgendwo lauerte. Sie hatte nicht das Gefühl verfolgt zu werden. Nein. Schlimmer. Sie lief darauf zu. Es gab kein entkommen. “Mami? Papi? Wo seid ihr?”, fragte sie mit zitternder Stimme. Zur Antwort schrien die Toten und Verstümmelten sie an. Sie hockte sich hin und fing an zu weinen. Doch niemand kam sie zu trösten.
Praiodara, die Geweihte, merkte, dass sie in Gefahr war. Sie musste einen Ausweg finden, musste dem Mädchen Praiodara irgendwie helfen. Und es musste schnell gehen oder sie war verloren und würde den Rest ihres Lebens bei den Noioniten verbringen. Doch war die Macht des Dämons oder des Zaubers, sie war sich da nicht sicher, zu stark. Gegenwehr bewirkte nur eine Stärkung der Angst. Auch war ihre Hoffnung schon so weit geschwunden, dass sie nicht vermochte sich Bilder von glücklichen Tagen herauf zu beschwören. Langsam fing sie an zu verzweifeln. Doch dann vernahm sie eine Melodie. Weit weg und Bruchstückhaft und immer wieder vom Tosen der Stimmen unterbrochen...tus, Re....ori...lu….itat...dux. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie das Lied erkannte und im Geiste mitsang. Sie musste es laut genug singen, damit das Mädchen Praiodara es hören konnte. Denn auch, wenn das Mädchen noch kein Bosparano sprach, so würde sie die Melodie erkennen und mitsingen.
Hane ahnte, dass die Glaubensschwester vor allem Beruhigung brauchte. Zu aufgewühlt schien sie ihm. So legte er ihr eine Hand auf die Stirn, die andere auf den Brustkorb über das Herz und begann sanft zu beten:

„In desperatione et tenebris,
Lux triumphat!
Heitere Herrin Rahja, Schwester meines Herrn Praios,
siehe diese Frau.
Sie bedarf Deiner Gaben.
Contra melificas et mendaces,
Lux triumphat!
Auf dass sie sich mit neuer Kraft und Ruhe diesem Kampf stellen kann.
Per ignem et gladium,
Lux triumphat!“

Er beugte sich tief über Praiodaras Gesicht, lauschte dem Atem, sah auf den Brustkorb und fühlte erneut in sie hinein.
Turi währenddessen betrachtete die Praiosgeweihte pragmatisch mittels Odem Arcanum, bereit, einen Analysis-Zauber hinterher zu wirken oder mittels Balsam einzuspringen. Hemmungen, Magie bei einer Geweihten des Praios einzusetzen, hatte sie keine mehr - sowas brachte die Ehe mit Ihrem Lichtbuben eben mit sich.
“Praios invictus, Rex Duodecim, Gloria Derae, Aurea lux. Da nobis leges et veritatem, Da nobis lucem, Deorum dux.”, die erste Strophe war geschafft. Mit jedem Wort stieg die Zuversicht der Geweihten und sie konnte spüren, wie sie sich langsam dem göttlichen Funken näherte, der in ihr steckte. Wenn sie ihn erreichen könnte, könnte sie vielleicht etwas gegen das Böse in ihr unternehmen. Sie sang weiter:”Praios invictus, Regens in Alveran, Iudex divinus, Praeclara vox.”
Das Kreischen der Untoten wurde lauter und lauter. Das Mädchen hockte weiter auf der kalten Erde, weinte ununterbrochen dicke Tränen. Sie hatte ihre Ärmchen um die Knie geschlungen und wippte hin und her. Ihre eigene Umarmung war der einzige Trost, den sie hatte. Ihr nackten Füße waren schlammverkrustet, das dünne Leibchen zerschlissen. Die Welt um sie herum wurde immer bedrohlicher. Am Himmel zog ein Gewitter auf, die Erde bebte. Gebäude stürzten ein, Bäume brachen und der Regen bestand aus Blut. Der Boden verwandelte sich allmählich in stinkenden Schlamm. Die Luft war erfüllt vom Duft des Eisens und von verbranntem Fleisch.
Da plötzlich drang eine Stimme an ihr Ohr, leise, ruhig aber voller Zuversicht. Die Stimme einer Frau. Sie sang ein Lied, dessen Worte sie nicht erkannte, wohl aber die Melodie. “Deram proteges, Contra daimones, In tua luce Vanescit nox.” Die Geweihte hatte das Lied beendet und begann wieder von Vorn. Das Kind beruhigte sich allmählich, summte die Melodie und begann dann zaghaft auf Garethi zu singen: ”Praios erhebt sich strahlend am Morgen, Nachtblau besteht nicht vor seinem Glanz.” Mit jedem Wort wurde das Mädchen zuversichtlicher und lauter. Sie erinnerte sich an das wärmende Sonnenlicht und den gütigen Vater, einen Aspekt des Herrn den die meisten Übersehen, da sie sich vor ihm und seiner Strenge fürchten. Doch das Mädchen fühlte sich geborgen und als sie die Zeile `Hütet euch Schurken und böse Magier` sang, da stand sie auf und reckte drohend ihr kleines Fäustchen mit trotzigem Blick. Da wurde das Kreischen unerträglich, der Blutregen goß in Strömen und die Erde drohte zu zerspringen, als die Wolken aufbrachen und ein einzelner Sonnenstrahl auf das Mädchen fiel.

~*~

Ein gutes Stück weiter hinten im Heerzug führte Firin sein Pferd am Zügel, um seinem Körper zwischenzeitlich mal eine andere Haltung zu erlauben. Während er sich mit einem der Ingerimm-Geweihten unterhielt, wurde der Zug langsamer und kam dann ganz zum Stehen. “Verzeiht Euer Gnaden, dass ich unser Gespräch unterbrechen muss, aber ich muss nach dem Grund für den Halt sehen.” Mit diesen Worten schwang sich der junge Ritter in den Sattel, scherte aus der Reihe aus und trieb sein Pferd eilig entlang des Zuges Richtung Spitze. Als er die Stelle erreichte, wo sich bereits einige Leute versammelten hatten, darunter auch Wunnemars Eltern, zügelte er sein Reittier. Schnell hatte er die im Staub der Straße liegende Praiosgeweihte als Grund für den Halt ausgemacht. ”Wie geht es Ihrer Gnaden? Was hat sie?”
“Das wissen wir nicht,” antwortete der Geweihte mit dem Sonnenszepter am Gürtel und musterte den jungen Ritter. Sein geübter Blick fiel auf die silberne Spore am Wappenrock des Mannes. Hatte die Geweihte nicht etwas darüber erzählt, dass ihr Bruder Mitglied bei einem Ritterbund wäre und auch so eine solche Spore trug? “Ihr seid von jenem Bund der sich Ritterbund des Heiligen Orgil oder so ähnlich nennt?”
Firin beantwortete die wohl eher rhetorische Frage mit einem zustimmenden Nicken.
“Perfekt. Könnt ihr den Bruder Ihrer Ehrwürden von Altenwein ausfindig machen und ihm sagen, dass es seiner Schwester nicht gut geht?”
Wieder nickte Firin. “Sehr wohl, Euer Gnaden. Ich bringe ihren Bruder Aureus her”, versicherte er dem Praioten, dessen Augen schon wieder auf seiner Glaubensschwester ruhten und sich dann der Maga zuwandten. Der Landwachter warf noch einen letzten Blick auf die Geweihte und wendete sein Pferd.
Turi mischte sich ein. “Hane. Der Zug soll weitergehen. Wir kümmern uns um sie. Aber die anderen brauchen nicht warten.”
“Wie recht du hast, Liebling,” Hane nickte der Maga zu, bevor er noch einmal die Stimme erhob: “DER ZUG SOLL WEITERZIEHEN!”
“Ich werde die Anweisung entlang des Zuges weitergeben”, erwiderte der Landwachter auf den gerufenen Befehl, auch wenn er nicht ihm gegolten hatte. “Zügig zum vorderen Teil aufschließen!”, wies er die ersten Reihen noch klar vernehmbar an, ehe er sein Pferd antrieb, um schnell zu Aureus zu gelangen, den er im hinteren Teil des Zuges vermutete. Unterwegs wiederholte er die Anweisung des Praiosgeweihten noch einige Male ohne seinen Ritt zu verlangsamen.
Fast am Zugende, erst kurz vor dem Tross fand Firin seinen Bundesbruder. Geschickt zwang er sein Pferd in eine scharfe Kehre, um neben Aureus und dessen derzeitigem Gesprächspartner zu gelangen. “Folge mir, Aureus”, forderte er den Altenweiner mit ungewohnt ernstem Blick und Bestimmtheit auf. Ohne die Antwort des Ritters, dem die Dringlichkeit in Firins Stimme nicht entgangen war, abzuwarten, setzte er sich wieder in Bewegung. “Es ist…. Deine Schwester, sie…”, setzte Firin an, “sie… es geht ihr nicht gut”, wiederholte er die Worte des Praiosgeweihten, wusste er doch ebensowenig wie jener, was ihr fehlte.
Das Gesicht des Altenweiners wurde ernst: ”Entschuldige bitte”, unterbrach er das Gespräch. ”ich muss gehen.” Er spornte sein Pferd an und folgte Firin: ”Was ist passiert?”, fragte er, obwohl er schon eine Ahnung hatte, was es sein könnte.
“Ich weiß es nicht”, gestand Firin seinem Gefährten. “Sie lag da. Sie lag da einfach auf dem Boden, im Staub der Straße, ohne jede Regung. Es waren schon ein paar Leute da, die sich um sie kümmerten.” Er schwieg einen Moment. “Der andere Praiosgeweihte und die einarmige Magierin wussten auch nicht, was mit ihr ist. Aber sie schickten mich dich zu holen”, fügte er noch an, als sei dies eine Erklärung.
Nun machte sich der Altenweiner ernsthafte sorgen. Sie wird doch nicht vom Pferd gefallen sein? Wenn ja, was soll ich bloß Mutter sagen? Schleunigst ritt er hinter Firin her, der ihm den Weg wies. Da vorne! Da machte der Zug eine Biegung. Und da standen Menschen und zwischen ihren Beinen hindurch konnte er etwas erkenne. Im Staub lagen Kleider, schneeweiß und rot-golden. Und eine Hand. Er preschte an Firin vorbei, denn er hörte seine Schwester schreien.
Mit sich überschlagender Stimme schreckte Praiodora aus ihrer Vision hervor. Die Augen weit aufgerissen bildeten sich augenblicklich, haarfeine, rote Fäden darin.
Halt suchend griff die Geweihte des Götterfürsten panisch um sich.
Ihre Hände fanden das Gewand der Magierin und verkrallten sich in diesem. “Alles ist gut. Ihr seid wieder hier”, hörte die Geweihte die sanfte Stimme einer Frau und eine Hand streichelte die Stirn Praiodaras mütterlich.
Die Geweihte trat und schlug weiter um sich. Zu tief saßen die grausamen Bilder. Da preschte ein Pferd heran und ein junger Ritter sprang ab und eilte zu der am Boden liegenden Frau: ”Praiodara! Praiodara! Was ist mit ihr?” Er kniete sich neben sie, wurde mehrfach von ihr getroffen, was er ignorierte und griff nach ihrer Hand: ”Praio, hörst Du mich?”, fragte er und benutzte den Namen, den er ihr als Kind gegeben hatte, als er noch nicht richtig sprechen konnte.
Dann, zur Verblüffung aller, fing er an zu singen: ”In Not bist Du erschienen, den Sterblichen zu dienen, Thronst nun in Alveran.” Bei der nächsten Zeile blickte er die Umstehenden an und forderte sie mit einer Geste auf, den Worten folge zu leisten: ”Lasst eure Stimm` erschallen! Wir preisen Dich vor allen, O löwenhäupt´ger Garafan.”
Ein Ansinnen, das Nachahmer fand. Zumindest in Hane, der es nicht über sein Geweihtenherz brachte, ein so kostbares Liedgut alleine klingen zu lassen. Die Intention des jungen Mannes war gut und unterstützenswert. Im Kloster hatte sie auch schon gute Erfahrungen mit Patienten gemacht, denen sie liebgewordene Dinge aus ihrem Leben gezeigt hatten. Oft bildete sich dann eine Art ‘Brücke’ zwischen der Lethargie (oder dem Wahnsinn) und einem Moment normalen Verhaltens, in dem Kommunikation möglich war. Ein Lied konnte so eine Brücke sein. Durchaus.
Der Große Schröter fiel etwas schief und holprig in den Gesang mit ein, natürlich kannte er den Text. Mehr und mehr gewann Thankmar erst mit jeder weiteren Zeilen des Liedes an Sicherheit, bis sein tiefer Bass im Einklang mit den anderen Stimmen war. Der Sinn erschloss sich ihm nicht vollständig, auch wenn der große Ritter ahnte, dass der Gesang der Geweihten ein Anker sein sollte wieder zu sich zu kommen.
Als die Geweihte begann um sich zu schlagen, schreckte Madalbirga aus ihrem Gebet hoch, sie waren erhört worden. Kräftig griff sie zu, um die Beine der Geweihten im Zaum zu halten, dass sie sich und anderen nicht verletzte. Als ein neu hinzugekommener zu singen anfing, griff sie das Lied auf “O löwenhäupt’ger Garafan…” Sie hatte schon von Dämonen gehört, die Musik oder zumindest heilige Lieder nicht ertrugen und dann verschwanden, vielleicht half es. Auch wenn sie keine gute Sängerin war, ging es hier doch eher um Inbrunst - jedenfalls hoffte sie das.
Auch der junge Landwachter stimmte mit in den Gesang ein, leicht verhalten und mitunter zögerlich. Aber das lag wohl eher an stellenweiser Textunsicherheit denn an seiner eigentlich Sangeskunst, wie einzelne Stellen und der Refrain, in den er immer laut und klar einfiel, verrieten.
Die einfache Melodie des Chorals zu Ehren des Greifenkönigs schien die Geweihte zu beruhigen. Sie hörte auf die Arme und Beine zu bewegen und ihr Blick wurde langsam klar. Ihre Lippen bewegten sich und formten die Worte des Liedes. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, die ihren Weg über ihre Wangen suchten. Als das Lied verklungen war sah sie sich um, ohne den Kopf zu bewegen: ”Aureus? Bist Du das?”, fragte sie leise und lächelte sanft, als sie ihn erkannte.
“Ich bin hier, Praio”, antwortete der Ritter und drückte ihre Hand.
“Du musst die anderen warnen, wir werden beobachtet. Sie wissen, dass wir kommen.” Ihre Lider flatterten: ”Aureus, ich bin müde.”
“Ich weiß, mach Dir keine Sorgen.” Der Altenweiner wandte sich an Turi: ”Könnt ihr sie auf Eurem Wagen mitnehmen? Für gewöhnlich wird sie jetzt ein paar Stunden schlafen und es kann passieren, dass sie Fieber bekommt. Ich werde es Euch auch vergüten.”
“Wir nehmen sie gerne mit.” antwortete die Maga dem jungen Ritter. “Ihr braucht selbstverständlich nicht dafür zu zahlen. Tätigt lieber eine Spende an die Kirche, so Ihr denn wollt”, schlug sie vor und strich noch einmal über die Stirn der Geweihten, bevor sie etwas von ihr zurückwich. “Das werde ich. Habt Dank.”
“Ich trage sie zum Wagen”, sprach der Nadoreter und ging vor Praiodora in die Knie, als man ihm Platz machte.
“Lasst mich Euch helfen”, bot Firin bereitwillig seine Unterstützung an. “Jeder an einer Seite würde ich vorschlagen”, bezog er schon mal neben der Geweihten Position, “oder wie machen wir es am besten?”
Erleichtert ließ Madalbirga die Beine der Geweihten wieder los, als diese sich beruhigte. Allerdings trugen deren Worte nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Gegenwehr hatte sie erwartet, aber dass ihre Gegner so früh kommen würden? Verstohlen blickte sie sich um, dann schenkte sie Thankmar einen vielsagenden Blick. Der Gegner brauchte keine Menschen, um sie zu beobachten. Sie nahm sich vor, auf das Huschen im Augenwinkel zu achten, von dem sie wusste, dass es ein Hinweis auf beobachtende Dämonen sein konnte.
Der Nadoreter erwiderte den Blick seiner Frau mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Er verstand, auch seine durchweg verkniffene Mimik sprach davon, dass er den Ernst der Lage erfasst hatte. Von nun an galt es bereit zu sein.
Hane überließ es seiner Frau und den Mönchen aus dem Kloster, sich um seine Glaubensschwester zu kümmern. Ein Gespräch zwischen ihm und Turi brauchte es dafür nicht, denn auch dieses Ehepaar verstand sich wortlos. Der Praiosgeweihte ging im Folgenden dazu über, denjenigen die Situation zu erklären, die sich verstört durch die Vorkommnisse an ihn wandten.
Die Geweihte war in einen erholsamen Schlaf gesunken, doch konnten die Umstehenden sehen, dass sich unter den geschlossenen Lidern ihre Augen rasch hin und her bewegten.
Beim Wagen der Anconiter angekommen, erklärte die Maga schnell alles Wissenswerte und sogleich machten sich auch einige der mitreisenden Mönche an die Arbeit, die weggetretene Praiotin mit Dingen zu versorgen, die sie aus Kisten und Tiegeln zusammensammelten. Jemand machte auf der Ladefläche ein Lager zurecht. Sie gingen erstaunlich ruhig und stumm zu Werke.
Beäugt von einem blonden Mädchen, das eigentlich keines mehr war, aber auch noch keine Frau. Es hörte auf den Maire [gesprochen: Märi], wie alle hören konnten, als die Maga Eslebon es rief, und trug nicht etwa das grüne Gewand des Ordens, sondern das weiße Gildenornat. Sie nannte die Maga ‘Mutter’, wobei es den beiden an Ähnlichkeit sehr mangelte, und sah interessiert zu, wie man die Schlafende bettete und untersuchte.
Ihre Lippen öffneten sich und mit leiser Stimme brachen sich Worte aus ihrem Innersten Bahn: ”Feuer und Blut!...kochendes Blut...schmelzende Haut. Es frisst Mann, Weib, Pferd und Kind...taumelnde Leiber...Schmerz, unendlicher Schmerz. Tod...oder nicht?” Dann war sie still.
Erschrocken riss Firin die Augen auf und schlug schnell das Zeichen der Sonnenscheibe vor sich. Die Worte der Geweihten erschütterten ihn, dass das Böse schon so früh, schon hier weit vor dem Todeswall und damit den Schwarzen Landen, seine Klauen nach ihnen ausstreckte. Und sie riefen Erinnerungen in ihm wach. Erinnerungen an dunkle Erlebnisse, von denen er gedacht hatte, dass sie tief und unerreichbar in seinem Bewusstsein vergraben wären.
Erst als die Helfer sie auf den Wagen hoben, flüsterte sie wieder: ”Sie wissen es...wissen, dass wir kommen...sind vorbereitet...Falle.” Plötzlich erhob sie sich, riss die Augen auf und brachte die Helfer damit ins Taumeln. Ihr Blick war zum Himmel gerichtet und schien doch in weite Ferne zu schauen, hinter die Wolken, ja, sogar weit hinter das Blau. “Sanctus Gilbornus” “Ora pro nobis”, fielen die Umstehenden in das Gebet mit ein, sie konnten nicht anders, denn sie fühlten, dass es so sein musste.

”Protector contra magiam”
”Ora pro nobis”
”Domitor maleficarum”
”Ora pro nobis”
”Martyr in desolatione Goris”
”Ora pro nobis”
”Sanctus defensor piorum”
”Ora pro nobis”
”Adsertor divinus”
”Ora pro nobis”

”Wo das Licht des Herrn erstrahlt, verblassen Lüge und Zweifel. Wo das Licht des Herrn herrscht, wird die Ordnung nicht wanken. Wo das Licht des Herrn wacht, weicht die Dunkelheit. Im Namen Praios`, des Ewigen Herrschers, des Allsehenden Richters, des Gleißenden Königs”, sie schlug die segnende Sonnenscheibe, ”Das Licht des Herrn erfülle eure Herzen, Das Licht des Herrn erhelle eure Seelen, Das Licht des Herrn weise euch den Weg, jetzt und auf immerdar. Es sei!” Dann drehten sich ihre Augen nach hinten, so dass nur das weiße sichtbar war und sie sackte wie ein nasser Sack zusammen.
Thankmar kniete immer noch neben der Geweihten. Inzwischen mit offen stehendem Mund. Er konnte nicht fassen, was da gerade geschehen war. Ungläubig schweifte sein Blick über die Gesichter der Versammelten, bis er schließlich auf Aureus von Altenwein verharrte.
“Ist so etwas schon öfter geschehen?”, forderte Thankmar von dem jungen Ritter zu wissen und doch wartete er die Antwort nicht ab. Der Nadoreter fasste sich, die eigene Stimme zu hören half ihm. Wie auch immer die Erwiderung ausfallen würde, eine Geweihte des Götterfürsten durfte nicht im Staub der Straße liegen. Das ergab kein gutes Bild. Schon jetzt dürfte sich der Vorfall verheerend auf die Moral auswirken.
In einer fließenden Bewegung griff er unter Arme und Beine Praiodoras und hob sie mit steifen Gliedern hoch. Thankmar war eine Hüne und immer noch stark wie ein Ochse, aber seine Knochen ärgerten ihn zusehends.
Auffordernd blickte der Nadoreter den anderen Geweihten und die einarmige Maga an, als er den Rücken mit der Last auf den Armen durchgestreckt hatte.
“Sie hat seit ihrer Kindheit Visionen, die ihr der Herr Praios sendet. Ihr Körper scheint dem nicht gewachsen, obwohl es in den letzten Jahren ihrer Ausbildung besser wurde. So schlimm hab ich es aber bisher nicht erlebt, Euer Wohlgeboren.” erklärte Aureus.
“Ich werde Meldung bei der Heeresleitung machen. Ihre Hochgeboren von Hlutharswacht und der Trossmeister sollten umgehend von diesem Vorfall erfahren.” Bevor Firin auf sein Pferd stieg, warf er Aureus noch einen mitfühlenden Blick zu. “Wenn später jemand für einige Zeit nach ihr sehen soll, wenn du eine Pause brauchst, gib mir Bescheid”, bot er seinem Bundsbruder leise seine Hilfe an.
“Habt Dank, mein Freund”, erwiderte er mit blassem Gesicht, aber ehrlichem Lächeln.
Dann ritt Firin, angetrieben von seinen aufgewühlten Gefühlen und Gedanken über den Vorfall, im schnellen Galopp zur Spitze des Zuges. Unablässig hörte er die Stimme der Praiosdienerin in seinem Kopf Teile der Vision wiederholen. Worte, die ihm einen Schauer der Angst über den Rücken jagten. Wieder und wieder.
‘Feuer und Blut!...kochendes Blut!
Schmerz, unendlicher Schmerz.
Tod...oder nicht?
Sie wissen es...wissen, dass wir kommen...sie sind vorbereitet...eine Falle!’
"Jost und mein Sohn müssen hiervon erfahren", beschied der Nadoreter und griff damit den zuvor geäußerten Gedanken wieder auf. Dann jedoch legte er den Kopf schräg und sprach aus, was er an Zweifel in sich trug.
"Das heißt, wenn ihr behauptet, dass diese…" Thankmar suchte nach einem passenden Wort, "Vision oder was auch immer wirklich derart von Bedeutung ist. Könnt ihr dazu etwas sagen? Treffen diese 'Vorhersagen' in der Regel in irgendeiner Weise ein? Ich meine, wäre sie keine Dienerin des Götterfürsten, sondern eine einfache Frau von gemeiner Abstammung, es gibt Gegenden, in denen der Aberglaube so stark verwurzelt ist, dass man sie für besessen halten und sie einfach davonjagen würde."
“Seit ihrem zwölften Tsatag war sie in der Obhut des Hauses der Sonne zu Gratenfels. Sie wurde von den dortigen Geweihten geprüft und für würdig befunden die Weihen zu erhalten. Der Herr spricht zu ihr und durch sie. Und ja, sie sah als Kind, was unser Vater tun würde, sie sah, dass Mutter schwanger war, als sie es selbst noch nicht wusste und sie beruhigte Mutter, als mein Schwertvater mich mit auf den Feldzug gegen Haffax nahm. Immer war sie hinterher erschöpft, viel in tiefen Schlaf oder wurde krank. Aber das... so schlimm war es noch nie.”
Der hünenhafte Ritter nickte stumm, als Aureus geendet hatte. Es kam diesem so vor, als habe der Nadoreter eine derartige Antwort erwartet, ja befürchtet.
Seine Stimme trug nüchterne Bestürzung zur Schau, die klar machte, dass der gealterte Ritter schon eine Menge gesehen hatte. “Ich rede vertraulich mit meinem Sohn. Tragt ihr die Sache offiziell vor. Nein, am besten SIE tut es.” Thankmar blickte auf die Frau auf seinen Armen, auf Praiodoras, die er nun so sanft wie möglich auf die Ladefläche des Wagens ablegte.
“Selbstvertändlich. Wenn sie morgen früh noch nicht bei Kräften ist, so werde ich es tun. Bis dahin aber möchte ich noch warten, wenn es Euch recht ist.” Sorgenvoll blickte er auf seine Schwester hinab.
Da trat ein Mönch auf die kleine Gruppe Adliger zu. “Ihr seid der Anverwandte?” sprach er Aureus mit einer beruhigenden Stimme an. Der Mann war von mittlerem Alter, das Gesicht bartlos, schütter sein Haar und auf der Stirn schon recht licht. Seine Augen jedoch waren feurige Kiesel, aus denen Wissen einerseits und Neugierde andererseits sprach. “Kann ich mit euch einen Moment unter vier Augen sprechen?” Nebenan wickelte jemand Praiodara feuchte Tücher auf die entblößten Arme und Beine. Ein anderer rieb ihre Stirn mit einer grünen Salbe ein.
“Sicher”, Aureus nickte, ”Wenn Ihr uns einen Augenblick entschuldigen würdet.”
Der Nadoreter nickte stumm, es war ohnehin alles gesagt.
Aureus aber ging mit dem Mönch ein paar Schritte zur Seite: ”Ich bin ihr Bruder, was kann ich für Euch tun?”
Etwas abseits, dass Unbeteiligte es nicht gleich hören konnten, ergriff der Anconiter sogleich ohne Umschweife das Wort, nachdem er sich als Subprior Bruder Durandus vorgestellt hatte. “Wir versuchen das Fieber eurer Schwester zu senken und sie bekommt fürs Erste einen Sud aus Eisenhut und Salbei. In ihr jedoch tobt ein Feuer, das es noch genauer zu ergründen gibt. Sie ist prophetisch veranlagt, richtig? Es täte ein Diener des Boron gut, der ihre Traumwelt erfahren und berichten könnte, worin sie sich befindet. Die Magie kennt ebenfalls Möglichkeiten dies zu tun, doch scheint es mir nicht gänzlich richtig, ohne eure Erlaubnis mittels Madakraft in eine Dienerin des Herrlichen zu dringen.” Er ließ eine kurze Pause, bevor er weitersprach: “Alptraumvisionen sind nicht unüblich bei Berührung durch die Jenseitigen und wir haben in den letzten Jahren gute Erfahrungen mit dem Traumteilen gemacht. Wir werden natürlich unser Möglichstes für eure Schwester tun. Um ihr aus ihrem Alptraum hinaus zu helfen, bedarf es jedoch nach unserer ersten Einschätzung jemanden, der in ihre Traumwelt kommt, sie findet und zurückbringt. Bruder Gilig ist solcher Reisen mächtig. Doch möchte ich die Entscheidung dazu nicht ohne eurer Einverständnis treffen, hoher Herr. Wisset, es ist nicht ungefährlich für den Traumgänger. Bruder Gilig hat jedoch große Erfahrung damit, ich vertraue ihm. Er ist ein götterfürchtiger Mann.”
Der Altenweiner biss sich auf die Unterlippe. Magie war in der Tat eine heikle Sache und jetzt musste er entscheiden. “Wisset, sie ist sich darüber im Klaren, dass Madas Frevel geschehen ist und nicht rückgängig gemacht werden kann. Wohl aber… gemildert. Sie sagte mir mal, dass, ihrer Meinung nach, nur die Angehörigen der Weißen Gilde vertrauenswürdig genug wären, um verantwortungsvoll mit Magie umzugehen. Wenn Bruder Gilig dieser Gilde angehört, dann stimme ich zu. Bei allen anderen Magiebenutzern, sagt sie, müsse man die Person und deren Nutzung von Madas Gabe einzeln prüfen. Da sie dass im Augenblick nicht kann, wäre mir dann ein Boroni lieber.”
“Die Gemeinschaft des Fternitas et Sororitas Curativae Anconiis versammelt Heilkundige Magier, die auch dem Bund des Weißen Pentagramms angehören. Die Integrität des Ordens bürgt - quod fides in deum - für einen jeden der Gemeinschaft zur Förderung der Heilzauberei des Anconius. Ihr solltet in Erwägung ziehen, Bruder Gilig um seine Expertise zu bemühen.” Die Lippen des Anconiters zusammengepresst ruhte der Blick streng auf dem Ritter.
Aureus reichte diese Erklärung durchaus:”Dann führt mich doch bitte zu ihm”, nickte er.
Der Subprior tat nicht ab des strengen Blickes. “Dies Unterfangen ist ein Ernstes, zu dem Ihr Euch entschlossen habt. Wir werden Euch nebst der Patientin zur frühen Boronstunde im Feldlager der Bruder-Schwesternschaft erwarten. Stärkt Eure Physis und entlastet Euren Geist, denn Eure Schwester wird Eure Unterstützung bedürfen!”
Bruder Durandus ließ seinen Blick ab von dem des Ritters, kehrte sich und trat einen Schritt vor, um folgend innezuhalten. “Seid gewiss Hoher Herr, Gilig wird Sorge tragen, dem Geist Eurer Schwester ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit zu sein. Doch bereitet Euch, denn dieser Eingriff birgt Gefahr, Stärke und Hoffnung Eures Herzens zu brechen, wenn von Euch Entscheidungen in Verzug gefordert sind.” Der Subprior stand aufrecht mit dem Rücken zu Aureus, atmete eine schwere Last aus und sog angestrengt Atem ein. Ein Moment des Schweigens hielt Einzug.
Dann verließ der Mönch das Krankenlager und ließ die Anwesenden zurück.

~*~

Währenddessen weiter vorne im Heerzug war die Lage ruhig.
Er konnte schon kaum mehr mitzählen. Geschweige denn, sich die Namen merken. Aber wenn auch nur jede zweite Erzählung seines Waffenknechtes der Wahrheit entsprach, dann hatte Thobalt bereits in den ersten Tagen dieses Heerzeuges mehr Frauen kennengelernt und beglückt, als das Dienstmägde am Liepensteiner Hof arbeiteten. Und Eoban musste es wissen, denn auch zu jeder Dienstmagd, fast jeder, am Liepensteiner Hof hatte Thobalt seine Geschichte. Kritische Nachfragen oder jedweden Zweifel der anderen Albenholzer, mit denen die Liepensteiner ritten, konnte Thobalt mit einer kecken Antwort beseitigen, sodass ihr Stirnrunzeln bald einem erstaunten, ja fast schon bewundernden Blick wich. Es war doch immer das Gleiche.
Und während der Bursche sich wortgewandt immer weiter in seine Berichte steigerte, verdrehten Riganna und Rondraléi, ebenfalls Waffenknechte aus Liepenstein, nur müde die Augen. Wichard, Eobans Knappe, wiederrum schien hellwach und musterte von früh morgens bis spät abends eindringlich die Umgebung. Hin und wieder berichtete er zu seinen Beobachtungen oder stellte Fragen über Land und Leute. Eoban gab sein Bestes, um eine halbwegs brauchbare Antwort aus einstmals Gelerntem und den Erfahrungen der letzten Jahre zusammenzureimen. Natürlich, immer wieder unterbrochen und ausschmückend ergänzt von den Reiseberichten Thobalts. Manchmal fragte sich Eoban, ob er in Wichards Alter ebenso munter und voller Tatendrang war oder was er in den Jahren erlebte, in denen Thobalt die Bordelle Aventuriens bereiste. Gerade in dem Moment, wo sich diese Gedanken aufs Neue formierten, erschien Liebgardis, Traviageweihte und seine Schwester, an Eobans Seite. Keinen Wimpernschlag später sprach Thobalt nur noch Lobpreisungen über den heiligen Bund der Ehe und den hohen Wert der treuen Familie. Die anderen Albenholzer nickten zustimmend, wirkten aber etwas verwundert ob des plötzlichen Themenwechsels. Sichtlich entnervt vergrub Rondraléi ihr Gesicht in den Händen. Riganna ließ eine Spuckeblase platzen. Die Pferde marschierten weiter.

Die Traumreise - Somnium trinus

A C H T U N G

Dieses Kapitel wurde entfernt, da es zu seelenerschütternden, tiefgreifenden und traumatischen Erlebnissen der Geschwister Altenwein kam, die am Ende noch den Tod der beiden Magier Caledon Gilig und Noiona von Lanzenschröter zur Folge hatte. Auch, wenn der Dämon Morcan eine wichtige Rolle spielt, ist die Schuldfrage nicht geklärt.

Wer gefestigt genug und neugierig ist, kann den Text von YanTur bekommen.

Verstörendes Danach

Nach den verstörenden und kräftezehrenden Ereignissen im Zelt der Anconiter irrte Aureus von Altenwein durch das nächtliche Heerlager. Er wusste nicht so recht, wo er hin sollte. Sein Zelt hatte er bislang mit seiner Schwester geteilt und alles dort würde ihn an sie und die vergangenen Stunden erinnern. Außerdem hatte der Morcan gesagt, er würde den Ritter in seinen Träumen heimsuchen, deswegen wollte Aureus auch nicht schlafen gehen. Er musste wach bleiben, um dem Morcan keinen Zutritt zu seinem Geist zu gewähren. Aber was sollte er jetzt tun? Irgendwann schaute er auf und bemerkte, dass er sich inmitten des Eisensteiner Lagers befand. `Komisch, ich dachte die hätten hier eigene Wachen`,dachte er noch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte:
“Sieh an, wen haben wir denn da? Wenn das man nicht der hübsche Altenweiner ist.”, fragte ihn Vitold von Baldurstolz.
Aureus erschrak. `Verdammt. Ausgerechnet einer der Bluthunde des Barons, vor denen Ira uns gewarnt hat!` “Ähm...ich...also”, stammelte der Altenweiner und versuchte vergeblich schnell eine plausible Begründung zu finden, die Ira nicht in Schwierigkeiten brachte.
Der Baldurstolzer packte ihn am Handgelenk: ”Seine Hochgeboren schätzt es nicht, wenn nächtens Fremde durch sein Lager schleichen”, zischte er.
“Ja, also...das ist so”, Aureus schaute Vitold an, ”ich wollte jemanden besuchen”, und er zwinkerte verschwörerisch.
Der Baldurstolzer packte ihn am Kinn und sah ihm lange in die Augen, dann grinste er hämisch: ”Ach so, Ihr seid wegen mir hier. Ich habe gleich gesehen, dass wir uns `verstehen` würden. So ein hübscher Bengel kann ja nur der elfischen Fraktion angehören.”
“WAS! NEIN!”
“Ah! Verstehe. Ihr seid noch Jungfrau. Keine Sorge, ich werde vorsichtig sein.” Der Edle zu Hinterwald strich Aureus über die Wange.
Dieser jedoch schlug die Hand weg und zischte: ”Ich habe Nein gesagt. Ich bin nicht wegen Euch hier, sondern wegen Ira…” `Mist! Jetzt hab ich mich verplappert`. Aureus schlug sich die Hand vor den Mund.
“Plötzbogen”, sagte Vitold sinnierlich, “Da hätte ich auch früher drauf kommen können.” Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: ”Ihr Zelt ist dort vorne. Wo es nach Hund riecht.” Der Umstand schien den Baldurstolz zu belustigen und anzuekeln zu selben Zeit. Deutlich ernst fuhr er fort: “Aber seid gefälligst leise und verschwindet am besten eine Stunde vor Sonnenaufgang. Besser früher. Verstanden.” Damit ließ er den Altenweiner ziehen.
Aureus atmete auf und begab sich zu dem genannten Zelt.
Beim Näherkommen wusste Aureus, was der Ritter gemeint hatte. Es roch tatsächlich nach Hund am Zelt der Plötzbogen. Prompt stolperte Aureus über eine Schüssel, die auf dem Boden lag. Das leere Blechgeschirr klapperte, als es sich durch den Stiefelschlag des jungen Ritters auf den Kopf stülpte und sich sein Inhalt im Gras ergoss. Sogleich schlug in unmittelbarer Nähe ein Hund an: ein einzelnes dumpfes “Woff”, dem ein leises Knurren folgte, aber Aureus konnte das Tier nicht ausmachen. Anderswo löste das leise Geräusch ebenfalls Knurren aus. Diesmal knurrte es aus gleich mehreren Kehlen und es kam aus dem länglichen Zelt, das genau neben dem von Ira stand. Dort heraus hörte er die beruhigende Stimme einer Frau, woraufhin das Knurren aufhörte.
Aus Iras Zelt kamen stattdessen zwei Stimmen. Die von Ira und eine männliche. “Bestimmt wieder eine von den Wachen.” war die der Plötzbogen zu hören. “Glotzen einem auf den Arsch, aber haben sonst Rossballen auf den Augen. - Schluss jetzt, Jast!” Das letzte im Befehlston gesprochen
Der Hund knurrte weiter.
“Ihr müsst ‘Aus’ sagen.”
“Ach, scheiße ja. - Aus, Jast, aus! Halt die Klappe!”
Tatsächlich knurrte der Hund jetzt leiser. Doch immer noch.
“Aus!” erklang Iras Stimme noch etwas eindringlicher.
Nun schwieg der Hund tatsächlich.
“Na also. - Wer war noch gleich dran, du?”
“Nein ich hab abgelegt. Ihr seid dran, Wohlgeboren.”
“Sag mal,... der schaut immer noch so. Linje sagt, wenn er den Kopf nicht wieder ablegt, ist er noch nicht frei. Ist da vielleicht jemand draußen?”
Der Mann seufzte. ”Gut. Ich schau mal raus.”
“Danke Darek. Bist’n Schatz.”
Einen Augenblick später schlug die Gestalt von Iras Waffenknecht die Plane zum Eingang beiseite und auf Aureus fiel der Schein zweier Kerzen, die im Zelt der Plötzbogen einen kleinen Tisch ausleuchteten, an dem Ira in lockerer Kleidung saß, einige Karten auf der Hand und einen großen schwarzen Hund an ihrer Seite, der jetzt, da er den Fremden sah, lautlos die Zähne entblößte.
Noch ehe Darek oder Aureus etwas sagen konnten, hatte Ira die Gestalt vor dem Zelt gleich erkannt. “Aureus??” Ihr geübter Blick vermochte sogleich erkennen, dass etwas nicht stimmte. Augenblick zog sie sich auf die Beine, wobei der Schemel, auf dem sie gesessen hatte, umkippte. Bevor sie sich aber näherte, drehte sie sich zu dem Monstrum von Hund um und gab den Befehl “Bleib!” aus, dazu eine Geste mit der Hand. Erst dann winkte sie ihren Freund verwundert näher.
“Was ist los? Ist wieder was mit deiner Schwester? Kann ich was für dich tun?”
Sie standen nun alle drei im Zelteingang.
Im Schein der Kerzen konnte Ira sehen, was Vitold entgangen war, Jast aber auch weiterhin die Lefzen blecken ließ. Und auch, was nicht stimmte. An seiner Hand klebte immer noch geronnenes Blut und seine Tunika wies verräterisch dunkle Flecken auf. Bei der Erwähnung seiner Schwester fing seine Unterlippe an zu zittern und seine Augen füllten sich mit Tränen. “Er soll gehen”, brachte er mit Mühe, aber ohne Emotionen hervor, blickte Darek dabei nicht an, sondern Ira in die Augen.
"Na klar." Ira nickte und wandte sich an ihren Getreuen. "Lässt du uns bitte allein?"
"Selbstverständlich. Soll ich Jast vielleicht mitnehmen?" schlug Darek vor, einen Blick über die Schulter Iras geworfen.
"Ja, das wäre vielleicht ganz... öh...hilfreich."
Der Waffenknecht zeigte ein Schmunzeln unter seinem Bart und wandte sich dem Hund zu. "Komm, Großer, wir machen einen Spaziergang durchs Lager. Das entspannt und macht müd und dann schlafen wir die drei Stundengläser bis zur Wache wie Steine, du wirst sehen." Dabei griff er beherzt nach der ledernen Leine, deren Führende über dem Tisch hing, und zog den Hund mit sich zum Ausgang. Jast gehorchte nur widerwillig und fing, als sie an Aureus vorbeikamen, wieder zu knurren an. "Freund!" knurrte Darek streng und der Hund wurde ruhig, sah aber den Altenwein weiterhin grimmig an. "Komm!" Beim nächsten Kommando zog der Mann nur kurz an der Leine und das Tier gehorchte. Einen Moment später waren die beiden im Nachdunkeln verschwunden.
"Oh Mann, komm rein..." murmelte Ira mit sorgenvoller Miene, als sie ihren Bundbruder mit einer mehr als höflichen Geste herein bat. Auch im Zelt der Plötzbogen roch es nach Hund.
Bevor sie die Zeltplane hinter Aureus endgültig zuzog, schaute die Ritterin noch einmal nach draußen. "Hat dich jemand gesehen?"
Sie schob die Frage sogleich wieder beiseite und deutete auf einen der beiden Scherenstühle. "Egal, das werd ich morgen schon erfahren. - Aber jetzt sag mal was los ist! - Äh, warte, du willst bestimmt was trinken. Würd ich auch, wenn ich so aussähe wie du..." nahm Ira ihm die Entscheidung ab und ging ohne auf Antwort zu warten zu einer Kiste, öffnete sie und zog erst prüfend ein paar in Stroh darin gelagerte bauchige Weinflaschen heraus, entschied sich jedoch für einen Trinkschlauch, der aussah wie der Körper eines gestopften Zickleins. Es fehlten nur Kopf und Hufe. "Ah, das brauchts." murmelte sie. Mit einem kurzen "Hier," drückte sie das Ding kurzerhand Aureus in die Arme. "Den hat Dareks Bruder selbstgebrannt. Übel scharf. Brennt dir die Zunge und die Kehle weg, sag ich dir. Aber du siehst aus, als bräuchtest du was Starkes." Schmunzelte sie. Sie war allerdings weit davon entfernt sich über ihren Freund lustig zu machen, wie Aureus in ihren Augen ablesen konnte. Sie nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn dann einfach nur mitfühlend an.
Der Altenweiner zug den Korken und setzte an. Er nahm einen tiefen Zug. Der scharfe Schnaps löste einen Hustenanfall in der untrainierten Kehle aus. Als er wieder Luft bekam, nahm er trotzdem einen weiteren Zug. Er wischte sich den Mund mit seinem Ärmel ab und reichte den Schlauch an Ira weiter. Dann schaute, nein, starrte er sie an. “Ich habe was ganz abscheuliches getan, Ira.” Er machte eine Pause. Sammelte Mut.
Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
“Ich habe jemanden umgebracht und… Praiodara… ich… sie… wir haben uns gegenseitig vergewaltigt.” Jetzt waren alle Dämme gebrochen und schluchzend brach er zusammen. Der Kopf landete auf der Tischplatte und stieß dabei etliche der Karten hinunter. Die starken Schultern bebten.
Ira hörte zwar, was ihr Freund da versuchte mitzuteilen, aber die Worte fanden in ihrem Kopf nicht zusammen. “WAS?” war daher die erste Frage der Wahl. Gefolgt von einem verwirrten, ungläubigen Kopfschütteln.
Vergewaltigt? Nein. Gegenseitig vergewaltigt!
Ira dachte angestrengt nach: Hatte sie Aureus gerade richtig verstanden? Ihn so hilflos zu sehen riss sie jedoch aus den kruden Gedanken, die ohne eine Erklärung von ihm sowieso keinen Sinn ergaben. Drum stand sie auf, ging um das Tischlein herum und neben ihm in die Hocke, Ira legte Aureus eine Hand auf seinen Rücken, die andere auf seinen Kopf und streichelte ihn wortlos. Versuchte so, dem Bundbruder erst einmal Halt zu geben. Ihr skeptischer, wenngleich immer noch sorgenvoller Blick glitt über ihn in eine der Kerzen. Sie verstand seine Worte nach wie vor noch nicht. Gegenseitig vergewaltigt - wie ging das? Sie nahm an, hoffte, er würde ihr alles erklären, wenn er bereit dazu war. Aber sie wollte ihn nicht drängen und wusste auch nicht, ob er es wollen würde, dass sie ihn in den Arm nahm, daher streichelte sie ihn weiterhin nur stumm.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Altenweiner beruhigt hatte. Er nahm noch mal einen tiefen Schluck aus dem Zicklein und berichtete Ira, was seit dem Sturz seiner Schwester geschehen war. Von der missglückten Traumreise, seinen Erlebnissen in der Traumwelt, Morcan und was nach seinem Erwachen vorgefallen war bis hin zum misslungenen Exorzismus. Unterbrochen wurde der Monolog vom Schluchzen des Ritters und weiteren Weinkrämpfen, denen Ira mit tröstenden Armen wortlos entgegen trat. Am Ende aber hatte er keine Tränen mehr. Ira schien es, als sei sämtliche (Lebens?) Freude aus seinen Augen gewichen. Dunkle Ringe darunter ließen ihn um Jahre älter aussehen. Seine Hand wanderte wieder einmal Richtung Schnapsschlauch.
Die ganze Zeit hatte Ira kein Wort gesagt, sondern nur zugehört. An ihrem Gesicht spielten sich zwar die verschiedensten Regungen ab, von Entsetzen bis Wut, und oftmals ging ihr Mund auf, letztlich aber blieb sie während Aureus von grauenhaften Träumen und seiner furchtbaren Tat erzählte, untypisch stumm. Als sie dann etwas sagte, war es hingegen wieder etwas sehr für sie Typisches: “Scheiße verdammt,” murmelte sie, immer noch schockiert, und wischte sich fassungslos übers Gesicht, während sie sich mit der anderen an der Schulter ihres Bundbruders fest hielt. Uff, das war heftig viel und wollte erst mal verdaut werden: ihr Freund Aureus, ihr Aureus, im Griff eines Dämons, der mit ihm… Nein, das wollte sie sich gar nicht ausmalen - und dennoch formte ihre Vorstellung verstörende Bilder zu seinen Worten, die sie nun wohl nicht mehr so schnell vergessen würde. Also griff auch Ira nach dem haarigen Ziegenleder, und leerte sich einen guten Schluck in die Kehle. Ihr angeekelter Blick galt dem Gesöff, von dessen beißender Schärfe sie nur Würgereiz bekam, trotzdem zwang sie die Intention, abzusetzen, nieder und trank stattdessen noch einige Schluck. Warum passierte diese unrechte Kacke nur? Die Vampire, und jetzt Dämonen, die... Fast schon gewillt, mal wieder ihren alten Feind Schicksal zu verdammen, packte Ira alter Zorn. Noch einmal entfuhr ihr ein ohnmächtiges “Scheiße, götterverdammte Drecksscheiße!” Ihr inneres Schreien zog sie auf die Beine. Was würde noch alles passieren? Ihr mitfühlender Blick besah sich das Häufchen Elend, das vor ihr saß. Sie traute sich nicht zu fragen, wie es seiner Schwester ging. Sie mochte sich auch nicht vorstellen, dass diese Sache Konsequenzen hatte. Sie wollte...ja, am liebsten da raus und diesen Beschwörer suchen und ihn - oder sie - in ganz kleine Stücke hacken. Dieser sollte nie wieder einem ihrer Freunde und auch niemand anderem jemals wieder so etwas antun können. Ein schöner Wunschgedanke, der sich mit der Wut auf Rhys mischte. Und mit dem Schmerz.
Aureus sah sie aus leeren Augen an: ”Sie hasst mich, wird mich immer hassen. Und ich kann es ihr nicht verdenken.” Seine Stimme krächzte vom vielen Weinen und dem scharfen Alkohol. “Und was erzähle ich Mutter?”
“Eins nach dem anderen,” mahnte Ira, während sie in ihrem Zelt umherging wie eine Katze vor dem Mauseloch. “Zuerst mal…” doch sie stockte, denn ihr fiel nichts ein. “Was hat denn Ehrwürden Hane gesagt? Und Jost?” versuchte sie ihre Gedanken anderweitig zu ordnen. “Hast du jetzt irgendwelche 'Auflagen’ bekommen, oder so ähnlich?”
“Nein! Das ist ja das nächste, dass mich fertig macht. Nach dem misslungenen Exorzismus haben sie mich alle stehen lassen. Es gab keine Verhandlung, kein Urteil. Ich weiß nicht, wie ich sühnen soll?! Der Schandfleck wird ewig auf meiner Seele liegen und auf mir. Vertraut man mir noch, oder nicht? Bin ich noch im Bund? Haben meinen Taten unseren Waffenschwur gebrochen? Ich weiß es nicht.”
“Warte, warte, du denkst, dass… Scheiße NEIN! Warum sollst du… ? Also… das wäre ja echt ein starkes Stück! - He! Du warst das doch nicht selbst!” Davon schien Ira überzeugt, weil sie mit Vehemenz einschritt. Sie ließ sich zur Unterstützung ihrer eindringlichen Worte wieder vor ihm nieder und hielt sich an seinen Knien fest, die sie im folgenden bei jeder neuen Aussage drückte. “Du. Warst. Das. Nicht! Weder derjenige, der die beiden Anconiter umgebracht hat, noch hast du das mit deiner Schwester willentlich getan! Ogerdreck, Aureus, da war ein verdammter Drecksdämon in dir!!! Warum sollte man dich verurteilen? Und warum solltest du nicht mehr zum Bund gehören... nee, Blödsinn!” Sie schüttelte den Kopf.
“Aber Noiona hatte dieselben Wunden, die ich den dunklen Eltern zugefügt habe, mit demselben Messer, das ich beim Erwachen in meiner Hand hatte. Mit ihrem Blut darauf. Und auf meiner Hand. Ich wars. Und es gab keine Untersuchung. Wie der Magus starb weiß keiner. Wie soll ich da nicht schuldig sein. Zumindest Noionas Familie wird mich für schuldig halten. Und sicherlich auch einige hier im Tross. Vielleicht sogar...im Bund.”
Jetzt gab Ira Aureus einen Klaps gegen den Kopf. “Wenn du jetzt noch einmal davon anfängst, dass du im Bund nicht mehr willkommen bist, dann verpass ich dir eine, Altenwein, das verspreche ich dir,” gab sie drohend von sich und stöhnte dabei laut auf, weil sie ihren Freund eine Freundin und ihrem Bundbruder eine Schwester sein wollte, doch seine Selbstdestruktion langsam nervte. “Langsam. Nochmal gaanz langsam.” Das war wohl ein Ratschlag, der ihm wie auch ihr selbst galt. “Diese Noiona hast nicht du, Aureus Praioslaus von Altenwein, zu Boron befohlen, sondern das war der Dämon in dir, dieser….Wie nochmal, Moran? Er hat dich nur benutzt, Aureus. Deinen Arm und deine Hand und deine Fähigkeit, ein Messer als Waffe führen zu können. Scheiße, natürlich war das dein Arm und natürlich hat deine Hand das Messer gehalten - aber es war der verfickte Dämon in dir, der deinem Arm befohlen hat, der Frau die Klinge in den Leib zu rammen. Nicht du! Das ist verdammt nochmal ein scheiß wichtiger Unterschied und ich will, dass der in deinen Kopf rein geht, weil der so was von götterverdammt das Wichtigste ist bei dem, was du dir selbst vorwirfst und was dir vielleicht auch andere vorwerfen könnten. Sofern sie’s denn tun!” Zuletzt hatte sie an seine Schultern gegriffen, um ihn ein paar Mal kräftig zu rütteln.
Der Altenweiner sah sie eine gefühlte Ewigkeit an: “Danke, Ira. Du bist eine wahre Freundin.” Er nahm ihre Hand und küsste diese. “Meine Bosparanienblüte.”
Das entlockte Ira ein Schmunzeln, welches ihre harten Züge aufbrechen ließ. Doch der Umgang mit Komplimenten waren noch nie ihre Stärke gewesen. “Also naja...öh… ich wäre eine wirklich schlechte Freundin, wenn ich dich in dem Quatsch, den du dir da selbst einreden willst, bestätigen würde.” erwiderte sie daraufhin.
“Ach wie rührend.” Beide fuhren herum und konnten draußen vor dem Zelteingang die Silhouette des Baldurstolzers erkennen.
Sofort zog Ira die Hand aus der ihres Bundbruders und Aureus konnte wahrnehmen, wie sich auch der Rest von ihr augenblicklich versteifte. “Hau ab, Hinterwalder!” rief sie gegen die Zeltwand an. Ja war denn das zu fassen, jetzt spionierte man ihr schon hinterher. “...Oder ist es wichtig?” fügte sie noch schnell dazu, damit ihr niemand - nicht Vitold, nicht der Baron - vorwerfen konnten, sie vernachlässige ihren Dienst.
“Ja, ist es”, antwortete der Baldurstolzer in leicht genervtem und gleichzeitig tadelndem Tonfall. Dann trat er ohne Aufforderung ein, rümpfte nochmals die Nase und schritt auf die Beiden zu.
“He, was...” wollte Ira protestieren, aber Vitold kam ihrem Protest zuvor:
“Euer Geplauder ist außerhalb der Zeltwände deutlich zu vernehmen. Ich konnte einige Nachtschwärmer vertreiben, bevor sie etwas vernommen haben, aber ich weiß nicht, ob mir vielleicht einer entgangen ist”, zischte er, um dann in etwas ruhigerem Tonfall fortzufahren, “Es dauert mich, was Euch widerfahren, Altenwein, aber wenn ihr nicht vorsichtiger seid, werdet ihr noch Panik auslösen und das würde das gesamte Unternehmen gefährden. Das wollt ihr zwei doch nicht, oder?”
“Danke für diesen hilfreichen Hinweis, Baldurstolz. So, und nun bitte verlasst mein Zelt!” Mit deutlicher Geste wies Ira zum Eingang. “Wir zwei,” wiederholte sie seine Worte, “wünschen Eure Abwesenheit nicht!”. Drecksverdammt, wo war Darek wenn man ihn brauchte…
“Da...Danke, Vitold”, stammelte Aureus, dem nur langsam klar wurde, was dieser gesagt hatte. “Bitte geht.”
Der Baldurstolzer nickte dem Altenweiner zu, bedachte Ira mit einem strengen Blick und machte auf dem Absatz kehrt. Beim rausgehen sagte er ohne sich umzudrehen: “Ach Plötzbogen, vergesst nicht mich rechtzeitig abzulösen. Seine Hochgeboren würde bestimmt wissen wollen, warum Ihr Euch verspätet habt und ich müsste ihm dann antworten.”
“Ja ja. Keine Sorge.” gab Ira brummend zurück und nahm den Blick erst von der Zeltplane, als sich die Schritte des Ritters draußen definitiv entfernten. Mit einem genervten “Mann, hat das jetzt sein müssen?” wandte sie sich Aureus zu, die Frage war wohl eher der Situation gestellt und nicht ihm. Trotzdem blickte sie ihren Freund streng an. “‘Danke Vitold’?” wiederholte sie mit verstellter Stimme, “Sag mal, spinnst du jetzt, Aureus? Nichts da ‘danke Vitold’! Erst belauscht der uns und dann kommt der Arsch auch noch rein und macht einen auf Hesindeschullehrer. Der soll sich mal lieber einen blasen lassen, verdammt noch mal, vielleicht ist er dann etwas entspannter. Wird sich doch sicher ein dummer Mund dafür finden.” schimpfte sie auf den Kollegen aus Eisenstein, dabei konnte Ira sich nur mit Mühe zurückhalten nicht laut zu werden, so wütend machte sie die Überheblichkeit des anderen.. Sie fand es nämlich unmöglich, dass man ihr hier nicht einmal in ihrem eigenen Zelt ihre Ruhe ließ. “Warum nennst du diesen Kerl eigentlich beim Vornamen? Das hat der nicht verdient.”
“Mann Ira, ich habe gerade größere Probleme, als die Etikette”, maulte Aureus zurück. “Außerdem hätte er ja auch gleich zu Rajodan rennen können. Ist er aber nicht. Und vielleicht ist er ja sogar ein guter Kerl.”
“Ja, klaaar. Und der Baron ist eigentlich auch ein ganz netter….” Ira blickte Aureus konsterniert und kopfschüttelnd an.
Doch der fuhr fort: “Wie würdest Du denn über ihn denken, wenn er ein Vasall des Landgrafen wäre, oder des Hlûtharswachters. Und überhaupt: warum reden wir hier über den verdammten Baldurstolzer.” Der Ritter griff wieder zum Zicklein. Nach einem tiefen Zug murmelte er traurig: “Ich werde wohl immer nur der Zweite sein…”
KLATSCH!
“AU!”, empört blickte er Ira an.
Diesmal traf ihn Iras Hand hart auf der Wange. Ein Blick in ihr Gesicht offenbarte ganz klar, dass er gerade eine Grenze überschritten hatte. Eine Grenze, die es bis eben noch gar nicht gegeben hatte. “In Ordnung, Aureus, reden wir über dich. Dass das gerade riesengroße Scheiße war!” warf Ira dem Freund tadelnd entgegen. Das sah er doch bitte ein. Ira hoffe es zumindest.
Mit der Ohrfeige war aber auch ihre Wut auf Vitold ein stück weit gewichen, was es der Ritterin ermöglichte, sich jetzt wieder zu fokussieren und durchzuatmen. “Nochmal so ein Spruch und ich brech dir die Nase, Altenwein. - Gut… lass uns überlegen, wie wir jetzt weitermachen. Mit dir und dieser...Sache...meine ich.” Sie traute sich nicht, das Kind beim Namen zu nennen.
“Was genau meinst Du? Den Mord an Noiona, die Vergewaltigung meiner eigenen Schwester, den Angriff auf eine Geweihte oder die Tatsache, dass es einen Dämon gibt, der mich jederzeit kontrollieren kann? Ich bin am Arsch, Ira. Am... verdammten... ARSCH!”
Verzweifelt griff sie sich mit den Fingern an die Nasenwurzel, schloss die Augen dabei und holte einmal tief Luft. Sie kam allerdings nur zu dem Erkenntnis, dass er ihr gerade eben wohl nicht zugehört hatte.
“Sag mal, hast du mir eben nicht zugehört?” Ihre Augen blickten eindringlich. “Du. Hast. Diese Noiona. Nicht. Umgebracht. Du. Hast. Auch. Deine Schwester. Nicht. Geschändet. - geht das in deinen Schädel nicht rein? Das war der Dämon. Der. Dä. Mon!” Ihre Wut nahm gerade wieder zu.
“Verdammt, die Praioskirche wird doch sicher Mittel und Wege finden, zu schauen, ob da noch was von diesem niederhöllischen Drecksvieh in dir ist, oder nicht, oder? Außerdem denke ich, dass du längst nicht frei im Lager herumlaufen dürftest, wenn sie dich für den Mörder halten. Denn das bist. Du. Nicht! Aureus, ich kenn dich, du bist weder das Eine noch das Andere. Du wurdest benutzt. Wirklich übelst, gemein und hinterhältig benutzt. Jeder Richter wird das genauso sehen. Notfalls… Notfalls bezeuge ich das.”
Eigentlich wusste sie genau was er meinte und sie wusste auch, dass er in einem gewissen Punkt Recht besaß: wenn es sich herumsprach, dass Aureus ein vermeintlicher Tot- und Stecher sei, würde sein Name leiden. Wie einst unter den Taten seines Vaters. Und das war etwas, was nicht passieren durfte.
“Und warum fühle ich mich dann schuldig, wenn ich es doch nicht war?” Er sprach leise, ruhig, sachlich. Sein Blick suchte den ihren, fand ihn und drang tief in ihren Geist. Kurz bevor es ihr unangenehm wurde senkte er den Blick: “Was ist, wenn sie schwanger ist?”
Der Gedanke war ihr auch schon bekommen. Sie musste an sich selbst denken und in der Zeit lange zurück, als sie mit Hochwürden Ivetta von Leihenhof über ihre eigene Schwangerschaft sprach und diese ihr eröffnet hatte, dass sie Ira ein Mittel geben könne, wenn sie dieses Kind nicht wolle. Darum verging ein Moment, indem niemand etwas sagte, bis Ira ihn brach: “Verdammt, Aureus, es gibt in so einem Fall Mittel und Wege.” Sie erschrak aber dann doch vor ihren eigenen Worten. Denn die waren alles andere als der Tsa gefällig! “Warte! Es muss doch nicht sein, dass deine Schwester gleich dings… “ plötzlich schämte sie sich für ihren unbedachten Ausspruch. “Das mit dem Kinderbekommen ist nicht soooo einfach,” versuchte sie ihn zu beruhigen, im Nachhinein tat sie sich allerdings schwer, die richtigen Worte zu finden. “Bei einer Frau… also, weil wir jeden Göttermond bluten… Es gibt Tage, da… Und deswegen gibt es Tage, an denen… Scheiße Mann, das geht eben nicht so einfach, weißt du?” log sie ihn an. Weil es im Grunde manchmal schon einfach war, geschwängert zu werden, wenn irgendwelche Mächte da draußen es so wollten. Sie hatte es ja selbst erlebt. Einmal ein schnelles Beisammensein hatte ausgereicht, um Hagrians Kind zu empfangen. Aber das war etwas anderes. Oder?
“Nein, nein, jetzt lass mal das Tor zu den Niederhöllen zu. Sooo grausam muss das Schicksal nun auch nicht sein.”
“Du hast bestimmt recht, Bosparanienblüte”, sagte er leise und zeigte ein zaghaftes Lächeln, von dem beide wussten, dass es nicht echt war. “Ich sollte jetzt wohl gehen, damit Du keinen Ärger bekommst.”
“Ach, denkt jetzt nicht an mich! Ich komm schon klar. Die Frage ist eher, ob du auch klarkommst…. Wo willst du denn jetzt hin?”
Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Zu den Anconitern konnte er nicht, in sein Zelt wollte er nicht. “Ich weiß nicht. Vielleicht lege ich mich zum Baldurstolzer, damit er Dir keinen Ärger macht”, versuchte er zu Scherzen, sah aber gleich, dass Ira das alles andere als komisch fand. “Ich… ach, keine Ahnung! Vielleicht löse ich eine der Wachen ab oder...oder ich lege mich ins Stroh zu den Pferden...oder”, ihm wollte nichts mehr einfallen und er blickte stumm zu Boden. “Kann...kann ich hier bleiben?”, fragte er schließlich hoffnungslos, da er wusste, dass sie ihm diese Bitte eigentlich, aus mehreren Gründen, ausschlagen müsste.
Doch das tat sie natürlich nicht. “Na klar. Ich hab sowieso bald Wachdienst. Du kannst dich auf meine Schlafstatt legen und ruhig bleiben solange du willst und kannst. Darek wird das verstehen.” Dann ging sie zu ihrer Liege und schlug die Decke beiseite, zupfte hier und da die Unterlage zurecht und lüftete gastfreundlich das Kissen. “Pffft...bei den Pferden schlafen… Das muss doch echt nicht sein… Dafür sind doch Freunde da!” murmelte sie und noch etwas brummte sie vor sich hin, bei dem Aureus nur Fetzen heraus hörte, aber anscheinend schimpfte sie über besagten Baldurstolz.
“Danke”, schniefte der Altenweiner und versuchte sich die Stiefel auszuziehen, ohne dabei umzufallen. Dann legte er sich in Iras Liege. “Weck mich, wenn Du wiederkommst.”
Sie setzte sich ans Fußende, warf die Decke über ihn - jetzt hüllte ihr Duft in gänzlich ein - und strich ein paar Mal mütterlich über seine Beine. “Mal sehn. Jetzt ruh dich erstmal aus. Hier bist du sicher. Außerdem bin ich noch eine Weile hier. Also falls du noch etwas brauchst… Und morgen lass uns ein Treffen mit den anderen einberufen und wir erzählen ihnen von der Sache, bevor irgendwie Gerüchte entstehen. Einverstanden?”
“Mmmmmh”, murmelte der Altenweiner schläfrig und sog den Duft seiner Jugendliebe in sich auf, dann seufzte er noch leise `Bosparanienblüte`und schlief ein. Für einen kurzen Augenblick sah er richtig glücklich aus. So naiv, schüchtern und einfach gestrickt, wie sie ihn auf dem Haffaxfeldzug kennengelernt hatte. Bei dem, was er in dieser kurzen Zeit schon erlebt hatte, hätte so manch anderer schon längst eine Kammer bei den Noioniten belegt. Vielleicht war er ja doch stärker, als er aussah oder selbst wusste.
Eine kleine Melodie begleitete Aureus’ Schlaf. Ein bisschen sang Ira das kleine Abend-Liedchen auch für sich selbst, denn was ihr Bundbruder erzählt hatte, machte ihr Sorge und Angst, und das Lied, mit dem Leuharts Kinderfrau den Kleinen stets in Borons Arme sang, beruhigte auch Iras aufgewühltes Gemüt. Bevor sie jedoch auch noch einschlief, zog sie sich für ihre Wache an und trat wenig später hinaus in die Nacht. Jedoch erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr Freund ruhigen Atems schlief. Sie mochte Aureus ungern allein lassen, so zerrüttet er und so beunruhigend die Sache mit seiner verkackten Traumreisr gerade war. Aber sie musste. Scheiß Dienst.

Aber die Sterne…

Unruhig scharrte sie mit den Füßen vor dem Zelt der Herrin. Sie hatte sich bereits einige Male geräuspert. Nun kratzte sie mit den Nägeln über die Zeltplane: “Hohe Dame von Plötzbogen.” wisperte sie in das Zelt der Schlafenden.
Als der Zelteingang einen Spalt aufgedrückt wurde, sah der Besucherin allerdings das frustrierte Gesicht des Waffenknechts der Rickenbacherin entgegen. “Es ist mitten in der Nacht. Was willst du?” Darek, wie der Mann hieß, musterte den Schemen vor dem Nachtlager seiner Herrin mit Strenge.
Es war Linje, die Hundeführerin: “IIch weieiß, Daarek. Dadaher ja. I..ch… Ich habab naach den Huhunden gesehehen. Uuund dadabei zuzu zufällig den Onkel der hohohen D Dame gegegesehn. Er Er hahat das Lager… verlalalassen.” Zerknirscht sah Linje auf ihre Stiefelspitzen.
Der Waffenknecht stöhnte. “Dann wecke ich mal die Herrin. Warte hier.”
Kurz darauf schmiss die Ritterin von Plötzbogen die Zeltplane regelrecht beiseite. Sie hatte sich eilig Gambeson und Schulterplatte übergeworfen, band gerade noch die letzten Schnallen und sah müde wie genervt aus. Hinter ihr gürtete sich auch Darek sein Kriegerschwert. “Mann, was macht der alte Zausel denn… Linje, nimm einen der Hunde, der soll die Spur aufnehmen. Na los, geh!” trieb die Ritterin ihre Untergebene an. “Und gut, dass du gleich herkamst.” Setzte sie noch lobend hinterher.
Die Abrichterin stieß nur Augenblicke später mit einem großen Rüden zu den beiden Waffenträgern. “IIIch weiweiss ninicht, oob wir ihihn brauauchen.” stotterte sie. “Er lieief dalalang.” Sie deutete auf den breiten Weg, dem der Zug bis hierher gefolgt waren und setzte den beiden Bewaffneten nach.
Sie hatten sich noch nicht weit aus dem Lager entfernt, da sahen sie abseits des Wegs eine gekrümmte Gestalt, die eine Anhöhe heraufkrachselte. Hinter sich her zog der Mann eine Kiste, unter der breite Räder montiert waren, so dass das kleine Gefährt an einen Handkarren erinnerte.
Leises Fluchen war zu hören als sich die drei näherten, denn der Karrenkoffer war offensichtlich viel zu schwer für den greisen Gelehrten. Dennoch zog er ihn Fingerbreit um Fingerbreit weiter nach oben. Stur. Verbissen.
Leonora von Heiternacht, eine recht junge Ritterin aus der Baronie Kaldenberg, hatte gerade ihren Wachdienst beendet, als sie eine dreiköpfige Gruppe erblickte, die sich aus dem Lager heraus bewegte. Eine der Gestalten erkannte sie als eine Kriegerin, die etwas älter als sie selbst sein mochte, und die sie während der vergangenen Tage im Umfeld des Barons von Hlutharswacht wahrgenommen hatte. Mehr Ansporn brauchte sie nicht, sie folgte der Gruppe auf ihrem Weg. Auch wenn sie nicht wirklich hinterher schlich, unternahm sie auch keine Anstrengungen, um auf sich aufmerksam zu machen.
Ira fasste sich kopfschüttelnd an die Stirn. Dieses Kindermädchending war ja sowas von nervig. Womit hatte sie das nur verdient? Sie seufzte schwer beim Anblick des renitenten Alten, der wahrscheinlich nicht einsehen würde, dass es besser war, nicht des nächtens mit einem Karren einen Berg hinauf zu wollen “Onkel Hesindiard! Was macht Ihr denn bei allen Götter hier draußen mit diesem Ding da? Ihr wisst doch, dass Ihr im Lager bleiben sollt. Nur da seid Ihr sicher!” rief sie hinauf. Kurz reflektierte Ira ihre eigenen Worte: sie hörte sich ja an wie eine Mutter, die mit einem Kind sprach. Verdammter Scheiß.
“Darek kommt hoch und hilft Euch beim Runterkommen.”
Besagter blickte seine Herrin etwas entrüstet an, machte sich aber auf ein “Bitte sei so lieb,” Iras stöhnend auf den Weg und kletterte dem Alten nach.
Währenddessen wandte sich Ira leise an Linje: “Behalt die Umgebung im Auge.”
Sie selbst tat das Selbe und warf den Blick ins Dunkel der Nacht. Nach hinten aber ging ihr Blick noch nicht.
Onkel?! Leonora zog eine einzelne Augenbraue nach oben. Sie beschloss, bei dem übermannsgroßen Strauch stehenzubleiben, dessen Blätterwerk sie überragte. Mit verschränkten Armen wohnte sie der Szenerie weiterhin als stille Beobachterin bei, trat sogar kurz instinktiv einen halben Schritt in den Schatten zurück, als die junge Hundeführerin begann wachsam die Umgebung zu beobachten. Ihr Hund, der Hesindiards Geruch als normal identifizierte, nahm nun einen anderen Duft wahr. Ein Menschenweibchen. Das war sicher! Er steckte seine Nase auf den Boden und begann zu knurren. Sein Fell stand leicht ab und seine Körperhaltung deutete auf Gefahr hin. Linje sah ins Dunkel genau in Leonoras Richtung.
Kurz hatte Leonora das Gefühl, als hätten sich ihr Blick und derjenige der Frau sich gekreuzt. Verlegen ob ihrer Heimlichtuerei löste sich Leonora von der Silhouette des Busches und trat ins Freie.
Auf das Knurren des Hundes hin, wandte sich auch Ira um, wobei ihre Drehung mit einem schnellen feinen Surren begleitet wurde, als sie das Schwert zog. “Wer ist da? Zeigt euch!” rief die Ritterin in die Richtung, die der Hund deutlich anzeigte, doch Leonora war ohnehin bereits in Bewegung.
Linje sog die Luft ein und verstärkte ihren Griff um die Leine des Tieres, das nun heftig in Richtung des Mädchens zog. Nur grob erkannte Linje das Wappen auf der Kleidung der anderen, wusste aber nicht sicher, ob sie zum Zug gehörte. “Herrin?” rief sie aus, um von Ira eine Anweisung zu bekommen.
“Warte.” zischte Ira Linje zu. Sie hoffte sehr, dass dies keine böse Überraschung war und machte sich bereit den Schemen kurzerhand mit lauter, nach Selbstsicherheit klingender Stimme anzusprechen.
Den Alten hingegen störte weder, dass Darek auf ihn zustapfte, noch dass unten eine Fremde aus dem Busch heraustrat. Er zog penetrant seine kleine Kiste weiter den Hügel hinauf, fast ein bisschen schneller als zuvor und war bereits oben angekommen als Darek bis zu ihm aufgeschlossen hatte. Garstig wies er ihn an, weder ihm noch seiner Kiste näher zu kommen, drehte diese seitlich um, legte sie am Boden ab und öffnete dann die Verschlüsse.
So schön. All diese Miesepeter verstanden nichts von den Künsten Hesindes. Von der Schönheit des Wissens. Von dem in allem Leben und allem Unbelebten ruhenden Klang der Wahrheit. Sie sahen nicht die Orte, die er sah. In allem, was seine Sinne ihm zeigten und sein geistiges Auge erschuf, lag die Verbindung aller Götter, der Zwölfe und den anderen, von denen nicht so viele wussten oder von denen die Thore glaubten, sie seien nicht mehr existent.
Leonora sah, wie sich Linje und der Hund aneinander abmühten. Mit einer Beiläufigkeit, über die nur Leute verfügen, die ein Leben lang Umgang mit Hunden hatten, näherte sich die Ritterin. Sie tat dabei so, als wäre das knurrende Tier Luft, als wollte sie an ihm vorbeilaufen. Dabei verfiel sie in einen leisen, ruhigen Singsang. Als sie in den Radius der Leine gelangte, ging sie unweit von dem Hund in die Hocke, erst jetzt schenkte sie dem Hund ihre Aufmerksamkeit, hielt ihm ihre Handflächen hin, beruhigende leise Worte sprechend. Es war offensichtlich, dass die Frau keinerlei Angst hatte.
In Ira spannte sich alles an, als die junge Frau so furchtlos auf sie alle zuging - trotz des geifernden Hundes. Jeder Muskel ihres Körpers erwartete den Befehl zum Angriff oder zur Verteidigung. Ein kurzer Gedanke zur Spitze des Hügels: Darek würde den Alten im Nahbereich schützen, darauf konnte sich verlassen.
Die Kriegshunde der Eisensteiner waren abgerichtet - auf den Kampf. Es waren weder Schoßhunde, die man in den Nordmarken hier und da fand, noch die häufig anzutreffenden Jagdhunde, die sich oft nicht an Fremden störten, wenn die nicht ängstlich davon stoben. Nein, die Hunde Linjes waren überwiegend darauf trainiert, anzugreifen, wenn man es ihnen befahl. Gegen den Gegner zu rennen, wenn man es ihnen befahl. Auch wenn beides meistens ihren eigenen Tod bedeutete. Das Verhalten der angstlosen Frau schien das Tier nur insofern zu beeindrucken, dass es nicht direkt seine Kampfhaltung annahm. Er knurrte zwar feindselig, aber zog nicht mehr an der Leine. Doch Leonora wusste, dass ein einziger Befehl seiner Herrin genügen würde, um seinem Gegenüber an den Hals zu gehen.
“Geebt eueueuch zu erererkennenen.” stotterte Linje mit schriller Stimmer. “Herrin.” rief sie erneut, um den Befehl zu erhalten, das Tier zu halten oder loszulassen. Ihre Hand zitterte leicht. Iras Furcht vor dem, was hier draußen lauern würde, hatten ihr Angst gemacht. Und dann diese fremde Frau dort. Womöglich war die gar eine Hexe. Hatte die ihren Hund verzaubert?
“Es ist nicht erlaubt, hier draußen einfach herumzustreunen,” warf sie der jungen Frau zu. “Name. Begehr. Sofort!” bellte Ira die andere an. Dabei griff sie ihr Schwert fester, bereit, es in jenen Schädel der Frau zu treiben, sollte diese sich in das Monster verwandeln, das sie sein konnte - wenn es nach Iras Vorstellung ging, die so düster war wie die Nacht. Im Kopf ging sie mögliche Taktiken durch: Sie würde zuerst den Hund loslassen, und Linje schützen, und den kopflosen Nahkampf so lange es geht vermeiden, hatte ihr doch ihr letzter Kampf mit dem verwandelten Finstertann-Ritter nur zu gut deutlich gemacht, dass sie erst herausfinden mussten, welcher Fluch den Verfehmden begleitete. Scheiße verdammt. Im Inneren fürchtete sie die unbekannten Kräfte dieser Wesen sehr. Dies zu zeigen verbot Ira sich allerdings.
Da sich das Tier ob der Nervosität seiner Begleiterinnen nicht beruhigen wollte, bewegte sich die junge Frau sachte ein wenig zurück, blieb aber in der abgehockten Haltung, mit hervorgestreckten Handflächen. “Das gilt genauso für Euch wie für mich.”, erwiderte die junge Frau, auf Iras Worte, um dann schließlich doch einzulenken: “Leonora von Heiternacht, soeben abgelöste Wache in diesem Lagerabschnitt.”, antwortete sie wahrheitsgemäß und mit einem schiefen Lächeln.
Längst von den mitunter für sie nicht nachzuvollziehenden Vorahnungen und Befürchtungen der jungen Ritterin, die ihre Hundeführer befehligte, angesteckt, führte die Vorstellung nur bedingt zu Linjes Erleichterung. Fahrig sah sie zu Ira hinüber, wie die sich verhalten würde.
Diese machte nun einige drohende schwere Schritte auf die am Boden Kniende zu. “WIR haben einen Auftrag,” erklärte sie der anderen auf deren Hinweis, dass auch Ira und die ihren unerlaubt unterwegs seien. “Zu welcher Einheit gehört ihr, wer befehligt euch? Wer ist eure Ablöse?” Die Stimme der Plötzbogen drang unbarmherzig durch die Nacht.
“Beruhigt Euch doch, Ihr macht den Hund ja ganz verrückt.”, sprach die Hinzugekommene. Ihre Stimme war sanft, der Blick weiterhin auf den Hund gerichtet, doch offensichtlich waren die Worte an Ira adressiert. “Wisst Ihr, ich sollte Euch das fragen - wer Ihr seid, und was Ihr und Eure Leute hier außerhalb des Lagers machen. Ist eigentlich sogar meine Pflicht, ich war ja bis gerade eben noch die Abschnittswache.”
“Suuuchen jejemanden.” erwiderte Linje schnell, zeigte auf den Hund und sagte dann mit klarer Stimme, “Sitz” und das Tier neben ihr ließ sich neben ihr nieder, weiterhin die Fremde vor sich im Blick.
Diese stand langsam, aber in einer flüssigen Bewegung auf. “Wen denn? Vielleicht kann ich behilflich sein.”, hakte Leonora nach, freundlich und geduldig im Ton. An Ira gerichtet ergänzte sie: “Es wäre gut, wenn Ihr Euer Schwert wegsteckt.”. Ihr Ton war dabei weder bedrohlich noch ängstlich, sondern klang nach einer sachlichen Feststellung.
“Die Entscheidung darüber überlasst bitte mir.” Erwiderte die Plötzbogen. Als Zeichen guten Willens legte sie die Klinge in einer weniger bedrohlichen Hut auf ihrer Schulter ab. Von dort konnte sie die jederzeit hervorschnellen lassen, aber die Spitze zeigte nicht mehr auf die andere. “Warum kommt ihr aus dem Wald dort!” führte sie die Befragung weiter. “Die Latrinen sind anderswo.”
Die Befragte zog die Brauen zusammen, als würde sie nachdenken, was der Anmut ihres Antlitzes keinen Abbruch tat. Gleich darauf glättete sich die Stirn wieder, ein verstehendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus: “Ihr versucht, einen Streit vom Zaun zu brechen.” Jäh bildete sich die Falte zwischen den Brauen erneut: “Aber warum? Was versprecht Ihr Euch davon?”
Davon ließ die Plötzbogen sich jedoch nicht einschüchtern.
“Nein, ich schütze in Travias Namen die Meinen und alle anderen guten Seelen dieses Zuges,” konterte Ira. “Warum könnt ihr nicht meine Fragen einfach beantworten. Ihr erweckt den Eindruck etwas zu verbergen, Heiternacht. Das ist auf dieser Unternehmung keine wirklich gute Idee. Weist euch ordentlich aus, ansonsten muss ich annehmen, dass Ihr…” Kurz hielt sie inne, wusste dankbar um den Hund an Linjes Seite. “...etwas im Schilde führt.
Leonora reagierte belustigt. “ICH habe meinen Namen genannt, und warum ich hier bin, während IHR noch garnichts zu Euch und dem Grund Eures Treibens gesagt habt.” Sie schüttelte mit einem ungläubigen Lachen den Kopf. “Und dennoch sei ICH es, der keine Fragen beantwortet...?” Die junge Frau winkte ab. “Aber ich glaube ich weiß ohnehin schon, wer Ihr seid, auch wenn mir Euer Name gerade nicht einfällt.” Die junge Frau grübelte kurz.
“Frau Iradora von Plötzbogen. Ritterin zu Rickenbach, Dienstfrau Seiner Hochgeboren Rajodan von Keyserring, dem Baron von Eisenstein. Das hier sind meine Leute und der alte Mann dort einer, für den wir verantwortlich sind." schob Ira genervt dazwischen, weil sie dieses stichelnde Hin und Her satt hatte. Fast schon fühlte sie sich wie in einem Verhör des Eisensteiners.
“Ich wusste, es war irgendetwas wie ‘Plätzchenbacken’!“, murmelte die andere, noch immer gedankenversunken. Dann zwang sie sich in die Gegenwart zurück: “Hört mal, Frau Iradora, wir können uns jetzt weiter darüber streiten, wer nun wegen des jeweils anderen die Wache ruft, oder wir kümmern uns um Euren ‘Schutzbefohlenen’, der da gerade…” Leonora blickte über Ira hinweg den Hügel hinauf und stutzte, “Bei Hesinde, was macht er denn da?”
Jetzt drehte auch Ira den Kopf. “Darek, du sollst ihn doch eigentlich runterbringen…. Ach verdammt nochmal, muss man hier alles selber machen?” fluchend wandte sich die Plötzbogen von der anderen ab und stapfte los, den Hügel hinauf. Linje ließ sie unten Wache schieben.
Leonora folgte ihr.

Hesindiard hingegen beeindruckte Dareks Anwesenheit in überhaupt keiner Weise. Er öffnete seinen kleinen Koffer, nahm einige Säckchen und Utensilien, sowie grobere und feinere metallene Teile, die trotz des fehlenden Lichts des Madamals funkelnd reflektierten, heraus und schloss die Kiste wieder. Dann drehte er sie um, so dass sie hochkant neben ihm stand, stabilisierte sie mit einigen kleinen Pflöcken, die er aus einem der Säckchen nahm und richtete sich stöhnend wieder auf. Dann presste er einen Daumen an eine Stelle, seitlich der Box und ein schmaler, metallener Stab fuhr nach oben aus und wurde von ihm in einer einzigen, flüssigen Bewegung abgeklappt.
Ein Brett, an dem an allen Seiten hölzerne Klammern montiert waren und das er soeben aus der Kiste genommen hatte, presste er auf diesen Stab bis ein klackendes Geräusch ertönte. Aus einer breiten, ledernen Mappe, nahm er einen großen Bogen Pergament, und spannte dieses in die Klammern ein.
Darek wusste nicht recht, wie er den Alten dazu bewegen sollte mitzukommen. All dieses Zeug, schien wertvoll - richtig wertvoll. Und er konnte wohl kaum einen sich mit Händen und Füßen wehrenden Alten den Hügel hinunter tragen?
Der Aufbau dieses kleinen Schreibpults war schnell gegangen und nun begann der Rickenbacher nacheinander die Säckchen zu öffnen und Ösen und filigrane Kleinteile zusammen zu stecken.
“Herr…” sprach Darek den renitenten Alten an, erinnerte sich jedoch an dessen Titel und verbesserte sich “Meister! Was soll das hier alles? Wisst Ihr, Ihr macht der Herrin Ärger, wenn ihr nicht augenblicklich wieder alles einpackt und euch zurück ins Lager bringen lasst.” Vielleicht würde Ehrlichkeit mehr bewegen.
Der Mann wedelte nur mit der Hand und ließ sich sonst nicht weiter stören.
“Onkel Hesindiard!” hörten beide jetzt die Stimme der Rickenbacherin, die nun auch den Hügel erklomm. Als sie oben stand und sich die Kette zurecht zog: “Onkel, was macht Ihr denn hier draußen? Darek sollte euch doch beim Abstieg helfen!” Iras Tonfall klang genervt. Der Seitenblick zu ihrem Schwertknecht warf Blitze des Zorn auf den hilflosen Mann, der nur entschuldigend mit den Schultern zuckte und selbst wiederum auf den Alten und dessen Konstruktion verwies.
“Hm.” Iras Ansprache hatte Hesindiard aus den Gedanken gerissen: “Ah, Kindchen, schön, dass ihr da seid. Und ihr habt Freunde mitgebracht.” Dann ließ er seelenruhig in einer eleganten Drehung eine kleine filigrane Öse in eine etwas größere einrasten. “So das wars.” Murmelte er und steckte die neuerliche Konstruktion wiederum in die Teile aus seinem Koffer, die er schon zusammengebaut hatte.”
“Was bei Borons gestörter Nachtruhe habt ihr mit diesem...Zeug... da vor?” Ohje, sie sah sich schon beim Rapport vor dem Baron stehen und die nächste Salve Kritik an ihr abholen.
Iras Begleiterin war einige Schritte hinter ihr stehen geblieben - seitlich versetzt, damit sie sehen konnte, was der alte Mann für Dinge trieb.
“Bei Hesindes Gaben!” blaffte der Alte in seiner ihr mittlerweile bekannten, harschen Art an. “Habt ihr denn noch nicht nach oben geschaut? Wisst Ihr denn nicht, dass man den Blick manchmal von den einem bekannten Dingen abwenden muss, um sich einem größeren Blick von der Welt zu machen.” Er deutete über seinen Kopf, in Richtung des Himmels. Und öffnete eine der verbliebenen Säckchen. “Und nun schweigt still. Ihr alle drei. Zumindestens für einen Moment. Dieser Arbeitsschritt erfordert Konzentration.” Der alte Gelehrte öffnete einen Beutel, in dem sich ein weiterer Beutel befand. Der Gegenstand, den er herauszog war aus geschliffenem Glas mit einer bronzenen Fassung, an der Schrauben und Ösen montiert waren. Behutsam und vorsichtig nahm er das Glasteil heraus in führte es in Richtung der von ihm bereits zusammengebauten länglichen Teile.

Ira trat an Darek heran und murmelte leise, so dass nur er er verstehen konnte: “Wir warten ab, was passiert. Beim kleinsten Anzeichen von Gefahr machst du das Licht aus.”
Darek nickte.
Dann trat Ira wieder näher an das ‘Gerät’. Irgendwie war sie ja schon neugierig, was der alte Zausel so alles trieb.
Leonora indes versuchte zu erkennen, was der Alte wohl meinte. Angestrengt blickte sie in den Nachthimmel.
Über Leonora erstrahlte ein herrlich klarer Sternenhimmel, ungetrübt durch das Wetter, Der Himmel wirkte klarer als zuhause im Westen.
“Hast du schonmal ein Teleskop gesehen, Kindchen?” fragte Hesindiard als er Iras interessierten Blick sah. Er war gerade fertig damit die Linse, die er in der Hand gehalten hatte, in eine der länglichen Röhre einzuspannen. “Eine echte Meulenar Linse.” sagte er stolz. Dann wandte er sich wieder an die übrigen Beutelchen.
Die schüttelte den Kopf. “Nein. - Doch!” fiel es ein. “Auf Burg Drachenwacht hab ich mal etwas ähnliches gesehen, es gehörte der Alt-Baronin, einer Maga aus Kuslik. Was, äh, macht man denn damit?”
“Weit… schauen….?”, sinnierte Leonora, die mit dieser Apparatur zwar nichts anzufangen wusste, aber das Wort “Teleskop” zu übersetzen verstand.
“Mit dem was ihr nicht wisst, können Bibliotheken gefüllt werden.” Es klang aber nicht so harsch wie seine üblichen Erwiderungen: “Die Sterne und den Himmel kann man damit anschauen. Und das ist gerade in der heutigen Zeit wichtiger denn je. Wisst ihr denn gar nichts über Sterne? Über ihre Bilder und Bewegungen?” Wohl nicht, denn wer nicht einmal wusste, was ein Teleskop war... “Was ist mit euch da hinten? Wie steht es um euer Wissen? Habt ihr schon einmal durch ein Teleskop gesehen?”
“Aber… ich sehe die Sterne doch auch so.”, gab Leonora, die sich angesprochen fühlte, zurück.
Der alte Mann stockte. “Ihr seht…., Hesinde schenk mir die Geduld, die ich brauche…. Ihr habt doch sicherlich schon mal ein Buch gesehen? Und es ist euch auch bekannt, dass man es aufschlagen muss, um es zu lesen? Auch wenn man das Buch freilich auch sehen kann ohne es aufzuschlagen?”
Still schraubte er hier und da noch einige Klammern fest und sah dann auf.
“Ihr… schaut damit in das Innere der Sterne?”, fragte Leonora vorsichtig, um sich nicht noch einen Rüffel einzufangen, aber doch offensichtlich mit Schwierigkeiten, dem Vergleich des Gelehrten - denn um einen solchen handelte es sich offenbar - zu folgen.
“Nun so ähnlich.” freute sich Meister Hesindiard. “Denn du siehst nicht alle Sterne von hier unten. Einige sind nicht hell genug. Andere sind von Zeit zu Zeit hinter dem Horizont verborgen. Wieder andere haben wir hier oben im Norden noch niemals gesehen, aber aus Aufzeichnungen aus dem Süden sind sie uns bekannt. Ich schaue also nicht in die Sterne hinein. Ich kann sie einfach nur nicht sehen, ohne das Teleskop.
Eine wichtige Lektion im Leben ist es, nie nur dem zu trauen, was man sieht. Sondern hinter das Offensichtliche zu blicken. Aber…” und er warf einen Blick auf Ira: “Dabei sollte man sich nicht von Furcht, sondern von Nandus Gaben leiten lassen.” Ein letztes leises Klicken ertönte und ein freudiges “Aha” folgte. “Nun, ist es bereit.” Vor ihnen stand ein etwa Mannshohes Gerüst aus Rohren, das auf metallenen Füßen thronte.
“Uuund wie lange braucht Ihr zum In-die-Sterne-schauen?” So interessant das alles war, aber sie durften hier nicht sein. “Nachts darf nur die Wache das Lager verlassen.” sagte sie als Erklärung, wohl ahnend, dass den Alten das nicht interessierte. Doch Ira hatte den Baron im Ohr: auf dass der Alte ja keinen Ärger mache. Und sie musste an die bisherigen Geschehnisse mit dem Empfangskomitee denken.
“Nicht allzulange.” antwortete er mit glitzernden Augen: “Es ist nicht gefährlich heute Nacht.” sagte er beiläufig. “Und die Sterne sind heute so besonders ergiebig. Wenn ihr mögt, dann erzähle ich etwas über sie und über ihre Bedeutung… für die Zukunft.”
Für die Zukunft? War das eine Anspielung, auf sie und Lupius etwa? Ira wollte noch etwas zu der Einschätzung sagen, es wäre nicht gefährlich hier draußen und sie würden ja auch hier oben nicht wie auf dem Präsentierteller stehen, aber sie nahm sich zurück und sagte stattdessen “Also gut. Dann erzählt man. Ein kleines bisschen Zeit haben wir. Aber fasst euch bitte kurz!”
Der Alte zeichnete einige Striche und Linien auf das Pergament und trat dann an das Teleskop. Und begann zu dozieren. Und fasste sich natürlich nicht kurz. Immerhin fehlte es diesen kleinen Mädchen offensichtlich an einem gehörigen Maß Bildung. Und er war geeignet und geneigt Abhilfe zu schaffen. “Seht nach oben. Das Madamal würdet ihr sicherlich erkennen, doch steht es hinter dem Horizont fern unserer Blicke. Richtet euren Blick daher zunächst auf den Horizont zwischen den beiden Wäldchen. Und lasst nun euren Blick hinauf gleiten in einer gerade Linie nach oben. Dort könnt ihr drei helle Sterne erkennen.” Er machte eine längere Pause, in der er wieder an sein Gerät trat und leise murmelnd zurück zum Pergament schritt: “Äußerst interessant.” Ohne die drei anzublicken fuhr er laut fort. “Der helle Stern ganz unten ist Marbo. Einer der zehn Wandelsterne und wie ihr seht einer der größten, darüber seht ihr einen Stern, etwas weniger hell, dennoch deutlich heller als die meisten anderen Sterne. Das ist der Nordstern. Über ihm wiederum seht ihr einen dritten sehr hellen Stern. Einen anderen der zehn Wandelsterne: Ucuri.
Nun schaut euch diese drei eine Weile an, und prägt euch ihre Position gut ein.
Insbesondere der Nordstern ist wichtig. Denn er ist das Zentrum des Sternenhimmels. Seine Konstante. Mit wenigen Ausnahmen der hellste Stern dort oben. Und der einzige aller Sterne, der sich nicht bewegt. Deshalb dient er der Orientierung. Setzt euch hier auf die Wiese, schaut nun hinauf und fixiert ihn, während ich euch eine der Sagen erzähle, die sich um diesen Stern ranken: Er sprach nun in gedämpfteren Ton weiter, und schritt dabei wieder vom Teleskop zum Pergament und zurück. Er hatte auch auf einer speziellen Scheibe eine kleine Kerze entzündet, die das Pergament in schwachen Lichtschein hüllte.

“Vor vielen Jahren als es noch keine Menschen auf Dere gab, stolperte ein verstoßener Zwerg über einen glitzernden, leuchtenden Brocken Stein. Er fluchte gar fürchterlich, weil er sich den Zeh gestoßen hatte und erkannte im gleichen Moment, über was er da gefallen war:
Es war der größte Diamant, den man je auf Dere gesehen hatte. Er brachte ihn seinem König, seine Verbannung wurde aufgehoben und der König aller Zwerge gar selbst schliff den Diamanten etliche Sommer und etliche Winter lang zu einem prallen, runden Brillianten von unerträglicher Schönheit. Er gab dem Stein den Namen Agam Bragab, was auf der alten Zwergensprache so viel wie Leuchtapfel heißt.
Lange Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte war Agam Bragab die Zierde des zwergischen Thronsaals. Bis sich eines Tages der Zwergenkönig, einer der Nachfahren dessen, der dieses Kunstwerk schuf, verliebte. Und er verliebte sich nicht in irgendwen. Oh Nein!! Er verliebte sich in IFIrn, die Tochter des grimmen Wintergottes.
Und um die kühle Schöne zu gewinnen, versprach ihr der König sein ganzes Reich, er versprach ihr alle Zwerge als Sklaven, all sein Gold und alle Edelsteine seines Volkes. Doch Ifirn verwehrte sich ihm, was seine Liebe zu ihr nur noch mehr entfesselte. Also bot er ihr Agam Bragab. Das Kunstwerk aller Kunstwerke seines Volkes. Und er hoffte sein Geschenk würde ihr Herz für ihn erwärmen. Die Göttin nahm sein Geschenk zwar an, aber seine Hoffnung war dennoch umsonst gewesen. Sie ging fort und mit ihr der Stein seiner Ahnen.
Ohne Agram Bragab und ohne die Liebe, die er verloren hatte ohne sie je wirklich besessen zu haben, verlor er noch mehr als das. Denn sein Volk wandte sich gegen ihn und stieß ihn vom Thron.
Ifirn aber verband den Stein mit ihrer göttlichen Kraft und markierte mit ihm das Herz ihres Reiches, und die Spiegelung dieses Herzens ist es, die wir dort oben sehen.” (adaptiert nach unbekanntem Autor)

Hesindiard machte eine Pause und suchte zu ergründen, ob die jungen Frauen nach oben sahen, wie er es verlangt hatte.
Ira hatte anfangs nach oben geblickt, aus Interesse. Doch für uralte Sagen von Zwergen und Göttern stand ihr nicht der Sinn. Zwischendurch hatte sie hilflose Blicke mit Darek getauscht, aber der Waffenknecht behielt eisern die Umgebung im Auge. Hier und dann hatte die Plötzbogen tatsächlich auch nach oben gesehen und auch mal zu Linje hinab, der sie mit einigen verständnislosen Gesten kommunizieren musste, dass das hier oben auf dem Hügel doch länger ging. Nun, am Ende des Vortrags schaute sie schnell wieder auf.
“Das ist ja alles ganz hübsch, Onkel Hesindiard, aber wir sollten jetzt unbedingt zurück ins Lager.”
Leonora indes hatte Platz genommen und während der Geschichte andächtig lauschend nach oben geblickt. Dabei hatte sie den Mund staunend offen gehalten, was ihrem eigentlich sehr ansehnlichen Antlitz etwas Dümmliches verlieh.
“Ja, wenn ihr unbedingt mögt. Geht. Wenn ihr diese einmalige Gelegenheit euer unterentwickeltes Wissen zu erweitern verstreichen lassen möchtet.” Etwas beleidigt, wandte er sich wieder an sein Teleskop.
Leider oder zum Glück hörte man ihr inneres Stöhnen nicht, das mit ihrem Kopfschütteln einherging. Warum konnte denn nicht eiiinmal etwas normal laufen? War das etwa zu viel verlangt?
“Na schön.” Sie gab sich wenigstens einen Ruck. Schließlich gehörte der alte Verrückte zur Familie, da musste sie wohl oder übel Weitsicht üben. Dies war nur traviagefällig. Trotzdem ging es ihr gegen den Strich, da machte auch der Dienst an der Göttin, der sie und die Jungs sich verpflichtet hatten, nichts besser. “Was wollt ihr uns denn mit Eurer weisen Geschichte für ein Wissen vermitteln?”
“Diese Geschichte eben war nur ein Test. Den du im übrigen nicht bestanden hast, Kind.” murrte er. Hielt aber inne. Immerhin hatte sie sich nun ein wenig dem Wissen der Göttin geöffnet, versöhnlicher fuhr er fort: “Solche Geschichten - und scheinen sie auch nur Ammenmärchen zu sein - lehren uns vieles und sie enthalten manchmal mehr Wahrheiten als man gemeinhin annimmt. Ungebildete Menschen - und ich meine nicht euch zwei damit, ich meine das Volk, das nicht mal des Lesens und Schreibens mächtig ist - sind nicht immer auch dumm. Sie geben ihr Wissen und ihre Erfahrungen oftmals in Form solcher Geschichten weiter. Man sollte tunlichst die verblendete Arroganz des Adels ablegen solche Geschichten zu belächeln. Was ich bezwecken wollte? Dass ihr eure Augen noch oben heftet, euren Blick eins werden lasst mit dem Sternenzelt. Damit ihr wenigstens die einfachsten Grundlagen kennt, wenn ihr in Zukunft hochblickt. Also, hinaufsehen, und den Nordstern fixieren. In seiner Nähe gibt es nicht viele helle Sterne, seht ihr? Diese schwachen, kleinen Lichter, nennen wir Sternenstaub. Diesen ignorieren wir. Erst in einiger Entfernung zum Nordstern seht ihr wieder hellere, größere Sterne. Wenn ihr diese am Sternenzelt sucht, seht ihr, dass sie sich wie ein Ring um den Nordstern reihen. Wie auf einer ringförmigen Bahn?”
“Ich sehe es!”, rief Leonora mit kaum gebremster Begeisterung. “Was könnt Ihr in diesen Sternen lesen?”
Na, wunderbar, jetzt fing diese Heiternacht auch noch an, sich lieb Kind zu machen. Vom Ehrgeiz gepackt, nicht noch einmal eine Prüfung vor der anderen nicht zu bestehen, warf Ira einen aufmerksamen Blick an das Sternenzelt. Ein heller Stern, der von einem Ring aus anderen bekränzt war, sollte doch leicht zu finden sein. Ach, das da? Vermutlich. Viel konnte sie der Sternenguckerei nicht abgewinnen. Und Begeisterung zu spielen fand sie total daneben, also blieb sie bei der Wahrheit: “Ich sehe den Sternenring auch, aber, ganz ehrlich, Onkel, ich kann Eurer Wissenschaft nicht viel abgewinnen. Zu einem anderen Zeitpunkt, unter anderen Bedingungen, daheim in den Nordmarken...da will ich mit Euch sehr gerne nochmal einen Blick riskieren. Aber hier...wo wir nicht wissen, wer es war, der Dämonen auf uns hetzt, da fehlt mir leider...der Sinn, versteht Ihr das?”
Hesindiard wurde plötzlich still und hielt in seinem Tun inne, während er Ira mit gerunzelter Stirn ansah: “Mädchen, irgendwas ist immer. Irgendein Krieg, irgendein Umstand, der dir eine Ausrede liefert, deinen Mangel an Bildung zu erklären anstatt ihn zu beheben. Ich habe es oft gesehen, in meiner Familie und an den vielen, dunklen Orten, an denen ich gewesen bin. Nichts entschuldigt sich nicht zu bilden. Nichts.” dann fuhr er erstaunlich sanft fort: “Wenn man Ritter ist, kann es sein, dass man das Böse, das Grauen, das womöglich hinter jeder Hecke lauert, so nah spürt, dass man das wichtigste vergisst: Du kämpfst nicht GEGEN etwas. Das mag vielen von euch so vorkommen, denn in der einen oder anderen Art, ist genau das eure Profession. Aber in Wahrheit ist es so, dass du FÜR etwas kämpfst. Und es ist wichtig, dieses WOFÜR immer wieder zu spüren. Denn nur das ist es, was uns von denen.” und er deutete dabei zielsicher in den Osten: “unterscheidet.”
Und jetzt auch noch ein Vortrag. Ira stöhnte laut. “Das weiß ich. Ich war schon einmal im Osten!” entgegnete sie dem Alten und rollte dabei ungeniert mit den Augen. Der hatte sie doch wirklich nicht mehr alle. Womöglich wusste sie nun den Grund, warum man den Kauz nicht zur Hochzeit eingeladen hatte: er belehrte die Leute in einem weg.
“Nun, dann hast du dort anscheinend die wirklich wichtigen Dinge nicht verstanden.” Dann wandte er sich an Leonora: “Ihr scheint mir dieser Erkenntnis schon näher. Ich werde euch etwas über die Sterne erzählen. Und was wir aus ihnen lesen können. Und wenn du, Ira, ins Lager zurück gehen möchtest, kannst du es getrost tun. Diese junge Dame dort, wird mich sicher gerne zurück begleiten, sobald ich hier fertig bin. Du musst dich nicht sorgen, es ist heute nicht gefährlich hier draußen.”
“Sagen das Eure Sterne?” Ira musste fast lachen. Sie musterte die Schleimerin. Nein, sie würde die Sicherheit von Lupius’ Onkel nicht einer Unbekannten überlassen. “Ne, tut mir leid. Ich werde euch hier nicht allein lassen. Seht es als Götter gefälligen Dienst an Travia und Rondra, dass ich mit meinen Leuten euer” sie verkniff sich, irrsinniges zu sagen, “Tun beschirme, damit ihr euch euren Studien widmen könnt.”
“Könnt Ihr auch die Zukunft sehen?”, fragte Leonora zögerlich, aber noch immer völlig eingenommen von dem Alten. Die Seitenblicke und die brüsken Worte der anderen Frau hatte sie entweder nicht wahrgenommen, oder beschlossen, nicht darauf einzugehen.
“Nun. Es ist nicht so, dass man sie präzise voraussagen kann, wie es Jahrmarktsmumen der Norbaden vorgeben. Aber man sieht ihre Schatten dort oben, lange bevor sie uns hier unten erreichen.” Antwortete er, offenbar zufrieden, dass wenigstens einer sich für die Sterne interessierte. “Aber diese Schatten beschäftigen sich nicht mit den alltäglichen Sorgen und Nöten, sondern mit den größeren Zusammenhängen.” Dann deutete er nach oben. “Aber eins nach dem anderen: In der Mitte der Nordstern, in einiger Entfernung um ihn herum auf einer kreisförmigen Bahn eine Vielzahl heller Sterne. Genauer gesagt sind es 12 Sternbilder. Jedem Gott der 12e wird eines zugeschrieben. Und das Sternbild, das am höchsten steht strahlt die Wesenheit seines Gottes, am allerstärksten herab zu uns. Wenn ihr nun euren Blick auf den Nordstern heftet und ihn dann direkt nach oben hebt, seht ihr einige helle Sterne innerhalb dieses Sternenrings. Dies ist das Sternbild des Schwerts, links daneben das Sternbild des Greifen. Die Sternbilder der Götter bewegen sich auf dieser kreisförmigen Bahn, die ihr seht, um den Nordstern herum. In jedem Mond steht ein anderes Sternbild ganz oben. Und einige Sternbilder sind zeitweise gar nicht zu sehen, sie verschwinden hinter dem Horizont und tauchen erst einige Monde später wieder auf.” Er hielt inne, zwang sich seinen Redefluss zu drosseln. Er wollte diese jungen Frauen nicht überfordern.
“Und Schwert und Greif stehen ganz oben, weil wir vor einigen Tagen vom Praiosmond in den Rondramond gewechselt sind.”, fasste Leonora das Offensichtliche zusammen, sichtlich zufrieden mit sich, die Ausführungen des Alten verstanden zu haben. “Aber was genau verraten die Sterne Euch, außer, wo genau wir uns im Götterlauf befinden?”, bohrte sie nach.
Ira interessierte das auch. Ihr war nämlich der fixe Gedanke gekommen, dass das mit der Sternkunde vielleicht doch nicht so ganz unnütze sei. Bezogen darauf, dass sich einschneidende Ereignisse zu einem gewissen Teil vorbestimmen ließen, wie weitere Sterne, die vom Himmel fielen, das Auftauchen neuer Sternbilder etwa, oder ganz banal, was diesen Heerzug in Tobrien erwarten würde. “Ja, tun sie kund, was uns in Tobrien erwartet?”
Das Vorhersage fallender Sterne schob sie wieder beiseite, war ihr doch aufgefallen, dass in Arivor der Tod so vieler Menschen hätte verhindert werden können, wäre der Sturz gerade dieses Unglückssterns vorhersehbar gewesen.
Hesindiard blickte zufrieden zu den beiden jungen Frauen: “Rohal der Weise und Niobara von Anchopal haben dazu die sehr bekannte Spährentheorie aufgestellt. Aber ich will euch nicht langweilen mit öder Theorie, die ihr euch ohnehin nicht merken würdet. Wichtig dabei ist nur: Die Sterne können unser Tun hier auf Dere beeinflussen, aber man kann niemals eindeutige Vorhersagen treffen. Sie stehen für Kräfte außerhalb unserer Vorstellungskraft. Lediglich das, was von diesen Kräften abstrahlt, das, was uns erreicht, zeigt sich dort am Himmel. Und für Vorhersagen muss man die Bahnen der Sterne berechnen. Dies ist bei einigen Gestirnen einfacher, bei anderen recht kompliziert.”
Er machte eine Pause und fuhr dann fort:
“Ich erzähle euch nun, was ich sehe und welche Kräfte vermutlich in den nächsten Tage unser Tun beeinflussen könnten:
Zunächst habt ihr Recht, junge Frau, Schwert und Greif stehen am höchsten. Ab sofort wird der Einfluss des Gesetzes, den der Greif verspricht, immer schwächer herab strahlen und langsam an Kraft verlieren, während das Schwert, die Kraft des Angriffs immer mehr an Kraft gewinnt. Dennoch beherrschen diese beiden Gestirne uns im Moment am stärksten, bis Mitte des Mondes auch die Kraft des Delphins stark sein wird und den Greifen überstrahlt. Die Veränderung löst also die Ordnung als einer der beiden Hauptaspekte ab, sozusagen. Gleichzeitig wird sich der Rabe erheben und der Einfluss des Todes wird stärker werden. Immer stärker, je näher wir gen Osten ziehen.”
Bezogen auf ihren bevorstehenden Kampf um Tälerort gab Ira dem Alten Recht und nickte zustimmend.
“Zentral sind der Einfluss der Wandelsterne Marbo und Ucuri, die ich euch schon gezeigt habe, sowie von Aves, den ihr direkt über Ucuri erkennen könnt. Und ihr seht, dass sich all diese Sterne in einer direkten Linie befinden, sie bilden eine direkte Verlängerung des Sternbildes darüber: Der Held. Er strahlt Opfermut auf uns hinab. Dieses Heldentum ist im Moment gepaart mit Freiheitsliebe, Sieg und dem Vergehen. Denn dafür stehen Aves, Ucuri und Marbo. Durchweg positive Einflüsse für die nächsten Tage. Doch seht ihr den hellen Stern etwas rechts vom Nordstern. Direkt über den Wipfeln scheint er hindurch. Das ist Horas. Der hellste der Wandelsterne. Nehmen wir ihn in zu unserer Überlegung hinzu, so stehen dem Heldentum, mit Freiheitsliebe, Sieg und Vergehen, Glück und Harmonie entgegen. Wir nennen das im Trigon stehen. Das ist spannend. Denn wenn etwas im Trigon steht, weist es auf einen Einfluss hin, mit dem man nicht unbedingt gerechnet hat. Und wenn ihr genau hinseht, erkennt ihr Levthan einen weiteren Wandelstern. SEin Licht ist düster. Nur zweimal im Jahr gleißt er auf. Und Levthan steht genau in der Mitte zwischen Held und Horas. Also kommen zwischen Heldentum, das sich mit Freiheitsliebe, Sieg und Vergehen ergänzt, noch 2 verdeckte Aspekte hinzu: Glück und Scheitern. Zufriedenheit und Maßlosigkeit. Was bedeutet dies nun?
Es könnte sein, dass jemand unter diesen Sternen und ihrem Einfluss einen durch Heldenmut errungenen Sieg durch Selbstüberschätzung verliert. Es mag sein, dass ein Scheitern für jemand anderen eine glückliche Wendung bedeutet oder am Ende jemand in der Lage ist über seine eigenes Scheitern hinwegzutreten, und darin Freiheit zu erfahren. Es könnte aber auch schlicht sein, dass ein bevorstehendes Scheitern durch Glück in einen Sieg verwandelt wird.”
Das überstieg nun Iras Verstand. Einen Sieg durch Selbstüberschätzung verlieren.... glückliche Wendung für andere… Scheitern durch Glück in einen Sieg verwandelt…? Wie er das aus diesen Punkten da herauslesen konnte war ihr schleierhaft. Sie wollte ihn aber nicht unterbrechen, er schien so enthusiastisch. Außerdem mochte sie nicht wieder angeraunzt werden.
“Diese Konstellation wird einige Tage so bestehen bleiben, aber der Horas wird sich entfernen, so dass in wenigen Tagen dort im Zentrum nur noch der Einfluss von Selbstüberschätzung und des Triumphierens auf uns hinabsieht.
Dies kann man auch als Warnung interpretieren, denn oft ist es Selbstüberschätzung, die zum Scheitern führt. Aber ich würde sagen, durch den Einfluss des nahen Horas und auch des Sternbilds Uthar, stehen eher positive Einflüsse im Zentrum des Himmels.”
“Aha,” machte die Plötzbogen skeptisch, weil er gerade seine eigene düstere Prophezeiung wieder revidierte. Wusste da nur einer, was er nun glauben sollte?
“Zwischen Marbo, Levthan und Horas, erhebt sich allerdings auch das Gehörn. Ebenso wie der Held mit Marbo, Ucuri und Aves konjugiert, konjugiert das Gehörn mit Levthan und Horas. Beide Sternbilder stehen daher miteinander im Trigon, das ist faszinierend und spannend. Äußerst spannend. Das Gehörn besteht aus 5 Sternen, einer von ihnen - Al*Churim - strahlt bläulich. Schaut einmal, ob ihr ihn erkennen könnt.”
Gehörn, Held… Ira interessierte es eher, ob sie sich jetzt auf eine schlechte Zeit einzustellen hatte, daher gab sie sich nicht viel Mühe, den bläulichen Stern zu finden, sondern kam gleich zum Punkt. “Bedeutet das denn alles wirklich das, was ihr sagt, oder ist das wie in den Schönen Künsten, wo verschiedene Leute mit unterschiedlichen Ansichten und Prägungen unterschiedliche Dinge im gleichen Werkstück sehen?”
Leonora war noch völlig fasziniert auf den bläulichen Al’Dingsbums fixiert. Ihre Augen strahlten mit dem Stern um die Wette.
Der Alte machte seufzend eine Pause: “Nun, jede Kultur benennt die Sterne anders, doch ihre Einflüsse werden überall auf Dere auf die gleiche Weise wahrgenommen. Es sind Einflüsse und Kräfte, die zu uns hinunterstrahlen. Ein Einfluss ist aber kein Zwang. Keine Setzung. Nichts, was notwendigerweise eintritt. Aber wie ein Krieger, der weiss, dass in einer Höhle ein Untier lauert, sein Schwert zieht, kann ein Mensch, der die Sterne liest, sich vorbereiten. Ein Beispiel: Ich habe zu eurer Hochzeit die Sternenkonstellation eurer Geburt errechnet und meinen Neffen gewarnt. Denn die Sterne haben euch einen Hang zu Starrsinn und Streitsucht gegeben. Mir scheint dies ist wohl ein hervorragender Beweis, den Einfluss der Sterne zu belegen, denkt mal darüber nach. Aber leise, wenn ich bitten darf.”
Sie tat ihm den Gefallen nicht. Argwöhnisch sah sie ihn an. “Ihr beurteilt mich also nach einer Sternenkonstellation, die es irgendwann mal gegeben hat, als ich gerade aus dem Bauch meiner Mutter kam? Findet ihr das denn ...in Ordnung?”
“Ihr scheint mir nicht zuzuhören. Ich sagte leise! Ich beurteile euch nach dem was ich sehe. Nach eurem Verhalten. Ihr zeigt mir damit nur, dass ich recht habe mit meiner Deutung. Renitent seid ihr. Damit passt ihr ganz hervorragend zu meinem Großneffen. Das im Übrigen. Noch einmal.” er seufzte: “Vielleicht muss man einfach Dinge oft genug wiederholen, weil ihr im Kopf etwas langsam seid: Die Sterne haben Einfluss. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Ebenso wie tausend andere Dinge. Wie, welcher Familie ihr entstammt, welches Geschlecht ihr habt, welche Profession die eure ist und so fort. Alle diese Einflüsse machen euch am Ende zu dem Menschen, der ihr seid. Die Sterne und ihre Kräfte außer Acht zu lassen wäre so als …. als würdet ihr den Stand außer Acht lassen. Ob ich es also in Ordnung finde, den Einfluss der Sterne auf euer Sein zu beleuchten? Ja, das halte ich für völlig in Ordnung. Hingegen euch NUR danach zu beurteilen, das wäre töricht. Ebenso töricht, wie einen Mann nur nach seiner Profession zu beurteilen, anstatt z.B. zu beachten, dass ein alter Gelehrter vermutlich mehr vom Kampf und Krieg gesehen hat als eine junge, törichte, selbstgefällige Rittersfrau!”
Leonora hatte angesichts des etwas hitzigen Austauschs zwischen dem Alten und der - tatsächlich ziemlich streitsüchtigen - Ritterin die Augen vom Nachthimmel gelöst und verfolgte jetzt, milde interessiert, das Gespräch der beiden.
Ira schnaubte verächtlich. Dieser Hammel! Bei nächster Gelegenheit würde sie sich bei genau jenem ‘Großneffen’ beschweren. Streitlust war tatsächlich gerade in ihr, doch wollte Ira jetzt ganz einfach seiner festgefahrenen Meinung über sie einen Dämpfer verpassen und friedlich bleiben. Dann würde er sicher dumm gucken, der alte Herr Gelehrte, der angeblich mehr von Kampf und Krieg gesehen hatte, als man dachte.
“Danke für diesen….Einblick.” Sagte sie daher sehr beherrscht und erwachsen. “Dann weiß ich jetzt Bescheid. Über die Sterne, meine ich. Bitte verzeiht die...Unterbrechung.” Mit diesen Worten wandte sie sich ab. Sollten die beiden anderen doch machen, was sie wollten. Die Sternlehre hatte plötzlich für Ira an Interesse verloren,
Er sammelte sich kurz und fuhr dann fort.
“Der Held besteht aus 9 Sternen und steht mit dem Gehörn im Trigon. Die Macht von Heldentum und Willenskraft ist dadurch größer, da sich ihre Wirkungen verstärken.
Dann stehen die Ringe in der Nähe des Delphins. Das Schwert ist über Kor mit dem Hund und dem Delphin verbunden. Sehr interessant. Streit und Unverträglichkeit als Bindeglied zwischen Freundschaft und Sieg. Alles während der Einfluss von Verbindungen und Veränderungen immer stärker werden. Spannende Einflüsse sind dort oben sichtbar.”
Streit als Bindeglied? Ira, die aufgehört hatte, der ausschweifenden Erklärungen zu folgen, horchte nun wieder auf. Was bitte sollte das denn bedeuten??
“Spannend und auch bedrohlich, denn hinter den Wipfeln zu eurer Rechten werden sich in einigen Tagen neben dem Raben, das Sternbild des Dolches und der Wandelstern Satinav erheben. Wenn der Einfluss von Tod, Verrat und Zaudern zusammenfällt, sollten wir uns das eine Warnung sein lassen.
Alles in allem, im Gesamten ein guter Zeitpunkt für euer Unterfangen. Zumindest, was die Sterne betrifft. Nur in den nächsten Tagen sollten wir achtsam sein, die Einflüsse können Düsteres begünstigen” er schien sehr zufrieden zu sein und kritzelte wieder einige Zahlen auf das Pergament vor sich.
“Einfluss von Tod und Verrat und Zaudern,... Bezogen auf...was?” murmelte Ira leise für sich. Es war mit dieser Aussage wie mit vielen Dingen aus dem Munde ihres angeheirateten Verwandten: sie mochten sie nicht erhellen, sondern eher verwirren. “Also das heißt, dass der Baron von Hlutharswacht seine Unternehmung, sprich, diesen Feldzug, zwar ganz gut geplant hat, aber dass zumindest, was die Sterne angeht, irgendetwas Furchtbares passieren wird - richtig?”
Hesindiard schütttelte den Kopf: “Nein, es bedeutet, dass die Einflusse der Sterne begünstigen, dass etwas Furchtbares passiert.” Dann wandte er sich für ein paar letzte Striche dem Pergament zu. “möchte eine von euch einmal hindurch sehen? Durch mein Teleskop?”
“Gerne.”, beeilte sich Leonora zu sagen, bevor Ira den Alten verscheuchen konnte. “Aber ich habe zuerst noch eine Frage: das mit der Kraft der Sterne. Weil Ihr ‘Einfluss’ sagtet. Ist der Einfluss wie ein Fluss?” Sie merkte sofort selbst, dass das komisch geklungen haben musste. Daher fügte sie rasch zur Erklärung hinzu: “Ich meine - ein Fluss kann ja von Schiffen flussauf- wie flussabwärts befahren werden. Aber flussabwärts ist einfacher.”
Ira rollte nur mit den Augen.
Fast sah man so etwas wie Anerkennung in des Alten Augen aufglimmen: “Eine kluge Frage, junge Frau. Wie die Kräfte der Götter über die Sterne zu uns hinunterstrahlen, wissen wir Gelehrten allzu gut, wenn auch nicht so gut, nie so gut, wie wir es gerne hätten. Doch wie sich unser Glauben und unser Handeln wiederum auf die Götter und Mächte dort oben auswirkt, das zu erforschen und wissen obliegt den Priestern. Und die Meinungen bei diesen gehen auseinander. Obwohl die meisten wohl glauben, dass unser Glauben den Göttern dort oben bei ihren Kämpfen helfen können.” zufrieden winkte er die junge Frau herbei, um sie zu seinem Teleskop zu führen.
Leonora freute sich so sehr über die Anerkennung, dass sie es nicht wagte weiter nachzufragen, denn sie hatte nicht wirklich verstanden, was der Alte mit seinen Worten gemeint hatte.
Zögernd näherte sie sich Hesindiard und seinen Geräten, immer vorsichtiger werdend, je näher sie dem Teleskop kam, als könnte sie mit einer unbedachten Bewegung die Apparatur in tausende Teile zerschlagen. Mehr noch aber fürchtete sie jedoch die Schelte des Alten, die sie in so einem Fall unweigerlich ereilen würde. Als sie vor dem Teleskop stand, wagte sie kaum zu atmen. Ängstlich hatte sie die Stirn hochgezogen, und sie bewegte ihre Arme so langsam, als hätte Satinav die Zeit eingefroren.
“Sehr weise, vorsichtig zu sein. Diese Linse ist so wertvoll, selten und schwer zu bekommen, dass ein Zerbrechen bedeuten würde, dass ich nach Hause zurückkehren müsste und meine Studien - mein Lebenswerk - nicht beenden könnte.”
Kurz kam in Ira der Gedanke auf, nun zu wissen, wie sie den Alten los bekam. Gleichzeitig schämte sie sich dafür sehr und schmiss den Gedanken sofort aus ihrem Kopf. Ihr Schuldbewusstsein ließ sie zumindest wieder zuhören.
“Aber seht nur hindurch. Dadurch kann nichts passieren. Sie ist recht robust, diese Konstruktion.” versuchte der Alte Leonora zu ermuntern.
Vorsichtig beugte sich die junge Frau herunter. Zuerst ging sie nicht nah genug hin, dann konnte sie sich nicht dafür entscheiden, welches Auge mehr oder besser sah. Doch schließlich konnte sie den Nachthimmel durch die Ansammlung der Linsen betrachten. Mehrmals wechselte sie zwischen Teleskop und dem einfachen - wie sie empfand, unverstellten - Blick zu den Sternen. “Und… nun? Auf was muss ich achten?”, fragte sie.
“Macht einmal Platz.” scheuchte Hesindiard sie ein wenig zur Seite und suchte mit dem Teleskop etwas, bevor er sich wieder an Leonora wandte: “Hier,” er drehte einige kleine Rädchen, so dass das Rohr starr gen Himmel zeigte - genau dorthin, wohin er es ausgerichtet hatte. “Schaut Euch diesen Stern an.” Er zeigte in eine Richtung: “folgt erst mit eurem Blick meinem Arm. Dann seht hindurch.”
Die junge Frau, bemüht alles richtig zu machen und weitab von jeglichem vertrauten Gelände, nahm die Anweisung wörtlich: konzentriert betrachtete sie den Arm vom Ellenbogen hinauf bis zum Zeigefinger, bevor sie es wagte, den Blick von der Fingerkuppe zu lösen und die gedachte Linie zum Firmament zu verfolgen. Dann, als sie die gewiesene Stelle erreicht zu haben glaubte, bewegte sie sich seitlich, bemüht den Kopf und die Augen nicht zu bewegen, und beugte die Knie, um das Teleskop genau vor ihre Sichtlinie zu bekommen. Die junge Frau, die jetzt mehr wie ein Mädchen wirkte, kniff das linke Auge zusammen und blickte hindurch. “Da!” Ohne ihr Auge vom Gerät zu lösen, hob die Hand und deutete zum Sternenhimmel. Das ist doch dieser blaue Stern! Allschuh-Bims!”, rief sie begeistert aus. “Er strahlt türkis.”
Außerdem konnte Leonora durch das Teleskop sehen, nachdem der Alte irgendein SChräubchen verstellt und das Teleskop neu ausgerichtet hatte, dass der Wandelstern Levthan, der nur matt zwischen den anderen Wandelsternen geleuchtet hatte, leicht grünlich schimmerte, wenn man ihn mit dem Teleskop betrachtete. Er war von vielen kleinen, leuchtenden Fragmenten - vielleicht kleinen Sternchen? - umgeben, die sich in einem Ring um ihn anordnete.
“Darek, willst du auch mal durch das Fernrohr in die Sterne. sehen?” fragte Ira, um sich wieder ins Gedächtnis des Alten zu bringen, weil ihrer Meinung nach die Kaldenbergein ein wenig zu intensiv mit diesem verkehrte.
“Was Ihr seht, junge Frau, nennen wir ‘Levschije’”. Ernst sah er das Mädchen an und fuhr leiser fort, wobei nicht klar war, ob er nicht mehr zu sich selber sprach: “In letzter Zeit mögen beängstigende Dinge dort oben geschehen sein, aber all das, was ihr heute gesehen habt, sind Sterne, die irgendwann geboren wurden. Es ist wichtig sich daran zu erinnern: Hab niemals Angst, wenn Sterne fallen, in Momenten der Angst denke daran, es werden auch welche neugeboren.”
“Wie in Arivor?” Die junge Ritterin hatte ihr Auge vom Teleskop genommen und blickte den Alten ernst an. Sie vergaß allerdings, ihr linkes Auge wieder zu öffnen.
“Ja, in Arivor ist ein Stern gefallen. Der Saarstern ist verloschen. Beides zeitlich nah aneinander.” Seine Stimme vibrierte leicht, während sie einäugig weiterfragte: “Welche Sterne sind denn neu geboren worden?”
“In der letzten Zeit? Hmmm.” er dachte kurz nach: “Es gibt einen neuen Wandelstern, der vor wenigen Jahren aufgetaucht ist … aber er ist nicht immer zu sehen. Er ist…. ein Mysterium. Symbolisiert das Chaos. Ein schlechtes Beispiel für Hoffnung…. Vielleicht. Wer weiß.” Er richtete das Teleskop neu aus, während er weitersprach: “Und dann natürlich das Auge des Fuches, ich kann es Euch leider im Moment nicht zeigen, da der Fuchs erst in einigen Monden erscheinen wird.
Sein Auge ist erst vor wenigen Jahren dort am Himmel erschienen. Zur Zeit als der Dämonenmeister, möge seine Seele bis zum Ende aller Zeiten in den Niederhöllen schmoren, unser aller Leben bedrohte. Und es hat sich nicht wieder geschlossen als Borbarad besiegt war, wie viele von uns zuvor geglaubt hatten.
Einige Jahre nachdem der Stern erschien, zerstörte dieser finstere Magier das Orakel von Altaia und nach dem letzten Kerygma kehrten die Überreste der Götterstatue des Phex zurück zu ihrem Herrn und umkreisen seitdem sein Auge.” Hesindiard selbst war so begeistert in Leonora eine so interessierte Schülerin gefunden zu haben, dass er Iras Frage an Darek nicht hörte.
“So ist es mit den Sternen dort oben. Sie werden geboren und sie gehen zugrunde. Manche fallen auch hinab. Und all das kann uns ein Zeichen sein, was dort oben für Mächte agieren. Mächte, die selbst die Priester hier unten nicht immer begreifen können und deren Wirken wir in den Sternen lesen können. Daher lohnt es sich den Blick beständig in die Sterne zu legen. Und zu dokumentieren, welche Sterne erscheinen und welche vergehen.”
“Das Auge des Fuchses!”, raunte Leonora mit andächtigem Ton, als wollte sie sich den Begriff einprägen (was auch der Fall war). “Aber… was ist denn ein Perückma?”, fragte sie mit weiterhin gesenkter Stimme, als könnten die Sterne jederzeit überrascht aufmerken und davonlaufen, wenn sie zu laut sprach.
Der Alte seufzte. Was lernten diese Kinder heute denn nur alles, wenn sie nicht mal… “Es heißt Ker Y Gma. Das Wort stammt angeblich aus dem echsischen, aber das ist nicht sicher. Es bedeutet soviel wie Verkündigung eines Gottworts. Also kein Priester, der etwas über seinen Gott sagt. Sondern ein Gott, der direkt durch seinen Priester oder einen heiligen Gegenstand spricht. Aber nicht nur das. Die Weitergabe eines Kerygmas ist notwendig, damit die Welt fortbestehen kann. Und derjenige, der es hört, nimmt die Worte in sich auf. Es ist daher nicht einfach eine Predigt. Vielmehr ein Dialog zwischen einem Gott und einem Sterblichen. Die alte Statue dort in dem alten Tempel war wichtig für die Weitergabe dieses Kerygmas und danach erhoben sich die Fragmente ihres zerstörten Körpers an den Himmel. In das Sternbild ihres Gottes.”
Er fuhr fort: “Sterne können verlöschen oder neu geboren werden oder etwas anderes tun. Sie ändern ihre Position. Das Sternbild der Hesinde war immer eine Schlange. Nun ist die einst sich windende Schlange ein Ouroboros. Ich kann sie euch vielleicht in einigen Wochen zeigen, sobald der Efferdmond beginnt und Hesindes Sternbild aufgeht. Was es bedeutet, darüber wird diskutiert. Ist eine Schlange nicht mehr fähig zu handeln, wenn sie sich selbst in den Schwanz gebissen hat? Oder ist es vielmehr ein Zeichen der Vollkommenheit? Ein Zeichen von Stabilität, von Schutz, den Hesinde uns gewährt, nachdem der Saarstern fiel und Rondra schwach ist? Das verraten uns die Sterne nicht. Sie sprechen mit uns, aber wir müssen nicht nur hören. Wir müssen auch verstehen und das…. ist nicht immer leicht. Oft wird uns im Nachhinein erst klar, welche Bedeutung der Sternhimmel hatte.”
Ira hatte ihrem Waffenknecht, nach dem sie ihn ansprach, mehrfach stumm angedeutet, dass er sich in die Unterhaltung einmischen solle. Aber entweder hatte Darek nicht verstanden, oder er wollte nicht verstehen. Jedenfalls grummelte sie weiterhin schlecht gelaunt, weil wieder mal alles an ihr hängenblieb. “Ich will ja nicht das schöne Fachsimpeln stören, aber, Onkel Hesindiard, wie lange braucht ihr denn hier noch?”
Wieder wandte sich Leonora vom Teleskop ab. “Woran erkennt man, dass dieser neue Wandelstern für Chaos steht?”, fragte sie neugierig.
“Es gibt 10 Wandelsterne, jeder von Mythen umgeben, seit langem beschrieben und interpretiert von den klügsten Köpfen, die je auf Deren wandelten. Jeder symbolisiert ein Götterkind:
MADA, Tochter des Phex, als bedeutendster von ihnen, der Einfluss ihres Sterns ist undurchsichtig, geheimnisvoll, wie die Zauberei, die MADA zueigen war.
UCURI, ein Sohn des Praios, einst aus ihm selbst erschaffen um den Göttern als Herold zu dienen, der Wandelstern symbolisiert seine Kraft, seine Gaben, Wahrheit, Verständigung und Erfolg.
HORAS, auch ein Sohn des Praios, manche glauben er sei derjenige, der allen 12en zugleich der Alveraniar sei. Er symbolisiert Harmonie und Zufriedenheit. Den Einklang mit und in der Welt.
MARBO, Borons Tochter, sie bringt mit ihrem Stern den Abschluss, die Endgültigkeit.
SIMIA, der Sohn Ingerimms und Tsas, beeinflusst mit Kraft und dem Willen zur Erneuerung.” Mit jeder Erklärung deutete der Gelehrte auf eine Stelle am Himmel.
“LEVTHAN, ein Sohn Rahjas, er steht für die Gier, die Selbstüberschätzung und die Maßlosigkeit,
AVES, ein Sohn Rahjas und des PHEX, der Abenteurer, der Einfluss auf den Freiheitswillen des Menschen hat und ihm die Entschlossenheit gibt sich der Veränderung hinzugeben,
KOR, Sohn der Rondra, bringt uns Streit, aber auch Stärke”
DAnn hielt er inne und sah Leonora an:
“NANDUS, kluger Sohn der Hesinde, sein Stern erstrahlt wie du siehst gerade nicht an unserem Himmel. Seine Kraft ist die des GEistes, des Verstandes, der Erkenntnis
…..
und nun ein neuer Wandelstern. Erst vor wenigen Jahren dort am Himmel erschienen. Der Stern wird XELEDON zugeordnet. Xeledon ist auch ein Sohn der Hesinde und wurde verstoßen, da er der Unvollkommenheit der menschlichen Werke spottete. Er symbolisiert Spott, Hohn und Wahn. Das Chaos.
Und so wie Aves’ Bahn seiner Freiheitsliebe Rechnung trägt, so taucht Xeledon auf, wann er möchte und wo er möchte. Es ist als gäbe es keine Bahn, der er folgt. Wie das Chaos, für das er steht. Und so - durch Rohals Vorhersagungen, den Berechnungen von Niobara von Anchopal, den Beobachtungen der Sternbahn und des Verhaltens der Menschen, sobald der Stern erscheint- konnte der Stern Xeledon zugeordnet werden.”
Kurz hielt er inne und fuhr dann fort: “Die Wandelsterne sind das wichtige, wenn man den Sternenhimmel betrachtete. Denn sie folgen schwer zu errechnenden Bahnen und beeinflussen uns stärker als man denken sollte. Merke dir also: es gibt zehn Wandelsterne, jeder symbolisiert die Kraft und den Einfluss der Götterkinder und ihrer Kräfte.” Zufrieden blickte er nach oben in die Sterne und sein Gesicht wirkte dabei seltsam entrückt.
Leonora nickte andächtig. Zehn Wandelsterne. Sie war völlig gebannt von der neuen Welt, die sich gerade für sie aufgetan hatte.
So standen die beiden- hinaufblickend in den Nachthimmel- einen Moment nebeneinander. Gefesselt von einer Welt, die den anderen beiden Anwesenden zusehens fremd schien.
Zumindest insofern, dass es den Geist Dareks und Iras momentan überstieg. Der eine befolgte lieber den Befehl, für Schutz für die anwesenden Adligen zu sorgen. Die andere machte sich schon Gedanken zu dem Gehörten, hatte aber ebenfalls stets die mögliche Gefahr im Hinterkopf.
“Wir sollten gehen. Morgen müssen wir wieder früh aufbrechen.” zerschnitt plötzlich die Stimme des Alten die andächtige Stille. “Aber ihr seid eingeladen jederzeit noch einmal mit mir durch das Teleskop in die Sterne zu schauen.” sagte der Alte zu der Jungritterin, während er vorsichtig die beschriebenen Pergamente zusammenrollte.
Es gelang Leonora nicht, ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, dass die Lektion schon endete. Aufrichtig blickte sie den Gelehrten an: “Es wäre mir eine große Ehre, wenn Ihr mir wieder den Sternenhimmel zeigt. Ich danke Euch vielmals.” Sie neigte ihr Haupt vor Hesindiard.
“Ich habe, bevor wir gehen, noch eine Frage. Woher weiß die Welt der Gelehrten denn, dass der neue Wandelstern Xeledon zugeordnet werden muss? Kann der Stern nicht… theoretisch… auch einem anderen gehören?” fragte Ira interessiert.
Etwas ungehalten antwortete der Alte: “Das habe ich doch eben ausführlich erklärt. Habt ihr denn nicht zugehört.” Dann zögerte er kurz und erinnerte sich, wie ungebildet und schwer von Begriff die junge Frau war. Daher atmete er kurz durch und sprach betont langsam: “Verzeiht, vermutlich wisst ihr nicht, wer Rohal der Weise war, nicht wahr. Oder Niobara von Anchopal? Also… Rohal der Weise war der größte Magier, der je auf Dere wandelte. Er war vor vielen, vielen Jahren Reichsbehüter und schenkte Aventurien eine friedvolle Zeit und Blüte der Wissenschaft. Niobara von Anchopal war die größte Sternkundlerin aller Zeiten, lebte zu seiner Zeit, war seine Freundin und Weggefährtin. Beide lebten sehr sehr lange und sind die Instanz…. Nun, wie sage ich das besser, damit ihr es versteht… wenn die beiden etwas zum Sternenhimmel vorhersagten, dann ist es bisher immer eingetreten. Sie verbanden Magie, Verstand und eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe, wie niemals Menschen zuvor und niemals Menschen danach.
Und wenn nun eine Vorhersage von Rohal, diesem großen und bedeutenden Magier existiert, und alle anderen Kennzeichen ebenso dafür sprechen, so ist diese Annahme doch sehr wahrscheinlich.” endete er den für seine Begriffe kurzen Vortrag. “Habt ihr das begriffen?” fragte er Ira zweifelnd.
Die Schultern ein wenig hochgezogen, wie damals in der Praiostagsschule, wenn einer der Klassenkameraden eine üble Standpauke erhielt, lauschte Leonora den Ausführungen. Gleichzeitig bekam die große, neue Welt der Sternkunde weiteren Glanz, als die Namen “Rohal” und “Niobara” fielen, die sie schonmal gehört hatte - den ersten ungleich häufiger als den zweiten. “Und Kaiser Rohal selbst hat vorausgesagt, dass der Wandelstern von Xeledon erscheinen würde?”
“Oh ja. Das hat er. Und nicht nur er. Auch… andere mächtige Magier haben dies getan. Dieser Stern … mahnt uns der Vergeblichkeit unserer Taten. Des sterblichen Seins. Das lang Ersehnte zu erreichen und dann festzustellen, dass es nicht das ist, was man ersehnt hat. Der Mensch ist selten klug genug zu erkennen, was er wirklich in seinem Herzen ersehnt. Er sieht nur den Schatten dessen und wenn er ihn erreicht, dann wird ihm klar, dass das andere, das wirkliche Ziel, viel ferner liegt. Vielleicht unerreichbar fern. Und er Energie und Zeit verschwendet hat. Einen Schatten zu suchen.” Irgendwann während der Alte gesprochen hatte, hatte sich seine Stimme verändert. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder Ira zu: “Die Sterne sind eben so. Sie zeigen uns Licht und doch sind sie nur der Schatten anderer Dinge. Anderer Mächte. Von Kräften, Kämpfen und Kämpen, die weit fort sind, unserem Geist unerreichbar. Wir alle sollten solchen Schatten Raum geben, sie können uns helfen, die Welt zu verstehen. Und noch wichtiger. Uns selbst zu verstehen.” er machte eine Pause und blickte zu Leonora hinüber: “Lektionen, die die Sterne geben: Sie sind wertvoller als man denkt.” Dann begann er die Schrauben an seinem Teleskop zu lösen und die Teile wieder in den kleinen Säckchen zu verstauen.
Es fiel Ira schwer, den Zwangslektionen des Alten den nötigen Ernst zu geben, den er vielleicht einforderte. Aber das mit der Sternkunde war einfach nicht ihr Ding. Als er die anderen Mächte erwähnte, musste Ira nach wie vor an den Imperialen denken und an das, was sie selbst schon erlebt hatte, wenn der noch im ‘Schatten’ Verborgene die Truppe zusammenrief und lenkte. Davon würde Hesindiard, der sich ja sonst rühmte, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, nie wissen. Und auch diese Heiternacht, die sich hier lieb Kind machte, nicht. Die Genugtuung darüber salbte die Wunden Iras aufs Köstlichste. Andere Rückschlüsse zog sie nicht.
Wie vom Donner gerührt lauschte die Ritterin aus Kaldenberg den Ausführungen des Gelehrten. Sie hatte verstanden, dass es längst nicht mehr um Sterne ging. Hatte er in ihre Seele gesehen? Hatte er ihre Suche nach ihrem Bruder gemeint, war er der Schatten, den sie suchte? Oder meinte er den Wunsch, Baron Jost für die Vorkommnisse während seiner Hochzeit zur Verantwortung zu ziehen?
Im Moment war es einerlei. Die Worte des Alten berührten ihr Herz und sie kämpfte gegen ihre Tränen an. Dabei vergaß sie, Hesindiard um Hilfe beim Verstauen der Utensilien zu bitten, wie sie es sich vorgenommen hatte. Sie wäre ohnehin keine große Hilfe gewesen, würde sie sich später trösten. Der alte Mann hatte sein System beim Zerlegen seines Teleskops, und Leonora hätte ihm wohl keine Hilfe sein können. So beboachtete sie ihn nur, während sie ihren Gedanken nachhing.
Der packte in derselben peniblen Präzision alle kleinen Teile in die Säckchen, wobei er einem nicht ersichtlichen System zu folgen schien, packte diese Beutel und die Rohre dann wieder in seine Kiste, die Pergamente hatte er bereits in einer stabilien ledernen Rolle ebenfalls in seine Box gelegt. Es dauerte länger als der Aufbau und am Ende erhob sich der Gelehrte. Drückte stöhnend den alten Rücken durch. Schweigend nahm er den Koffer und begann ihn hinter sich herzuziehen. Den kleinen Hügel hinab. “Los, los, nicht trödeln.” rief er den anderen zu und ignorierte den knurrenden Hund, der immer noch am Fuße der kleinen Anhöhe wartete.
“So wartet doch!” Leonora lief dem Alten hinterher. “Lasst mich doch beim Tragen helfen!”
“Ja, das müsst ihr doch nicht allein… Darek, würdest du..!” kam er auch von Ira, die ihrem Waffenknecht einen Blick zuwarf
“Es ist nur ein Koffer.” antwortete er, hatte aber offensichtlich Mühe die Kiste, die durch die Rollen zwar leichter bergauf, aber umso schwerer bergab zu kontrollieren war, zu halten. “Aber er ist wertvoll.” Dann machte er eine Pause. “Vielleicht könnt ihr ihn hinten ein wenig stützen.”
Die “wenige Stütze” bedeutete, dass Leonora mit aller Kraft die Fersen in den Boden stemmen musste, um den Koffer davon abzuhalten, mitsamt dem Alten den Hügel hinabzupurzeln.
Darek ging der Ritterin zur Hand. Ira folgte, prüfende Blicke in die umgebende Dunkelheit werfend. Kaum waren sie unten angekommen, reckte sich Hesindiard. “Sehr schön.” Dann klopfte er auf die Kiste hinter sich: “Das gute Stück lässt mich nie im Stich. Aber nun zurück ins Lager. Es ist spät.” gut gelaunt und pfeifend machte er sich auf den Rückweg.
Die junge Ritterin aus der Baronie Kaldenberg blieb am Fuße des Hügels zurück, nachdenklich und gleichzeitig verzaubert über den Verlauf dieser Begegnung.
“Kommt, Onkel, wir bringen euch zu Bett.” sagte Ira, nachdem sie sich von der anderen mit einem Nicken verabschiedet hatte, und schlug mit ihren beiden Gefolgsleuten nebst Hund den Weg ins Hlutharswachter Lager ein. “Macht ihr noch weitere Ausflüge wie diesen? Dann bitte, bitte...” Ira wusste, dass sie genaugenommen bettelte, aber ihr war das sehr wichtig und sie wusste nicht, ob der Alte sie verstand. “...bitte lasst unbedingt nach mir schicken. Ich gebe euch sehr gerne Linje mit einem der Hunde mit. Nur zur Sicherheit. Ich möchte wirklich nicht, dass Euch etwas auf Euren nächtlichen Spaziergängen passiert. Das würde ich mir nie verzeihen. - Mögt ihr nun auch denken von mir, was ihr wollt. - Das ist die Wahrheit.”
“Mein Bruder hätte Gefallen an euch gefunden.” kam es aus der Dunkelheit neben ihr. “Oh, ja. Er war auch nicht der Klügste, ein Mann des Krieges, das wohl, aber er trug die Löwin immer im Herzen. Ebenso wie seine Brut.” ein schmerzhaftes Seufzen kam aus der Kehle des Alten. “Seid gewarnt, den Meinen hat das stets nur einen frühen Tod beschert. Ich bin hier. Alt und tattrig. Während sie an Rondras Tafel sitzen. Glaubt mir, wenn ich nicht auf mich achtzugeben wüsste, wäre das anders und ich würde bereits in Hesindes Hain wandeln. Meine Zeit wird kommen und wenn sie das tut, ist das in Ordnung. Gebt euch dann nicht die Schuld.”
Ira war stehengeblieben, denn die plötzliche Erinnerung an Hagrian, ausgelöst durch die Worte des alten Gelehrten, fuhren ihr ins Gebein. Und sie dachte an Lupius und den Brief, den er ihr geschrieben hatte. Dass er hoffte, sie würde wieder heil aus der Rabenmark zurückkehren. Da musste sie schlucken und seufzte laut.
Um sich von ihrem inneren Seelenschmerz abzulenken nahm sie die Worte des Alten zum Anlass, etwas loszuwerden.
“Linje, Darek, geht ruhig schon voraus. Wir kommen gleich nach. Ich muss mit meinem Onkel einen Augenblick alleine sprechen.”
Ira wartete ab, bis die beiden vorausgegangen waren, dann wandte sie sich an den Älteren:
“Onkel Hesindiard, hört mal.. ich muss euch etwas wichtiges sagen. Gestehen.... Ich bin deswegen so erpicht darauf, auf euch acht zu geben, weil ich gute Gründe habe. Da ist eure Familie. Sie sind verliebt in die Donnernde, das stimmt, und ja, ihr habt Recht, viele von ihnen starben jung. Aber ich gehöre jetzt zu ihnen, und sie, Ihr, zu mir. Ich bin gewisser Weise für Euch...verantwortlich. Darüber hinaus habe ich im Rommilys vor dem Altar der Herrin Travia einen Schwur getan, die meinen zu schützen. Das - Bitte lasst mich ausreden!... Das bezieht mit ein, euch auch gewissermaßen vor Gefahren zu schützen, die nicht von Außen kommen. Ihr wisst sicher, dass der Baron kein Freund von Euch ist. Genaugenommen von niemandem, der aus Rickenbach kommt, oder nur die Namen Rickenbach und Schellenberg trägt. Das...bedeutet, dass wir… beide… immer und überall… unter Beobachtung stehen. Ich natürlich als Dienstritterin des Keyserrings mehr als Ihr, der Ihr ein freier Mann seid,...das wiederum heißt aber, dass alles, was IHR tut MIR angelastet wird. Wenn Ihr also allein in die Nacht hinausgeht und euch doch etwas zustößt, dann werde ICH vor dem Baron die volle Verantwortung bekommen, selbst, wenn ich gar nichts von eurem Ausflug weiß. Versteht mich bitte richtig. Ich möchte WIRKLICH nicht, dass euch unter meiner… Obhut… etwas zustößt. Aber ich möchte auch nicht, dass der Baron durch Euch… wenn auch von euch unbeabsichtigt!... wieder etwas in seine dreckigen Finger bekommt, mit dem er Rickenbach im Allgemeinen und mir im Speziellen das nächste unangenehme… Ding… reinwürgen kann. Ähm, versteht ihr das? Es ist anders schwer zu erklären…”
“Ha. Der Kerl war schon als Panz unausstehlich. Hat die Kirschen vom Baum meiner Großmutter gestohlen. Und fühlte sich noch im Recht dabei. Und dann…. Ach lassen wir das Gewäsch von gestern. Er hatte es auch nicht leicht als Kind, das muss man ihm ja zugute halten.” Der Alte seufzte frustriert auf. “Also gut, ich werde dir bescheid geben, wenn ich noch einmal hinaus gehe, um die Sterne anzuschauen. Es ist allerdings gut möglich, dass es sich nicht mehr ergibt. Morgen wird das Wetter vermutlich etwas schlechter. Und wenn es zu wolkig ist, nutzt mir das beste Teleskop nichts. Und je weiter wir in den Osten kommen, desto wahrscheinlicher wird es, nicht mehr so ungefährlich zu sein wie heute.”
Er hörte ein erleichtertes Seufzen aus ihrer Brust. “Danke,” murmelte sie, dann setzten sie ihren Weg fort