Die Flucht

Kapitel 2: Die Flucht

Haus des Gouverneurs, Yar´Dasham 30. Rahja 1045 BF

Der Ausflug an den Strand hatte sich die junge Mittelreicherin anders vorgestellt. Kaum hatte sie sich mit einem Obstkorb, einer Flasche Wein und einer Decke bequem gemacht, zog der Sturm auf. Verwundert über dieses Schauspiel, blieb sie eine Weile sitzen, bis der Wind dies nicht mehr zuließ. Die drohenden dunklen Wolken boten ein beeindruckendes Schauspiel, doch nun machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihrer Magengegend breit. Das, was da sich zusammenbraute, war nichts Gutes. Ifirnia schaute sich um und suchte das Haus des Gouverneurs. Es war Zeit zurückzukehren. Sie griff den Korb und die Decke und machte sich auf den Weg. In nicht allzu weiter Ferne war der Waldrand des Dschungels. Plötzlich hatte sie das Gefühl dass jemand sie beobachtete. War das dort drüben, zwischen den Blättern eine Gestalt? Sie wollte los laufen, rennen, womöglich dann siegten ihre Neugier und ihr Trotz. Unwillkürlich fasste sie den Korb fester, blieb stehen, schaute genauer hin. Ifirnia war sich nun sicher. Dort stand jemand im Dickicht. Nein, nicht allein. Nun zählte sie 3 Gestalten. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.

‘Ganz ruhig!’, befahl sie sich. Sie drehte sich kurz in die andere Richtung, als schaue sie nach dem Sturm aus, dann setzte sie sich wieder in Bewegung, schneller diesmal, weg vom Waldrand, in Richtung des Gouverneurshauses. ‘Noch nicht rennen’, befahl sie sich, beschleunigte aber weiter ihre Schritte. Da kam ihr jemand entgegen gerannt. Kurz darauf musste sie blinzeln und erkannte dann Lechdan, den jungen Halbbruder ihrer Mutter. “Ifirnia, komm schnell, wir müssen uns in Sicherheit bringen.” Lechdan japste und hielt sich die Seite. Der Lauf war anstrengender gewesen, als gedacht und er hatte den Atem-Rhythmus verloren. Nun plagten ihn Seitenstiche. “Ugdalf… sagt… wir haben einen Keller.”

'Jetzt', dachte Ifirnia, raffte ihr Kleid und rannte los. Ein wenig war sie aus der Übung, aber Läufe hatten sie mehr als genug absolvieren müssen auf der Elenviner Kriegerakademie. Sie rannte an Lechdan vorbei, er war sicher schneller als sie. In ihrer Vorstellung war er ein Mitkadett älteren Jahrgangs, ganz sicher nicht ihr 'Halbonkel'. Nun sah auch der Knappe die menschlichen Schatten, die sich nun aus dem Schutz des Dickichts bewegten. Drei Menschen bekleidet mit einfachen Ledenschutz. In den Händen hielten sie rostige Säbel. Doch ihre Gesichter …. waren verzerrte Fratzen und wirkten kaum menschlich.

"Scheiße, was ist das?", wimmerte der Baronet und nahm die Beine in die Hand. "LAUF, IFIRNIA, LAUF!", schrie er dann aus vollem Halse. Er wollte einfach nur weg von diesen Gestalten. Ifirnia ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie versuchte noch schneller zu rennen, aber Sand und Gestrüpp behinderten sie. Keuchend wandte sie kurz den Kopf. Kam Lechdan mit? Kameraden ließ man nicht zurück … Es war nicht leicht, doch die Angst beflügelte ihn. Lechdan schaffte es, sich über das ungewohnte Terrain vorzukämpfen und auf Ifirnia aufzuschließen. Der Himmel war nun dunkel und der Wind zerrte an der Kleidung der jungen Leute. Beide rannten und das Haus des Gouverneurs kam immer näher. Ein Blick nach hinten verriet beiden, dass die Kreaturen ihnen folgten. Ifirnia und Lechdan schätzten, dass es noch gute 100 Schritt waren, um das Haus zu erreichen. Die Eingangstür wurde aufgerissen und beide sahen Gouverneur Ugdalf und Ulinai von Schwertleihe mit gezückten Waffen heraus treten.

“Beeilt euch!”, rief Ugdalf den beiden Fliehenden entgegen. Dann ließ er seinen Blick über die Umgebung schweifen, um etwaige weitere Angreifer auszumachen, die ihnen vielleicht in die Flanke fallen oder gar den Rückweg abschneiden könnten. “In meinem Haus sind wir sicherer und können uns dort auch besser verteidigen!” "Ja, Herr", rief Lechdan. Dann fiel ihm noch was ein: "Ist Mokko bei Euch?"

“Nein. Und ich weiß auch nicht, wo er gerade steckt. Und nun beeilt euch, wir können ihn später, wenn das alles hier vorbei ist, suchen. Jetzt ist wohl kaum der rechte Augenblick dafür.” Ifirnia blieb keuchend bei ihrer Mutter stehen. “Drei! Da waren drei! Von denen da …” Sie wandte sich um, wo die Verfolger gleich ankommen mußten. “Was sind das?!” Die Sichtweite war durch den Sturm und den aufwirbelnden Sand geschwächt, doch die Verfolger waren als Schemen zu erkennen. Alle drei waren stehen geblieben und schienen in die Richtung der Verfolgten zu schauen. Ulinai legte ihre linke Hand auf die Schulter ihrer Tochter. “Geht ins Haus.”, sagte sie sicher und schenkte dem Gouverneur einen fragenden Blick. Fragend schaute Lechdan seinen Schwertvater an.

Dieser nickte stumm und fügte dann hinzu: “Sorge dafür, dass alle Zugänge gesichert sind und niemand außer uns hineinkommt; wir stoßen baldmöglichst zu Dir. Sollten wir andere Flüchtlinge, etwa Mokko, finden, nehmen wir sie natürlich mit. Und nun geh´!” Der Knappe schlug mit der Faust gegen seine Brust und rannte ins Haus, um Fenster und Türen zu verriegeln, nicht jedoch ohne sein Knappenschwert, dass er unterwegs aufnahm. Unten im Keller müsste er vielleicht die letzte Bastion sein. “Und was machen wir jetzt?”, fragte Ulinai und griff ihr Schwert fester. “Nun, wir wissen nicht, wieviele Angreifer es sind, wir haben hier draußen keine Deckung und zudem zieht auch noch ein Sturm auf. Ich halte es für das Klügste, wenn wir uns in meine Residenz zurückziehen. Da sind wir sicherer und können uns auch besser verteidigen. Zuvor sollten wir uns noch kurz umschauen, ob wir irgendwelche Dörfler in der Nähe erspähen können und sie dann mit uns nehmen. Viel Zeit sollten wir darauf allerdings nicht verwenden”, schloss Ugdalf mit Blick auf die allmählich vorrückenden Angreifer.

Als er hinab zur Siedlung schaute, sah er auf halben weg eine Gruppe, die auf dem Weg zum Gouverneurshaus war und gegen den Wind ankämpfte. “Da!”, rief der Gouverneur seiner Begleiterin zu und zeigte auf die Gruppe. “Wir sollten dafür sorgen, dass sie wohlbehalten zu meiner Residenz gelangen und dann selbst dort Schutz suchen!”

In den Gassen der Stadt, Yar´Dasham 30. Rahja 1045 BF

Chaos war in den Gassen der Siedlung Yar´Dasham ausgebrochen. Der Wind peitschte um sich und das vorankommen war mühsam, immer wieder flogen Gegenstände, von Palmenblättern, Holzläden und alltäglichen Gebrauchsgegenständen durch die Luft und die Holzhütten der Bewohner machten nicht den Eindruck, lange dem Sturm zu widerstehen. Der Himmel war dunkel geworden und der Wind übertönte jedes Geräusch. Immer wieder sah man Schatten von einzelnen Bewohnern, die nun die Flucht zum Waldesrand antraten. Über allem thronte auf einer Anhöhe das Anwesen des Gouverneurs, das zwar dem Sturm trotzte, doch auch Dachschindel und Fensterläden verlor. Kaum hatte die kleine Gruppe, angeführt von Baldos von Paggenfeld, den Rand der Siedlung erreicht hatten, fiel ihnen eine große Blutlache auf, die vor dem Haus eines Fischers lag.

Wando, der sich gerade noch überraschend geschmeidig unter einer in Kopfhöhe über ihn hinweg fliegenden Dachlatte hindurch geduckt hatte, ging vor der Blutlache in die Hocke und kratzte sich gedankenverloren seinen inzwischen sandigen Hinterkopf. Offensichtlich war die Lache noch frisch. Sofort blickte er zu den anderen, seinen Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Kein Wort! Falls sich hier noch ein Angreifer verstecken sollte, wollte er es diesem wenigstens nicht zu einfach machen. Leise übergab er die Rumflasche in seiner Rechten zur zweiten in der anderen Hand und zog seinen Rapier. Dann sah er sich fieberhaft auf dem Boden um, in der Hoffnung, dass der Sturmwind noch nicht alle Spuren verweht hatte, und versuchte auszumachen, in welche Richtung Täter und Leib des blutenden Wesens sich wohl von hier davongemacht hatten.

Auch Baldos blickte besorgt auf den Blutfleck. Doch hielt er es nicht für notwendig, sich ebenfalls niederzuknien. Stattdessen zog er langsam sein Schwert und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Die Blutspur führte ins Haus, dessen Tür im Wind hin und her schlug. Von weitem hörte Baldos Geschreie von Menschen, die immer wieder vom heulenden Sturm verschluckt wurden. „Habt Ihr auch die Schreie gehört? Wir sollten dort hin, um nachzusehen, wer da in Gefahr ist.“ Baldos machte sich jedoch auf den Weg zu dem Haus. Sollten sich noch immer Angreifer im Haus versteckt halten, hoffte Baldos, würden Sie vielleicht auf den Trick hereinfallen. Baldos drehte sich dann jedoch noch einmal um, um auf Wando zu warten, in der Hoffnung, dass dieser ihm folgen würde. Rizella schaute ängstlich. “Sollten wir nicht lieber Schutz suchen … vielleicht hatte die Geweihte ja doch recht.”

“Das Schreien scheint von dort hinten, vom Waldrand zu kommen. Wir sollten in der Tat dort nachsehen!” Wando ging wenige Schritt in diese Richtung, bis er in einem hinreichend spitzen Winkel zur Tür der Hütte stand. Dort hielt er inne und drehte sich zu den anderen, diesen mit dem Zeigefinger auf den Lippen wieder zu deuten, sich still zu verhalten. Dann nickte er Baldos entschieden zu und deutete mit Blicken auf die Tür. Rasch wurden die Rumflaschen wegrollsicher in den Sand gebettet, ehe Wando sich mit gezücktem Rapier daran machte, sich von der Seite an die Hütte anzuschleichen, grimmige Entschlossenheit auf den Zügen. Er wollte wissen, was hier vor sich ging. Baldos wartete ab, bis Wando seitlich der Hütte war, dann zog auch er sein Schwert. Die Rumflaschen hatte er vorher wortlos Rizella in die Hand gedrückt. Als er lange genug gewartet hatte, dass sich Wando strategisch günstig postieren konnte, stieß er die Tür, die gerade wieder im Wind leicht aufschwang, schwungvoll vollends auf und trat ein. Durch die Dunkelheit, die die Wolken auch draußen verbreiteten, dauerte es nicht lange, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht in der Hütte gewöhnt hatten, und der Paggenfelder Ritter schaute sich um, das Schwert zum Schlag bereit.

Der tote Fischer lag vor ihm auf dem Boden. Das hier ein Kampf stattgefunden hat, war offensichtlich. Die Einrichtungsgegenstände waren umgestoßen worden, Geschirr zerbrochen. Die frischen Wunden deuteten auf eine Klingenwaffe hin. Dem alten Mann fehlten alle Finger seiner Hände. "Wie sieht es aus?" raunte Wando ungeduldig von draußen. Er hatte versucht, durch eine Fensterritze hineinzuspähen, im Dunkel aber nichts ausmachen können. Alleine der Sachverhalt, dass keinerlei Kampfgeräusche wahrzunehmen waren, offenbarte ihm, dass - wer auch immer für die Blutlache draußen verantwortlich war - entweder nicht in dieser Hütte stecken konnte oder sich zumindest noch nicht offenbart hatte. In letzterem Falle hoffte er, durch seine eigene Anwesenheitsbekundung dem unsichtbaren Feind jedweden Gedanken auszutreiben, den Paggenfelder aus dem Hinterhalt meucheln zu können. Baldos schaute sich rasch um, ob sich noch ein Angreifer in der Hütte befand. Als er überzeugt war, mit der Leiche alleine in der Hütte zu sein, rief er Wando zu: ”Wir sind zu spät. Das war ein Gemetzel. Passt auf, dass Rizelle hier nicht eintritt!” Der Ritter bückte sich zu dem toten Fischer, um sich die Wunden genauer anzusehen.

"Du hast den Herrn gehört! Halt hier bitte die Augen offen und gib uns sofort Alarm, wenn Du etwas merkwürdiges siehst." beschied Wando Rizella. "Ich bin gleich wieder bei Dir." Er wollte sich das Grauen in der Hütte mit eigenen Augen ansehen. Vielleicht gab der Anblick ja einen Hinweis, wer für diese Schweinerei verantwortlich war. "Scheiße!" war das erste, das Wando entfuhr, als er strammen Schritts zu Baldos getreten war. "Das war jedenfalls kein gewöhnlicher Angriff oder Überfall." “Nein, wohl kaum!” bestätigte auch Baldos. “Seht, er muss versucht haben, sich mit bloßen Händen vor dem Angriff zu schützen.” Wando hatte schon einiges gesehen und erlebt, der Anblick hier gehörte eindeutig zu den unangenehmeren Erfahrungen. Dennoch zögerte der Gehrheimer nicht, da sich Baldos bereits der Leiche annahm, die Einrichtung näher in Augenschein zu nehmen. Er wollte wissen, ob hier jemand etwas bestimmtes gesucht hat oder nur aus Raserei das Mobiliar zertrümmert hatte. Schnell war klar, dass hier nichts gesucht wurde … außer das Leben des Fischers.

“Braucht ihr da noch lange?”, kam es ängstlich von draußen. “Ich höre Hilferufe." Rizella wagte es nicht, die Hütte zu betreten. “Ich glaube, wir sind hier fertig. Hier können wir nichts mehr tun. Aufräumen müssen wohl die Büttel, wenn sich der Sturm gelegt hat. Wir sollten beim Gouverneur Bescheid geben.” Der Ritter trat aus der Hütte. “Aus welcher Richtung kamen die Hilferufe?” Wando, der inzwischen neben ihn getreten war, deutete zu der Stelle, aus der er die Geräusche zu stammen wähnte. Einen Teil von ihm zog es dorthin - schlimmer als die Gefahr war die Ungewissheit, stärker als die Furcht die Neugier. Doch mahnten ihn die Vernunft und der Blick auf die Blutlache zu Füßen Rizellas zur Vorsicht. "Ihr habt Recht. Auf zum Gouverneur. Vielleicht weiß er, was hier gerade geschieht." Er selbst bezweifelte dies jedoch… Baldos lauschte konzentriert und hörte nun auch die Schreie. “Dann lasst uns schnell aufbrechen, ich denke, die Rufe kommen auch aus jener Richtung. Vielleicht droht die Gefahr sogar an unserem Ziel.” Wando bückte sich gerade noch nach den beiden Rumflaschen, die er vor der Untersuchung der Hütte abgelegt hatte. "Bin bereit." stellte er fest, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. "Dann mal los!"

Haus des Gouverneurs, Yar´Dasham 30. Rahja 1045 BF

Nun war das Grollen des Himmels deutlicher zu vernehmen, so wie der Sturm deutlich zugenommen hatte. Mit schützenden Armen vor dem Gesicht folgten die drei, Wando, Baldos und Rizella, dem Hilferuf. Auf dem steinernen Weg zum Gouverneurshaus kniete ein junger Mann, der ein ebenfalls junges Mädchen schützend in den Armen hielt. Vom Haus her näherten sich ein Mann und eine Frau, der Gouverneur Ugdalf und die Ritterin Ulinai.

Der junge Mann, Ugdalf erkannte ihn als seinen Diener Mokko, hatte eine Haut wie dunkler Zimmet. Sein schwarzes Haar war lockig und schlängelte sich bis zu seinen Schultern. Sein Gesicht zierten hohe Wangenknochen und volle Lippen, seine Augen hatten ein tiefes Grün. Der Diener trug eine leichte, ärmellose, aber am Hals geschlossene, Tunika in grüner Farbe und dazu kurze Hosen. Die Arme waren muskulös, so wie sein ganzer Körperbau athletisch war. Seine Füße zierten einfach Sandalen. Seine Stimme hörte sich verzweifelt an, seine Kleidung wies Blutflecken auf. Der Gouverneur betrachtete kurz die Flecken auf der Kleidung seines Dieners. “Ist das Dein Blut? Geht es einigermaßen? Wir sollten schnell zurück ins Haus; dort können wir uns auch um etwaige Wunden kümmern und das weitere Vorgehen beratschlagen. Hier draußen wären wir dem Sturm und diesen Wahnsinnigen schutzlos ausgeliefert.” Dann wandte er sich an die ganze Gruppe: “Auf, wir haben keine Zeit zu verlieren. Und behaltet während des Rückmarschs die Umgebung im Auge!”

"Dann nichts wie weiter!" signalisierte Wando seine Zustimmung. Ganz selbstverständlich reihte er sich im Loslaufen unmittelbar neben dem Gouverneur ein. "Wisst Ihr, was das für Wahnsinnige sind, die über Eure Gouvernement herfallen, und was sie hier wollen, Euer Exzellenz? Oder was der will, dem sie gehorchen?" Wando wollte sich bereits wieder auf das Laufen und auf die Antwort warten verlegen, da fiel ihm ein, dass er den Gouverneur dringend noch von etwas anderem unterrichten sollte. “Und wisst Ihr auch, dass Ihre Gnaden ni Nokin ernsthaft vorhat, Sturm und Angreifern zu entfliehen, in dem sie mitten im Getose in See sticht?” “Lasst uns das lieber wirklich erst drinnen diskutieren”, empfahl auch Baldos. Sicherheitshalber zog er sein Schwert, bevor er mit schnellen Schritten den Weg in Richtung Haus einschlug. Der junge Mokko schaute verzweifelt. “Meine Schwester Mihi ist verletzt.” Dann stand er auf und hob das zierliche Mädchen hoch, das ihrem Bruder sehr ähnelte. Eine blutende Kopfwunde war offensichtlich. Sofort zückte die Wirtin Rizella ein Tuch und drückte es auf die Wunde. “Das sieht wirklich nicht gut aus,”, brüllte sie gegen den Wind an.

"Die Geweihe will auf See? Ist die wahnsinnig?”, sagte Ulinai mit lauter Stimme. Unschlüssig schaute sie auf die See, dem Sturm entgegen. “Hier laufen widerwärtige Schurken rum. Wir sollten zum Haus. Jetzt!” Dann gingen sie zum Haus. “Für Diskussionen und Fragen ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt!”, entgegnete Ugdalf barsch auf dem Rückweg. “Wir ziehen uns in mein Haus zurück, sichern es und versorgen Mihis Verletzungen. Alles Andere kann und muss warten!” Baldos hatte besorgt auf die Kopfwunde des Mädchen geschaut und war froh, dass Rizella sich sofort darum kümmerte. Ansonsten teilte der Paggenfelder Ritter die Ansicht von Ulinai und des Gouverneurs. „Ja, wir sollten uns alle zunächst in Sicherheit bringen. Dann sehen wir weiter.“ Gar keine Lust hatte er jedenfalls, auf einer Nussschale in den Sturm zu fahren, um dann elendig und tatenlos abzusaufen. Wando fügte sich, keinesfalls befriedigt von der Reaktion. Aller Hektik und Eile zum Trotze wäre Zeit genug für einige kurze und prägnante Informationen gewesen, gerne auch militärisch knapp vorgetragen. So etwas musste selbst mitten in der Schlacht gehen - wie sonst sollten Heere geführt werden? So lagen nur zwei Schlüsse nahe: Entweder konnte der Gouverneur nichts zu den Angreifern sagen. Oder er wollte nicht. Beides gefiel Wando gar nicht.

Ifirnia verriegelte weiter Fenster, stellte auf dem Weg in ihr Zimmer den Korb ab, eilte weiter. In ihrem Raum zog sie rasch ihr Kleid aus, verhedderte sich in der Hast, schaffte es, in praktischere Kleidung zu schlüpfen und ihr Entermesser - kein Schwert, aber immerhin! - an sich zu nehmen. Fensterläden verriegeln! Weiter, in den nächsten Raum! Dann rannte sie wieder Lechdan über den Weg. “Der linke Flügel ist gesichert. Wie sieht es hier aus?”, keuchte Lechdan. “Leider hab ich keinen der Dienerschaft gesehen. Hast Du noch jemanden gefunden?” Ein lautes Krachen von oben deutet darauf hin, dass der Sturm sich etwas von dem Dach gesichert haben musste.

“Niemanden!”, antwortete Ifirnia. “Ich glaub’, hier ist auch alles gesichert. Wohin jetzt?” Gehetzt sah sie sich um, als fürchte sie, im nächsten Moment die Fratzengestalten vom Strand im Haus auftauchen zu sehen. "In den Keller, schnell!" Lechdan nahm Ifirnia an die Hand und führte sie zur Kellertür. Verblüfft über die Geste folgte ihm Ifirnia. Auf dem Weg zum Keller gelang es ihr, ihre Hand aus Lechdans zu lösen. Sie hatte lieber beide Hände frei. Dann fiel ihr ein, daß Lechdan vielleicht selber Angst hatte. Kurz legte sie ihm beruhigend die Hand auf die Schulter.

“Wir schaffen das!” Auf einmal fühlte sie sich wieder selbstsicher. Auf der Akademie hatten sich ältere Schülerinnen und Schüler manchmal als Räuber oder gar Orks verkleidet; gegen die hatte sie auch schon erfolgreich - soweit das die Übungswaffen zuließen - gekämpft! “Brauchen wir Licht?” "Neben der Tür sollte ein Leuchter stehen", keuchte er, "Feuerstein und Stahl hab´ ich bei mir." Viel zu lang schien es zu dauern, bis die Kerzen brannten. Dann stiegen sie hastig in den Keller hinunter, Lechdan voran.

Eilig hatte die Gruppe unter der Führung des Gouverneurs seinen Amtssitz erreicht und stürmte in das nun sehr knarrende Haus. Poltern und Klirren waren von überall her zu vernehmen, Fensterläden schlugen auf und zu und gaben dem Ganzen keinen sicheren Eindruck. Baldos Paggenfeld war der letzte, der das Haus betrat und es war ihm, als ob mehrere dunkle Schatten auf das Anwesen zu hielten. Purpurnes Blitzlicht erhellte immer wieder die stürmische Landschaft. Das Meer schlug hohe Wellen.

Der Paggenfelder schob die anderen förmlich in das Haus. Einen letzten Blick warf er über seine Schulter hinaus in Richtung des Waldes, dann schlug er die Tür zu und schaute, ob sie eine Verriegelung besaß. “Wir sollten uns beeilen und alle Zugänge zum Haus verrammeln. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur der Sturm ist, der demnächst in das Haus einzudringen versucht.” “Sofort alle Fensterläden und Türen überprüfen und gegebenenfalls schließen, auch die im Obergeschoss!”, ordnete Ugdalf mit befehlsgewohnter Stimme an. “Dann will ich, dass jeder hier unten ein oder zwei Fenster im Auge behält, um etwaige Angreifer frühzeitig erkennen zu können. Falls erkannt: Sofort Meldung an mich! Und wer in der Heilkunde ein wenig bewandert ist, möge sich um die Verletzte kümmern; das Tischtuch da vorne gibt sicher einen guten Verband ab. Sollte noch etwas benötigt oder geklärt werden, dann jetzt und in der gebotenen Kürze; für größere Plauderstündchen fehlt uns die Muße. Ausführung!”

“Ganz meiner Meinung!”, stimmte Baldos zu. Der Ritter lief sogleich durch das Erdgeschoss des Hauses von Zimmer zu Zimmer und überprüfte, ob Fenster und Türen geschlossen und die Läden davor verriegelt waren, indem er selbst kräftig daran rüttelte. Dann stellte er sich in den Eingangsbereich, so dass er die Tür und ein oder zwei weitere Fenster im Blick behalten konnte. Er war jeden Moment bereit, das Schwert zu ziehen, sollte ein Angriff auf das Haus erfolgen. "Jawohl!" signalisierte auch Wando Zustimmung und seine Anerkenntnis der Befehlsgewalt des Gouverneurs in dieser Lage. Sodann tat er es Baldos gleich und positionierte sich an einer Stelle, von der aus er einen weiteren, noch unbewachten Abschnitt der Außenwand und die Fenster darin gut im Blick hatte. Nichtsdestoweniger gierte er immer noch nach Antworten auf seine Fragen von vorhin. Ohne Ugdalf anzusehen - dazu hätte er kurz seinen Beobachtungsbereich vernachlässigen müssen - erhob er laut und auch über das Sturmgebrüll hinweg für alle im Raum verständlich das Wort. "Ich glaube, es wäre kein Nachteil für uns alle, wenn wir wüssten, wer oder was uns hier gleich angreifen wird. Könnt Ihr uns etwas darüber sagen, Euer Exzellenz?"

“Soweit ich das in dem Chaos erkennen konnte, handelt es sich bei den Angreifern um eine Art Stamm, der irgendeinen obskuren ‘Schädelgott’ anbetet, von dem manche der Einwohner munkeln, er stünde irgendwie mit dem Dreizehnten in Verbindung oder sei gar nur eine andere Bezeichnung für jenen. Diese Leute gelten als sehr gefährlich und aggressiv, haben aber bislang einen direkten Angriff auf den Ort vermieden. Keine Ahnung, warum sie sich nun buchstäblich aus der Deckung wagen. Der Zeitpunkt ihrer Attacke ist jedenfalls gut gewählt, macht der Sturm doch eine organisierte Verteidigung außerhalb der Gebäude nahezu unmöglich. Sollten wir einen dieser Kerle lebend fangen - was das erste Mal wäre - so können wir ihn dazu befragen. Ach ja: Was ist mit der Verletzten?

“Die Kleine ist eine Kämpferin. Sie kommt langsam zu sich.”, sagte die Wirtin Rizella und schenkte dem Gouverneur einen misstrauischen und furchtsamen Blick. Ulinai stürmte eine Treppe hoch.”Ich schaue wie die Lage …”, sagte sie, doch weiter kam sie nicht. Ein weiteres lautes Krachen und Knirschen durchzog das Haus und Holzpaneelen, so wie Möbelstücke wirbelten den Treppenaufgang hinunter. Der Ritterin gelang es nur, im letzten Augenblick der Böe auszuweichen und kehrte ins Erdgeschoss wieder zurück. “ Mokko half seiner Schwester Nihi wieder auf die Beine. “Wo ist Lechdan?”, fragte er. “Schädelgott, soso…” murmelte Wando leise in sich hinein, Baldos einen nachdenklichen Blick zuwerfend. Wenn das so war, durfte er vielleicht auf eine Erlaubnis des Gouverneurs hoffen, diese Ruine zu untersuchen. Wenn sie die beiden Stürme überlebten… Baldos jedoch hatte zur Zeit etwas anderes im Kopf, als irgendwann irgendwelchen Schätzen irgendwo im Dschungel nachzujagen.

“Ich weiß es nicht!”, antwortete der Gouverneur. Was ich aber weiß, ist, dass wir uns schleunigst in den Keller zurückziehen sollten, bevor der Sturm uns samt Haus davon bläst. Gebt den anderen Bescheid und dann ab nach unten!” “Hat der Keller noch einen anderen Ausgang als diese Treppe?” Wando deutete in deren Richtung. “Einen, der direkt nach draußen führt? Nur für den Fall, dass der Sturm das Haus nur um-, aber nicht wegweht… Oder es doch stehen bleibt und sich dafür diese Schädelgottanbeter hier oben noch häuslich einrichten sollten, nachdem wir ihnen alles freigegeben haben.” In beiden Szenarien säßen sie in der Falle. Und zwar gründlich. Andererseits, dachte Baldos, würde ein zweiter Ausgang auch einen zweiten Zugang bedeuten, der gegen die Angreifer zu verteidigen wäre. „Sichert ihr den Weg in den Keller, ich gehe den Jungen suchen!“ bot sich der Paggenfelder ritterlich an. „Und deine Tochter, Ulinai.“ “Die müssten im Keller sein. Lasst uns dorthin zurückziehen, wie der Gouverneur schon sagte.” Ulinai war froh, Baldos an ihrer Seite zu wissen. Fast hätte sie vergessen, wie vertraut sie sich immer in seiner Nähe wusste. “Ja, gut. Ich hatte nur Sorge, die Kinder seien vielleicht noch oben.” Er schaute die Treppe hinauf in den Trümmerhaufen des Obergeschosses. Dann blickte er zu Ulinai und setzte sein charmantes, aufmunterndes Lächeln auf.

“Es gibt noch eine schwere zweiteilige Ladetür im Vorratskeller”, antwortete Ugdalf, “durch die sperrige Güter wie Fässer und Kisten rein- und raus transportiert werden. Die Tür ist von innen mit einer Kette verschlossen, damit sich niemand dort reinschleichen und an den Vorräten bedienen oder sie gar stehlen kann. Notfalls können wir darüber auch nach draußen fliehen, sollte es unumgänglich sein. Und falls der Sturm weiter anhält oder gar zunimmt, sollten wir unsere Positionen oben aufgeben und uns hierher zurückziehen. Allerdings kann ich mir in dem Fall nicht vorstellen, wie die Angreifer bei so einem starken Orkan weiter vorrücken wollen, ohne selbst buchstäblich in alle Richtungen davongeweht zu werden.” "Das mit der Ladetür klingt gut." stellte Wando beruhigt fest. "Und gewiss habt Ihr Recht, dass der Angriff im stärksten Sturm eigentlich zum Erliegen kommen müsste... es wird aber auch ein 'Danach' geben - aber das muss ich Euch sicher nicht sagen.

Davon unbenommen finde ich es erstaunlich, dass sie sich ausgerechnet dieses Wetter für ihre Offensive ausgesucht haben, und nicht damit gewartet haben, bis der Sturm abgeflaut ist." sinnierte er auf dem Weg Richtung Keller weiter. "Und wenn sie tatsächlich den Dreizehnten verehren, wäre dann nicht auch morgen ein günstigerer Termin gewesen?" “Mag sein”, erwiderte der Gouverneur, “doch weiß ich nicht einmal, was diese Verrückten eigentlich wollen oder wer diesen Angriff befohlen hat. Beides wichtige Fragen, gewiss, die wir aber zurückstellen sollten, bis wir diesen Irrsinn hier allesamt hoffentlich heil überstanden haben. Momentan geht es eher ums Überleben, denn ums Spekulieren.” Dem konnte Baldos nur zustimmen. “Ich bin überzeugt, dass wir im Keller erst einmal sicher sind.” Seine Stimme klang jedoch nicht nach voller Überzeugung. Auch wäre ihm wohler gewesen, er hätte zuerst dein Gut aus dem Schlafgemach retten können.

Der Keller war großflächig angelegt worden und wies zwei Räume auf. Gänzlich aus Steinquadern bestehend, wurde er tonnengewölbeartig erstellt und erinnert stark an die Weinkeller im Mittelreich. Es war deutlich kühler hier unten und ein leicht modriger Geruch lag in der Luft. Regale, Truhen und einige Fässer waren zu finden, doch gab es noch viel Platz für weitere Vorräte. Lechdan und Ifirnia hatten einige Fackeln entzündet, die sich in Fackelhaltern befanden. Bis auf den Zugang vom Haus aus, hatte Lechdan noch einen Zweiten entdeckt. Im hinteren Raum lag ein Zugang, der schon außerhalb des Hauses liegen musste und beinahe senkrecht knapp oberhalb des Bodens nach draußen führte. Eine Rampe endete an zwei Türhälften, die verschlossen waren. Nur der Sturm rüttelte ordentlich an ihnen und störte die Stille des Gewölbes. Dann hörten die beiden Jugendlichen Stimmen von der Kellertür, die auch einen Augenblick später aufgerissen wurde. Herein stürmten Sein Schwertvater, seine Schwester, Mokko mit Nihi, der Herr Baldos, sowie zwei Unbekannte: ein Mann und eine Frau.

“Da seid ihr ja”, freute sich der Knappe, “Ifirnia und ich haben schon mal für Licht gesorgt. Ich wollte gerade dieses Brett aus dem Regal brechen, denn dahinten ist eine Tür nach draußen, aber der Wind zerrt bereits daran und ich dachte… ich könnte”, ihm wurde gerade bewusst, dass Nihi verletzt war. “Nihi! Mokko, was ist mit ihr?” “Sie wurde von jemanden angegriffen, doch sie konnte fliehen. Ich …”, sagte Mokko aufgeregt. “Es … es geht schon wieder.”, sagte das zierliche Mädchen das ihrem Bruder sehr ähnlich sah. Getrocknetes Blut war über ihrem Gesicht und sie hielt sich ein Stück Stoff an den Kopf. Noch schwankte sie ein wenig und hielt sich an ihrem Bruder fest. Ulinai rauschte an Lechdan vorbei und umarmte ihre Tochter Ifirnia. “Gut, dass euch nichts passiert ist.”, sagte sie besorgt.

“Aber Mama!”, sagte Ifirnia. “Wir haben doch bloß die Fenster zugemacht.” Dann erst entwand sie sich der Umarmung, die sie ebenso peinlich wie beruhigend fand. Wando verschaffte sich zuallererst einen schnellen Überblick über den Keller und überließ es zunächst den anderen, ihr Wiedersehen zu begehen. "Wenn die Fässer und Kisten nicht alle leer sind, werden wir hier unten wenigstens nicht verhungern und verdursten. Im Zweifel würden wir sogar einer kleinen Belagerung standhalten..." bemerkte er anerkennend, mehr zu sich als an die anderen gerichtet. "Jedenfalls nicht der schlechteste Ort, um sich hier vor dem Sturm und den Leuten da draußen zu verschanzen!"

“Lechdan, das war eine gute Idee, die Luke dort noch mit einem Brett verstärken zu wollen. Komm, ich helfe dir!” Baldos ging zu dem Regal, um dem schmächtigen Jungen beim Herausbrechen des Brettes zu helfen. Er schaute sich aber noch einmal um, ob er eine Eisenstange oder Ähnliches sehen konnte, die die Arbeit erleichtern würde. “Ähm, ja, danke Herr ähm”, verwirrt legte er seine Stirn in Falten. Das waren gerade zu viele Informationen auf einmal für den Knappen. "Guter Plan, ja!" pflichtete Wando bei. "Wir sollten auch den Inneneingang rasch verbarrikadieren können... zum Beispiel einige volle Fässer und Kisten so in Stellung bringen, dass wir sie mit wenigen Handgriffen vor die Tür bekommen, sollte der Feind ins Haus eingedrungen sein. Fasst jemand mit an?" Ifirnia war gleich zur Stelle und mühte sich mit einem Faß. Verdammt, was war da drin? Sie schaffte es nicht einmal, es auf die Kante zu kippen, um es darauf zum Eingang zu rollen. ‘Faß-Eiern’ hatten sie das in der Akademie genannt. Lieber half sie ihrer Mutter mit einer Kiste.

Rizella, die Wirtin, half der Verletzten in einer Ecke, in der sie einige Decken entdeckt hatte. Mokko reichte dem Mann mit dem hellen Haaren eine Eisenstange, die bei den Regalen lag. “Hier, Herr ..?” Er war sich unsicher, wie er den Unbekannten ansprechen sollte. „Besten Dank!“ Baldos nahm die Stange und schob sie unter den Griffen der beiden Lukenklappen hindurch. Dann verkeilte er sie mit einem Brett, so dass die Stange nicht von selbst wieder herausrutschen konnte. „Nenn mich ruhig Baldos. Auf Förmlichkeiten wollen wir in dieser Situation einfach mal verzichten.“

“Das können wir so halten … Baldos. Lechdan, lass uns noch mehr Regale holen.”, sagte Mokko. “Ich glaube, da hinten waren noch welche”, antwortete der Knappe und wies in eine Ecke. „Gut, packt mit an, dann ist der Eingang schnell gesichert.“ Baldos eilte zu den Regalen und räumte sie auf recht unsanfte Art aus. Nun wartete der Ritter, dass die beiden anderen ihm beim Tragen halfen.

Als Ulinai eine Kiste von der Wand bewegte, zuckte sie kurz zurück. “Moment, Verdammt!” Sie winkte Wando und Ugdalf näher. “Gouverneur, schaut euch das einmal an.” Die Ritterin deutete auf die Wand. Auf einem der unteren Quader war ein Totenschädel in den Stein geschlagen worden. Unheimlich wirkte es im Fackelschein. Wando konnte sich nicht zurückhalten - ihn zog es geradezu magisch zu dem Bildnis, vor dem er in die Hocke ging. "Wäre jemand bitte so gut, mehr Licht zu machen?" richtete er seine Bitte unspezifisch an die anderen, seinen Blick voll Faszination auf den Totenschädel fokussiert. "Wusstet Ihr davon, Euer Exzellenz?" Noch ehe der Gouverneur antworten konnte, machte sich der versierte Völkerkundler bereits daran, zu untersuchen, wann, mit welchem Werkzeug und in welchem Stil dieses Bildwerk wohl geschaffen worden war.

“Hm?”, brummte der Angesprochene, der mit seinen Gedanken gerade beim Sturm und den Angreifern war. Dann wandte er sich Ulinai und Wando sowie dem Objekt ihres plötzlichen Interesses zu. “Lasst mich mal sehen.” Nachdenklich betrachtete Ugdalf das steinerne ‘Kunstwerk’ eine Weile und schüttelte dann den Kopf. “Nein, das sehe ich zum ersten Mal. Als ich damals das Haus bezog, hatte ich zugegebenermaßen auf eine genauere Inspektion der baulichen Gegebenheiten des Kellers verzichtet, zumal dieser Schädel bis gerade eben ja auch nicht zu sehen gewesen war.” Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, so war die Neugier des Gouverneurs geweckt, vermutete er doch sofort einen Zusammenhang mit dem Angriff - und noch mehr. "Wahrscheinlich wäre es auch nicht meine erste Amtshandlung gewesen, alle Kisten zu rücken und die Kellerwände meiner Residenz zu inspizieren..." murmelte Wando zurück. Er war mit dem Gesicht noch enger an das Bildnis herangerückt, nachdem der Gouverneur ihm, statt eine Lichtquelle zu bringen, noch in das ohnehin bereits spärliche Gefunzel getreten war. "Nach dem heutigen Tag würde ich es aber wahrscheinlich anders halten. Wisst Ihr dann, wie alt dieses Haus ist? Vor allem der Keller?" Neugierig trat Lechdan näher. Er hielt eine der Fackeln in der Hand, sagte aber nichts. “Was ist das?”, fragte Ulinai.

Auch Ifirnia reckte den Hals, um sehen zu können, was es da Interessantes gab. “Soweit ich weiß, wurde das Gebäude samt Keller vor etwa vierzig Götterläufen errichtet.”, antwortete der Angesprochene mit nachdenklicher Miene. “Um es genauer sagen zu können, müsste ich mir später die entsprechenden Dokumente einmal genauer anschauen und vielleicht noch einige der älteren Bewohner des Ortes befragen - falls wir dazu überhaupt noch die Gelegenheit bekommen.”, fügte Ugdalf etwas leiser hinzu. "Ein Totenschädel.” antwortete Wando auf die Frage Ulinais, das zusätzliche Licht inzwischen wie fieberhaft zur Untersuchung nutzend. "Ein Schädel?", fragte Ifirnia erschrocken. Murmelnd fuhr Wando fort: “In den anstehenden Fels gehauen, und das nicht erst gestern oder auch vor vierzig Jahren."

"Ach so", murmelte Ifirnia aufatmend. “Das Bildnis ist alt, sehr alt, das sieht man hier an den Mineralüberzügen der Kanten… schaut her, seht Ihr das? - gleichzeitig aber viel zu schwach verwittert, als dass die Stelle vor dem Bau dieses Gebäudes an der freien Luft gewesen sein könnte..." Wando sah Ugdalf nachdenklich an. "Mir scheint, Eure Residenz wurde auf den Ruinen von etwas älterem errichtet..." Im selben Moment wurden sie jäh aus ihren Betrachtungen gerissen…

Während die Anderen sich eine Wand anschauten legte sich Nihi auf das Strohlager und schloss ihre Augen. Rizella legte ihr eine Decke über und wollte ihr etwas zu trinken bringen. Ein ersticktes Geräusch ließ sie aufblicken und suchte die Wirtin. Finden konnte sie sie nicht, doch war etwas in einer dunklen Ecke … eine schmutzige Hand mit verhornten Nägel packten sie am Knöchel und zog sie in die Dunkelheit. Nur ein kurzer, schriller Schrei entfloh ihren Lippen. "Was war das?", entfuhr es Lechdan. Dann drehte er sich um und leuchtete in Richtung des Geräusches.

Nihi und Rizella waren nicht zu sehen. Vom Strohlager führte eine Spur einzelner Halme in eine der Kellerecken, dorthin, wo der Schein der Fackel nicht mehr reichte. Der Knappe wechselte die Fackel in die andere Hand, griff sein Schwert und ging näher. "Verdammt. Sind die Verrückten etwa doch hier reingekommen?" Wando erhob sich aus der Hocke und griff, noch immer an der Wand mit dem Totenschädel, nach seinem Rapier. "Hast Du was gesehen? Oder jemanden?" wollte er von Lechdan wissen, der offenbar am nächsten stand.

"Ich dachte, ich hätte einen Schrei gehört", sagte der Knappe gedämpft und wies mit dem Kopf in die Richtung. "Sollten nicht Nihi und diese Frau dort sein?", überlegte er weiter. Wando nickte. "Ja." Sein Blick eilte bereits suchend durch das von Flackerlicht nur unzureichend erhellte Halbdunkel. "Rizella? ... Rizella! Steckst Du hier irgendwo? Sag was!" Mit jedem Herzschlag, in dem sie länger nicht antwortete, wurde sein mieses Gefühl stärker. “Schauen wir nach! Aber vorsichtig und zusammen!” Noch im Aussprechen seines recht bestimmt vorgetragenen Vorschlags wurde Wando wieder gewahr, dass er direkt neben dem Gouverneur und Hausherren stand und solche Anweisungen vielleicht auf Expedition geben musste und durfte, hier aber seine Kompetenzen überschritt. Rasch schob er daher ein “Oder, Euer Exzellenz?” hinterher. Ifirnia zog ihr Entermesser und versuchte, in der düsteren Ecke irgendetwas zu erkennen.

Ugdalf nickte nur knapp zur Bestätigung, während er sein Schwert zog. “Machen wir es so. Aber keine unabgesprochenen Alleingänge oder sonstigen Aktionen, die unser aller Sicherheit gefährden könnten! Zunächst aber sucht sich jeder eine Lichtquelle, damit wir nicht buchstäblich blindlings in unser Verderben laufen. Da hinten-”, er deutete auf eine Ecke der großen Vorratskammer, “-müssten noch einige Sturmlaternen liegen. Mitnehmen und entzünden!”, rief der Gouverneur, während er selbst bereits dabei war, sich eine solche zu greifen. “Ich selbst gehe voran, ist ja schließlich mein Haus,” knurrte er. “Jemand Kampfkräftiges soll den Abschluss bilden und nach hinten sichern; ich möchte nicht, dass diese Irren uns in den Rücken fallen. Noch Fragen? Ansonsten fertigmachen, wir haben keine Zeit zu verlieren.”

Baldos stellte das Regal ab, das er mit Mokko trug, und ging auf die anderen zu. „Was ist passiert?“ Als er Lechdans gezogenes Schwert sah, zog er auch seines. „Wo sind Rizella und das Mädchen?“ "Das werden wir gleich herausfinden... hoffentlich." Auch Wando zog sicherheitshalber direkt sein Rapier blank, noch ehe er sich in zügigen Schritten eine Sturmlaterne holen ging. Kaum war diese an einer Fackel entzündet, fand er sich bereits an der Seite des Gouverneurs ein. Gewiss war auch er im Kampfe erprobt, doch waren hier andere noch weit berufener, die Nachhut zu bilden. Außerdem hatte ihn die Neugier gepackt - schließlich war er niemand, der von den Vorderleuten Berichte vernehmen wollte, was auf sie wartete, sondern davon getrieben, stets den ersten Blick darauf erheischen zu wollen. Ugdalf schaute kurz hinter sich, um sicherzustellen, dass alle verbliebenen Mitstreiter versammelt waren. “Alles bereit? Dann los!”, rief er, das Schwert in der einen, die Laterne in der anderen Hand und schritt voran. Ifirnia hielt sich an ihre Mutter. Die hatte immerhin Kampferfahrung.

Vorsichtig schritt Lechdan voran, bis der Lichtschein die dunkle Ecke erhellte. Ein Loch klaffte am unteren Ende der Wand und eine lauernde Dunkelheit erwartete ihn dahinter. Das Loch war nicht groß, gerade groß genug, um eine schlanke Gestalt durchzulassen. Frisches Blut klebte an einen der gebrochenen Steine. Mokko stürmte vor, blieb aber bei Lechdan stehen und hielt sich an seiner Schulter ”Mihi? Wo ist meine Schwester?”, sagte er verzweifelt. Der Baronet schluckte. “Da drin”, war alles, was er heraus bekam. Dann schaute er sich um. vermutlich würden nur er, Mokko und Ifirnia durch das Loch passen. Die anderen müssten es erst erweitern. Sie waren nicht dick, aber in der Jugend war man schlanker, als im Erwachsenenalter. “Herr?” "Lasst uns erst einmal in das Loch hineinleuchten, bevor wir hinein krabbeln." versuchte Wando jeglichen Übereifer auszubremsen. "Und dann entscheiden wir, was wir weiter tun." Zielstrebig hielt er mit seiner Laterne auf das Loch zu. Ich sichere meinen Lampenarm von der rechten mit dem Rapier... wenn jemand so gut wäre, die linksseitige Sicherung zu übernehmen? Als Preis lockt auch der erste gemeinsame Blick in die Finsternis. Ist das nicht ein Angebot?" „Und könnt ihr etwas erkennen?“ fragte Baldos ungeduldig. Er nahm sich selbst eine Laterne und entzündete sie diese. Er wollte los, die Entführer finden, nicht hier warten, bis einer nach dem anderen verschleppt würde.

Ugdalf rollte entnervt mit den Augen. So viel Gerede und so wenig Inhalt! Er solle also erst mal in das Loch hineinleuchten, bevor er darin verschwände! Brillante Idee! Die gedachten Worte troffen nur so vor Sarkasmus und er war froh, sie trotz des starken Dranges nicht laut ausgesprochen gehabt zu haben. Was hülfe es auch, wenn er hier nun ein Donnerwetter losließ oder sich in einer sarkastischen Bemerkung erging? Die Anspannung war so schon beinahe mit den Händen zu greifen. Da könnte jeder - und sei er auch in der Sache noch so berechtigt - weitere Kommentar den berühmten Tropfen zuviel darstellen. “Ich habe das Loch so gut es geht bereits ausgeleuchtet und nichts Besonderes erkennen können”, tat er in einem bewusst sehr sachlichen Tonfall kund. “Wir rücken daher weiter vor, wenn´s beliebt. Ab sofort nur noch das Nötigste sprechen und das Bitteschön auch nur im Flüsterton. Wir wollen doch unsere unwillkommenen Gäste nicht schon frühzeitig auf unseren anstehenden Überraschungsbesuch aufmerksam machen, oder?”, schloss der Gouverneur mit einer launigen Bemerkung und einem Lächeln, als er sich kurz nach hinten umdrehte.

Der Knappe nickte pflichtschuldig. Die Laune kannte er. Jetzt bloß keinen Fehler machen. "Sehr gut - Ihr habt bereits den Überblick! Ich halte mich dann vertrauensvoll hinter Euch." Wandos voller Ernst flüsternder Stimme war die innerlich empfundene bittere Ironie nicht anzumerken. Gleichzeitig trat er so zur Seite, dass der Gouverneur ungehindert als erster in das Loch einsteigen oder einen der seinen vorschicken konnte. Wenn dieser schon hastig und ohne jede Sorgfalt vorgehen wollte, sollte er wenigstens auch vorausgehen und die Früchte seiner Planlosigkeit selbst kosten oder seinen eigenen Leuten aufbürden. Langsam schritt Ugdalf - bewehrt mit Schwert und Laterne - voran, dabei stets bedacht, den vor ihm liegenden Weg sorgsam auszuleuchten (ohne sich dabei selbst zu blenden) und zugleich auf ungewöhnliche Geräusche zu achten. Ifirnia grauste es. Das war jetzt also die Realität, von der an der Akademie immer mahnend gesprochen worden war. Ihr war klar, daß weder ihre Mutter noch einer der anderen erfahrenen Kämpfer ohne Weiteres in dieses Loch kriechen konnten. Was aber wohl nötig war, um Mokkos Schwester und die andere Frau vielleicht noch zu retten. “Was ist in dem Loch zu sehen?”, fragte sie zaghaft.

Ugdalf sah schnell, dass es für die Erwachsenen äußerst schwierig sein würde, durch das Loch zu kommen. Er ahnte, dass die Wirtin Rizella nicht ohne Verletzungen dort hindurch gezerrt worden sein mag … falls sie denn noch am Leben war. Das Blut am Stein sprach für sich. `Mit Werkzeugen könnte man vielleicht das Loch vergrößern …´, ging es ihm durch den Kopf. Ein wildes Poltern und irres Geschreie an der Kellertüre machte nun deutlich, dass die Verfolger nun im Haus waren. “Herr”, flüsterte Lechdan, “lasst mich mit Ifirnia und Mokko vorausgehen, während Ihr versucht, das Loch zu vergrößern. Mokko, Du bleibst hinter mir. Ifirnia, Du gehst zum Schluss.” Für so etwas hatte man am besten immer einige der Einheimischen auf Expedition dabei - die waren kleiner und beweglicher als die meisten Mittelländer, außerdem gab es kaum Scherereien, wenn sich in so einem Loch unangenehme Überraschungen befanden. Wando hätte jedoch Skrupel, die beiden Halbwüchsigen vorzuschicken - aber es waren ja nicht seine Schützlinge. "Schaut erst einmal, ob es hintendran rasch und nachhaltig größer wird. Und ob es überhaupt irgendwo hingeht. Sonst ist jede Arbeit an dem Loch vergebliche Liebesmüh." Dann wandte er sich an die anderen. “Wer sichert solange die Kellertür?” „Ja, ich bleibe solange hier hinten und passe auf“, meldete sich Baldos. Mit gezogenem Schwert beobachtete er den Zugang. „Ulinai, stehst du mir zur Seite?“ Sie nickte eilig und wirkte entschlossen … wie in alten Tagen.

Der Gouverneur ließ sich den Vorschlag seines Knappen für einen Moment schweigend durch den Kopf gehen, bevor er schließlich zustimmend nickte. “Es behagt mir zwar gar nicht, wenn wir uns gerade jetzt aufteilen, andererseits haben wir keine weitere Zeit zu verlieren, wenn Rizella nicht-”, Ugdalf ließ den Satz unvollendet im Raume stehen. “Also gut, macht es so. Aber seid vorsichtig und bringt euch nicht unnötig selbst in Gefahr. Wir anderen kommen schnellstmöglich nach. Und nun los!” Dann wandte er sich Baldos und Wando zu. “Schaut, dass die Türe ausreichend verbarrikadiert ist und verstärkt sie notfalls. Wir müssen unsere ‘Gäste’ solange wie möglich aufhalten, um für uns alle ausreichend Zeit für das weitere Vorgehen zu gewinnen. Ich kümmere mich derweil schon mal um die Verbreiterung des Loches.” "Jawohl, bin schon dabei, Eurer Exzellenz!" Wando war bereits auf dem Weg zur Sperre, diese kritisch zu prüfen. "Wenn wir noch ein paar Fässer mehr längs davor rollen, so dass der Boden der Tür zugewandt steht, und dann zur Seite verkeilen, lässt sich die Tür noch schwerer aufstemmen," überlegte er laut, "gleichzeitig bekommen wir die Fässer immer noch rasch zur Seite gerollt, sollten wir, warum auch immer, doch noch hierdurch rausmüssen. Packt Ihr mit an, Baldos?"

Baldos schaute hin und her. Sollte er die Tür bewachen oder besser bei der Verbarrikadierung helfen? Schließlich entschied er: „Ulinai, Du beobachtest die Tür. Sobald sich hier etwas regt, rufst du mich! Einverstanden?“ Der Ritter steckte sein Schwert weg und wandte sich Wando zu, um ihm mit den Fässern zu helfen. Wehmütig schaute sie zu ihrere Tochter. War sie dem gewachsen? Dann schluckte sie ihre Bedenken runter. “Hier wird niemand durchkommen! Rondra mit dir, Ifirnia. Wir kommen hier heil raus!”, sagte Ulinai. Warum übernahm Lechdan das Kommando? War er nicht jünger? ‘Knappe’, ging ihr durch den Kopf und: ‘hier zu Hause’. Davon abgesehen, daß sie gar nichts dagegen hatte, nicht als erste in dieses Loch zu kriechen. “Ja, gut”, antwortete Ifirnia knapp. Mokko folgte den beiden.