Ein neuer Anfang

Kapitel 5: Ein neuer Anfang

Taverne ´Kap Brabak´, Brabak, 3. Praios 1046 BF

Die Taverne war gut gefüllt, die meisten Gäste waren Kapitäne und Bootsmänner der anliegenden Handelsschiffe in Brabak. An einem runden Tisch saßen der Gouverneur Ugdalf mit seinem Knappen Lechdan, dessen Schwester Ulinai mit ihrer Tochter, der Paggenfelder, sowie Wando, der Entdecker. Die letzten drei Tage auf See waren erholsam gewesen und der Schrecken der Namenlosen Tage geriet langsam ins Vergessen. Die Efferdgeweihte Stevyana kam mit einem breiten Lächeln an den Tisch. “Gute Nachrichten. Kapitän Nollenborgen wird Kurs auf Albernia nehmen. Wir können euch in Triveth absetzen, dann solltet ihr es noch pünktlich auf den Hoftag der Kaiserin schaffen. Ich habe mir sagen lassen, dass das diesmal auf einem Berg in eurer Heimat stattfinden wird. Angroschsgau? Ja, so heißt die Pfalz wohl, ich nehme an, ihr kennt sie?” Sie stützte beide Arme auf dem Tisch ab und schaute in die Runde.

“Also ich für meinen Teil kenne die Pfalz lediglich dem Namen nach.”, erklärte Ugdalf trocken. “Sie soll wohl recht abgelegen sein und darob auch nur selten von ihrer Kaiserlichen Majestät besucht werden. Aber das soll Neugierde und Vorfreude auf die Zusammenkunft dort nicht schmälern und ich bin froh, dass wir die Anlage offenbar noch rechtzeitig erreichen können, was sicher für Dich, Lechdan, eine ganz besondere Erfahrung darstellen dürfte.”, schloss der Gouverneur mit Blick auf seinen Knappen.

Wando starrte auf den Grund seines Bechers und ließ den Rest Rum, der noch darüber stand, langsam kreisen, genau wie seine Gedanken es taten. Eigentlich zog es ihn wieder in den Dschungel, auf zu unbekannten Stätten, deren Geheimnissen und Schätzen. Aber die Gebiete, in denen er sich noch blicken lassen durfte, waren klein geworden. In allen von den Al'Anfanern offiziell oder faktisch besetzten Gebieten war er non grata, und der Gouverneur hier am Tisch wirkte auch nicht vorbehaltlos begeistert, dass er sich den Tempel des Schädelgottes genauer anschauen wollte. Außerdem war im Sturm ein großer Teil seiner mit nach Yar-Dasham gebrachten Expeditions-Ausrüstungsgüter verlüstig gegangen. Er würde Geldgeber brauchen... ob diese sich vielleicht in den Kernlanden des Reiches finden ließen? Am Ende gar leichter als hier im Süden? Es kam auf einen Versuch an... "Eine uralte, abgelegene Festung, mitten in einem von fremden Völkern bewohnten, schroffen Gebirgszug..." fing Wando an, sich an seine Kindheitslektionen zur Geographie und Geschichte der Nordmarken erinnernd, "das klingt nach einem Ort nach meinem Geschmack. Wenn Ihr gestattet, schließe ich mich Euch gerne an." Vielleicht wurde es wirklich Zeit, die verlorene Heimat wiederzuentdecken. Es dauerte einen Augenblick, bis Lechdan begriff: “Dann kann ich ja die Kaiserin sehen! Ob ich wohl auch mit ihr sprechen kann? Wie sie wohl ist? Sieht sie wirklich so aus, wie auf den Münzen?”

Baldos schnaubte lediglich verächtlich auf. Einerseits zog ihn die Sehnsucht nach der Heimat nach Hause, andererseits wusste er nicht was ihn dort erwarten würde. Würde er vom Landgrafen nach seiner erfolgreichen Mission begnadigen, wenn er die Truhe unbeschadet bei ihm ablieferte? Oder erwartete ihn dennoch die Rückkehr in eine feuchte, dunkle Kerkerzelle? Und selbst, wenn er Milde erfahren würde, wie würden die Menschen aus seinem Umfeld auf ihn reagieren, seine ehemaligen Freunde und Verbündeten, seine Familie? Für immer würde auf ihm der Makel des Verrats liegen. Fast bereute er, die Kiste mit den Steuereinnahmen nicht einfach gepackt und sich - möglichst mit Ulinai und Ifirnia - irgendwo im Süden abgesetzt zu haben, wo ihn niemand kannte und winken niemand finden konnte. Doch sein Ehrgefühl verbat solch eine Tat. „Ich fürchte, der Weg nach Angroschgau bleibt mir verwehrt, es sei denn, der Landgraf möchte mich dort sofort sehen. Ich werde wohl direkt nach Gratenfels reisen.” Mit deutlich schlechter Laune knallte er seinen leeren Rumbecher auf den Tisch. Ifirnia hatte gespannt auf ihren Vater geschaut, was der wohl zu der Reiseroute sagen würde. Jetzt seufzte sie. Gern hätte sie ihm etwas Aufmunterndes gesagt, aber nicht in dieser Runde. “Naja, der Weg nach Angroschsgau soll auch ziemlich mühsam sein, den sparst du dir”, sagte sie etwas lahm, lächelte ihm aber zu. “Gehen wir mit nach Gratenfels, Mama”, fragte sie, an ihre Mutter gewandt, “oder gleich nach Elenvina, oder wo willst du hin?” Unter anderen Umständen hätte sie wohl gedrängt, nach Angroschsgau zu reisen. Ein Hoftag! Eine kaiserliche Pfalz! Aber die Namenlosen Tage steckten ihr trotz der bislang erholsamen Fahrt noch in den Knochen, und sie war hin- und hergerissen, ob sie lieber noch länger ihren neu entdeckten Vater begleiten oder lieber wieder an die Akademie zurückkehren wollte. "Gratenfels... da wird es mich wahrscheinlich auch hinziehen." merkte Wando nachdenklich an. Dann hellte sich sein Gesicht zu einem Grinsen auf: "Aber später. Wer will schon einen kaiserlichen Hoftag verpassen, wenn er gerade in der Nähe ist?"

Ulinai nickte still. Seit ihrer ‘spontanen’ Offenbarung Ifirnia und Baldos gegenüber wirkte sie leichter. “Wir werden zum Hoftag gehen. Du, Ifirnia, und ich. Wir begleiten Euch, Gouverneur.”, sagte sie bestimmend. “Danach bring ich dich wieder zur Akademie.” “Dann werden sich unsere Wege wohl bald trennen”, seufzte Baldos und stand von dem Tisch auf, um sich einem Fenster zuzuwenden und dort hinaus auf die Weite des Meeres zu schauen. Als eine Schankmaid in anrempelte, da der gestrauchelte Ritter mitten im Weg stand, drehte er sich zu ihr um und schaute ihren hinteren Rundungen mit einem Lächeln auf den Lippen abwägend an. "Viele Wege kreuzen sich nicht nur einmal - die Welt ist kleiner, als man meistens denkt… Das wird im Mittelreich gewiss nicht anders sein als in den Dschungeln des Südens." Wando schenkte sich noch einmal Rum nach, und hob dann seinen Becher. "Darauf, und auf die neuen Möglichkeiten, die wir dabei entdecken!" Baldos hörte Wandos Worten nicht zu, denn seine Gedanken waren nun voll und ganz bei der jungen Schankmaid. Ifirnia war ebenfalls aufgestanden, um sich zu ihrem Vater zu gesellen, noch etwas zu sagen, vielleicht etwas wie: 'Wir könnten einander doch schreiben' oder irgendetwas dieser Art. So bekam sie Baldos Blick nur allzu gut mit. Sie kannte solche Blicke, aus Elenvinas Kneipen, wenn die älteren Kadetten Ausgang hatten, auch von dem einen oder anderen Kommilitonen, selbst von Bediensteten der Akademie. Mit ihren Freundinnen hatte sie sich mal darüber lustig gemacht, mal darüber empört. Bei dem Mann, der sich erst vor kurzem als ihr Vater herausgestellt hatte, fand sie es nur noch peinlich. Oder mehr als das? Der Gedanke, der sich ihr aufdrängte, erschütterte und verletzte sie und machte sie zugleich ungeheuer wütend.

Mit blitzenden Augen, die Arme vor der Brust verschränkt, trat sie zwischen den Ritter und die entschwindende Schankmaid. Kein Wort und kein Name wollte passen, um ihn anzusprechen, so sprudelte es unvermittelt aus ihr heraus: "Und wieviele Halbgeschwister hab ich, und wieviele sollen das noch werden?!" Zunächst schien es, als würde Baldos seine Tochter gar nicht wahrnehmen oder einfach ignorieren, denn er streckte seinen Hals um Ifirnia herum, um der Magd einen letzten Blick hinterher zu werfen. Doch dann legte er seine Hände auf Ifirnias Oberarme und schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Eins“, erklärte er ihr, als wäre es ein ganz alltägliche Frage gewesen, die sie ihm gestellt hatte. „Einen Bruder hast du.“ Er machte eine kurze Pause, bevor ihm etwas einzufallen schien. „Ach so, wenn man es genau nimmt, zwei. Da ist wohl auch noch irgendwo eine Schwester.“ Doch sicher konnte er sich nicht sein, ob diese Zahl stimmte, hatte er doch bis vor wenigen Tagen auch von Ifirnias Existenz nicht gewusst. „Jedenfalls behauptet das die Mutter.“

Etliche Augenblicke lang schwieg Ifirnia, sichtlich verblüfft über Baldos' Offenheit. Dann bekam ihre Miene einen abwartenden Ausdruck. Fielen dem Ritter womöglich noch mehr ein? Endlich sagte sie: "Und 'wohl-auch-noch-irgendwo' ein paar mehr, von denen Du so wenig weißt wie von mir." Eine Feststellung, keine Frage, und sie klang bedrückt. Tatsächlich fühlte Ifirnia sich tief enttäuscht. Insgeheim hatte sie sich in den vergangenen Tagen viele Szenarien um ihren Vater herum ausgemalt, oft Tragisch-Romantisches, zumindest aber etwas, das am Ende auf 'traute Familie' hinauslief. Baldos' nüchterne Antwort ließ sämtliche Wunschbilder zerstieben. Baldos’ Mundwinkel, die soeben ob der ansehnlichen Magd noch ein schelmisches Lächeln in sein Gesicht gemalt hatten, senkten sich nun deutlich nach unten. Er schob seine Tochter sogleich zu einem kleinen Tisch etwas abseits der anderen, an dem zwei Schemel frei waren und drückte ihre Schultern nieder, so dass sie sich setzen musste. Auch er setzte sich neben sie und ergriff ihre Hände. “Hör zu, mein Liebes. Das Schicksal hat es nicht gewollt, dass ich in meinem Leben dem travianischen Weg gefolgt bin. Rahja war es stets, die meine Schritte leitete. Es gab eine Zeit, da hätte dies eine gänzlich andere Wendung nehmen können, doch dem war nicht so. Doch auch ein Mann, dem es nicht vergönnt ist, sein Leben mit der Frau seines Herzens zu teilen, hat von Zeit zu Zeit das Bedürfnis, die Wärme einer Frau zu spüren und mit ihr das Lager zu teilen. Du kannst mich dafür verdammen, doch das, was einst geschehen ist, kann dadurch nicht ungeschehen gemacht werden. Ich wusste nicht, dass es dich gibt. Doch hätte ich es gewusst, ich hätte alles dafür gegeben, dir ein guter Vater zu sein. Doch es war die Entscheidung deiner Mutter, mir nichts von dir zu sagen. Wirf mir nicht vor, dass es seitdem auch andere Frauen in meinem Leben gab.”

Ifirnia war Baldos' Worten mit trotziger Miene, aber aufmerksam gefolgt. Mal nickte sie leicht, mal legte sie den Kopf schräg. Am Ende schüttelte sie leicht den Kopf, der Ausdruck des Trotzes war angestrengter Nachdenklichkeit gewichen, mit zwei senkrechten Falten auf ihrer Stirn. So schaute sie ihren Vater eine Weile lang stumm an. Dann schüttelte sie erneut den Kopf. "Nein ..." Sie verstummte wieder, unsicher, was sie zu dieser offenen Erklärung sagen sollte. Tausend Gedanken gingen ihr durch den Sinn, ihre Gefühle wechselten wie Bälle in der Hand eines Jongleurs. Endlich fragte sie leise: "Hast du Mama geliebt? Ich meine: wirklich?" Dies war eine Frage, mit der Baldos nicht gerechnet hatte, und die ihn aus der Bahn warf. Unsicher wandte er den Blick ab von seiner Tochter, ließ die Augen unruhig im Raum umherwandern, bis sie schließlich bei Ulinai hängen blieben. Einen langen Augenblick schwieg er. Dann schließlich antwortete er mit trockenem Mund. “Ja. Vermutlich schon. Doch. Ich würde sagen, ja, ich habe sie geliebt. Und ich glaube, ich habe es nie wirklich verwunden, sie verloren zu haben.” Der Ritter schaute wieder zu Ifirnia und blickte ihr tief in die Augen. Sein Blick war erfüllt von Ehrlichkeit und einer tiefen Traurigkeit, und einer Einsamkeit, die auch durch die rahjagefälligsten Gelage nicht vertrieben werden konnte.

Verblüfft über diese offene, ja vertrauliche Antwort hatte Ifirnia zugehört und Baldos' Blick erwidert. Jetzt schaute sie beschämt auf den Tisch vor sich, mit dem Gefühl, etwas erfragt zu haben, was sie gar nicht hätte erfahren sollen. Zugleich empfand sie erneut tiefe Zuneigung zu dem verbannten Ritter; ob allerdings wirklich nur die einer Tochter zu ihrem Vater und nicht eine ganz andere, hätte sie wohl selbst nicht sagen können. "Soll ich mit Mama reden?", fragte sie leise, ohne zu wissen, wozu und worüber eigentlich.

In dem Moment kam der Wirt mit mehreren Bierkrügen vorbei, die eigentlich für einen anderen Tisch gedacht waren. Dennoch griff Baldos nach einem davon, drehte ihn ein paarmal in der Hand, bevor er davon trank. “Nein”, antwortete er schließlich. “Ist vielleicht besser, wenn nicht.” Ulinai hatte die letzten Jahre nichts von sich hören lassen, und er hatte die Zeit.. Nun, er war kein Kind der Traurigkeit. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Ulinai noch irgendein ernstes Interesse an ihm haben könnte. “Es ist doch alles gut so, wie es ist. Warum irgendetwas…? Ach, lassen wir das.” Mit einem Zug leerte er den Bierkrug in seiner Hand. Schließlich schaute er Ifirnia tief in die Augen. “Ich bin einfach froh, dass Ulinai uns gesagt hat, dass…” Er ließ offen, was er meinte, obwohl dies offensichtlich war. Aber er ließ auch offen , warum er froh über Ulinais Offenbarung war.

Pfalz Angroschgau, gegen Ende des Hoftags im RONdra 1046 BF

"Hochgeboren von Fadersberg? Auf ein Wort?" "Wer... ach Ihr seid es... von Gehrheim... richtig?" Wando nickte. "Wollt Ihr mir etwa auch die Beteiligung an einer Dschungelexpedition aufschwatzen? Dann sollt Ihr sofort und ganz unverblümt wissen: für solcherlei Unsinn gebe ich kein Gold aus." Wunnemine hatte keinerlei Lust und ferner auch keine Dukaten frei dafür, sich auf die aus ihrer Sicht und nach allem, was sie von anderen Adligen gehört hatte, halbseidenen Einwickelversuche des Fremden einzulassen. Wobei... was hieß fremd? Auf merkwürdige Weise kam ihr dieser Mann, den sie bereits das eine oder andere Mal dieser Tage beobachten konnte, vertraut vor. Die Baronin von Ambelmund wollte sich schon ab- und einem angenehmeren oder wenigstens wichtigeren Gespräch zuwenden, da drehte sie sich nochmals um. "Sagt mir lieber: warum glaube ich, Euch schon mal begegnet zu sein, gar, Euch zu kennen? Könnt Ihr mir auf die Sprünge helfen?" Auf Wandos Gesicht trat ein breites Lächeln, fast schon Grinsen. "Habt Ihr Zeit mitgebracht? Denn das ist eine lange Geschichte..."

Kriegerakademie Elenvina, im Herbst 1046 BF

Ifirnia rannte. Vor sich, ein gutes Stück entfernt, sah sie Klippen,Hügel, einen Palast. Unter sich spürte sie Sand ­ ein Strand, eng gesäumt von Urwald auf der einen und blauem Meer auf der anderen Seite. Der Palast ­ die Zuflucht, Rettung! ­ wollte und wollte nicht näher kommen. Hinter sich wußte sie ihre Verfolger, wer auch immer das war. Sie drehte sich um. ­ Mit einem Khunchomer, vielleicht auch einem Fleischerbeil, hackte sie in hagere Leiber mit Fratzengesichtern, hackte und hackte, neben ihr wuchs ein Berg blutiger Gliedmaßen ... "Firnia!" Sie schreckte auf. An ihrem Bett ihre beste Freundin, die sie schüttelte. "Du hast wieder laut geträumt! Du weckst noch die anderen!"

Am folgenden Tag verzog sie sich in der Nachmittagspause mit einem Apfel auf ihren Lieblingsplatz, etwas abseits, mit Blick über die Mauern der Akademie. So viel auch geschehen war in der Zwischenzeit, vor allem auf der Kaiserpfalz, waren es doch die Namenlosen Tage im tiefen aventurischen Süden, die sie nicht losließen. Nicht, daß sie seitdem jede Nacht Alpträume gehabt hätte, nur ab und zu. Und der in der vergangenen Nacht ließ sich durchaus mit den Erlebnissen dort erklären. Aber manchmal kamen Schreckensbilder in ihren Träumen vor, die sie sich nicht erklären konnte. Dazu die immer noch nagende Ungewißheit, was zwischen dem Sturm und dem Angriff dieser gräßlichen Fratzenleute und ihrem Aufwachen an Deck des Schiffes geschehen war.

Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Mutter, dann zu Lechdan, der ihr "Onkel" war, obwohl sogar jünger als sie, und mit dem sie so wenig gesprochen hatte. Und blieben hängen bei Baldos von Paggenfeld, dem verstoßenen Ritter, der ihr Vater war. Oder sein sollte. Manchmal kamen ihr Zweifel und der Gedanke, daß dies bloß eine Schutzbehauptung ihrer Mutter gewesen war, um sie in sicheren Händen zu wissen, im Fall des Falles ... Oder um zu verhindern ... Ein Gedanke, den Ifirnia stets rasch beiseite schob, ebenso, wie sie sich einzureden bemühte, ihre Zuneigung zu dem Ritter sei einzig ihren "Blutsbanden" zuzuschreiben.

Sie stellte sich Baldos als Vater vor. Zu dritt saßen sie ­ Baldos, Mutter, sie selbst ­ zu Hause am Kamin, wo auch immer dieses Zuhause sein mochte, redeten, scherzten ... Aber da waren ja noch Geschwister, vielmehr Halbgeschwister, wie paßten die in dieses Bild? Wer waren sie? Wie mochte es ihnen gehen? Was, wenn sie ihnen einst begegnete, vielleicht ohne es zu wissen?

Eine Glocke verkündete das Ende der Pause. Erleichtert warf Ifirnia den Apfelgrotzen fort und hüpfte von ihrem Ansitz. Jetzt war die Akademie ihr Leben, ihr Zuhause, und vielleicht löste sich dieser ganze Knoten ja eines Tages von selber auf!

Yar‘dasham, später im Jahre 1046 BF

Ugdalf hatte auf dem Hoftag einige Spenden des versammelten Adels sowie – in bescheidenerem Rahmen – Unterstützungszahlungen der Reichsverwaltung erhalten, um den Wiederaufbau Yar´dashams zumindest ein wenig vorantreiben zu können. Sogar einige Handwerker hatte er dafür gewinnen können, ihm zumindest temporär in den Süden zu folgen und die Arbeiten vor Ort zu koordinieren. Wo immer es ging, packte der Gouverneur mit an, spendete Trost oder hielt anfeuernde Reden, wenn die Stimmung gar zu trübselig wurde. All dies steigerte die Beliebtheit des nordmärker Junkers sehr, sodass man ihm rasch gerne zuhörte und letztlich auch ebenso gerne folgte. Der fromme Mann erklärte in seinen Ansprachen, dass der Wiederaufbau insbesondere den Segen des Fürsten der Götter genieße, dem sie alle für seine Hilfe zu Dank verpflichtet seien. Und kam die Hilfe aus den fernen Nordmarken nicht wirklich einem Wunder gleich? Einem Geweihten des Praios wären zwar einige mehr oder weniger subtile Abweichungen vom Glaubenskanon der Kirche des Gleißenden aufgefallen, doch der einzige Geweihte vor Ort wurde leider bereits nach wenigen Tagen bei Reparaturarbeiten von einem umstürzenden Balken erschlagen. Bei den einfachen und braven Menschen von Yar’dasham fielen die Worte Ugdalfs hingegen auf fruchtbaren Boden. Wer von ihnen verstand auch schon etwas von Theologie? Und warum sollte man zweifeln, wenn einem doch so gut geholfen wurde?

Einige Zeit später, die Aufräumarbeiten waren nahezu abgeschlossen und der Wiederaufbau in vollem Gange, verlegte der Gouverneur seine Ansprachen in ein prächtiges Gewölbe; ein, wie er erklärte, dem Herrn der Götter heiliger Ort, von dem er in einem Traumgesicht erfahren habe. Hier fände man bei einem erneuten Sturm nicht nur Schutz vor Stürmen oder ähnlich trivialer Unbill, sondern schützte auch seine Seele und seinen Glauben vor allen Fährnissen. In dem großen Saal, gar prächtig ausgekleidet mit Gold und Marmor, erleuchtet von goldenen Feuerschalen, versammelten sich jede Woche mehr Menschen zum Gebet. Einige der neu Hinzugekommenen erinnerten die Einheimischen zunächst an die Angreifer, die ihre Heimat in den vergangenen namenlosen Tagen überfallen hatten, doch hatte ihnen gewiss nur ihr Gedächtnis einen üblen Streich gespielt. Schon bald waren diese vagen Erinnerungen Vergangenheit und Angreifer wie Angegriffene lauschten gemeinsam den erleuchteten Worten ihres Anführers.

Dieser saß während seiner Ansprachen auf einem goldenen Thron, welcher wiederum die Spitze einer gut 14 Schritt hohen Stufenpyramide, um die sich die Gläubigen versammelten, krönte. Während dieser Zusammenkunft trug Ugdalf eine samtene purpurne Robe, einen prächtigen Ring sowie eine Art goldene Amtskette mit einem Anhänger in Schädelform. Neben ihm stand hierbei stets ein halbwüchsiges Mädchen, ebenfalls in Purpur gewandt, das als Ritualhelferin fungierte und vom Gouverneur als Novizin des Herrn der Götter vorgestellt worden war. Sie war es auch, die während der Zeit des Wiederaufbaus die Suppenküche leitete und so dafür sorgte, dass jeder zumindest eine stärkende Mahlzeit am Tag erhielt, nicht selten Pilzgerichte in allerlei Variationen. Ugdalf war zufrieden: Der Herr war mit ihm und hatte ihm nicht nur diese heilige Stätte offenbart, sondern auch eine Herde Schafe, die er dort zum Ruhme des Gottes der Götter grasen lassen konnte.