Die Höhle des Schädelgottes

Kapitel 3: Die Höhle des Schädelgottes

Untergrund von Yar´ Dasham, 30. Rahja 1045 BF

Vorsichtig zwang sich der Knappe Lechdan als erster durch das Loch, wobei er einen knappen 30 Halbfingerlangen freien Fall hatte . Danach umfing ihn die Dunkelheit und erst das mitgebrachte Licht offenbarte langsam seine Umgebung. Ein Tunnel, der sich durch Gestein zog und leicht nach unten führte … das Ende war in der Finsternis verschwunden. Der Boden war steinig und kleine Tierknochen lagen verteilt. Lechdan mußte gleich an Nagetiere denken, doch der Tunnel war groß und breit genug für größere Wesen … wie Menschen zum Beispiel. Seine Schritte hallten und in der Ferne hörte er … Schreie. War das ein Lebenszeichen der entführten Frauen? Ifirnia und Mokko waren gefolgt und schauten Lechdan erwartungsvoll an.

Er wartete, bis die beiden aufgeschlossen hatten und bedeutete ihnen, die Köpfe zusammen zu stecken. "Rasch!", flüsterte er, "Es ist Gefahr im Verzug. Wir können nicht auf die anderen warten. Wir müssen schnell und leise zugleich sein und die Lage auskundschaften." Er blickte die beiden anderen erwartungsvoll an. Ifirnia nickte nur, faßte ihr Entermesser fester, bereit lozulaufen.

Traurig schaute Mokko in die Dunkelheit. “Ich bin bereit.”, sagte er entschlossen. Lechdan fasste Mokko an der Schulter, drückte sie und schaute ihm in die Augen. “Wir finden sie.” Dann wandte er sich in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren und machte sich im Laufschritt auf den Weg. Dabei achtete er auf den Boden. Wer weiß, was sich unter den vielen Knöchelchen noch verstecken mochte. Ifirnia folgte, ebenfalls im Laufschritt. ‘Ruhe behalten, wachsam bleiben’, mahnte sie sich. Ihr Mund war trocken, und sie hatte einen Kloß im Hals.

Während die Jugendlichen im Loch des Kellers verschwanden, stemmten sich die Eindringlinge gegen die Kellertür und der Sturm rüttelte an die Kellerklappe, die nach draußen führte. Baldos und Ulinai hielten die Tür im Auge, während Wando die Fässer vor der Klappe bewachte. Der Gouverneur starrte in das Loch, doch dann fühlte er, wie seine Arme und Beine schwer wurden. Ein Gefühl in seinem Rücken schien ihn zurückzuziehen, bis er verstand, dass etwas nach ihm rief. Nichts was hörbar war für die anderen, mehr in seinem Geiste. Vorsichtig drehte er sich um und musste zu dem Stein mit dem Schädel schauen. Fast einladend wirkte es. Hatte er ein Funkeln in dessen Augenhöhlen erkannt?

Ugdalf stutzte kurz und drehte sich dann langsam, so als trüge er eine schwere Last, in Richtung des “Schädelsteins”. Er betrachtete diesen eine geraume Weile sehr konzentriert, während er gleichzeitig versuchte, sich auf die Rufe in seinem Geiste zu fokussieren, um zu erfahren, was diese ihm mitteilen wollten. ‘Was geschieht hier nur?’ flüsterte kurz eine Stimme der Vernunft vom Rande seines Bewusstseins aus. Baldos, der eigentlich die Tür bewachte, blickte sich immer wieder um, um zu erfassen, was bei den anderen geschah und ob man auch bald durch das Loch klettern konnte. So bemerkte er das plötzliche Interesse des Gouverneurs an dem einen Stein. Ugdalf wirkte wie hypnotisiert. Oder täuschte er sich? Sicherheitshalber sprach er ihn an. „Euer Wohlgeboren, ist alles in Ordnung mit Euch?“

"Wieso, stimmt was nicht?" erkundigte sich nun auch Wando. Der Klang in Baldos Stimme hatte ihn alarmiert herumfahren lassen. Im Halbdunkel war nur wenig zu erkennen, aber er wollte seinen Posten nicht verlassen. Der Gouverneur wandte sich Baldos zu und antwortete mir ruhiger und fester Stimme: “Ja, danke der Nachfrage. Ich war für einen Moment kurz mit meinen Gedanken bei unseren Gefährten und fragte mich, wie es ihnen wohl derzeit geht. Aber genug geplaudert, wir haben noch Einiges an Arbeit vor uns.” Auf die übrigen Anwesenden wirkte Ugdalf nun deutlich gelassener und zuversichtlicher, als es trotz der nach wie vor schwierigen Lage bisher der Fall gewesen war. "So sei es!" bemerkte Wando, mehr zu sich als an Ugdalf oder Baldos gerichtet. 'Einiges an Arbeit' hieß 'noch länger am Leben zu bleiben'. Dies war nach seinem Eindruck bislang zwar noch nicht die brenzligste Situation, in der er je gesteckt hatte. In die anderen war er aber mit zuvor handverlesenen Mitstreitern geraten. Die hier konnte er zu wenig einschätzen. Allzubald schon aber würde er dies können... war wenigstens zu befürchten. „Gut“, antwortete Baldos, war sich jedoch sicher, dass nicht alles gut war. Das Verhalten des Gouverneurs sorgte den Nordmärker. Er glaubte nicht, dass Ugdalf lediglich an die Kinder gedacht hatte. Er würde ihn wohl im Auge behalten müssen. Als hätte er nicht schon genug damit zu tun, die Tür zu bewachen.

Ein lautes Krachen bestätigte die Sorge der Verteidiger: die Kellertür brach aus ihren Angeln! Ulinai fluchte laut auf. “Verdammte Scheiße, sie kommen durch!” “Jetzt gilt es!”, rief Ugdalf. “Versammelt euch vor dem Tunneleingang; da können wir uns besser verteidigen als verteilt im Rest des Kellers und können auch nicht vom Rückzugsweg abgeschnitten werden. Achtet zudem auf ausreichende Deckungsmöglichkeiten für den Fall, dass sie Bogenschützen vorausschicken. Los!” Nachdem der Gouverneur seine Anweisungen erteilt hatte, huschte ein grimmes Lächeln über sein Gesicht. Einen Trumpf für den bevorstehenden Kampf hob er sich noch auf.

„Ja, ganz wie Ihr sagt!“ rief Baldos und schritt rücklings, mit gezogenem Schwert die Tür im Blick behaltend zu dem Durchgang zurück. Wando bezweifelte, ob der Befehl Ugdalfs die richtige Taktik in dieser Situation war. Er hätte versucht, die Kampfkraft der Verteidiger auf die Fässer vor dem Kellereingang zu fokussieren und alles zu tun, dieses Bollwerk so lange wie möglich zu halten. Die neue Position wäre schwerer zu verteidigen. Aber in Situationen wie dieser war Diskutieren keine Option. Also befolgte er die Anweisung Ugdalfs und positionierte sich, wie ihm geheißen. Keine Minute zu früh: Kaum hatte er die Rückzugsstellung erreicht, da brach auch die Luke , die nach draußen führte. Noch zeigte sich niemand, doch der Sturm saugte die ersten Kisten nach draußen. Die Fässer, die vor der Tür standen, wurden langsam aber sicher von der Tür gedrückt, anscheinend waren es einige, die dagegen drückten.

Gut, hier hatte der Gouverneur Recht behalten, räumte Wando in Gedanken ein. Doch ging es jetzt ohnehin nicht um Recht haben oder nicht. Auf ihrer neuen Position würden sie nicht lange überleben, wenn sich der Raum gleich mit den Angreifern füllte. “Wohin jetzt?” raunte er Ugdalf zu. “Ins Loch, oder hinaus in den Sturm? Hier wird es jedenfalls gleich verdammt ungemütlich…” “Das Loch ist für uns zu klein. Vielleicht können wir uns dazwischen quetschen … in den Sturm wäre ein Todesurteil!”, brüllte Ulinai. Ihre Verzweiflung stand ihr im Gesicht,während sie sich gegen die Fässer stemmte. “Sicher?” hinterfragte Wando, mit lauter Stimme gegen das nun ohrenbetäubend gewordene Tosen ankämpfend. “In dem Loch sind wir doch genauso geliefert, falls wir dort festhängen und sie uns entdecken… gibt es in der Nähe noch irgendein anderes festes Gebäude, das wir mit Glück erreichen könnten? Außer diesem Palast und dem Tempel?” Seine Frage galt vor allem Ugdalf. “Wenn sie uns rausstürmen sehen,” gab er außerdem zu bedenken, “dann lassen sie vielleicht auch von den anderen ab und versuchen stattdessen, uns zu verfolgen.”

“Dann müssten wir uns an ihnen vorbei nach draußen kämpfen, wo immer noch der Sturm tobt.”, entgegnete Ugdalf, “und hoffen, dass dieser nicht zu stark ist und wir irgendwo noch eine Versteckmöglichkeit finden. Feste Häuser hat es jedoch zumindest in der Nähe nicht, dafür sind der Ort zu klein und dessen Bewohner zu arm. Aber gut, wir können unser Glück draußen versuchen.” Der Gouverneur machte einige Schritte vorwärts, stolperte offensichtlich über etwas und stürzte mit der Schulter gegen den Steinquader mit dem mysteriösen Schädel, bevor er sich rasch wieder aufrappelte. Wando sah es als erstes. Mit einen mahlenden Geräusch öffnete sich aus der Steinwand des Kellers eine Tür. Vielleicht einen halbenfinger Breit hatte sie sich geöffnet. "Was ist das? Wusstet Ihr davon?" Wando packte sofort eine fieberhafte Faszination angesichts der wenigstens für ihn überraschenden Entdeckung. Gleichzeitig beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Wenn die Neugier alleine einen trieb, hatte auch die Vorsicht noch ihren Platz. Hier jagten sie aber unbekannte Feinde in großer Hast an verborgene Orte, die nicht minder gefährlich sein mochten. Er hoffte, dass sie nicht vom Regen in die Traufe gerieten. Aber es gab keine Alternative.

"Egal! Sehen wir nach, was dahinter ist. Und wie man es von der anderen Seite wieder schließt. Schnell." Eilig machte sich Wando daran, zu prüfen. ob sich der Spalt weiter öffnen ließ. Gleichzeitig versuchte er mit Blicken einen ersten Eindruck zu erhaschen, was sich dahinter verbarg. Vor allem aber hielt er seine Nase an die Öffnung - der Geruch offenbarte gerade in alten Gemäuern allzuoft Gefahren und Geheimnisse, die dem Auge verborgen blieben. “Was?! Wo kommt … ?”, rief Ulinai und schaute Baldos an. “ Auf drei lass ich hier los.” „Also gut, wenn Phex uns einen Weg zeigt, sollten wir ihn nutzen.“ Eine andere Option sah auch Baldos nicht mehr. „Auf drei!“ Die ´neue´ Tür ließ sich einfach weiter aufmachen und sehr abgestandene Luft, die nach Keller und abgestandenem Wasser roch, begrüßte Wandos Nase.

“Nein, wusste ich nicht”, erwiderte Ugdalf auf Wandos Frage lapidar. “Aber wir sollten die Gelegenheit nutzen und diesen neuen Durchgang rasch für unseren Rückzug nutzen; das scheint mir die einzig vernünftige Option im Vergleich zu unseren Angreifern drinnen und dem Sturm draußen zu sein.” "Die da draußen machen uns die Entscheidung jedenfalls nicht allzu schwer." Wando sah sich um. "Jeder eine Lampe und nichts wie rein da mit uns! Schauen wir, was sich unter Eurer Residenz noch so alles verbirgt.” Eine grimme Vorfreude erfasste den Entdecker. Bei aller gebotenen Eile trat der Gehrheimer besonnen in den Raum hinter der Geheimtür und begann diesen sogleich auszuleuchten. Wer wusste, ob jene Pforte nicht nur versteckt, sondern auch noch gesichert war. Als die anderen durch den Durchgang waren und nur noch Ulinai und Baldos die Tür bewachten, fing er an zu zählen: „Eins, zwei, …“ “Drei!” Ulinai ließ die Fässer los und hastete mit Baldos zu dem Durchgang. Mit lautem Geschrei brach eine Flut an Gestalten von der Tür und der Klappe in den Keller.

Eine Weile folgten die Jugendlichen einem natürlichen Tunnel, der sich nun nach links windete. Ein echotisches Krachen und Geschrei hallte aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, doch auch vor ihnen begann ein dröhnendes Wimmern. Lechdan glaubte, einen dünnen Hilfeschrei in der Ferne zu vernehmen. Der Baronet hielt inne und lauschte in die Dunkelheit. Seine Sinne waren geschärft, die Muskeln angespannt und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Natürlich hatte er schon den ein oder anderen Übungskampf hinter sich, doch das hier war ernst. Der Gegner würde nicht im letzten Moment innehalten und ihn verschonen.

Den Geräuschen nach war sein Schwertvater in Gefahr und mit ihm seine Gäste, darunter Lechdans Schwester. Doch, wenn sie nun umkehren würden, um ihnen zu helfen, dann würden die Entführten auf jeden Fall sterben und Lechdan vertraute darauf, dass sein Schwertvater sich verteidigen und siegen würde. “Wir schließen auf”, stellte er fest, “aber wir sollten uns weiter sputen.” Der junge Freund des Knappen schluckte, doch wirkte er wieder unerschrocken. So wie Lechdan ihn kannte. “Du hast recht, Lechdan. Wir müssen voran. Das schaffen wir!” Mit kräftigem Griff drückte Mokko seine Schulter. Lechdan legte seine Hand auf Mokkos und nickt bekräftigend. Dann blickte er zu Ifirnia. Diese nickte beklommen. “Los!” Der Schwertleiher verlor kein weiteres Wort und machte sich wieder flink, doch auch vorsichtig auf den Weg.

Nur nach wenigen Schritten endete der Gang in eine Höhle, in dem sich der Wind gefangen hielt, das Dröhnen war nun so laut, dass man kaum seine eigenen Worte verstehen konnte. Das Licht der Drei flackerte und spendete wenig Sicht in die Ferne. Doch war sich Lechdan sicher, das sie nicht alleine waren. Ihm war es, als ob er zwei Gestalten ausmachen konnte, die an einem käfigartigen Gebilde rumhantierten. Lechdan musste seine Panik niederringen. Dann drückte er Mokko seine Fackel in die Hand. Er blickte Ifirnia an und hielt zwei Finger hoch. Dann deutete er auf sie und wies in die Richtung, wobei er einen Bogen nach links beschrieb. Dann deutete er auf sich und wies einen Bogen nach rechts. Fragend blickte er sie an. Mokko nickte verständig und blieb stehen. Er würde sich erst bewegen, wenn Lechdan ihm dazu ein Zeichen geben würde.

Ifirnia nickte ebenfalls, fasste ihr Entermesser fester und ging vorsichtig links herum in Richtung der Gestalten. Sie achtete darauf, auf gleicher Höhe mit Lechdan zu bleiben. ‘Goblins’, versuchte sie sich zu beruhigen, ‘das sind bloß sowas wie Goblins.’ Oder sowas wie dieser Mistkerl, der sie einmal nachts auf dem Rückweg zur Kriegerschule hatte in eine Gasse zerren wollen. Mit dem war sie auch fertig geworden. Lechdan hielt sich rechts, wie verabredet. Das Kurzschwert, dass er zu Übungszwecken als Knappenschwert nutzte, war, PHEX sei Dank, ein echtes und entsprechend gepflegtes Schwert. Er achtete auf die Umgebung, nicht, dass noch eine Überraschung in den Schatten lauerte, und natürlich auf die Gegner. Er merkte, wie sich seine Muskeln anspannten, diverse Lektionen seines Schwertvaters prasselten gleichzeitig auf ihn ein, so dass er fast alles vergaß. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf, doch konzentrierte er sich auf das Hier und Jetzt.

Momente später waren die beiden nahe genug, um zu erkennen, was sie da vor sich hatten. Ein Käfig aus Bambus gebaut mit einer Gefangenen: Rizella! Diese kauerte furchtsam in einer Ecke und wimmerte vor sich hin. Doch alleine war sie nicht. Vor dem Käfig standen zwei Gestalten, die grässlicher nicht sein konnten. Ihre Körper wirkten menschlich, doch ihre Haut war bleich wie Schnee. Die Gesichter waren Fratzen mit schiefen Mündern, verdrehten Nasen und ungleichen Augen. Dass beide männlich waren, war auch unverkennbar, denn sie waren nackt. Die groben Hände wirkten wie Krallen und beide gaben unverständliche, gequälte Laute von sich. Bei dem grausigen Anblick erschrak der Baronet und ließ einen entsprechenden Laut ertönen. Gleichzeitig schnellte sein Schwertarm nach vorn, doch verfehlte er sein Ziel. `Mist`, dachte er und fasste das Schwert fester, während er mit großen Augen auf den Gegenschlag wartete. Kreischend wich die Kreatur aus, doch dann starrte es wütend zurück. Mit erhobenen Krallen stürzten beide Ungeheuer sich Lechdan entgegen. Der Knappe setzte zu einem zweiten Hieb an und traf. Blut spritzte und die erste Kreatur schrie.

Zugleich mit Lechdan griff auch Ifirnia die monströse Gestalt auf ihrer Seite an, traf … und traf auch die anderen. Beide Männer wichen zurück und gaben ein grausiges Heulen von sich. Das herannahende Licht sagte dem Knappen, dass Mokko zu ihnen stürzte. “Befrei´sie, Mokko”, konnte Lechdan hervorbringen, bevor er den nächsten Schlag führte. Wieder traf er und bemerkte, wie sich das Schwert in den Bauch der Kreatur bohrte. Allerdings konnte er dem Hieb der Krallen nicht ausweichen und spürte einen scharfen, schmerzhaften Schnitt über seine rechte Wange. Lechdan biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien oder gar loszuheulen. Dann zog er sein Schwert aus dem Körper des Fremden. Ifirnia schlug erneut zu, verfehlte den Zurückweichenden, setzte nach und führte den nächsten Hieb. Das Heulen zerrte an ihren Nerven. ‘Das gab’s bei den Übungen nicht’, dachte sie, dann: ‘Die Frau retten!’ Dann die Worte eines ihrer Ausbilder: ‘Erst Gegner unschädlich machen!’ Sie griff weiter an.

Mokko rannte zu dem Käfig und suchte nach einer Tür … die er auch fand. “Rizella, geht es dir gut?”, fragte er die Gefangene. Die Wirten hatte eine Platzwunde am Kopf, doch schien diese nicht mehr zu Bluten. Nachdem sie die Stimmen der Jugendlichen vernommen hatte, kehrte ihr Mut wieder zurück. Sofort stürzte sie nach vorne, um Mokko zu helfen, die ´Tür´ zu öffnen. Als Lechdan noch ein zweites Mal nach der Kreatur schlug, fiel diese leblos zusammen. So wie es aussah, hatte auch Ifirnia ihren Gegner ausgeschaltet. Nur das Heulen des Windes dröhnte und er sah, das Mokko die Wirtin befreit hatte. "Wo ist Mihi", fragte er Rizella, "Hast du gesehen, wo sie hingebracht wurde?" “Sie … sie haben sie weiter verschleppt … da hin!” Ritella deutete zittern auf einen Durchgang, der kaum zu sehen war. Ifirnia wandte sich schaudernd von dem blutigen Leichnam ihres Gegners ab und sah nach den anderen. Brauchte jemand Hilfe? Lechdans rechte Wange wies einen blutigen Kratzer auf, den dieser entweder nicht bemerkt hatte oder ignorierte. Mokko schaute Lechdan und Ifirnia an. “Was machen wir als nächstes?”

"Wir holen Mihi und dann suchen wir einen Weg hier raus." “Kehren wir zum Keller zurück? Es ist bestimmt gefählich den Tunnel zu nehmen wo sie Mihi hin verschleppt haben.”, sagte die Wirtin. "Ich weiß nicht, ob der Keller noch sicher ist", gestand der Knappe, "Es klang so, als würde dort gekämpft. Außerdem überlassen wir Mihi nicht diesen Monstern. Wer weiß, was die mit ihr vorhaben!" Mokko, der die Fackel hielt, stellte sich zu Rizella. “Nimm meinen Arm, ich werde bei dir bleiben und wir folgen unseren Kriegern.”, der hübsche Junge versuchte ein Lächeln. “Du blutest”, sagte Ifirnia zu Lechdan. Im selben Moment wurde ihr bewußt, daß sie keinerlei Verbandszeug dabei hatte. Sie konnte sich einen Streifen Stoff aus ihrer Kleidung herausschneiden. Und dann? Ihr fiel nichts Weiteres ein. Außer, daß sie sich wünschte, daß dieser Alptraum bald ein Ende hatte. Der Knappe fasste sich an die Wange und zuckte kurz zusammen, als er einen scharfen Schmerz verspürte. Dann blickte er auf seine blutverschmierte Hand. "Mist, verdammter!", entfuhr es ihm. Ärgerlich wischte er sie an seiner Hose ab. "Werd' ich jetzt wohl mit klarkommen müssen." Er klang dabei längst nicht so selbstsicher, wie er erhofft hatte. "Wir müssen weiter - Mihi braucht uns!" Er wandte sich dem versteckten Durchgang zu. “Die Frau haben wir schon gefunden”, sagte Ifirnia und hoffte, zuversichtlich zu klingen. “Mihi finden wir auch noch!” ‘In Götter Namen’, fügte sie still hinzu und folgte Lechdan.

Eine bleiche Hand mit verhornten Fingernägeln griff nach Ulinai, verfehlte diese jedoch. Mit einem Krachen schloss sich die Tür, die aus dem Inneren von Wando und Ugdalf zugestoßen wurde. Die vier waren in Sicherheit. Oder? Vorsichtig und außer Atem schaute sie sich um. Eine Kammer eröffnete sich ihnen, die schon seit Ewigkeiten kein lebender Mensch mehr gesehen hatte. Das mitgebrachte Licht offenbarte ein Tonnengewölbe, dessen Boden Staub bedeckt und die Decke mit Weben verhangen war. Am anderen Ende führte ein dreieckiger Durchgang weiter in die Dunkelheit.

“Was ist das denn für ein versteckter Keller?”, fragte Baldos. In den Nordmarken kannte er solche Gewölbekeller sehr gut. Besonders in solchen, die als Weinkeller dienten, hatte er schon so manchen Abend verbracht. Doch dieser schien schon lange in Vergessenheit geraten zu sein. Baldos suchte den Raum ab. Gab es hier Fässer? Kästen? Regale? Irgendetwas, was sie vor die Tür, aus der sie gekommen waren, stellen konnten? Ugdalf zuckte kurz mit den Schultern, als er auf Baldos Frage antwortete. “Das weiß ich auch nicht. Hätte nicht im Traum daran gedacht, dass dieses Anwesen über derlei ‘Überraschungen’ verfügen könnte. Schauen wir uns doch einmal um.” Mit diesen Worten tat der Gouverneur es dem Ritter gleich und ließ seinen Blick über den gerade entdeckten geheimen Keller schweifen. Während Baldos sich für profane Gegenstände interessierte, eilten auch Wandos Blicke durch den geheimen Raum. Er suchte nach Hinweisen auf die Bauherren, analysierte, so gut es eben auf die Schnelle ging, die Beschaffenheit der Wände und Decken, forschte nach Symbolen, Gravuren und anderen Hinweisen, die die Schöpfer für sich selbst, höhere oder auch finstere Wesenheiten hinterlassen haben mochten. Vor allem aber hielt er Ausschau nach kleinen Löchern in der Wand, gespannten Schnüren oder Drähten und locker wirkenden Steinen im Boden.

"Vorsicht!" mahnte Wando flüsternd. "Passt auf, wohin Ihr tretet!" Intuitiv hielt sich Ulinai an Baldos Schulter fest. “Ich muss gestehen … ich vermisse die Nordmarken.”, flüsterte sie ihm zu. Baldos seufzte. “Ich auch. Ja, ich auch!” Die Tür, die sie eingelassen hatte, war geschlossen und es gab keinen Hinweis darauf, wie diese zu öffnen war. Da nichts von der ´anderen´ Seite zu hören war, auch keine Bewegung zu sehen, schien sie sicher zu halten. Es gab keine Fässer, Kästen oder Regale, doch war der Raum nicht ganz leer. In einer Ecke lagen drei große metallene Schalen auf dem Boden, sowie einige alte Fackeln in rostigen Fackelhaltern. Die Wände waren uneben und wiesen Eingravierungen auf. Als Wando genauer hinsah, erkannte er Menschen, die einen totenköpfigen Gott auf einem Thron anbeteten. Auf anderen Motiven konnte man menschliche Opfer erkennen, deren Gliedmaßen abgetrennt wurden und ihr Blut in Schalen aufgefangen wurde.

"Schaut Euch das hier an, Euer Exzellenz!" Wando wies Ugdalf auf die Darstellungen in der Wand hin. "Hier wurde ein Götze verehrt, dessen Anhängern ich nicht in die Hände fallen wollte." Vorsichtig nähert er sich den Schalen, Schritt für Schritt und mit dem Rapier den Weg vor sich auf Fallen untersuchend. Dort angekommen besah er die Gegenstände genauestens, ohne diese zu berühren. Außerdem suchte er nach Anzeichen für das genaue Alter dieser Stätte. Auch Baldos schaute sich nun die Darstellungen an der Wand genauer an. Angewidert schüttelte er sich. Ein ungutes Gefühl beschlich Baldos - mal wieder. „Das ist ja widerlich! Was für einem Götzenkult ist dieser Raum gewidmet? Wando, Ihr kennt euch doch mit der hiesigen Kultur aus, dachte ich. Was für ein götterlästerlicher Kult macht sowas?“ “Keiner, den ich kenne.”, erwiderte Ugdalf, während er die Zeichnungen mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtete. “Dass es früher hier einmal allerlei dunkle und vergessene Kulte und Stämme gegeben haben soll, hatte ich durchaus gehört, mehr aber auch nicht. Außerdem bin ich Offizier und Verwalter, kein Völkerkundler.”

"Zum Kult und dieser Gottheit kann ich auch nichts genaues sagen. Außer, dass es wohl derselbe ist, der auch in der alten Ruine, vor der Stadt, verehrt wurde." begann Wando mit beiläufiger Stimme zu berichten, noch immer ganz auf Architektur, Bauweise und die Darstellungen an den Wänden konzentriert. "Zu seinen Anhängern aber schon: ziemlich sicher Mittelländer, keine Eingeborenen... Jedenfalls ist dieses Tonnengewölbe hier keine überbaute Ruine der Eingeborenen. Baustil und handwerklich ganz klar altbosparinisch, schätzungsweise Mitte des letzten Jahrtausends vor dem Fall der Hunderttürmigen. Dunkle Zeiten oder knapp davor." Schließlich riss er sich kurz von den Wänden los und sah zu den anderen: "Und vor allem: Geheimkammer und Relief scheinen von Anfang an eingeplant gewesen zu sein, nicht nachträglich eingefügt." “Was für ein Glück wir haben. Und nun sitzen wir hier fest.”, sagte Ulinai und schaute die Männer fragend an.

"Ob es wirklich Glück ist... naja, jedenfalls scheint es derzeit so. Eine abschließende Antwort erlaube ich mir frühestens, wenn sich das Praiosmal erstmals im neuen Jahr erhebt." bremste Wando jegliche Euphorie. "Bis dahin erhoffe ich mir ganz andere Antworten. Derzeit interessiert mich nämlich mehr, wer genau das hier gebaut hat, was das für eine Götze ist, was die da draußen von uns warum wollen und wie wir wieder hier herauskommen... überhaupt, und ohne den freundlichen Kerlchen da draußen in Unterzahl über den Weg zu laufen." Jetzt wandte er sich wieder Raum und Gegenständen zu. "Ich schau mich noch weiter um." Vor allem die Schalen weckten sein Interesse. “Meint Ihr, der Angriff könnte mit diesem”, Baldos machte eine ausholende Geste und zeigte durch den gesamten Raum, “Unheiligtum hier zu tun haben? Meint Ihr, sie greifen uns deshalb an?” Der Ritter folgte ihm nun und beobachtete alles, was Wando sich ansah. Nicht aus Misstrauen gegen den Gefährten, sondern aus Neugier und Sorge, was hier gefunden werden könnte. "Schon möglich." Wando überdachte kurz seine Einschätzung, dann korrigierte er sich: "Nein, mehr noch: Wie seine Exzellenz vorhin berichtete, gehören diese Angreifer einem Stamm an, der einen Schädelgott verehrt. Wir finden hier mehr und mehr Hinweise darauf, dass auch diese Räume etwas mit diesem Götzen zu tun haben. Ich würde daher sagen, es hat mit Sicherheit miteinander zu tun. Und wir, wir sollten tunlichst herausfinden, was genau - vielleicht rettet uns das das Leben, oder wir damit das anderer Menschen." Und vielleicht machte es sie überdies auch noch reich.

Als Wando sich die Schalen näher betrachtete bemerkte er wellenlängliche Gravuren. An sich waren sie dunkel angelaufen, das dem Zahn der Zeit zugesprochen werden konnte. Als er die dunkle, trockene Substanz, die sich auf dem Schalenboden befand, zwischen den Fingern zerdrückte, kam eine braun-rote Farbe zum Vorschein. Er vermutete … Blut. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu sah Wando auf die Blutüberreste an seinen Fingern. Nach einer kurzen Weile roch er daran, dann streckte er seine vom Pulver rotschwarze Hand den anderen demonstrativ entgegen. "Blut, in der Asche, aber noch als solches erkennbar. Entweder wird diese Stätte gelegentlich noch genutzt..." sein Blick fiel dabei prüfend auf den Hausherren, "oder sie ist noch unheiliger als ich bislang dachte." “Oder beides!” ergänzte Baldos angewidert. “Aber wie kann es sein, dass so eine Stätte unter Eurem Haus ungemerkt genutzt werden kann? So etwas sollte doch auffallen?” Er blickte scharf zu Ugdalf.

Der Angesprochene funkelte Baldos kurz böse an, bevor er, leicht gereizt, erwiderte: “Euer Ton gefällt mir nicht und ist hier auch gänzlich unangemessen. Wie Ihr euch vielleicht erinnert, ist meine Residenz - oder das, was von ihr noch steht - deutlich jünger als diese Anlage hier. Was weiß ich, auf welchen Ruinen sie erbaut wurde. Und wie ihr euch vielleicht ebenfalls erinnert, war der Zugang im Keller gut getarnt und als solcher nicht erkennbar, ebenso der Öffnungsmechanismus. Außerdem hatte man bei meinem Amtsantritt leider vergessen, mich darüber zu informieren, dass sich unter meinem Anwesen ein solches Gewölbe befindet. Wenn ihr beim Bezug eines Hauses als erstes den Keller Spann für Spann nach irgendwelchen Auffälligkeiten absucht: Schön für euch. Ich bitte jedoch um Nachsicht, dass ich dies ganz offensichtlich versäumt habe. Doch genug davon. Schauen wir uns um, vorrangig nach einem Ausgang, um rasch die Anderen zu finden und erst mal hier wegzukommen. Vielleicht gibt es ja hier noch einen zweiten versteckten Aus- oder Zugang. Alles andere kann vorerst warten.”

Ugdalf näherte sich dem dreieckigen Durchgang und bemerkte dessen golden Türrahmen. Ein wohliges Gefühl überkam ihn, als er diesen durchschritt und in den nächsten Raum kam, besser gesagt: in eine Halle. Nach seinem ersten Schritt in die Halle bemerkte er ein Zischen und Augenblicke später entflammten goldene Feuerschalen, die in der Räumlichkeit verteilt waren. Der Anblick war überwältigend. Fresken aus Marmor und Gold zierten die Wände und drei kleine Stufenpyramiden dominierten. Zwei dieser waren schätzungsweise zwischen 6 und 8 Schritt hoch, während die dritte doppelt so hoch war. Auf diesem stand ein goldener Thron, dessen Sitzlehne ein Totenschädel zierte. Auf einer der kleineren Pyramiden lag an dessen Spitze ein Körper, doch eher ein Skelett. “Bei den Göttern!”, sagte Ulinai erstaunt. “Wie hast du … ihr das Feuer entfacht?” setzte sie fragend an, als sie nun neben Ugdalf stand. "Vorsicht!" raunte Wando den anderen zu. "Wo ein Mechanismus die Feuer entfacht, kann uns der nächste genausogut das Leben kosten. Davon unbenommen scheint mir dieser Ort ebenso götterverlassen wie lukrativ. Vor allem aber ist er… interessant!"

“Interessant?” kommentierte Baldos. “Ihr habt eigenartige Interessen.” "Dinge müssen nicht gefallen, um interessant zu sein. Auch aus Orten der Verderbnis oder des Bösen können die innerlich Starken viel lernen!" Neugierig bestaunte Wando den ganzen Raum, suchte nach weiteren Indizien für die Geschichte des Ortes und seiner Erbauer. Vor allem die Wandbemalung, aber auch die Pyramiden weckten sein Interesse. “Wenn ich das nur wüsste.”, antwortete der Gouverneur achselzuckend. Vielleicht irgendeine Art Magie, die bei Betreten der Halle die Feuerschalen entzündet.” – “Unheilige Magie!” ergänzte Baldos umgehend. – “Oder doch irgendeine verborgene Mechanik.” Insgeheim hatte Ugdalf durchaus eine Vermutung, die er aber wohlweislich für sich behielt. “Auf jeden Fall ist dieser Ort - faszinierend. Sobald wir das alles überstanden haben und hoffentlich wieder Ruhe eingekehrt ist, werde ich nach geeigneten Gelehrten schicken und diesen - Thronsaal? - untersuchen lassen. Dann wird natürlich auch mit diesen Wilden, die uns angegriffen haben, abgerechnet. Und bis dahin fasst hier niemand etwas an; ich wäre nicht überrascht, wenn die ‘Nutzer’ dieses Saales diesen mit allen möglichen Fallen versehen hätten. Unsere dringendste Sorge sollte hier und jetzt aber die Suche nach Lechdan, Ifirnia und Mokko sein; alles andere kann und muss warten. Wer weiß, wo und in welcher Lage sie sich gerade befinden. Also lasst uns schauen, wo und wie wir ihre Spur wieder aufnehmen können.”

Ugdalf ließ noch einmal langsam seinen Blick über das Areal schweifen, bevor er sich umwandte, um nach einem weiteren Zugang Ausschau zu halten. “Ja, das sehe ich genauso. Wir sollten hier so schnell wie möglich einen Ausgang finden.” Baldos begann, die Wände nach einem weitern Durchgang oder einer geheimen Tür abzusuchen. “Wenn hier tatsächlich noch immer Rituale abgehalten werden und Ihr nichts damit zu tun habt, dann muss es einen anderen, unbekannten Zugang in diese Halle geben.” Seine Aufmerksamkeit galt besonders jener Seite der Halle, auf der der Gang verlaufen musste, den die Kinder genommen hatten. Wando war sich sicher, dass diese Halle genauso alt war wie der Raum davor. Die Stufenpyramiden deuten auf Einflüsse außerhalb der bosparanischen Kultur hin. Sein Blick blieb bei dem Skelett hängen, als er dort einen goldenen Ring an dessen Finger entdeckte. “Die Kinder sind jetzt am wichtigsten.”, sagte Ulinai und folgte Baldos. Dieser tastete vorsichtig voran … und entdeckte die ersten lebenden Bewohner: Ratten! “Ihhh!”, schrie Ulinai auf und machte einen Schritt zurück. Quiekend rannten die fünf Nagetiere in verschiedene Richtungen. Im selben Moment entdeckte Ugdalf eine doppelflügelige Tür, die düster und alt wirkte. Dennoch konnte er das Gefühl nicht unterdrücken, das ihn immer wieder zu dem Schädelthron lenkte.

Wando nahm nur am Rande Notiz von den Ratten. Unverändert vorsichtig tastete er sich auf die Stufen der Stufenpyramide vor, weiter zu dem Skelett und nahm den Ring näher in Augenschein, so gut es ging, ohne diesen anfassen zu müssen. Jetzt von nahen betrachtet, war es genau genommen kein Skelett, denn der tote Körper war von ledriger Haut überzogen. ´Mumifiziert und in sehr guten Zustand´, ging es Wando durch den Kopf. Der Leichnahm trug mehr Goldschmuck von exotischer Machart. Eine feine Krone zierte das Haupt, ein Amulett, den Hals, Arm-und Fußreife … sowie Ringe. Die zierliche Größe, wie auch einige Hautfalten auf dem Brustkorb, deuteten darauf hin, dass dies eine Frau war. Schon wollte er sich wieder den Ring widmen, als ihm die zwei, spritzen und länglichen Fangzähne auffielen, die der Toten aus dem Gebiss gewachsen waren. "Heilige Scheiße! Bei allen guten Göttern!" entfuhr es Wando leise. Vorsichtig ging er einen Schritt zurück, die Tote nicht aus den Augen lassend. "Leute, das müsst Ihr Euch ansehen. Was wir hier gefunden haben, ist mit 'unheilig' noch beschönigend beschrieben!"

Der Gouverneur hingegen konnte seinen faszinierten Blick nur mit Mühe von dem Thron abwenden. So schwer es ihm auch fiel: Der Sitz - wie die Halle als Ganzes - musste warten, bis hier wieder Ruhe eingekehrt war, wenngleich- Ulinais Schrei riss Ugdalf jäh aus seinen Gedanken. Wurde sie etwa angegriffen? Ein kurzer prüfender Blick offenbarte jedoch, dass sie sich lediglich vor ein paar Ratten erschreckt hatte. Ratten… Kopfschüttelnd wandte er sich wieder um, stutzte kurz und rief, während er die ersten Schritte darauf zuging: “Dahinten ist eine große Tür!” Baldos legte seinen Arm um Ulinais Hüfte, um ihr Halt zu geben, damit sie beim Rückwärtsgehen nicht stolperte. Die Ratten beachtete er gar nicht. Sein Blick wanderte zu der Tür. “Wie konnte ich die nur Übersehen?”, fragte sich Baldos und ging darauf zu. Als er vor der Tür stand, musterte der Ritter sie aufmerksam. Ulinai stieß den Ritter von sich. ”Lass das, ich werd schon nicht stürzen.” Nochmals schaute sie den Ratten hinterher, doch folgte sie langsam Baldos und Ugdalf. Die Tür war mit einer Mechanik ausgestattet, Ketten, Räderchen und ein Hebel daneben deuteten darauf hin.

In diesem Moment hörten sie von hinten Wandos Stimme, die zwischen Faszination und Entsetzen schwang: "Leute, das müsst Ihr Euch ansehen. Was wir hier gefunden haben, ist mit 'unheilig' noch beschönigend beschrieben!" Baldos war kurz davor, den Hebel zu ziehen, als er von Wandos Rufen unterbrochen wurde. Er nahm die Hand vom Hebel und lief zu dem Glücksritter. “Was genau habt Ihr entdeckt?” Auch Ugdalf wandte sich nach Wandos Rufen um und ging auf ihn zu. “Was gibt es?”, rief er lapidar. "Die Mumie hier... sie stammt von einer Frau... dem Schmuck nach offenbar eine Würdenträgerin... doch alleine deswegen würde ich Euch noch nicht von Eurem Tun abhalten. Ich finde aber, dass Ihr ihr Gebiss gesehen haben solltet - vor allem die beiden Fangzähne... wie bei einem Raubtier..." Wando machte eine Pause, ehe er aussprach, was er vermutete, "oder einem Vampir." Er hatte bislang glücklicherweise noch nie mit Vampirismus zu tun gehabt - die schlimmsten Blutsauger in seinem Leben waren die Mücken, die einen hier im Süden nur allzu oft umschwirrten. Die Legenden über Vampire kannte er dennoch, und das hier sah verdammt danach aus. “Vampire?” erschrak Baldos und zog unwillkürlich das Schwert. “Das ist doch namenloses Gezücht! Bei Rondra! Die Zwölfe mögen uns beschützen!” Ulinai ging ein Schauer über den Rücken. “Kommt weg da, Wando. Wir sollten uns so etwas nicht nähern …” Instinktiv ging sie zur der Tür. “Wir müssen hier raus.”, sagte sie ruhig.

Der Gouverneur stutzte kurz, schüttelte den Kopf und entgegnete lapidar: “Ein Grund mehr, hier schleunigst zu verschwinden und nichts anzufassen, geschweige denn, mitzunehmen. Verrückte Kultisten, namenlose Umtriebe und Vampire - was noch alles? Wie auch immer: Erst mal finden wir einen Weg raus und wenn sich - hoffentlich - die Lage wieder beruhigt hat, dann werde ich das alles hier mit Hilfe der Kirchen eingehend untersuchen und anschließend versiegeln lassen.” “Gut, lasst uns hier verschwinden! Ich denke, ich weiß, wie wir hier herauskommen.” Baldos ging zu der Tür zurück, um den Hebel zu ziehen, von dem Baldos dachte, er würde die Tür öffnen. "Kein Widerspruch meinerseits." Nicht gerne, aber in der Sache überzeugt, stellte Wando wissenschaftliches Interesse und Goldgier vorerst zurück und deutete in Richtung des hoffentlichen Ausgangs. "Nach Euch." “Na dann mal los!”rief Ugdalf Baldos zu und signalisierte ihm damit, den Hebel zu betätigen, was dieser auch unverzüglich tat.

Erst beim zweiten Anlauf ließ sich der Hebel mit sehr viel Kraft bewegen. Ein Rattern und Rasseln folgte und die Tür, die eine dreieckige Form hatte, öffnete sich ächzend. Es war klar, dass diese schon seit sehr langer Zeit nicht mehr geöffnet worden war. Ein Zug von frischer Luft wehte ihnen entgegen, dem allerdings der Geruch von Blut und Fäulnis folgte. “Es wird ja immer besser.", konnte sich Ulinai den zynischen Kommentar nicht verkneifen. Fester umfasste sie ihr Schwert und schaute den Gouverneur an. “Kampfbereit machen! Augen und Ohren auf! Links und rechts von der Tür postieren, bis wir wissen, wer oder was sich dahinter befindet!”, befahl der ehemalige Oberst knapp. “Hoffentlich hat der Wahnsinn bald ein Ende”, fügte Ugdalf nach einer kurzen Pause noch hinzu. "Die namenlosen Tage haben doch noch nicht einmal angefangen," äußerte Wando leise menetekelnd seine Zweifel an der Berechtigunģ der durch den Gouverneur artikulieren Hoffnung, "und wer weiß, wie groß diese Anlage hier tatsächlich ist?"

Davon unbenommen stellte sich Wando kampfbereit links der Tür auf. Baldos zog ebenfalls sein Schwert. Dann nahm er eine Fackel in die Linke und leuchtete vorsichtig durch die nun geöffnete Tür. Er blickte sich um. Ulinai hatte auch nicht gezögert und stellte sich rechts neben der Tür. Gespannt schaute sie auf Baldos, Gefährte aus langer Zeit. Das Flackern der Fackel deutet darauf hin, dass es irgendwo einen Zugang nach draußen gab, doch war es für den Ritter nicht offensichtlich. Vor ihm lag eine natürliche Kaverne, an dem sich das Licht in seiner Hand an dessen Felswänden brach. Steinerne Stufen führten nach unten. Baldos schätzte vier bis fünf Schritt. Schädelförmige Gesichter waren aus dem Stein geschlagen doch starten sie alle in die gegensätzliche Richtung von ihm aus. Er erkannte 3 Durchgänge, einer links, einer rechts und einer geradeaus. Nach einigen Augenblicken, als seine Augen sich an die neue Umgebung gewöhnt hatten, erkannte er, dass die Kaverne nicht unbewohnt war. In den Schatten zu Füßen der Treppen schälten sich bleiche Kreaturen hervor, die allesamt missgestaltet waren. Nackt mit krummen Rücken und verzerrten Gesichtern starrten sie ihm entgegen.

Zur linken Seite hin erkannte er einen Haufen, Quelle des Gestankes, das aus menschlichen Überresten bestand. Zerrissene Körper, einzelne Arme und Köpfe in verschiedenen Stadien der Verwesung, Knochen. Dort entdeckte er zwei Kreaturen, die eine junge Frau in ihren Griff hielten: Mihi, die Schwester des jungen Mokko! Doch bevor Baldos reagieren konnte, entdeckte er noch etwas. Eine der Kreaturen am Ende der Stufen wirkte größer als die anderen. Dieser trug einen dreckigen Wickelrock und trug eine goldene Kette mit einem Totenschädel um den Hals. Ungläubig schaute dieser zu Baldos hinauf. “Hierher! Zu den Waffen! Schnell!” rief Baldos an seine Mitstreiter gewandt. Für lange Erklärungen, was genau er sah, war keine Zeit. Die junge Frau musste gerettet werden. Er überlegte kurz, was er machen sollte. Wenn sie den vermeintlichen Anführer dieser Missgestalten ausschalten konnten, würden die anderen vielleicht fliehen. Der Ritter wartete, bis die anderen zu ihm aufschlossen, zeigte auf den Großen am Fuß der Treppe und rief dann: “Auf den da zuerst! Das ist vermutlich ihr Anführer.” Baldos lief mit erhobenem Schwert die Stufen hinab, um den Vorteil der erhöhten Position für einen ersten Schlag ausnutzen zu können. Nachdem sich der Gouverneur einen kurzen Überblick über die Lage und die Positionen der Gegner verschafft hatte, nickte er Baldos kurz zu und machte sich ebenfalls daran, den vermeintlichen Anführer der Feinde anzugreifen. Dabei versicherte er sich mit raschen Blicken, dass links und rechts keine Gegner lauerten, die ihm und seinen Begleitern in die Flanke oder gar in den Rücken fallen könnten, was dem Angriff ein ebenso schnelles wie endgültiges Ende bereiten dürfte.

Zwei kampferprobte Recken auf den mutmaßlichen Anführer mit dem Vorteil der höheren Position - das sollte, nein, das musste reichen. Noch mehr Kampfkraft auf den einen zu konzentrieren würde nur dazu führen, dass sie sich am Ende gar gegenseitig behinderten und die Gefangene derweil noch durch die anderen Gestalten zu Schaden kam. Also stürzte Wando sich mit gezücktem Rapier und einem "Ich befreie das Mädchen!" auf die beiden mit jener beschäftigten Kreaturen. Vielleicht würde er durch die Eröffnung einer zweiten Kampflinie den Vorteil der Überraschung durch die zusätzliche Verwirrung des Gegners verstärken. Der Erfolg würde es am Ende zeigen, ob er richtig gehandelt hatte. Ugdalf hatte sich dazu entschieden, seinen Opponenten nicht auf kürzestem Wege frontal anzugreifen, sondern gegen Ende seines Vorrückens einen Bogen zu beschreiben, um den mutmaßlichen Anführer dieser Verrückten in die Seite zu fallen. So könnte dieser sich aufgrund des vorhandenen Abstands nicht zugleich gegen Baldos und den Gouverneur verteidigen, sondern müsste sich auf einen Gegner konzentrieren, was dem anderen Streiter die Gelegenheit verschaffte, ihn rasch und ohne großes Risiko zu erledigen - so zumindest Ugdalfs Hoffnung. Auch Ulinai stürmte hinaus, ihr Schwert gezogen. Sie hatte nur einen Augenblick, um sich zu entscheiden, und folgte schließlich Wando.

Als Baldos die ersten zwei Stufen nach unten nahm, überkam ihn ein Schwindel. In den Augenhöhlen der steinernen Schädel flackernten purpurne Lichter auf. `Wer war dieser Fremde, große Mann? Und wo bin ich eigentlich?´ Schon auf der dritten Stufe spürte der Ritter keine Gefahr mehr. Warum war er eigentlich losgerannt? Baldos ließ das Schwert sinken und schaute sich neugierig um, während er gemächlich die Stufen weiter hinab stieg. Es sah hier wirklich interessant aus! Das purpurne Licht ließ den großen Raum freundlich und einladend wirken. Wando hatte das junge Mädchen im Auge und war darauf bedacht, nicht über die Stufen zu stolpern. Ulinai folgte ihm auf den Schritt und er war sich sicher, dass sie zusammen Mihi retten konnten. Die Kaverne erhellte sich plötzlich im purpurnen Schein. ´Mihi? Warum war sie hier? Ulinai. Ein Keller. Wo sind wir nur?´ Schwindelige Gedanken überkamen den Entdecker und kein Gefühl der Bedrohung war mehr in seinem Herzen. 'Was war das für ein Auflauf hier? Wilde... bemitleidenswert ausschauende noch dazu... harmlos… und uninteressant. Sie konnten unmöglich die Schöpfer dieser Anlage, dieser Reliefe sein. Vergangene Größe. Vergessenes Wissen. Wie auch immer er selbst hierher gelangt war - ein Schatten lag darüber - doch eines war offenkundig - er war hier genau richtig. Zu sehen, zu dokumentieren und zu versilbern…. Was sah das eine Mädchen so erschrocken aus… ohne Belang… abergläubische Eingeborene.. Wando steckte seinen Rapier weg - sein herrischer Begleiter - wie hieß er gleich noch? - hatte offenkundig alles im Griff. Gefahr drohte jedenfalls keine. Neugierig strebte Wando auf das nächstgelegene Relief zu. Was es wohl über sich und seine Schöpfer verraten würde?

Ugdalf nahm wahr, dass Baldos auf den Stufen taumelte, als die Figuren in der Kaverne anfingen, aus ihren Augen purpur zu leuchten. Die große missgestaltete Gestalt blieb stehen und legte ein verzerrtes Grinsen auf, das seine schiefen Zähne offenbarte. Er hob die krallenbewehrten Hände in die Höhe und zeigte keine Angst, als der Gouverneur sich ihm nährte.

Erkenntnis blitzte in Ugdalfs Augen auf. Seine Ahnung, die Hintergründe der Angreifer betreffend, hatte sich nun in Gewissheit verwandelt. Der Gouverneur schenkte seinem Gegenüber ein ebenso wissendes wie maliziöses Lächeln - und schlug ihm dann in einer fließenden Bewegung den Kopf ab. Dann blickte er den übrigen Gegnern nacheinander in die Augen und deutete in einer geradezu majestätischen Geste auf den vermeintlichen Ausgang der Halle und gebot ihnen so, zu verschwinden. Dies war nicht ihr Kampf - zumindest nicht heute und nicht jetzt. Ugdalf wartete noch eine kurze Weile, dann wandte er sich Baldos zu.

Laute Stimmen hallten durch den natürlichen Tunnel und Lechdan war sich sicher, dass er die Stimmen kannte. Wo auch immer dies hier hinführte, am Ende müßte sein Schwertvater und die anderen sein! Doch bevor er weiter gehen konnte, machten sie, Lechdan, Ifirnia, Mokko und Rizella, einen grausigen Fund: einen Haufen von Leichen, besser gesagt, Leichenteile. Abgetrennte Arme, Beine , halbe Rümpfe und Köpfe von Menschen. Lechdan hatte zwar selbst gerade einen Menschen (?) erstochen, doch dieser Anblick war ihm zu viel und sein Magen entleerte sich schlagartig. Leise keuchend lehnte er an der Wand und wartete, hoffte, dass es vorbei war. Dann spuckte er noch einmal aus und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

Überraschenderweise war die ältere Rizella an seiner Seite und strich Lechdan über den Rücken. “Es ist … schrecklich. Wir müssen uns jetzt aber zusammenreißen, sonst gehören wir bald zu diesem Haufen. Wir brauchen jetzt einen Anführer … meinst du, dass du das sein kannst?” Wie es schien, hatte die Wirtin ihre Angst überwunden und schaute den Jungen erwartungsvoll an. Mokko kämpfte mit der Übelkeit und hielt sich die Hand vor Nase und Mund. “Das sind die Verschwunden aus Yar´Dasham. Das da ist … war Riann, der Seiler.” Dann deutete er auf einen abgetrennten Kopf. Das Mokkos Vater auch zu den Verschwundenen zählte, wurde dem Knappen nun bewusst. Der Knappe nickte Rizella zur Antwort. Dann wandte er sich Mokko zu und legte ihm seine Hand auf die Schulter. "Es tut mir leid", sagte er traurig und drückte sanft dessen Schulter. "Aber ich werde mein Bestes geben, um Deine Schwester und uns hier rauszuholen." Dann versuchte er sich zu orientieren: wo waren die Stimmen hergekommen? Gab es dort einen Ausgang? Oder waren sie im Kreis gegangen und standen vor dem Keller? Ifirnja hatte sich einige Schritte hinter Lechdan gehalten. Als dieser beiseite wankte, gab er den Blick auf den entsetzlichen Anblick frei. Auch sie würgte krampfhaft, sank zitternd auf die Knie. Nach Rizellas und Lechdans Worten rappelte sie sich mühsam wieder auf. Sie merkte, wie Tränen ihr übers Gesicht liefen. Am liebsten hätte sie geschrien. Abgewandt zwang sie sich durchzuatmen, dann wandte sie sich wieder den anderen zu. ‘Tapfer sein’, ging ihr durch den Kopf und: ‘Stell dich nicht so an.’

Der Knappe ging einige Schritte weiter und sah einen Durchgang aus dem flackerndes purpurnes Licht herkam. Ein vorsichtiger Blick verriet, dass es sich um eine größere Kaverne handelte. Totenköpfe aus dem Stein gehauen beleuchteten die Höhle. Das Licht schien aus ihren Augenhöhlen. In der Ferne sah er eine Treppe, die nach oben zu einer dreieckigen Tür führte. Auf der Treppe sah er Baldos, Wando und Ulinai stehen. Sein Schwertvater Ugdalf lief die Treppe hinunter, direkt auf einen großen Mann zu, den er mit gezielten Schlag mit dem Schwert dessen Kopf abhieb. Lechdans Herz hüpfte vor Freude - die anderen lebten. Er verspürte den Drang seine Deckung zu verlassen und auf seinen Schwertvater zuzulaufen, doch konnte er sich gerade so beherrschen. Erst wollte er versuchen, so viel wie möglich von der Kaverne zu überblicken. Es mochten vielleicht noch weitere Gegner in den Schatten lauern. Ifirnja trat neben den Knappen, erleichtert, ihre Mutter und die anderen zu sehen. Aber auch sie zögerte. ‘Nicht gleich loslaufen! Immer sichern!’ Eiserne Regel bei vielen Übungen an der Akademie …

Die missgestaltete Horde erstarrte in ihrer Bewegung, doch dann verneigen sie sich. “Yar´ Dasham”, krächzen sie in ihren verzerrten Stimmen und machten sich auf, die Kaverne durch einen der Tunnel zu verlassen. Ulinai schaute sich ungläubig um, doch als sie Baldos sah, ging sie zu ihm. Die verletzte Mihi wurde von den Kreaturen zurückgelassen und sie erhob sich. Fast wie in einem Schlafwandel ging sie langsam zur Treppe, dort wo ihr Herr, der Gouverneur, stand. Baldos versuchte seine Gedanken zu sammeln. ´Der Gouverneur. Er hat uns gerettet vor diesem Schurken.´ Sein Blick fiel auf den abgeschlagenen Kopf. ´Ein Sturm. Entführte. Rettung im Haus. Ja, er hat uns gerettet.´ Sein Blick fiel auf den Entdecker. Wie hieß der Mann doch gleich?´

Ugdalf stellte sich neben den Ritter. Auch Wando unterbrach seine Suche und kehrte zu allen zurück. Baldos kniete sich vor Ugdalf nieder und senkte sein Haupt. „Bei Rondra! Ihr habt uns errettet. Wir stehen in Eurer Schuld, Herr!“ Ulinai überlegte kurz, doch tat sie es Baldos gleich. “Ohne Euch wären wir wohl alle gestorben.” “Nicht doch.”, begann der Gouverneur mit einem gewinnenden Lächeln. “Erhebt euch, es gibt keinen Grund zum Knien. Und ihr schuldet mir auch nichts, meine Waffengefährten, denn das Niederstrecken dieses Wahnsinnigen war doch wohl eine Selbstverständlichkeit für jeden aufrechten Streiter der Zwölfe. Hätte einer von euch die Gelegenheit dazu gehabt, so hätte er gewiss nicht anders gehandelt, als ich es gerade tat.” "Euch also gehört dies alles hier?" schloss Wando aus dem Verhalten der anderen. Er verneigte sich vor Ugdalf. "Ich danke Euch für die Ehre, dass Ihr uns Zugang zu diesem Ort gewährt und die Wilden als deren Gebieter in ihre Schranken gewiesen habt, Herr!"

Ugdalf wirkte nachdenklich und überlegte eine Weile, um die richtigen Worte zu wählen. Dies unbedacht zu tun wäre hier und jetzt - äußerst unklug. “Nun, dieser Ort ‘gehört’ mir, wenn man es denn so sagen will, lediglich dahingehend, als dass er sich in meinem Gouvernement befindet. Ihn und diese Kultisten kannte ich bis vor kurzem lediglich als vage Gerüchte und Schauermärchen, denen ich keine Bedeutung beimaß. Im Nachhinein zweifelsohne ein Fehler, wie ich zugeben muss. Ich weiß aber aus verschiedenen Berichten und Zeugnissen, dass solche Leute sich immer dem Stärksten beugen. Da ich ihren Anführer tötete und seinen bisherigen Anhängern gegenüber entschlossen und gebieterisch auftrat, betrachten diese mich, zumindest für den Augenblick, als ihren Häuptling oder was auch immer und verschwanden auf meinen Befehl hin. Ein Kampf wäre für uns wohl sehr hart und vermutlich auch verlustreich verlaufen. Und das wollte ich unbedingt vermeiden.” Der Gouverneur machte eine kurze Pause und fügte dann mit einem Schmunzeln hinzu: “Abgesehen davon sind derlei, ähem, ‘Leute’ doch wohl kaum der angemessene Umgang für einen Adligen und Gouverneur des Raulschen Reiches, meint ihr nicht?”

"Umgang? Gewiss nicht." war Wando mit Ugdalf einer Meinung. "Aber auch solcherlei Volk will beherrscht werden, nicht wahr?" “Aber genug davon.” beendete Ugdalf diese Überlegungen. “Wenn alle hier den Umständen entsprechend wohlauf sind, sollten wir nun die Suche nach den Vermissten fortsetzen.” “Ähm, was für Kultisten meint Ihr?” fragte Baldos den Gouverneur. “Und wer wird vermisst?" Der Angesprochene stutzte kurz, doch dann begriff er: Hier tat sich ihm eine buchstäblich wunderbare Gelegenheit auf! “Ach, verzeiht, ich bin noch ein wenig durcheinander. Ich glaube, der Mangel an Schlaf und die jüngsten Ereignisse spielten meinen Erinnerungen einen Streich. Wird Zeit, dass wir alle zur Ruhe kommen und neue Kraft schöpfen. Vergesst mein wirres Gerede und lasst uns ins Freie zurückkehren. Dort hinten”, Ugdalf zeigte auf die Türe, “sollten wir hinaus kommen, nehme ich zumindest an. Also kommt!”, rief er an seine Begleiter gerichtet. "Schade um die Gelegenheit, diesen Ort weiter zu erkunden.” bedauerte Wando. “Andererseits habt Ihr Recht - wir sollten nach draußen. Ich bin selbst inzwischen auch so müde, dass ich kaum noch einen klaren Gedanken fassen geschweige denn das alles hier angemessen verinnerlichen kann. Ich weiß schon gar nicht mehr recht, wie wir überhaupt hierher gekommen sind. Wenn Ihr gestattet, lasst uns ausgeschlafen wieder hierherkommen. Hoffentlich hat sich der Sturm in der Zwischenzeit bereits gelegt."

Der Knappe beobachtete alles, aus dem Schutz des Tunnelausganges, wie es schien, flüchteten die verzerrten Missgeburten aus der Höhle. Dann sah er auch Mihi, die neben dem Held, seinem Schwertvater, stand. “Folgt mir, aber bleibt wachsam”, sagte der Baronet und trat aus dem Durchgang, um einen Weg zu seinem Schwertvater zu suchen. “Mokko, Mihi ist dort, bleib trotzdem hinter mir, bis wir dort sind.” Mokkos Augen wurden groß. “Ist sie in Sicherheit? Ich komme mit dir mit!”, sagte der junge Bukanier. Ifirnja nickte bloß. Sie hatte das vage Gefühl, dass dieser Alptraum noch nicht vorbei war.

Das Schwert noch in der Hand, aber die Spitze zum Boden gerichtet, betrat Lechdan die Kaverne und wandte sich der kleinen Menschengruppe zu, die sich um seinen Schwertvater gruppiert hatte. Das seltsame purpurne Licht, dass aus den steinernen Schädeln schien, ließ sein Herz schneller schlagen. Er wusste nicht warum, doch er war immer noch angespannt. “Wohlgebore Exellenz, geht es Euch gut? Bin ich froh Euch zu sehen. Wir haben Rizella gefunden.” Überrascht drehte sich der Gouverneur um. “Lechdan, mein Junge!”, rief er freudig aus. Wie schön, dass wir uns endlich gefunden haben! Ich hoffe, Du bist wohlauf? Und was ist mit Deinen Begleitern? Mir geht es soweit gut, wenn auch noch ein wenig durcheinander.” Die Art, wie sein Knappe ihn ansprach, ließ Ugdalf vermuten, dass dessen Erinnerungen noch intakt waren. Des Gouverneurs Lächeln wurde etwas breiter. “Ich denke, wir sollten diesen schauerlichen Ort rasch verlassen. Wir können später über alles reden.”

Ugdalf konnte sehen, dass Lechdans rechte Wange einen Schnitt aufwies, der noch leicht blutete. Auch dessen Schwert war noch blutverschmiert, ebenso Ifirnias Entermesser. "Ja, Herr, hoffentlich ist der Sturm vorbei; und hoffentlich steht das Haus noch.” "Wäre das Haus zusammengestürzt, hätten wir das zweifellos gehört, selbst hier unten. Außerdem ist es fest gebaut und steht auf einem hervorragenden Fundament…" Wando stutzte, als er in diesem Moment die Wunde in Lechdans Gesicht und das Blut auf dessen Schwert erblickte. "Gab es Ärger, Junge?" fragte er unbedarft nach. "Wärst besser an der Seite Deines Schwervaters geblieben. Andererseits entstellt Dich der der Schmiss nicht, gibt Dir eher ein verwegeneres Antlitz. Kein Nachteil bei den Damen..." verschwörerisch zwinkerte Wando dem Knappen zu. "Mach ihn nur gut sauber. Aber vorher sieh Dich hier um. Solch einen interessanten Ort wirst Du nicht alle Tage zu Gesicht bekommen." Was redete dieser Mann daher? Wando von Gehrheim, erinnerte sich Ifirnia; seit sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie ihn etwas seltsam gefunden. Abenteurer, nun ja. “Mama!”, rief sie. “Ich bin so froh, Dich zu sehen! Diese entsetzlichen Kreaturen! Alle Dorfbewohner haben sie ermordet! Habt ihr Mihi gefunden?” “Wieso?” fragte Baldos erstaunt. “Was ist mit dem Mädchen? Sie war doch eben noch bei uns.” Er wunderte sich über Ifirnias Reaktion. Sie waren doch alle gemeinsam im Haus gewesen. Entgeistert schaute er die Tochter seiner alten Begleiterin an. Sie sprach wirr.

Auch Lechdan blickte verwundert. Allerdings eher wegen Wandos Worten. “Äh… ja, Herr, den gab es. Rizella wurde von zwei Schurken gefangen gehalten und Ifirnia und ich haben sie niedergerungen, während Mokko den Käfig geöffnet hat.” "Ah, es gab also ein Missverständnis mit den Eingeborenen." Wando nickte verstehend. Natürlich. Dem Jungen und seinen Begleitern war wahrscheinlich die Angst geradezu anzusehen gewesen. Man hatte sie vermutlich sogar riechen können. Selbst diese schwachbrüstigen und besonders primitiven Wilden hier konnte sie unmöglich entgangen sein. Dabei war Angst fatal. Zum einen trübte sie die eigene Entscheidungsfähigkeit. Zum anderen galt hier im Dschungel das Gesetz des Stärkeren. Wer Schwäche zeigte, hatte schon verloren. "Ihr wärt besser alle bei uns und vor allem Deinem Schwertvater geblieben. Er hat hat auf beeindruckende Weise demonstriert, wie man mit den Wilden hier umgeht und dem ganzen Stamm gezeigt, wer hier Herr ist." Nun lächelte er aber versöhnlich. "Ihr habt ihnen aber offensichtlich auch bewiesen, dass ihr keine leichte Beute seid. Gut so!" Der Baronet lächelte höflich. ´Was für ein sonderbares Lob´, dachte er. “Naja, ich dachte, es sei Gefahr im Verzug, deshalb haben wir uns entfernt”, sagte er verlegen. ´Seltsam, sie waren doch alle dabei, vorhin, im Keller. Wieso haben sie das vergessen?´

‘Wohin hatten sie sich entfernt? Und Warum?’ überlegte Baldos. "Schon gut." zeigte sich Wando weiter milde, auch von seinem eigenen, unterschwellig schlechten Gewissen erfasst - er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wann sich das Grüppchen von ihnen abgesetzt hatte. So etwas durfte ihm, auch wenn er hier nicht das Kommando hatte, auf keinen Fall passieren. "Aber merke:” wollte er das Thema noch lehrreich abschließen, “bei Gefahr stets zusammenbleiben. Nie auf eigene Faust losziehen... falls doch Erkundungen erforderlich sein sollten, wird Dein Anführer oder der Expeditionsleiter - und nur er - schon einen Erkundungstrupp aussenden. Ansonsten zerfällt so eine Truppe rasch in ihre Einzelteile... und alleine überlebst Du im Dschungel nicht lange. Aber genug davon - diese Lektion hast Du heute ja eindrücklich gelernt." “Der Herr hat absolut Recht. Sich ungefragt einfach fort zu schleichen, ist im Kampf eine Gefahr für alle”, hakte auch Baldos nach. “Das ist nicht nur im Dschungel so, sondern in jedem Kampf. “Ja, Herr”, antwortete der Knappe pflichtschuldig.

Ulinai stellte sich zu ihrer Tochter und legte ihr eine Hand auf die Schulter. “Ifi, wir waren nur kurz weg … aber ich bin auch froh dich zu sehen.”, sagte sie mit beunruhigendem Ton. "Ja, die Dorfbewohner," sie dachte kurz nach, “sind ein paar verschwunden. Sicherlich sind sie nur vor dem Sturm weggelaufen.” Ulinai schaute zu Ugdalf. “Der Gouverneur hat uns gerettet, jetzt gibt es keine Gefahr mehr!” Ihr Blick wirkte seltsam stolz. “Mama?”, fragte Ifirnia verwirrt, “wir waren unten im Keller und sind durch das Loch …” “Mihi!”, unterbrach Mokkos Stimme die Runde. Der junge Hausdiener umarmte seine Schwester, die seltsam seelig in die Höhe schaute. “Schwester, geht es dir gut?” Erst jetzt sahen die Anderen, dass sie die goldene Kette des Geköpften in den Händen hielt und Ugdalf entgegen streckte. "Ehre, wem Ehre gebührt!" zollte Wando Ugdalf Respekt. "Soll ich vorher einen Blick auf das Stück werfen? Manchmal sind solche Kleinodien nicht ohne Risiko!" Neben aufrichtiger Sorge um die Unversehrtheit des Gouverneurs war auch Neugier Triebfeder des Angebots.

“Was ist denn das?”, fragte Lechdan neugierig nach, der die Kette nicht genau sehen konnte. "Ein Schmuckstück, das der Anführer der Eingeborenen getragen hat, ehe seine Exzellenz ihm seinen Platz gewiesen und den seinen eingenommen hat." erklärte Wando beiläufig, bereits voll auf die Kette und den Anhänger fokussiert. “Du solltest die Wunde rasch ausspülen, Lechdan, bevor sie sich noch entzündet.”, sprach Ugdalf mit einem Anflug von Besorgnis zu seinem Knappen, bevor er lächelnd fortfuhr: “Du hast heute durchaus mutig - wenn auch ein wenig unbedacht - gehandelt. An beides soll dich diese Narbe fürderhin erinnern. Das besprechen wir jedoch später in Ruhe, wenn wir alle wieder zu Kräften gekommen sind; einige von uns sind ja ob der jüngsten Ereignisse immer noch ein wenig durcheinander. Aber Hauptsache, wir haben die jüngsten Ereignisse allesamt mehr oder weniger unversehrt überstanden.” “Ja, Herr”, nickte der Baronet und begann sich notdürftig mit dem Ärmel das Blut von der Wange zu wischen. Wenn sie wieder im Haus sein würden, würde er die Wunde gründlich mit Wasser, Seife und Alkohol ausspülen. Als Baldos sah, dass der Junge sich das Blut lediglich mit dem schmutzigen Ärmel wegwischte, blickte er sich nach Wasser um. Hat irgendjemand Wasser dabei? Einen Wasserschlauch vielleicht?

Der Gouverneur nahm dann etwas nachdenklich wirkend die ihm dargebotene Kette entgegen. “Danke, Mihi, dass Du diese Pretiose aufgenommen und mir übergeben hast. Wir werden sehen, wofür es noch gut sein mag. Aber nun überlasse ich Dich lieber der Obhut Deines Bruders.” Der Junker klopfte diesem kurz anerkennend auf die Schulter und wandte sich dann Wando zu. “Ebenfalls Danke für die freundlichen Worte, werter Herr von Gehrheim. Aber ich denke, jeder hier hat heute sich und seinem Namen Ehre gemacht. Natürlich könnt Ihr gerne einen Blick auf die Kette werfen.” Der Gouverneur hielt sie dem Entdecker eine Weile zur näheren Begutachtung hin, bevor er das Schmuckstück sorgsam in seiner Gürteltasche verstaute. “Und keine Sorge: Sobald ich nach den jüngsten turbulenten Ereignissen Zeit und Muße dazu finde, werde ich dieses Kleinod natürlich umgehend von jemand Fachkundigem näher unter die Lupe nehmen und euch dann gerne über die Ergebnisse in Kenntnis setzen lassen.”

Wando nutzte die ihm vom Gouverneur gegebene Zeit und versuchte, am Farbschimmer die Reinheit des Goldes oder seiner Legierung und an der Machart den Erschaffer und das Alter des Kunstwerks abzuschätzen. Ob es von hier stammte, von den Eingeborenen gefertigt, oder war es auf anderem Wege in deren Besitz gelangt? Doch war der Moment zu kurz, um ein sicheres Urteil abzugeben. Ifirnia kam sich erneut vor wie in einem Traum, diesmal einem von diesen bedrückenden Träumen, bei denen man nachher gar nicht recht weiß, wovor man Angst gehabt hatte. Alles war gut! Alle am Leben, die Entführten wohlauf. Alle sahen zufrieden aus. - Zu zufrieden, kam es ihr vor, angesichts der Geschehnisse. Die Bilder der Leichen…teile gingen ihr nicht aus dem Kopf. Oder hatte sie Trugbilder gesehen, einen allzu realen Alptraum gehabt? Sie fühlte sich wie einmal vor Jahren, als sie ungestüm auf einen zugefrorenen Tümpel gerannt und ins Rutschen gekommen war, ohne Halt und ohne Halten. Damals war alles glimpflich ausgegangen … Baldos sah, wie Ifirnia ob der Erinnerungen bleich wurde. Er trat einen Schritt näher an sie heran, um sie notfalls halten zu können, sollte sie plötzlich zusammensacken. “Geht es Euch gut, junge Dame?” Gut? Naja … “Ja, danke”, sagte Ifirnia und hielt sich kurz an des Ritters Arm fest. “Danke”, sie versuchte zu lächeln. “Was ist hier bloß los?” Letzteres schien sie mehr zu sich selbst gesagt zu haben.

Ein Flackern ging durch die purpurnen Flammen in den Totenschädeln. Augenblicke lang gingen Stimmen und Bilder durch Ugdalfs Gedanken, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen. Eine Sternenleere über dem Wappen der Nordmarken. Lechdan, Sohn der Landhauptfrau des Herzogtums, im purpurnen Schein. Dann wusste Ugdalf, was von ihm verlangt wurde. Der Knappe musste wieder zurück, um dereinst Schlüssel um den Kampf der Macht zu sein. Doch gleichzeitig flüsterte ihm sein Herr, dass er hier gebraucht wurde. Großes würde kommen, doch noch war nicht der Zeitpunkt gekommen. “Ich glaube, irgendetwas stimmt mit ihr nicht.” Die Stimme Mokkos holte Ugdalf wieder zurück. “Sie reagiert nicht, es scheint ganz so, als ob sie in einem Rausch ist oder so.” Noch immer hielt er seine Schwester in den Armen. Mit leichtem Unwillen riss sich Wando von der Betrachtung der Kette los und musterte stirnrunzelnd die Schwester des Hausdieners. "Seit wann ist sie in diesem Zustand?" wollte er wissen. Zunächst war Lechdan stolz gewesen, dass sie Rizella gefunden und gerettet hatten, doch nun zeigte sich bei Mihi dieses merkwürdige Verhalten. Sorge machte sich in ihm breit. Auch Ifirnia musterte jetzt Mihi näher. Die Blessuren von ihrer Entführung schien sie gar nicht zu spüren, die gruslige Umgebung nicht wahrzunehmen, ebenso wenig wie ihren Bruder. “Vielleicht Rauschgift?”, flüsterte sie Lechdan zu.

“Gift?!”, raunte er überrascht zurück. Natürlich wusste er, dass es Gifte gab und auch, dass sie eingesetzt wurden, aber in seiner Naivität hatte er diesen Gedanken immer weit von sich geschoben, da er sich nicht vorstellen konnte, jemals damit konfrontiert zu werden. “Hm,” überlegte Baldos. “Was für Gifte mag es hier geben, die solch einen Zusatnd auslösen?” Ifirnia zuckte die Schultern und schaute erst Lechdan, dann Baldos ratlos an. Als Mokko auf den Zustand seiner Schwester zu sprechen kam, schüttelte sich Ugdalf kurz und schaute für einen Moment mit einer eigentümlichen Miene, so, als wäre er gerade jäh aus einem wohligen Traum gerissen worden, drein. “Das scheint ernst zu sein.”, konstatierte er, nachdem er einen Blick auf Mihi geworfen hatte. “Kennt sich jemand mit derlei Dingen aus? Ich bedauerlicherweise nicht. Aber vielleicht sollten wir sie erst einmal von hier wegbringen; hin zu einem ruhigen Ort mit einem ordentlichen Bett?”

Plötzlich schaute Mihi ihren Bruder an. “Er wird kommen, in all seiner Herrlichkeit und Ewigkeit. Hörst du nicht die Klänge, seine Worte?” Ihr Blick war glasig. Doch dann wurde dieser skurrile Moment jäh unterbrochen, als ein Mann durch einen der Tunnel auf sie zukam. Er war mittelgroß und schlank und sicherlich in seinen fünfzigern. Seine Kleidung war die eines Fischers und trug eine gewachsten Mantel. Eine Augenklappe zierte sein zerfurchtes Gesicht. “Taro? Was machst du hier?”, sagte Rizella. Mokko schaute zu seinem Herren. “Euer Wohlgeboren, das ist Taro, der Fischer.” Auch er schaute verwundert. Taro blieb einige Schritte vor ihnen stehen und erhob seine schmutzigen und schwieligen Hände. Es war offenbar, dass er schon zwei Finger seiner linken Hand vor langer Zeit verloren hatte. “Oh, gütiger Herr…. Gouverneur. Ich bin Taro Borotigez und Fischer aus Yar´ Dasham. Doch habe ich das Schiff eures Vorgängers gepflegt. Ich habe Zuflucht in ´seinem ´ Hafen gesucht. Als ich eure Stimmen gehört habe, dachte ich mir, dass ihr es seid. Zu euren Diensten!” Mit seinem Auge schaute er listig Ugdalf an. Mokko schenkte Lechdan und Ifirnia einen misstrauischen Blick. Lechdan erwiderte den Blick. Irgendwie benahmen sich hier alle merkwürdig, mit Ausnahme der drei Jugendlichen und Rizella. War hier Magie im Spiel? Auch Ifirnia sah die beiden Gefährten alarmiert an. Fast unmerklich schüttelte sie den Kopf.

Der Gouverneur schaute kurz sichtlich irritiert drein, dann blitzte für einen winzigen Moment so etwas wie Erkennen in seinen Augen auf. Ugdalf hatte sich aber rasch wieder im Griff, als er zu einer Entgegnung ansetzte. “Nun, Taro, erst einmal, äh, danke, dass Du Dich um das Schiff meines Vorgängers gekümmert hast. Aber jetzt sollten wir uns erst einmal um das Mädchen kümmern und vor allem zurück ins Freie gelangen. Ist der Sturm mittlerweile abgeklungen? Und was ist mit den Angreifern? Ist es draußen wieder sicher? Von Schiff und Hafen kannst Du mir später erzählen, Taro, wenn alle wieder wohlauf sind und Ruhe eingekehrt ist. Taro verbeugte sich. “Ihr werdet überrascht sein. Nicht weit von hier gibt es einen Ort, an dem wir sicher sind, bis der Sturm vorbei ist. Ich habe dort auch alle Dinge, um Verletzungen zu versorgen und vor allem … habe ich etwas zu trinken und zu essen. Ich kann euch hinführen … Gouverneur!" Das Angebot klang zu verlockend, um wahr zu sein, dachte Baldos und blickte den Fischer skeptisch an.

“Ich würde gern so schnell wie möglich wieder ans Praioslicht”, meinte Lechdan, “wenn es geht, ohne durch dunkle Tunnel und vorbei an unbekannten Häfen laufen zu müssen.” “Nun, mein junger Herr, das Madamal ist schon am Himmel und dort, wo wir hingehen, gibt es Licht.”, sagte der Fischer ruhig. “Das Madamal ist schon aufgegangen?”, fragte der Baronet verwundert. Nie hätte er gedacht, dass sie schon so lange hier unten waren. “Ich liebe den Anblick dieses silbrig-weißen Sterns. Hier unten soll er viel größer sein, als bei mir daheim. Wohlgeborene Exzellenz, können wir uns das Madamal ansehen. Wenn der Sturm doch vorüber ist, können wir in seinem Schein einen Teil der Schäden begutachten.” "Der Sturm ist aber noch nicht vorüber, wie der gute Fischer Borotigez gerade dargelegt hat." wandte Wando in Richtung Lechdan ein, um sich dann dem Neuankömmling zuzuwenden. "Ein sicherer Ort klingt nicht schlecht, wobei der hier auch nicht zu verachten ist... was ist denn das für ein Ort, von dem Ihr sprecht?" Wando verband mit seiner Frage eine insgeheime Hoffnung. Lechdan beugte sich zu Mokko und flüsterte: “Sag mal, Mokko, dauern Stürme hier wirklich einen halben Tag oder länger?” “Ich habe noch nicht viele erlebt, doch dieser war anders. Was mir Sorgen macht, ist, das wir vielleicht schon den Namenlosen Tagen sind?”, flüsterte er Lechdan zu , während er noch immer schützend seinen Arm um seine Schwester hielt. “Er ist nicht weit von hier … eine schützende Höhle mit einem Ausgang nach draußen.”, sagte Taro.

Baldos blieb skeptisch. „Ihr sagtet, Ihr habt unsere Stimmen gehört? Was habt Ihr überhaupt hier unten in den Tunneln gemacht? Und wieso habt Ihr deshalb gleich auf uns geschlossen?“ Auch Ifirnia war auf die Antwort gespannt. Immerhin war der Paggenfelder ebenfalls mißtrauisch. Noch lieber hätte sie aber kurz ein paar Worte mit Lechdan und Mokko gewechselt, möglichst etwas abseits der anderen. “Ich habe Zuflucht vor dem Sturm gesucht, wie ich schon sagte. Und dann hörte ich Stimmen.” Sein Blick blieb weiterhin beim Gouverneur. Mokko sah, das Ifinia mit ihnen sprechen wollte. Sein Misstrauen war genauso groß wie bei ihr und Lechdan. Dennoch konnte er jetzt seine Schwester nicht alleine lassen. Nun versuchte er vorsichtig Lechdan ein Zeichen zu geben, um zu Ifirnia zu gehen. "Wir können ja einen Blick nach draußen werfen und dann entscheiden, ob wir lieber hier bleiben oder umsiedeln wollen." konstatierte Wando in die Runde. "Und Ihr Taro, sagt: ist das eine natürliche Höhle, von der Ihr sprecht, oder hat sie Menschenhand geprägt oder gar erschaffen?"

“Mir wäre tatsächlich auch deutlich wohler, wenn ich wüsste, wie man hier je wieder hinauskommt”, warf Baldos ein. Er blickte sich suchend um. “In einer Höhle zu bleiben, Ohne jeglichen Ein- oder Ausgang zu kennen, liegt mir gar nicht. Ich würde auch gerne wissen, wie die Lage draußen ist.” Der Fischer lächelte. “Dann sind wir auf dem richtigen Weg. Die Höhle, mit dem Ausgang, ist eine natürliche, doch hat der letzte Gouverneur sie ausbauen lassen.” Ugdalf hatte den Worten seiner Gefährten aufmerksam gelauscht und seine Schlüsse daraus gezogen. Dann blickte er kurz, dabei recht nachdenklich wirkend, erst zu Taro, dann zu Lechdan hinüber und ergriff anschließend selbst das Wort. “Ich halte die Idee, sich ins Freie zu begeben, für eine sehr gute. Dann werden wir ja sehen, ob der Sturm abgeflaut ist und die Lage sich draußen wieder beruhigt hat. Vermutlich brauchen auch im Ort die Bewohner Hilfe - Mihi nicht zu vergessen - und da sollten wir nicht saumselig werden. Alles Weitere können wir später noch besprechen. Taro, geh´ voran!”, gebot der Gouverneur, bevor er sich mit einem leichten Lächeln zu Lechdan umdrehte und hinzufügte: “Vielleicht bekommst Du dann auch das Madamal wieder zu sehen.”

Lechdan hatte die Zeichen der Beiden gesehen und verstanden und nickte ihnen zu. Bei nächster Gelegenheit würde er versuchen, sich wenigstens mit Ifirnia zurückfallen zu lassen. Ihr Flüstern vorhin war offenbar erfolglos gewesen - oder wurden sie mit Absicht belauscht? Als sich endlich die Gelegenheit ergab, blieb Ifinia mit Lechdan ein Stück zurück, tat so, als wolle sie nach seiner Wunde sehen und flüsterte: “Hier stimmt was nicht. Alle verhalten sich seltsam. Was sollen wir tun?” “Ich glaub auch, dass hier was nicht stimmt. Ob sie alle unter einem Zauber stehen? Vielleicht hat ein Schamane sie verhext. Wir sollten sie erstmal weiter beobachten und ihnen nicht trauen. Insbesondere dieser Taro kommt mir almadanisch vor.” “Glaube, Taro gehört zu denen. Er wurde ja auch nicht angegriffen oder getötet! Ich glaube auch, die andern sind verhext. Wir müssen auf der Hut bleiben!”

Ein unterirdischer Steg, Untergrund von Yar´Dasham, 1. Namenloser Tag

Der Fischer führte die Erwachsenen, so wie die Jugendlichen, durch einen kurzen Tunnel in eine geräumige Grotte, die von einem klaren See beherrscht wurde. An den Wänden brannten einige Fackeln und gaben dem Ort eine schummrige Stimmung. Ein kleiner Steg führte zu einem Segelboot, das auf der Wasseroberfläche schaukelte. Nicht weit entfernt sah man den Höhlenausgang und das Geräusch von heftigem Regenfall war zu hören. Neben dem Steg flackerte eine Feuerstelle, über der ein Kessel mit dampfender Suppe hing. Als sie alle versammelt waren, hatten Baldos, Ulinai und Wando weitere Erinnerungen verloren. Die Grabkammer und die Höhle mit den Kreaturen waren verloren, nur die Gewissheit, dass der Gouverneur sie alle gerettet hatte und sie nun in Sicherheit waren. “Gouverner, die heimliche Prinzessin von Yar´Dasham!”, damit zeigte Taro auf den Segler. “Und, ich habe gerade Suppe gekocht. Sie wird für alle reichen.”

Der einstige Oberst sah sich kurz erstaunt in der Höhle um: Sein “Reich” bot doch einige Überraschungen! “Ich danke dir, Taro, dass Du uns hierher geführt hast. Und Danke auch für die Suppe” - ein kurzes Zucken der Mundwinkel zeigte sich auf des Gouverneurs Antlitz - “eine Pause samt Stärkung könnten wir alle gerade gut vertragen, denke ich.”, schloss der Adlige mit Blick auf seine Gefährten. Mokko entdeckte in der Nähe der Feuerstelle ein paar Decken. sogleich führte er seine Schwester hin. “Hier können wir uns setzen.”, sagte er, doch tauschte er mit Lechdan fragende Blicke aus. Rizella hielt sich ihren Arm und hinkte leicht. “Eine gute Idee. Ich muss mich ausruhen.”, sagte sie.

Ulinai schaute sich um und strahlte. “Das sieht ja prächtig aus hier, Gouverneur. Schau, Firnchen, fast wie die ´Concabella´ in Elenvina.” Schelmisch zwinkerte sie ihrer Tochter zu. „Ja“, bestätige auch Baldos, „es ist wirklich ein einladendes Fleckchen. Fast so, wie in alten Zeiten, Ulinai, was? Erinnerst du dich noch?“ Der Ritter zwinkerte Ulinai zu und grinste sie mit einem hochgezogenen Mundwinkel an. „Eine Schüssel Suppe, würde mir jetzt wahrlich gut tun. Etwas Wärmendes kann doch nie schaden, oder? Und wenn es nur auf dem Teller ist.“ Die rotblonde Söldnerin lachte. “Du meinst doch nicht etwas …” Nun legte sie ihren Zeigefinger vor die Lippen. “Psst, Baldos. Wir sind nicht unter uns.” Mit gespielter Verlegenheit, schielte sie wieder zu ihrer Tochter. Doch Baldos lachte nur. Sein Lachen ließ nicht erkennen, ob er meinte oder nicht… “Das hast du jetzt gesagt!” Lechdan guckte sich um, bevor er Mokko zögerlich zunickte. Im Augenblick waren sie der Situation und den seltsamen Verhaltensweisen der Erwachsenen ausgeliefert. Langsam kam ihm das ganze vor wie ein merkwürdiger Traum. Nichts schien mehr real.

Verkniffen lächelte Ifirnia ihrer scherzenden Mutter zu. Es tat weh, sie so irgendeinem üblen Zauber ausgeliefert zu sehen. Wenigstens brauchte sie nichts vorzuspielen, um erschöpft zu wirken und sich im Hintergrund zu halten. Suppe … Sie hatte Hunger, oder irgendetwas ähnliches, aber keinen Appetit. Zumindest würde sie warten, wer von den anderen davon aß. “Sehr gerne, Gouverneur. Höhlenpilzsuppe. Tatsächlich wächst die Delikatesse hier.” Taro ging zum Kessel, nahm eine Suppenkelle, die an dem Kochgestell hing und probierte. “Hmmm. Noch fehlt etwas … aber nichts, was sich nicht richten lässt." Der Fischer griff nach einem Beutelchen an seinem Gürtel, griff hinein und streute getrocknete Kräuter in die dampfende Suppe. Als er nochmals umrührte, ging er zu einer Kiste, die neben den Decken stand, und holte Holzschälchen. “ Dann sollten wir uns stärken. Der Vortritt gehört natürlich den Damen.”

"So lasse ich mir den Ausklang einer stürmischen Nacht gefallen. Jetzt noch ein Becher voll Rum, und es lässt sich aushalten, bis das Wetter sich wieder eingekriegt hat." ‘Hatte er nicht selbst... stimmt!’ Wando sah an sich herab. Er schleppte ja eine Flasche davon mit sich herum. Der Tag war gerettet! Beschwingt trat er an den Topf, um daran zu schnuppern, machte aber keine Anstalten, sich vordrängeln zu wollen. Trotz der vielen Jahre hier im Süden, unter Mittelreichern, Kemi, Wilden und sogar Echsen konnte er den Duft nicht genau einordnen. Seinen Appetit weckte er jedenfalls. "Was genau habt Ihr da rein, außer Höhlenpilzen... wenn ich fragen darf?" erkundigte sich Wando neugierig. “Ach, wem interessierts? Ich wusste nicht, dass du auch Koch bist, Wando. An Bord hörte ich nur Geschichten von Wulu-Hulus und solche.”, sagte Ulinai und ließ sich eine Schüssel füllen. “Komm, Schatz, bring das zu den Mädels. Und dann stärke dich.” Sie ließ sich zwei weitere Schalen füllen und reichte diese Ifirnia.

“Hiesige Kräuter und Gemüse. Und ein wenig Salz aus der Al´Anfanischen Bucht.”, sagte Taro und reichte nun Wando und Baldos eine gefüllte Schale. Dankend nahm Ifirnia die Schale, rührte aber lustlos darin herum. Höhlenpilze. Al’Anfanisches Salz. Sie versuchte einen Blick Lechdans zu erhaschen. Auch Lechdan nahm eine Schale mit Suppe und brachte sie seinem Schwertvater, bevor er Mokko (und Mihi? je) eine brachte. Er selbst nahm sich zum Schluss. "Koch, ich?" Wando lachte auf. "Ganz gewiss nicht. Was ich zubereite, nährt vielleicht... mit Schmecken hat es aber nichts zu tun. Nein, ich esse einfach nur gerne. Und noch lieber überlebe ich meine Expeditionen. Was bringen einem alle Fundstücke, wenn man sie anschließend nicht verfressen, versaufen und verh... gewinnbringend verwalten kann, meinte ich." Bei seinem vermeintlichen Versprecher grinste er breit. "Und bei diesem Ziel hilft es ungemein, zu wissen, was man essen kann. Und was nicht. Bei Pilzen werde ich immer besonders hellhörig...mmmh... diese Suppe riecht aber wirklich gut." Genüsslich sog er den Duft der dampfenden Schale in seinen Händen ein.

"Siehst Du..." raunte er dann zu Ulinai und deutete zu Lechdan... "der Knappe weiß, wie man das macht. Erstmal die Eingeborenen kosten lassen und beobachten. Hat ihm sicher sein Schwertvater eingebläut." Baldos nahm die Schale von Taro entgegen. Es duftete sehr einladend und sein Magen fing an zu knurren. Doch wollte er nicht zu essen anfangen, bevor nicht alle eine Schale hatten. Das empfand er als unhöflich. So blickte er stattdessen auf Wandos Rumflasche. „Könnte ich vielleicht auch einen Schluck von Eurem Rum?“ “Rum wäre eine Idee!”, bestätigte Ulinai. “Und wir sollten auf unseren Held und Retter anstoßen: Gouverneur Ugdalf von Pandlarilsforst und von Hauberach!” Dann nahm sie ihren ersten Löffel Suppe. "Selbstverständlich - wofür sonst schleppe ich den guten mit mir!" Vorsichtig stellte Wando seine Suppenschale auf den Boden, darauf achtend, ja nichts zu verschütten. Sogleich entkorkte er die Flasche und nahm einen ersten Schluck. "Ja, ist angemessen… Haben wir Becher? Falls nicht..." er runzelte die Stirn, dann zuckte er die Achseln," falls nicht, lassen wir einfach kreisen." Der Gehrheimer straffte seinen Körper, als ob er ins Habacht ginge, und hob feierlich die Flasche vor sich. "Auf unseren Held und Retter, Gouverneur Ugdalf von Pandlarilsforst und von Hauberach!" Noch einmal genehmigte er sich einen großen Schluck. ehe er die Flasche weiterreichte.

„Auf den Gouverneur!“ Baldos stellte ebenfalls seine Suppenschüssel ab und nahm die Flasche entgegen und erhob sie in Ugdalfs Richtung. „Auf unseren Retter vor…, ähm, vor diesem eigenartigen Mann.“ Baldos hielt kurz inne, bevor er die Flasche an die Lippen setzte und trank. Auch Ulinai nahm einen Schluck und reichte es dem Knappen. "Auf meinen Schwertvater, dessen Mut uns den Tag gerettet hat!", prostete Lechdan etwas verlegen, bevor er einen Schluck nahm. Seinem Gesichtsausdruck nach, war ihm das Zeug zu stark, doch er sagte nichts. Dann reichte er die Flasche an Mokko weiter. Als es an Ifinia ging, nahm, mit Dank an den Gouverneur, auch sie einen kleinen Schluck. Brr! Das Zeug brannte! Es war aber ein wenig angenehmer als der Brand, den sie einmal bei einem Abgangsfest der Akademie bekommen hatte. Ihr wurde etwas benommen. Gift?! Unsinn, beruhigte sie sich. Nichts gegessen und dann so einen … wie hieß das? Rumm. “Ich glaube, eine ordentliche Stärkung tut uns allen momentan sehr gut”, warf Ugdalf lächelnd in die Runde und nahm die ihm von Lechdan dargebotene Schüssel Suppe entgegen. Nachdem die übrigen Anwesenden ebenfalls versorgt waren, begann er kommentarlos zu essen, nur unterbrochen durch ein kurzes Lob an den ‘Koch’ für dieses vorzügliche Mahl.

“Ach ja”, fügte er noch bescheiden hinzu: “Lobeshymnen sind hier unangebracht; wir haben den Sturm und seine, äh, Folgeerscheinungen schließlich gemeinsam über- und durchgestanden.” Mokko fing an zu essen und half seiner Schwester dabei. Auch Rizella nickte zustimmend und aß. “Kein Hunger?”, fragte der Fischer und sprach Ifirnia und Lechdan an. Ifirnia rührte in ihrer Suppe und schüttelte den Kopf. Ihr Magen sagte etwas anderes, aber tatsächlich hatte sie keinerlei Appetit. Zudem ging ihr der Anblick der Leichen nicht aus dem Kopf und der dieser gräßlichen Kreaturen. Hatten nur Lechdan, Mokko und sie das alles mitbekommen? Ihr Blick ging zu den anderen. Sie hatten sich seltsam genug benommen, aber was, wenn sie noch zusätzlich vergiftet wurden wie Mokkos Schwester? Nachdem er die Flasche weiter gegeben hatte, hob Baldos seine Suppenschüssel wieder auf und nahm einen Löffel voll davon. Doch bevor er sich die Suppe in den Mund schieben konnte, fiel sein Blick auf Ifirnia, die nur lustlos in ihrer Schale stocherte. “Ihr scheint keinen Appetit zu haben, junge Dame. Ist Euch vielleicht nicht wohl?” fragte er Ulinais Tochter besorgt, während er seinen Löffel unangerührt zurück in die Schüssel legte.. "Ich habe gerade zum ersten Mal getötet", protestierte der Knappe ein wenig aufgebracht, "Verzeiht also, wenn ich mit meinen Gedanken woanders bin." Lechdan blickte an sich hinab und auf sein Schwert. "Ich glaube, ich sollte mich erst waschen." Entgegen seiner Art wartete er nicht die Zustimmung seines Schwertvaters ab, sondern stellte die Schüssel auf den Boden und ging zum Steg, wo er anfing sein Hemd und sich selbst zu waschen, während er stumm seinen Tränen freien Lauf ließ.

“Nein”, antwortete Ifirnia auf Baldos’ Frage, “mir ist nicht wohl.” Baldos stellte daraufhin seine Schüssel auf dem Boden ab, ging zu Ulinais Tochter und legte ihr die Hand auf die Schulter. “Kann ich irgendetwas für Euch tun, junge Dame?”, fragte er besorgt. Ifirnia schüttelte stumm den Kopf, dann bemühte sie sich um ein kurzes Lächeln. “Es ist alles so seltsam …”, murmelte sie, brach aber ab. Auch Baldos verhielt sich seltsam, und was sollte sie ihm sagen? Daß ihr der Anblick der massakrierten Dörfler nicht aus dem Sinn ging? Daß sie gerade allem und jedem - im Grunde auch Baldos - mißtraute? “Danke, es geht schon. Ich glaube, etwas Erfrischung …” Sie stellte die Suppe beiseite, ging zu dem See und spritzte sich Wasser ins Gesicht. “Was sollen wir jetzt tun?”, flüsterte sie, halb zu Lechdan gewandt. Lechdans Schwertvater bemerkte das untypische Verhalten seines Knappen. Er sagte nichts, doch sein Blick blieb auf den Jugendlichen Ruhen.

Ifirnia, wie auch Lechdan, wurden von einem kurzen Schwindel erfasst. Das Gefühl der Bedrohung, alles Schlechte war wie fortgeblasen. Nichte und Onkel sahen sich an, während ihre Erinnerungen an die letzten Stunden schwanden. ´Ja, der Sturm war gefährlich. Der Gouverneur hat uns hierher gerettet.´ “Ich… ich weiß nicht, mir ist irgendwie schwindelig”, sagte der Knappe und wischte sich über das Gesicht. Er spürte, dass er geweint hatte, aber er wusste nicht mehr genau warum. Irgendwie hatte er Schwierigkeiten, sich an die letzten Momente zu erinnern. Er roch Suppe und spürte ein Drücken in seinem Magen. Wann hatte er zuletzt gegessen? Wie spät war es überhaupt? Ifirnia atmete tief durch. Auf einmal spürte sie wieder ihren Hunger und hatte auch Appetit. Immer noch etwas benommen, ging sie zurück zu ihrem vorigen Platz und lächelte Baldos an. “Das hat geholfen”, sagte sie und fing an zu essen. Ugdalf stutzte kurz, bevor er mit einem feinen Lächeln das Wort an die Versammelten richtete: “Ich denke, wir verschnaufen alle mal kurz, essen etwas und dann schauen wir, wie es draußen aussieht. Vielleicht haben sich die Wilden und das Unwetter mittlerweile verzogen und wir können die Schäden im Ort in Augenschein nehmen sowie nach überlebenden Bewohnern suchen.”

Baldos nickte Ifirnia zu und wandte sich dann an Lechdan. “Junge, du solltest vielleicht auch mal was essen.” Er selbst nahm dann ebenfalls seine Schüssel auf und begann nun, davon zu essen. "Junge", murmelte Lechdan, als er zu Mokko ging, wo er seine Schüssel abgestellt hatte. "Junge", irgendetwas gefiel ihm nicht an dieser Bezeichnung. "Ich bin nicht irgendein Junge! Ich bin Baronet und nicht sein Junge!", platzte es dann aus ihm heraus. "Die korrekte Anrede lautet: Euer Wohlgeboren!" "So ist es, Euer Wohlgeboren!" pflichtete Wando einen Hauch zu laut und vehement bei, um gänzlich ironiefrei zu klingen. "Immerhin sind wir hier offensichtlich im Heiligen Neuen Kaiserreich vom Greifenthron zu Gareth und nicht bei den Thorwalern oder gar in irgendeiner Waldmenschensiedlung!" Der Gehrheimer nahm einen weiteren Schluck Rum, um die Flasche nochmals grinsend dem Baronet anzubieten. Wohlgeboren, das wäre auch die ihm gebührende Anrede gewesen, wäre er als Kind in den Nordmarken, am Hofe seines Vaters verblieben oder hätte wenigstens offiziell zu diesem stehen dürfen. Hier unten aber, in den Dschungeln des Südens, hatten andere Qualitäten mehr gezählt, insbesondere, seit der Einfluss des Reichs im Süden bis zur praktischen Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft war. "Mögen wir auch Hunger wie ein ausgezahmter Maru-Haufen haben, sollten wir dennoch Höflichkeit und Anstand achten…. Mahlzeit!" Mit diesen Wort begann er, sich ebenfalls über seine inzwischen vom Boden aufgenommene Schüssel herzumachen.

"Es ist mir herzlich egal, wie weit der Kaiserthron entfernt ist. Er hat mich nicht Junge zu nennen!" Lechdan riß dem Unverschämten die Flasche aus der Hand und reichte sie Ifirnia weiter, ohne davon zu trinken. “Mit ihm trinke ich nicht!”, erklärte er. Dann nahm er seine Schüssel, deren Inhalt nur noch lauwarm war, und begann zu essen. Zunächst beobachtete er dabei Baldos und Wando aus zornigen Augen, doch dann wandte er sich von ihnen ab und dafür Mokko und Ifirnia zu. Warum nur war sein Hemd klatschnass? Und sein Schwert auch? Ifirnia sah den Knappen verwundert an. So hatte sie ihn noch erlebt. Andererseits war der Tag (war es nur einer?) hart gewesen. Sie reichte den ‘Rumm’ ohne zu trinken weiter.

"Ihr habt es gehört. Niemals die Etikette vernachlässigen! Seine Wohlgeboren hat schon einen ganz schlechten Eindruck von uns." wies Wando Baldos mit einem Augenzwinkern zurecht. Der Junge hatte noch viel zu lernen. Natürlich hatte er Recht. Aber er war hier eben nicht auf einem Adelsball im Mittelreich, noch nicht einmal einem Gelage der meridianischen Obrigkeit. Sondern am Arsch der Welt, es waren die Tage des Namenlosen, und draußen ging die Welt unter. In einer solchen Umgebung fußten Würde und Respekt nicht auf Titeln, sondern auf Taten. Erstaunlich, wie wenig das leuchtende Beispiel seines Schwertvaters auf den Baronet ausstrahlte. Und schade... "Aber das Essen ist wirklich schmackhaft!" Baldos lachte kurz auf nach Wandos Zurechtweisung. Dann nahm er einen weiteren Löffel Suppe. “Ihr habt Recht, eine sehr schmackhafte Suppe.” Es dauerte nicht lange, nachdem alle ihre Suppe gegessen hatten, dass ihre Welt schummrig wurde. Nur einzelne Augenblicke, wie das herrschaftliche Lachen des Gouverneurs, das beiwinken des Fischers als Einladung das Schiff zu betrachten, so wie die stützende Hilfe Nihis, die ihrem Bruder half geradeso auf den Beinen zu bleiben, blieb in den fragenden Geistern der Erwachsenen und Jugendlichen. Dann umfing alle eine purpurne Dunkelheit und sie fielen in einen tiefen Schlaf.