Der Letzte aller Tage

Kapitel 4: Der Letzte aller Tage

An Bord der Thalukke “Kaiserin”, Südmeer, 5. Namenloser Tag

Der stechende Geruch von faulem Fisch, abgestandenes Wasser und das Knarren von Holz ließen den Ritter Baldos, den Entdecker Wando, die Wirtin Rizella, der Leibdiener Mokko, sowie die Söldnerin Ulinai und ihre Tochter Ifirnia schreckhaft erwachen. Ihre Körper fühlten sich an, als ob sie ein Turnier, gar eine Schlägerei hinter sich hatten und ein dumpfer Schmerz lag über ihren Köpfen. Was war nur geschehen? Letzte Erinnerungen lagen wie ein Traum vor ihnen. Ein Sturm in Yar´Dasham. Eine Flucht in den Keller des Gouverneurs … doch dann? Keine weitere Erinnerung war zu finden. Als sie sich umschauten, waren sie sicher, in einer Matrosenkajüte eines Schiffes zu sein. Eine Öllampe spendete etwas Licht. Sie alle lagen in Hängematten.

Mit einem leisen Stöhnen richtete sich Wando auf. Zuerst und zu allem Überfluss gesellte sich zum Schwanken der Welt nun auch noch ein schnelles Rotieren, das sich aber wieder legte, noch ehe sein Magen sich vollends verkrampfen konnte. So musste er nur einen kleinen säuerlichen Schwall wieder herunterschlucken. Wie sich sein Kopf anfühlte, musste es eine wilde Nacht, nein, mehrere wild durchzechte Nächte gewesen sein. Eigentlich konnte er ja so einiges wegstecken. Was war also geschehen? Wando versuchte sich zurückzuerinnern, doch blickte er nur in ein dunkles Nichts. Merkwürdig - wie ausgelöscht waren alle Erinnerungen. So etwas war ihm seit Jugendtagen nicht mehr passiert. Sein Blick fiel auf Rizella. Ein Erinnerungsfetzen kehrte zurück. Hatten er... und der bestrafte Ritter... Baldos hieß er... hatten sie beide sich nicht bei der Wirtin mit Rum eingedeckt? Um sich die Sturmnacht schön zu saufen? "Wo hast Du Deinen Rum her, Rizella?" war daher seine erste Frage, als er erkannte, dass sie die Augen ebenfalls aufgeschlagen hatte. "So einen Schädel hatte ich noch nie! Wie kommen wir auf dieses Schiff... was für ein Schiff ist es denn überhaupt? Und wohin geht die Fahrt?"

Die üppige Rizella erhob sich und strich sich über einige Blessuren, die allerdings schon am verheilen warn. “Der Rum … den mache ich selbst.” Auch Mokko hatte sich erhoben und ließ nun seine Beine baumeln.” Das wirkt wie ein großes Schiff. Wo … Wo ist Nihi und Lechdan?”, fragte er. "Keine Ahnung. Lechdan war der Knappe des Gouverneurs, richtig?" Den Jungen vor sich hatte Wando auch schon gesehen... das war doch der Diener... sei's drum. Viel wichtiger war: was machte er selbst auf diesem Schiff? Eigentlich war er doch nach Yar'Dasham gekommen, um sich nach neuen lukrativen Objekten in den mittelreichisch beherrschten Dschungeln umzusehen, für die eine Expedition lohnte. Und nicht, um volltrunken das nächstbeste Schiff zu nehmen. Schwerfällig schwang sich der Gehrheimer aus seiner Hängematte in den Stand. Nachdem er den aufsteigenden Schwindel niedergekämpft hatte, schwankte er zur Tür, um Gerechtigkeit hereinzulassen und einen Blick hinauszuwerfen. Auf dem Weg dorthin entdeckte er Baldos. "Na, auch hier?" begrüßte er den einstigen Ritter. "Und genauso in die Bewusstlosigkeit gezecht wie meinereiner, deucht mir. Oder wisst Ihr, was wir hier machen?" Baldos lag noch im Halbschlaf und hatte bisher noch nicht mitbekommen, wo er sich befand. Angesprochen schreckte er auf und versuchte, aufzustehen. Doch der Rand der Hängematte gab unter seinem Gewicht nach, die Matte drehte sich und entließ den gefallenen Ritter unsanft auf die harten Planken poltern, wobei sich sein linkes Bein in den Seilen des Schlafplatzes verhedderte. So hing er halb, halb lag er laut fluchend auf dem Boden. „Verdammter Orkendreck! Ich werde mich wohl nie an diese Dinger gewöhnen!“ Dann schaute er sich um. „Wo sind wir? Und wie kommen wir hierher?“

Dann fiel Baldos Blick auf eine Kiste, die im Schatten stand. Es war ´seine´ Kiste mit den Steuereinnahmen. “Hoher Herr, lasst mich Euch aufhelfen.”, sagte der Diener Mokko, der nun neben ihm stand und seine Hand hilfreich ihm entgegen streckte. “Ich glaube … wir sind an Bord der Kaiserin.”, sagte Ulinai die ihrer Tochter die Schulter rieb. “Die Kajüte kommt mir hier bekannt vor. Ich erinnere mich daran, zum Gouverneur geflüchtet zu sein. In den Keller. Doch dann?” Nun rieb sie sich die Stirn, als ob ihr das Nachdenken schwer fallen würde. “Sagt bloß, Ihr könnt Euch auch an nichts erinnern, was seither geschehen ist?” fragte Wando erstaunt nach. Merkwürdig! Dass er und vielleicht auch der zu Hause in Ungnade gefallene Paggenfelder Ritter viel zu viel gesoffen hatten, war bereits verwunderlich. Aber dass offenbar allen hier dieser Fehler unterlaufen war, erschien ihm mehr als unwahrscheinlich. “Was ist mit Euch, junge Dame?” wollte er von Ifirnia wissen. “Und was mit Dir, Junge?” Auch der Waldmenschendiener schien völlig desorientiert. “Danke, Mama”, murmelte Ifirnia. Verwirrt schaute sie den Entdecker an. “Hab ich so lange geschlafen?”, fragte sie. Wieso lag sie in einer Hängematte? Warum schwang alles hin und her? Warum hatte sie so ein Kopfweh? ‘Doch die Pilze’, ging ihr durch den Sinn. Sie legte eine Hand über ihre Augen. “Einen Moment noch”, sagte sie leise.

Baldos indes versuchte, sich mit Mokkos Hilfe aufzurappeln. “Danke, mein Junge!” sagte er zu ihm mit einem Lächeln auf dem Mund. Doch dann ging er neugierig zu der Steuerkiste. Wie kam die auf einmal hierher? Er hatte sie doch in seinem Zimmer im Gouverneurspalast zurücklassen müssen. Er griff nach dem Schlüssel, den er an einer Kette um seinen Hals trug und versuchte zügig, das Schloss der Kiste zu öffnen, um nachzusehen, dass noch immer alles dort war, was hineingehörte. Fluchs ließ sich diese aufschließen und alle Säckelchen mit den Dukaten waren darin, so wie das Samtene, mit dem besonderen für den Landgrafen. Tief ausatmend löste sich Baldos‘ Angespanntheit. Was auch immer geschehen war, wie auch immer die wieder auf das Schiff gekommen waren, wichtig war für ihn gerade, dass diese Kiste und sein Inhalt wieder vollständig bei ihm war. Nur so konnte er in die Heimat zurückkehren und auf Begnadigung hoffen. Als der Sturm anbrach und sie fliehen mussten, dachte der in Ungnade gefallene Ritter bereits, es gäbe für ihn keine Hoffnung mehr, die Queste abzuschließen, und er müsste den Rest seines Lebens auf der Flucht verbringen. Schnell verstaute er alle Säckchen wieder in der Kiste, schloss den Deckel, drehte den Schlüssel wieder, um das Schloss zu verriegeln, hängte sich den Schlüssel um den Hals und setzte sich auf die Kiste.

Mokko und Rizella schauten sich an. “Ja … nichts.”, sagte Rizella. “Wir alle sind mit dem Gouverneur, dem Jungen Herr Lechdan und meiner Schwester in den Keller geflohen. Es gab einen Angriff und dieser tobende Sturm.”, sagte Mokko nachdenklich. Wando nickte zögerlich... ein Angriff, ja,... da war ein Angriff gewesen. Sie hatten Schutz im Keller gesucht. Und dann waren sie hier, auf diesem Schiff, aufgewacht. Dazwischen… nichts. Der Entdecker begann, sich hektisch auf Stiche abzusuchen. Die lose Punktmusterung sah nach den üblichen Blessuren aus, die man hier, im Süden, davontrug, aber nicht, als ob er in einen Schwarm Borbarad-Moskitos geraten wäre. Außerdem hätte er dann keinen derart trennscharfen Gedächtnisverlust erwartet. "Als ob Magie im Spiel gewesen wäre..." murmelte er sinnierend vor sich hin.

Ifirnia riß sich zusammen. An der Akademie hätte sie sich das kaum leisten können, noch länger liegen zu bleiben. Auf! Auch sie plumpste eher ungelenk aus der Hängematte, schaffte es aber, nicht hinzufallen. Sie schaute sich um. Alle da - außer Lechdan. Und dem Gouverneur. Na gut, der würde kaum in der Mannschaftskajüte schlafen. Warum Kajüte? Warum nicht Bett? Albtraumbilder schossen ihr durch den Kopf und das Gefühl, daß da noch etwas sein müßte … “Was ist los?”, fragte sie niemand Bestimmten.

“Ich verstehe das alles nicht. Wie sind wir nach dem Angriff hierher gekommen? Und wieso? Schaut”, Baldos klopfte gedankenlos gegen die Seite der Kiste, auf der er saß. “Dies hatte ich im Haus unseres Gastgebers abgeladen. Wer auch immer uns hierher gebracht hat, warum sollte er auch …, ähm, unser Gepäck an Bord bringen? Wenn man uns schnell los werden wollte, gäbe es andere Wege.”

Ifirnia streckte sich und ging kurzerhand - mit schwankendem Gang - zur Tür. Offenbar wußte niemand hier, was los war. Irgendwo mußte es aber eine Mannschaft geben, eine Kapitänin, irgendwen … Blick auf einen Hafen, eine Küste … Die Kajütenwände gaben jedenfalls bestimmt keine Antwort. Außerdem mußte sie auf Klo, und sei es wieder der breitrandige Eimer, der das letzte Mal dafür hatte herhalten müssen.

"Darf ich Euch die Tür aufhalten?" erbot sich Wando, der trotz allen Wankens und Grübelns bereits fast bei dieser angelangt war. Beherzt packte er die Klinke und drückte diese nach unten. Just in diesem Moment ließ eine stärkere Woge das Schiff noch stärker tanzen, so dass Wando beinahe nach hinten gekippt wäre, hätte er sich nicht an der Türe festgehalten. Kaum dass er wieder Stand gefunden hatte, deutete er auf die Türöffnung. "Nach Euch!"

Er rannte um sein Leben. Kreaturen verfolgten ihn, begleitet von einer Schar Ratten. Ein Mann, dessen Kopf einem Totenschädel glich, starrte Lechdan an. Sein Gebiss war von zwei langen Schneidezähnen dominiert. “Wach auf!” Zischte er dem Knappen entgegen. Wieder ertönte die Stimme, doch nun klang sie vertraut. “Wach auf!” Lechdan war sich sicher, dass dies die Stimme seines Schwertvaters war. Erschrocken öffnete er die Augen und fand sich in einer Kajüte wieder, die nur spärlich beleuchtet war. Vor ihm, im Halbdunkel, saß Ugdalf und schaute ihn streng an. Sofort nahm der Knappe Haltung an. Obwohl er viele Fragen hatte und nicht recht wusste, wo er war, war das Wohl seines Schwertvaters nun wichtiger. Der strenge Blick hieß, dass er seine Bedürfnisse erstmal hintan stellen musste. "Herr?!", fragte er lediglich.

Der Gouverneur blickte seinen Knappen für eine Weile lediglich mit einer seltsamen Mischung aus Strenge und Bedauern an und antwortete erst nach einer geraumen Weile auf die simple Frage seines Knappen, wobei es dem einstigen Obersten gleich war, ob die Mitreisenden seine Worte ebenfalls vernahmen oder nicht. “Ich denke, Du hast genug geschlafen, Lechdan. Ein angehender Ritter und Baron sollte seinen Schlaf entweder auf ein Minimum beschränken können oder aber sich nicht so tief in Borons Armen fallen lassen, dass es schon eine ganze Wildschweinrotte bräuchte, um ihn aufzuwecken.” Etwas versöhnlicher klingend setzte Ugdalf nach einer kurzen Pause hinzu: “Abgesehen davon scheinst Du mir einen Alptraum gehabt zu haben; ein Grund mehr, Dich ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Aber das ist auch kein Wunder, das schwere Unwetter in Yar’dasham, der Angriff, die Toten, Verletzten sowie die großen Zerstörungen dort dürften so einfach wohl auch kaum zu verdauen sein. Aber auch schlechte Erfahrungen sind Erfahrungen für das weitere Leben, vergiss ́ das nicht. Die jüngsten Ereignisse sind auch der Grund, warum wir, wie Du weißt, in die Nordmarken zurückreisen.

Dort kannst Du Deine Ausbildung weit besser abschließen als in Yar’dasham, wo alle Hände noch auf lange Zeit für den Wiederaufbau gebraucht werden und ich mich darob als Gouverneur nicht so sehr um Dich kümmern könnte, wie ich wollte und müsste. Übrigens ist es ohnehin an der Zeit, dass Du in die Nordmarken zurückkehrst, um dort in nicht allzu ferner Zukunft sowohl Deine Schwertleite zu empfangen als auch die Herrschaft über Dein Lehen anzutreten. Bis dahin solltest Du in Deiner Heimatprovinz alte Kontakte auffrischen und neue knüpfen, damit aus Dir nicht nur ein - da bin ich mir sicher - guter Ritter, sondern auch ein mindestens ebenso guter Herrscher wird.” Die Worte Ugdalfs brauchten eine Weile, um in Lechdans Kopf Fuß zu fassen, deshalb antwortete er zunächst wie üblich mit: "Ja, Herr." Dann aber riss er die Augen auf. "Aber… aber ich dachte immer, Ihr würdet mich zum Ritter schlagen. Wer soll es denn sonst machen, wenn nicht Ihr?"

Der Angesprochene schenkte seinem jungen Gegenüber ein aufmunterndes Lächeln und erwiderte: “Unter normalen Umständen hätte ich mir die Ehre Deiner Schwertleite auch nicht versagt, Lechdan, zumal dieser Tag, nach allem was Du bisher gelernt, erlebt und gezeigt hast, auch nicht mehr allzu fern sein dürfte. Aber wie gesagt: Nach den jüngsten schrecklichen Ereignissen hier gibt es für mich leider weit Dringenderes zu tun - und das wohl für eine geraume Zeit. Abgesehen davon sollte Dein Ritterschlag in den Nordmarken vor dem Adel der Provinz stattfinden, wie es einem vielversprechenden jungen Mann und Baron auch geziemte. Aber gräme Dich nicht: Ich werde auch weiterhin, soweit es mir möglich ist, stets für Dich da sein. Und um einen hoffentlich angemessenen, hm, ‘Ersatz’ für Dich zu finden, begleite ich Dich sogar zurück nach Elenvina, wenngleich es hier in Yar’dasham momentan wahrlich genug genug zu tun gäbe. Im Übrigen versteht es sich von selbst, dass nur die Niederhöllen mich davon abhalten könnten, dereinst Deiner Schwertleite beizuwohnen. So, nun aber genug der vielen Worte; wollen wir doch mal sehen, wieviel Du noch von der Minne nach Aldifreid weißt!”

“Solange ich nicht den Alraunenbart rezitieren muss. Ich kann mir Isdira einfach nicht merken.” Lechdan grinste, wurde aber gleich wieder ernst. “Erfunden hat die Minne Aldifreid von Trallop, als er am Hofe Kaiser Menzels weilte. Man unterscheidet zwischen der Niederen Minne und der Hohen Minne. Bei der Niederen Minne geht es darum, einen Menschen für sich zu gewinnen und man hofft, dabei erhört zu werden. Bei der Hohen Minne ist das Ziel die Herrin Rondra, die durch einen Menschen repräsentiert wird, der einen aber nicht erhören soll. Einige Ritter gehen sogar so weit, dass sie, wenn sie sich der Hohen Minne widmen, niemals einer anderen Person widmen, sondern sich einzig und allein auf die Herrin Rondra konzentrieren. Der Schutzheilige der Minne ist Sankt Ascandear von Baburin. Sein Feiertag ist der 16te Firun.” Lechdan blickte zuerst stolz, dann nachdenklich. “Herr, darf ich Mokko fragen, ob er mitkommt. Ich glaube, er ist ein Freund und … zuhause… kenne ich ja keinen.” “Sehr gut gelernt und aufgesagt!”, erwiderte Ugdalf anerkennend. “Und wenn Mokko möchte, kann er Dich auch gerne in die Nordmarken begleiten, respektive dort bei Dir bleiben.” Dann klopfte es an der Tür. Der Knappe ging und öffnete sie einen Spalt breit, um zu sehen, wer dort stand und was er wollte. “Wer ist da, Lechdan und was will er oder sie?”, begehrte Ugdalf zu wissen.

Hinter dem Türspalt stand eine Efferdgeweihte in ihren Fünfzigern. Sie war groß gewachsen und hatte eine athletische Figur. Ihr Gesicht war hübsch, dennoch gruben sich dunkle Ringe unter ihren rehbraune Augen, die erschöpft wirkten. Die Geweihte des alten Gottes trug eine blaugrüne Robe mit weiten Ärmeln, welche sich in Hüfthöhe teilten. Ihre Hose und Stiefel waren ebenfalls blau und mit einem komplexen Schuppenmuster bestickt. Kragen und Gürtel waren mit Schildpatt und Perlmutt verziert und etliche Muscheln hingen daran. Auch ein Entermesser war daran befestigt und in ihrer rechten Hand hielt sie einen Efferdbart. Kurz musterte sie den Knappen und schien erleichtert, als sie den Gouverneur sah. “Gut, du bist wach. Gouverneur, ihr solltet beide zu uns in den Mannschaftsraum, es ist besser, wir bleiben alle zusammen.”, sagte sie mit fester Stimme. Ein knarrendes Geräusch ließ sie zur Linken schauen. Sie kniff die Augen zusammen und ging in diese Richtung, aus dem Sichtfeld des Knappen. "Ähm, ihre Gnaden war das und sie möchte, dass wir in den Mannschaftsraum gehen", plapperte der Knappe hirnlos die eben gesagten Worte nach. Aber, die Geweihte war ihm über den Mund gefahren und er musste doch seinem Herrn Antwort geben. Er hasste solche Situationen, ließen sie ihn doch dumm dastehen. Warum konnten die Leute sich nicht einfach an die Regeln halten? War das denn tatsächlich so schwer? Oder galten Regeln nur für Knappen? Durfte er später als Baron schalten und walten, wie er wollte?

“Aha. Aber warum die Geweihte das möchte, geruhte sie nicht mitzuteilen?” fragte Ugdalf mit einer Mischung aus Verwunderung und Verärgerung. “Aber gut, Lechdan, dann tuen wir ihr eben den Gefallen und begeben uns in den Mannschaftsraum, wie auch immer uns das bei der weiteren Reise helfen soll.” Der Gouverneur wandte sich zum Gehen und bedeutete seinem Knappen, ihm zu folgen.

Baldos öffnete die Tür und schaute in einen schmalen Flur im Bauch eines Schiffes. Nun erinnerte er sich wieder: ja, das war die ´Kaiserin´. Eine Laterne schaukelte an der Decke und gab gedämpftes bläuliches Licht von sich. Dann sah er einen Schatten am anderen Ende. Nur Augenblicke später erkannte er die Efferdgeweihte Stevyana, die vorsichtig in seine Richtung kam. Wollte sie nicht das Schiff in diesen wahnsinnigen Sturm lenken? Die Anderen folgten ihm. Ifirnia hatte schon damit gerechnet, die Tür verschlossen zu finden. Zu verstörend war es, sich nach Verfolgung, Überfall und Rückzug in den Keller auf dem Schiff wiederzufinden, als sei das alles nicht geschehen. Artig bedankte sie sich fürs Türaufhalten, trat in den dunklen Gang und erstarrte erschrocken, bis sie die Efferdgeweihte erkannte. “Euer Gnaden!”, rief sie erleichtert. “Verzeiht, aber: ist der Sturm vorbei?”

"Das dürft Ihr wohl unterstellen…" brummelte Wando mehr, als er sprach. Stärker als das Offensichtliche interessierte ihn vielmehr etwas anderes: “Seid auch von mir gegrüßt Euer Gnaden! Sagt bitte, welchen Tag haben wir heute?” Die Geweihte kam näher, bevor sie antwortete. “Wir sind dem Sturm entkommen, Efferd sei dank. Doch befinden wir uns noch in den Namenlosen Tagen. Allerdings nur noch wenige Stunden. Wir stecken in einer Flaute und einem dichten Nebel. Ich habe alle … Lebenden im Mannschaftsraum versammeln lassen, damit wir im Gebet keinen der Einflüsterungen nachgeben. Da ihr endlich erwacht seid, bitte ich euch, mir dorthin zu folgen. Ihr könnt vom Glück sagen, dass der Gouverneur euch gerettet und seinen Weg zu uns an Bord gefunden hat.” Bei ihren letzten Worten erschien Lechdan und Ugdalf hinter ihr. Baldos schaute sie etwas skeptisch an. “Gerettet? Aber wovor und vor allem wie? Wie sind wir auf dieses Schiff gekommen? Und was ist die letzten Tage geschehen? Soweit ich mich erinnern kann, erwischte uns der Sturm kurz vor Anbruch der Namenlosen Tage. Das ist also fünf Tage her. Wieso kann ich mich, können wir uns an nichts erinnern, was seitdem geschehen ist?”

Die erschöpfte Dienerin des Alten Gottes berührte ihn an der Schulter. “Der Gouverneur hat sich mit seinen Leuten ebenfalls aufs Meer retten können und ist glücklicherweise im Nebel auf uns gestoßen. Soweit ich weiß, ist ein Haus über euren Köpfen zusammengebrochen. Wir haben euch soweit versorgt, doch die Ereignisse müssen euch schwer mitgenommen haben. Hier an Bord gab es Unfälle und einigen sind die Nerven durchgegangen.” Stevyana seufzte. “Wir hielten es für sicherer euch in einem Raum bringen. Gouverneur, ihr könnt sicher alles in Ruhe erzählen. Lasst uns lieber zu den anderen. Wir sind hier nicht sicher im Flur.” Ihr Blick ging zu Ugdalf, dann lief sie weiter, direkt auf die Tür des Mannschaftsraumes zu. “Ein Haus ist zusammen gebrochen? Wir waren zuletzt im Haus des Gouverneurs. Doch wenn dies zusammengebrochen ist, wie konnten dann meine Sachen”, Baldos dachte an die Truhe mit den Steuereinnahmen, “noch hierher an Bord gebracht werden?” Der verstoßene Ritter traute den Worten der Geweihten noch immer nicht, nein, genaugenommen wurde er immer skeptischer. Wer spielte ihnen hier etwas vor? Ugdalf? Oder die Geweihte selbst? Heckten Sie gar zusammen etwas aus? Ifirnia hörte zu und schwieg. Waren Haus und Keller über ihnen zusammengebrochen? Unwillkürlich tastete sie nach ihrem Kopf. Wieso war sie derart lange bewußtlos gewesen, wenn sie doch offenbar gar keine Wunde am Kopf hatte? Immerhin schien Lechdan gut davongekommen zu sein, das freute sie. Und wer wußte, was ihr alles an Anblicken erspart worden war durch die Ohnmacht. Die Worte der Efferdgeweihten beunruhigten sie allerdings erneut. “Wieso sind wir hier nicht sicher?”, fragte sie halblaut, folgte aber der Geweihten zum Mannschaftsraum.

“Das werden wir herausfinden.”, flüsterte Ulinai ihrer Tochter ins Ohr und legte schützend ihren Arm um ihre Schulter. Auch Wando wurde misstrauisch und warf Baldos einen vielsagenden Blick zu. Alle zuviel gezecht... das war sein erster Erklärungsansatz gewesen, den konnte er sich noch vorstellen. So sehr über den Durst getrunken, dass sie alle und ausnahmslos einen Gedächtnisverlust hatten, erschien ihm allerdings bereits sehr unplausibel. Aber dass sie alle im Keller eines eingestürzten Hauses gefunden worden waren und keiner auch nur einen Erinnerungsfetzen daran hatte... nein, da war etwas faul... sehr faul. Er beschloss, zunächst den Mund zu halten und zu hören, was die Efferd-Geweihte und der Gouverneur noch zu sagen hatten. Mokko ging zu Lechdan und umarmte ihn. “Du lebst!”, flüsterte er den Knappen ins Ohr. Dann schaute er ihn erschrocken an. “Oh, dich hats aber erwischt.” Sein Blick war auf den Schnitt auf der Wange Lechdans gerichtet. Der Baronet erwiderte die Umarmung. “Mich hat's erwischt?”, fragte er, “Was meinst Du damit?” Dem Blick Mokkos folgend hob er seine Hand an die Wange und tastete sie ab. Schmerz durchzuckte ihn, als er die Wunde berührte. “Was ist das? Wo kommt das her?”

“Wir wurden vom Sturm überrascht. Der Gouverneur hat uns mit Leuten aus Trümmern befreit… soweit hab ich das verstanden, vielleicht hast du dich dabei verletzt?. Ich … wir waren bis jetzt bewußtlos.” , flüsterte er weiter. “Was ist dir denn widerfahren? Ich kann mich an nichts mehr erinnern, das letzte war die Flucht in den Keller. Weißt du, wo meine Schwester ist?” “Nein”, flüsterte er zurück, “ist Mihi nicht hier? Meine letzte Erinnerung ist auch, wie wir in den Keller gelaufen sind. Was geht hier vor?” “Ich dachte, du könntest es uns erklären.”, sagte Mokko. Sie erreichten als letzte den Mannschaftsraum.

Der Gouverneur betrat mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck den Raum und lehnte sich neben der Tür an die Wand. Dann blickte er erwartungsvoll in Richtung der Geweihten. Der Mannschaftsraum war groß und der Dunst von Menschen schlug den Ankömmlingen entgegen. Bläuliches Licht erfüllte den Raum, doch das meiste lag im Schatten. Es schien, das fast die gesamte Besatzung hier unten waren. Einige schliefen, einige flüsterten miteinander. Geradezu stand eine hölzerne Figur die den Meeresgott Efferd darstellte. Ein Mann mit einem gewaltigen Vollbart, Dreizack und Fischschwanz. Stevyana signalisierte einem der Matrosen, das alles in Ordnung war, als dieser Aufsprung, während die Gruppe den Raum betraten. “Hier sind wir am sichersten. Hier im Scheine Efferds sind wir vor den Einflüsterungen des Namenlosen gefeit. Der Alte hält sich wacker.”, sagte die Geweihte und schenkte allen ein Lächeln. Dann winkte sie die Ankömmlinge zu sich zum Schrein und machte sich Platz auf dem Boden.

Mit einem leichten Achselzucken folgte Ugdalf der Priesterin und setzte sich neben sie, gespannt, was jetzt wohl noch folgen mochte. Wando leistete der Aufforderung der Geweihten deutlich zögerlicher Folge. Vorher taxierte er alle Anwesenden, vor allem darauf fokussiert, wie diese auf seine unverhohlen bohrenden Blicke reagierten, wenn ihre Augen sich begegneten. Die Gesichter der Matrosen waren Wando bekannt. Einige nickten ihm freundlich zu, doch andere schauten misstrauisch. Ifirnia wartete ab, bis auch ihre Mutter sich zur Geweihten setzte, und tat es ihr dann gleich. "Komm, Mokko, wir setzen uns zu Ifirnia. Vielleicht weiß sie ja was." Lechdan führte den Diener zu den anderen vor die Efferdstatuette und setzte sich dazu. Leise flüsterte er Ifirnia zu: "Schön, dass es Dir gut geht. Hast Du vielleicht Mihi gesehen, oder weißt, wo sie ist?"

Ifirnia schüttelte den Kopf. “Vielleicht weiß Rizella was?”, gab sie ebenso leise zurück. Auch diese verneinte, hatte sie das Geflüster gehört. Baldos wartete skeptisch ab, bis alle anderen saßen, erst dann setzte auch er sich, jedoch so, dass er den Gouverneur und die Geweihte im Blick behalten und jederzeit schnell aufspringen und den Eingang decken konnte. “Nun gilt es abzuwarten. Es sind nur noch wenige Stunden, dann haben wir es überstanden.”, sagte Stevyana. “Verzeiht euer Gnaden, aber gibt es irgendjemand, wer das Schiff steuert?”, fragte Ulinai. Die Geweihte nickte. “Dem Steuermann Roloff wurden die Sinne verwirrt. Er ist am Mast gefesselt, wir hoffen, dass sich seine Sinne wieder klären, wenn Praios das neue Jahr verkündet. Kapitän Nollenborgen ist jetzt am Steuerrad. Es wird auch Zeit, wieder nach ihm zu schauen. Ein starker und götterfürchtiger Mann.” Sie schaute in die Runde. "Ich geh schon. Soll ich ihm was bringen, Wasser, was zu Essen, oder so?", sagte Lechdan. Ulinai schaute furchtsam Baldos an, dann den Gouverneur. “Du gehst auf keinen Fall alleine!”, protestierte sie. “Ich werde dich begleiten.” “Gute Idee, Lechdan, nach dem Kapitän zu sehen und ihm etwas zu trinken und Essen zu bringen. Und auch von Euch, werte Ulinai, dies zu Zweit zu tun. Passt aber gut auf euch auf und kommt rasch wieder zurück.”, sprach Ugdalf an die beiden Schwertleiher gerichtet.

Baldos schüttelte auf Ulinais Blick kaum merklich den Kopf. Er war hin und hergerissen, ob er sie besser begleiten oder lieber hier die Verdächtigen beobachten sollte. Schließlich sprang er auf und folgte Ulinai und Lechdan. Ulinai blieb kurz stehen, schaute kurz verärgert Baldos an, doch gab sie ihrer Tochter Ifirnia auch das Zeichen zu folgen. “Ifirnia du kommst mit!” Wando wog die Situation rasch ab. Einerseits brannte er darauf, einen Blick auf den Steuermann und den Kapitän zu werfen und eine Ahnung davon zu bekommen, was genau und wie sehr dieses etwas auf beide wirkte. Andererseits wollte er die hier Versammelten ebenfalls im Auge behalten. Da nahezu alle der Leute, denen es wie ihm ergangen war und mit denen er erwacht war, nach draußen gingen, beschloss er, zu bleiben. "Wollen wir ein Gebet anstimmen?" fragte er in die Runde, auch um zu sehen, wie dieser Vorschlag aufgenommen wurde. Lechdan hatte sich etwas Brot und Rum geben lassen, aber auch Wasser. Dieser Baldos schien sich ungewöhnlich stark für ihn zu interessieren. Ob er wohl Knaben mochte? Wenn ja, dann sollte er sich besser einen in der nächsten Hafenkaschemme besorgen. Mit grimmen Blick begab er sich an Deck und suchte den Kapitän. Gehorsam folgte Ifirnia ihrer Mutter, bange, was sie dort draußen erwarten würde. Hoffentlich war der Sturm nicht mehr zu stark! Sie fühlte sich immer noch etwas benommen. “Ja, angesichts der, ähm, Umstände wäre ein Gebet an die Götter wahrlich angeraten und auch angemessen.”, pflichtete der Gouverneur Wandos Vorschlag bei. Dann blickte er den Vieren hinterher, die sich gerade auf den Weg zum Kapitän machten und schüttelte leicht missbilligend den Kopf. Für Ugdalf war nicht ersichtlich und erschien es auch nicht vernünftig, warum sich nun gleich vier Personen aus der Runde nach oben begaben, wo es zwei doch auch getan hätten.

An Deck der Kaiserin

Lechdan, Ifirnia, Ulinai und Baldos gingen vorsichtig an Deck der ´Kaiserin´. Überraschenderweise herrschte ein dichter Nebel an Bord, kein Windzug regte sich und die Sicht ging nur eine Armlänge voraus. In der Nähe schien eine Laterne, die ein dumpfes Licht in der nebligen Dunkelheit war. Vor irgendwoher hörten sie ein Ächzen. Der Knappe und die Kriegerschülerin standen zu erst an Bord, wobei Ulinai und Baldos nur ihre Köpfe aus der Luke steckten. “Das gefällt mir gar nicht.”, flüsterte die Söldnerin. “Wo kommt dieser Nebel her?”, fragte Baldos besorgt. “Ich habe kein gutes Gefühl.” Lechdan kannte das Schiff nicht, doch die Tatsache, dass er gerade durch eine Tür an Deck getreten war, ließ ihn vermuten, dass es Aufbauten hatte. Wahrscheinlich befanden sie sich im Achterkastell und die Tür in der Mitte desselben. Demnach war es egal, ob er links oder rechts ging. Obwohl, wenn das Schiff sehr schmal war, gäbe es wohl nur eine Treppe nach oben. Er entschied sich für rechts und ging vorsichtig weiter. Entweder er stieß auf die Treppe zum Steuerrad oder auf die Reling. “Lechdan! Wo gehst du hin?”, fragte Ifirnia nicht allzu laut hinter dem Knappen her. Keine Antwort folgte.

Langsam tastete Lechdan sich vor und stieß tatsächlich auf Widerstand. Vor ihm befand sich eine Reling. Entfernt hörte er das Rauschen des Meeres, das weit unter ihm liegen musste. Ein flackerndes Licht ließ ihn aufmerksam werden … ´Wenn ich der Reling vorwärts folgen würde, könnte ich vielleicht herausfinden, woher es kommt.´, dachte der Knappe bei sich. Der Baronet gab seiner Neugier nach und ging vorsichtig an der Reling entlang zum Bug des Schiffes. Zum Kapitän konnte er immer noch gehen. Und, wer weiß, vielleicht war das Licht noch wichtig und musste schnellstmöglich untersucht werden. Dann stieß er auf Treppen, die nach unten führten. Das Licht schien von dort zu kommen. Neugierig stieg er die Stufen hinab. War hier der Frachtraum oder die Mannschaftsquartiere? Aber, waren nicht alle im Achterkastell versammelt? Alle außer dem standhaften Kapitän und dem verführten Steuermann? Woher also kam das Licht?

Baldos war zunächst an Luke stehen geblieben. An das Reisen auf dem Wasser hatte er sich noch immer nicht gewöhnt, doch dass er durch den Nebel nicht einmal bis zur Reeling sehen konnte, machte ihn noch unsicherer. “Wo ist der Junge hin? Sollten wir ihm folgen, Ulinai? LECHDAN!”, rief er dann. “WO BIST DU HIN?” Der Knappe vernahm die Rufe nicht und stieg weiterhin die Stufen hinab. Baldos war beunruhigt, dass er keine Antwort des Knappen erhalten hatte. “Kommt”, forderte er die beiden Frauen auf, “wir schauen, wo er hin ist.” “Ihr solltet hier bleiben. Ich gehe, er ist mein Bruder.”, sagte Ulinai bestimmt.

“Mama”, protestierte Ifirnia verhalten, “wär’s nicht besser zusammen?” Der Blick der Söldnerin wurde hart. “Ifirnia. Das ist eine Sache, um die ich mich kümmern muss.” Dann überlegte sie kurz und sagte beiläufig: ”Dein Vater wird jetzt auf dich aufpassen.” Ihr Blick verriet, dass sie damit Baldos meinte. Dann stürmte sie in den Nebel und ließ die beiden verdutzt zurück. Baldos’ Augen weiteten sich. Er hätte es ahnen können, nein, eigentlich hatte er es geahnt. Er hatte es eigentlich gewusst. Es war ja klar, dass ihn früher oder später einmal eine Nachricht dieser Art erreichen würde. Und bei Ifirnia passte es einfach. Ihr Alter, ihr Gesicht… Und Ulinai war keine Frau, bei der die Frage offen blieb, wer der Vater ihres Kindes war. Zumindest da war er sich sicher. Doch warum hatte Ulinai nicht früher etwas gesagt? Warum hatte sie ihn so lange im Unklaren gelassen? Und warum offenbarte sie es ausgerechnet jetzt, in dieser heiklen Situation? Wie würde Ifirnia auf diese Neuigkeit reagieren? Baldos wartete stumm auf die Reaktion seiner… Tochter! “Aber …”, setzte Ifirnia erneut an, dann wurde ihr bewusst, was ihre Mutter gerade gesagt hatte. Sichtlich verwirrt blickte sie sich um. Aber da war niemand anderes als Ritter Baldos …

Der Paggenfelder schluckte. Es war wohl doch an ihm, als erster etwas Sinnvolles zu sagen. Doch er war auf ein solches Gespräch nicht vorbereitet. “Nun, ähm, ja. Das ist dann wohl so.” “Aber …” Ifirnia war eindeutig überfordert. Es sah nicht so aus, als schrecke sie der Gedanke, mit Baldos verwandt - überaus nah verwandt - zu sein, sie wirkte einfach nur völlig perplex und auch ein wenig verloren. Ratlos starrte sie den Ritter an, leicht eingehüllt vom Nebel und die Bewegungen des Schiffes rein instinktiv ausgleichend. Ruhig!, mahnte sie sich und schaute in den Nebel, als suche sie dort etwas. 'Hirngespinste!', sagte sie sich, nichts als Hirngespinste, ein Teil der Seltsamkeiten dieser gräßlichen Namenlosen Tage. Sie schüttelte kurz den Kopf, als wolle sie etwas Irritierendes aus dem Gesicht schütteln, wischte sich auch mit der Hand über die Augen. "Entschuldigung", murmelte sie. Sie klang heiser. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.“ Baldos lächelte seine Tochter freundlich, fast liebevoll an. „Du hast es genauso wenig gewusst wie ich, nicht wahr?“ “Was gewußt?”, fragte Ifirnia etwas hektisch. “Ich weiß gar nichts.” Sie schaute wachsam in den Nebel. Sprach da wirklich der Ritter? Kamen noch mehr Halluzinationen? Sie schluckte. “Wir sollten …”, sie räusperte sich, “der Kapitän …” “Ja, wir sollten!” stimmte Baldos mit Blick in richtung Steuerrad zu. “Reden können wir später.” Und Baldos war sich sicher, dass sie viel zu Bereden hatten.

Vorsichtig lief Lechdan durch den Nebel über Deck bis er einen Mast erreicht hatte. Hier hing eine Blendlaterne, die Quelle des Lichts. Erst jetzt bemerkte er, dass er vollkommen allein war. Doch bevor er sich Sorgen machen konnte, sah er einen Schatten rechterhand und fast war ihm, dass jemand seinen Namen flüsterte. "Wer ist da?", fragte er unverblümt Richtung Schatten. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf wollte ihm irgendwas sagen, doch konnte sie nicht zu ihm vordringen. “Lechdan … hier drüben.”, sagte die männliche Stimme, die im vage vertraut vorkam.

Der Baronet ging in die Richtung aus der die Stimme kam. Immer wieder flackern das Licht auf und wies dem jungen Mann die Richtung. Er nahm wieder eine Stufe und sah, dass er auf einer Planke stand. der Nebel war hier etwas lichter und er erkannte einen älteren Mann ungefähr 3 Schritt voraus. Würdevoll blickte der Ritter zu ihm. Dann erst war sich Lechdan sicher: es war Traviadan von Schwertleihe, sein Vater! Verwirrt und verunsichert blieb der Knappe stehen. "Va… Vater?! Wie? Was?" Dieser nickte und hielt ihm seine rechte Hand entgegen. “Komm zu mir, Lechdan. Mein Erbe.” "Aber… Ihr… Ihr seid doch… tot. Wie könnt Ihr dann hier sein, Vater?" Wieder nickte der alte Ritter. “Ich bin hier, um dir die Zukunft Schwertleihe zu offenbaren.” Nun lockte er mit seinem Zeigefinger seine noch ausgestreckte Hand.

Der Baronet legte den Kopf leicht schräg. Die Zukunft Schwertleihes zu kennen wäre schon ein Vorteil. Außerdem vermisste er seinen Vater, seit er ein Page war. Langsam kam er näher. Die Planke schwankte mehr, als das Schiff selbst, und er musste auf den Füßen rutschen, um nicht unnötig das Gleichgewicht zu verlieren. "Hat der Herr Boron Euch geschickt?" Bewunderung klang in seiner Frage mit. Sein Vater hatte lange Zeit die Geschicke der Nordmarken beeinflusst. Vielleicht hatte er damit sogar einen besonderen Platz bei den Bewohnern Alverans erarbeitet. Nur wenige Finger war der Knappe von seinem Vater entfernt, als dessen Gesichtszüge skelettierten, die Augen versanken und ein purpurnes Glühen brannte in den Höhlen. Während der Baron sich im Nebel auflöste hörte Lechdan ein Krachen und die Planke unter seinen Füßen brach in die Tiefe.

"AAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHH!" Lechdan versuchte sich während des Fallens Richtung Schiff zu drehen, um sich irgendwo festhalten zu können, doch war die Zeit dafür zu kurz. Doch dann wurde sein Fall gebremst, denn etwas hatte ihn am Handgelenk gepackt. Über ihm lag Ulinai bauchwärts auf der restlichen Plancke und hielt Lechdan fest. “Wenn du gedacht hättest, uns so zu verlassen, Brüderchen, dann hast du dich arg getäuscht!”, presste sie die Worte unter Anstrengung hervor. “Wer spricht denn hier von verlassen”, sagte er mit schiefem Lächeln, “ich wollte lediglich ein Bad nehmen.” Trotzdem suchte er nach einer Möglichkeit, sich wieder an Bord zu bringen. “Lechdan, höre mir jetzt gut zu. Damit du nicht doch baden gehst zu der recht ungünstigen Zeit, musst du jetzt mit mir zusammenarbeiten. Ich zähle bis drei. Dann ziehe ich, doch du musst Schwung holen und versuche mit deiner anderen Hand, die restliche Plancke zu greifen.” Ulinai holte tief Luft. “Eins. Zwei …Drei!” Dann zog sie so kräftig sie konnte.

Der Knappe holte tief Luft, spannte seine Muskeln an und holte mit einer Pendelbewegung Schwung, um seiner Halbschwester zu helfen. Als er am höchsten Punkt angekommen war, versuchte er nach der Planke zu greifen. .. und erwischte sie. Mit einem kräftigen Ruck hievte Ulinai auf die Planke und zurück an Deck. Fest drückte sie den Jungen an sich. So herzlich, dass es Lechdan verwunderte, hatte er doch nie etwas Gutes über seine Halbschwester gehört. “Ich danke Dir, Schwester, und werde es nicht vergessen”, stammelte er mit brechender Stimme. Er hätte jetzt gerne seinen Gefühlen freien Lauf gelassen, doch als zukünftiges Familienoberhaupt konnte er sich das jetzt nicht erlauben. Noch hielte sie ihn fest und redete noch immer keuchend. “Hör mir zu. Ich habe den Dickkopf unseres Vaters geerbt, doch ich hoffe, du nur sein aussehen. Du wirst unser Erbe in eine gute Zukunft führen, versprochen?” Dann blickte sie ihm in die Augen. “Vergesse bitte nicht deine Nichte, wenn du Baron bist. Ifirnia hat besseres verdient, als in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten.”

Sie lächelte und ließ ihn los. “Wir müssen jetzt …”, weiter kam sie nicht, denn ein Ruck ging durch das Schiff. Lechdan erkannte nun im dünnen Nebel den Sternenhimmel und sah eindeutig das Sternbild des Greifen. “Sieh doch, der Greif. Frohes Neues.” Lechdan deutete auf den Sternenhimmel. “Frohes Neues, Lechdan.”, sagte Ulinai erleichtert. “Jetzt wird alles wieder gut.”, sagte sie zu mehr zu sich selbst. "Ja, jetzt wird alles wieder gut", wiederholte er und drückte seine Halbschwester erneut. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.

Ein weiteres Ächzen unterbrach die unangenehme Stille zwischen Baldos und Ifirnia. Nicht weit von ihnen sahen sie einen Schatten, der langsam menschliche Gestalt annahm: anscheinend wurde der Nebel langsam dünner. Baldos drehte sich um und führte instinktiv die Hand zu seinem Schwertknauf. “Wer ist da? Gebt Euch zu erkennen!” Eine hölzerne Treppe zum Steuermann war nun offensichtlich … so wie der Kapitän, der sich dort an das Rad gebunden hatte … oder wurde. Auch Ifirnia griff nach ihrem Entermesser; die wirbelnden Gedanken an das, was ihre Mutter scheinbar gesagt hatte, waren verflogen. Wachsam und bange zugleich, versuchte sie zu erkennen, was mit dem Kapitän los war. Wie es schien versuchte er seinen Kopf wieder zu erheben und murmelte etwas vor sich hin. Baldos sputete sich zu dem Mann und begann, ihn vom Steuerrad loszubinden. „Geht es Euch gut? Was ist Euch widerfahren, guter Man?“ Baldos erkannte nun den Kapitän Nollenborgen. Dieser unterbrach sein Gebet. Er brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass jemand mit ihm sprach. “Bei Efferd, irgendjemand muss doch die Kaiserin steuern. Ist es vorbei?”, fragte er. Der Mann war sichtlich erschöpft. Ifirnia war dem Ritter auf den Fersen gefolgt und spähte und lauschte in den Nebel. ‘Nach hinten sichern’, ging ihr eine der Lektionen durch den Kopf, und einen Wimpernschlag lang hatte sie das Gefühl, bei einer der Akademieübungen zu sein, womöglich mit magischem Nebel und Illusionen. Dann war sie wieder in der Realität - oder was immer das war, worin sie sich gerade befanden, vielleicht auch nur ein weiterer Alptraum. Intuitiv blickte Ifirnia nach oben und sah, dass auch hier der Nebel sich löste. Ihr Blick wurde von einem prächtigen Sternenhimmel begrüßt und ihr fiel sofort das Sternbild des Greifen auf. Das konnte doch nur bedeuten … "Praios", flüsterte Ifirnia, "wir haben Praios!" Den Blick zum erlösenden Sternbild gerichtet, sprach sie, immer noch leise, ein kurzes Dankgebet. Dann half sie Baldos, sich um den Kapitän zu kümmern. Auch Baldos blickte kurz nach oben und dankte den Zwölfen, dass sie die schlimmen Tage endlich überstanden hatten. Aufmunternd lächelte Baldos zu Ifirnia. “Jetzt wird alles gut”, sagte er. Doch zu wem? Zu dem Kapitän? Zu seiner Tochter? Oder zu sich selbst? Der Ritter schaute sich um, suchte jemanden von der Schiffsbesatzung. “Ist hier jemand, der das Steuer übernehmen kann?” rief er in den Nachthimmel hinein. Dann wandte er sich Ifirnia zu. Wir sollten den Mann in seine Kajüte bringen. Er muss sich dringend ausruhen.” Ifirnia nickte. Sie half Baldos, den Kapitän vom Steuerrad zu binden und ihn zu stützen.

Unter Deck der ´Kaiserin´

Das Gebet war kurz und es dauerte nicht lange, bis Stevyana aufstand und in den hinteren Bereich des Raumes ging. Dort lagen einige Verletzte. Mokko setzte sich näher zu Wando und Ugdalf, während Rizella versuchte ein wenig die Augen zu schließen. “Euer Wohlgeboren, wisst ihr, was mit meiner Schwester geschehen ist? Hat sie es … aus dem Sturm geschafft?", fragte er ängstlich. 'Schwester? Hatte der Junge eine Schwester gehabt?' Wando erinnerte er sich nicht. 'Lag das an dem Nebel, der über seinem Gedächtnis zu hängen schien? Oder war sie nur eine Bedienstete, die er kaum registriert hatte? Vielleicht war das ja diese Mihi oder so ähnlich, nach der der Diener ständig fragte?' Wando tat unbeteiligt, während er auf des Gouverneurs Antwort harrte.

Der Angesprochene schaute eine Weile betreten zu Boden, dann mit kummervoller Miene zu Mokko, bevor er langsam den Kopf schüttelte und mit leicht belegter Stimme sprach: “Leider nein, mein Junge. Sie, sie hat es nicht geschafft und weilt nun wohl in einem der zwölfgöttlichen Paradiese.” Nach einer kurzen Pause fügte Ugdalf noch hinzu: “Ich spendete Dir gerne etwas Trost, Mokko, allein, ich weiß nicht, wie ich dies nach einer solchen Nachricht anstellte, ohne dass es leer wirkte.” ‘Wie tröstlich es dem Jungen wohl vorkommen mochte, dass die Seele seiner Schwester in ein zwölfgöttliches Paradies eingegangen war? Wenn er noch dem Glauben - oder eher Aberglauben - seines Volkes anhing, war für ihn ihr Nipakau hoffentlich in die Geisterwelt und ihr Tapam an einen neuen Träger übergegangen. Aber wer wusste, wie weit die beiden bereits missioniert waren? Sei es drum…’ Viel brennender interessierte Wando etwas anderes: "Ist bekannt, wie genau sie gestorben ist, oder blieb sie lediglich bis zur Abreise verschwunden?" “Zwei Fischer berichteten, ihren übel zugerichteten Körper während der Suche nach Überlebenden gefunden und später dann gemeinsam mit den übrigen Toten begraben zu haben.”, erklärte Ugdalf mit gesenkter Stimme. “Der Sturm? Oder diese verrückten Eingeborenen?” fragte Wando leise weiter.

Mokko zuckte sichtlich zusammen, nachdem der Gouverneur eine Beschreibung abgab. Seine Gesichtszüge wurden kalt, doch er zeigte keinerlei Trauer. “Oh…Ich glaube, ich möchte jetzt allein sein.” Der Junge war im Schock und entfernte sich in eine dunkle Ecke. Der Gouverneur nickte dem Jungen kurz zu und antwortete: “Natürlich. Es gibt nun ohnehin nichts weiter dazu zu sagen. Du weißt, wo Du mich findest, Mokko, falls Du reden möchtest.” Wando wartete, bis Mokko außer Flüsterhörweite war. Dann fragte er nochmals leise nach: "An was ist sie denn nun gestorben?" “Soweit ich weiß, fiel sie wohl diesen Irren zum Opfer.”, antwortete Ugdalf knapp. "Hoffentlich hat die der Sturm auch erwischt." bekundete Wando. "Wisst Ihr inzwischen, wer die Kerle waren?"

“Nein, oder zumindest nicht genau. Die Versorgung der Verletzten, der Wiederaufbau der Häuser und Hütten sowie das Begraben der Toten haben Priorität. Aber wenn ich wieder zurück bin - hoffentlich mit entsprechender Unterstützung durch das Reich - werde ich der Sache gründlich auf den Grund gehen, dessen seid gewiss.” Plötzlich ging ein Ruck durch das Schiff und die gewohnten seeischen Bewegungen setzten wieder ein. Der blaue Schein der Gwen-Petryl-Steine nahm deutlich an Kraft an. “Bei den Zwölfen, bei Efferd und Praios, es ist vorbei!”, sagte Stevyana mit neuem Elan. Ugdalf fühlte sich unsäglich müde. "Den Göttern sein Dank!" bekundete auch Wando erleichtert. "So schnell wie diesmal gingen die verfluchten Tage noch nie vorbei... wenigstens diesen einen Vorteil hatte es also, sie ohnmächtig zu verbringen" Nun sah er den Gouverneur an. "Danke, Euer wohlgeborene Exzellenz! Danke, dass Ihr mir das Leben gerettet habt!" “Keine Ursache, das war doch schließlich selbstverständlich.”, entgegnete Ugdalf mit einem unterdrückten Gähnen lapidar. “Doch nun entschuldigt mich bitte, die Ereignisse der jüngsten Zeit sind auch an mir nicht spurlos vorübergegangen und ich muss mir nun wohl ein wenig Ruhe gönnen.”

In der Kapitänskajüte der ´Kaiserin´

Als kurze Zeit später eine Frau aus der Schiffsmannschaft kam und das Steuer übernahm, brachte Baldos den Kapitän mit Ifirnias Hilfe in dessen Kajüte. „Legt Euch etwas hin und ruht Euch aus.“ Baldos schaute sich in der Kajüte um und entdeckte in einem Schrank eine volle Flasche. Der Ritter entkorkte sie, roch daran und nahm dann einen kräftigen Schluck. „Aah, das tut gut! Willst du auch?“ fragte er Ifirnia und hielt ihr die Flasche hin. Die junge Frau konnte den Schnappsgeruch in Baldos‘ Atem riechen. Unwillkürlich wich sie ein Stück zurück und hob abwehrend die Hände. "Danke, Herr von Paggenfeld", sagte sie höflich, "lieber nicht." Sie hatte ein unklares Gefühl, daß ihr solche Getränke nicht gut taten. Wahrscheinlich Erinnerung an irgend eine Feier an der Akademie. Der Ritter zuckte mit den Schultern und nahm selbst noch einen Schluck, bevor er einen Becher mit dem Schnapps füllte und dem Kapitän reichte. „Trinkt, dann werdet ihr schneller schlafen.“

Der Mann nahm den Becher zwar entgegen und trank etwas davon, aber die Erschöpfung übermannte den Kapitän, kaum dass er sich in sein Bett gelegt hatte. Baldos schaute noch einmal zu ihm und deckte ihn zu. Dann fragte er Ifirnia noch einmal: „Du willst wirklich keinen Schluck?“ Ifirnia schüttelte den Kopf. “Danke”, murmelte sie nochmals. Ihr Blick wich dem des Ritters aus, durch die Kajüte, dann doch wieder zurück zum Ritter. Die Worte ihrer Mutter gingen ihr durch den Kopf, sie wischte sie unwillig weg. Sie war erschöpft, das war alles, sagte sie sich. Baldos wollte selbst noch einmal einen Schluck nehmen, überlegte es sich dann jedoch anders und verkorkte die Flasche wieder, bevor er sie zurückstellte. “Dann ist es also wahr, was ich vermutet habe.” Ohne eine Antwort abzuwarten, redete er weiter. „Du schaust aus wie deine Mutter damals. Genauso wunderhübsch. Hätte ich es doch nur früher gewusst!“

Ifirnia schaute den Ritter groß an, während ihr langsam bewußt wurde, was er da gesagt hatte. "Das ...", sie räusperte sich, "das vorhin ... das war kein Hirngespinst?! Aber ... Ich dachte ..." Sie schwankte ein wenig, vielleicht auch von einer sachten Bewegung des Schiffes, fand Halt an einer Stuhllehne und setzte sich. "Ich dachte, mein Vater ist tot?!", flüsterte sie. Immer noch starrte sie Baldos an, als suche oder erwarte sie etwas. Sie fühlte sich wie nach einem Blitz, wenn man wartet, daß der Donner folgt, ohne zu wissen, was dieser Donner sein könnte. Doch noch die Auflösung einer sonderbaren Illusion? 'Haha, alles nur ein Witz'? Die Verwandlung des Paggenfelders in ... was? „Ich? Tot?“ Der Ritter lachte laut auf. „Das hätten manche vielleicht gerne, aber so schnell werden sie mich nicht los.“ Obwohl es dank Reos dummer Idee, zu der er sich hatte hinreißen lassen, beinahe soweit gewesen war, dachte er. Baldos Gesicht wurde wieder ernst. „Deine Mutter hat dir also auch niemals erzählt, wer dein Vater ist? Ich wusste nicht einmal, dass es dich gibt.“

Ifirnia schüttelte den Kopf. "Nie", flüsterte sie. "Ein Ritter ..." Sie brach ab, hub erneut an: "Mehr hat sie nicht gesagt. Ich dachte, er sei ..., also ..., gefallen oder so ... Das hat sie nicht gesagt, das habe ich mir gedacht ..." Offenbar fiel es ihr noch schwer, Baldos direkt als Vater anzusprechen. Oder sie wußte gar nicht, wie sie das machen sollte. Baldos lachte kurz auf. „Na, wenigstens hat sie dir gesagt, dass es überhaupt einen Vater gibt“, bemerkte er mit sarkastischem Ton. „Das hätte mich schon mal interessiert, dass es dich gibt.“ Er dachte kurz nach. „Zumindest am Anfang der Reise hätte sie uns einweihen sollen, nicht, dass…“ Der Ritter dankte Rahja, dass er zu keiner Zeit…, nein, allein dieser Gedanke widerte ihn jetzt schon an. Es ist ja nichts geschehen, dachte er. Aber es hätte doch… Baldos ging zum Schrank zurück und nahm die Flasche wieder an sich, um sich an ihrem Hals festzuhalten. "Sie hätte was sagen sollen!", Ifirnias Rat- und Hilflosigkeit wich offenbar Wut. "Wir sind die ganze Zeit zusammen gereist!" Und sie selbst hatte diesen mal witzelnden, mal in düsteres Sinnen versinkenden Ritter ..., nun ja: interessant gefunden. Erschrocken schob sie weitere Gedanken beiseite. "Warum hat sie nie was gesagt?" Das kam wieder leiser, fast ein wenig traurig.

Früher, vor Jahren, hatte Ifirnia sich manchmal vorgestellt, ihre Mutter würde ihr sagen: 'Dein Vater lebt und kommt heim.', oder sie in der Akademie besuchte, begleitet von einem gerüsteten Ritter auf prächtigem Roß: 'Endlich ist er wieder da; das ist dein Vater!' Aber das war lange her, und sie hatte sich daran gewöhnt, sich ihren Vater als 'ruhmreich gefallen' und jedenfalls tot vorzustellen. So selten war das ja nicht in diesen Zeiten. „Offenbar wollte sie nicht, dass ich von dir weiß“, sprach er das Offensichtliche aus. „Scheinbar hat sie sich nach all den Jahren plötzlich eines Besseren besonnen.“ Hatte Ulinai vielleicht bemerkt, dass Baldos währen der Reise ab und an auf eine ihr bekannte Weise auf Ifirnia geblickt hatte? Wollte sie ihre Tochter schützen? Nun, jetzt es hätte durchaus zu spät sein können, wenn Baldos nicht tief in seinem Innersten eine Ahnung gehabt hätte. „Wir sollten sie zur Rede stellen. Was hat sie sich dabei gedacht? Sie hätte es mir damals schon sagen müssen.“ Ifirnia nickte. "Dann hätte ich einen Vater gehabt ...", sagte sie leise, etwas traurig. „Ja“, antwortete er. Was hätte er auch anderes sagen sollen?

"Und jetzt?" Fragend schaute sie Baldos an, in der leisen Hoffnung, ihr neu entdeckter Vater wisse, was in so einer Situation zu tun sei. “Sollen wir zu ihr gehen?” Eine Weile ließ Baldos die Stille wirken, denn er wusste auch nicht, was das Richtige war. Er hatte das Gefühl, würde er jetzt zu Ulinai gehen, würde es im Streit enden. Er wollte viel lieber etwas Zeit hier allein mit Ifirnia, seiner Tochter, verbringen, wenn man mal von dem schnarchenden Kapitän absah. Deshalb bemerkte er, immer noch die Flasche haltend: „Du hast vermutlich viele Fragen.“ Ifirnia überlegte. Eigentlich hatte sie eine Menge Fragen. Die meisten fingen mit ‘Warum’ an und richteten sich entweder an ihre Mutter oder niemand Bestimmtes. “Warum habt ihr nie …”, sie unterbrach sich, schüttelte den Kopf. Sie kannte ihre Mutter, leidlich zumindest; damit konnte sie sich diese Frage selber beantworten. “Wo habt Ihr … hast du …”ganz offensichtlich war sie sich nicht sicher, wie sie den Ritter, also ihren Vater, nun ansprechen sollte, “gelebt?”, beendete sie die Frage etwas uninspiriert. “Und wieso muß das alles hier passieren?” Sie zögerte. “Und was wird jetzt?” Baldos atmete tief durch. “Sag einfach ‘du’ zu mir. Ich glaube, auf Formalitäten können, nein, sollten wir verzichten.” Nun öffnete er die Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Er setzte die Flasche ab, ohne sie zu schließen oder aus der Hand zu geben. “Ich lebte in Paggenau, das liegt im Südwesten von Gratenfels. Ich habe in den letzten Jahren das Land meiner Eltern nicht oft verlassen. Außer zu Besuchen in Schweinsfold, aber das tut ja nichts zur Sache. Ich glaube, ich muss dir einiges erklären.”

Ifirnia sah ihren Vater aufmerksam und erwartungsvoll an. „Weißt du, Ifirnia, deine Mutter war noch sehr jung als wir uns kennenlernten. Sie war kaum älter als du jetzt bist. Wir hatten eine wirklich schöne Zeit miteinander. Doch dann kamen Stimmen auf, wir sollten den Bund miteinander schließen. Das war aber nicht das, was i… was wir wollten.“ Baldos nahm noch einen Schluck aus der Flasche. „Und dann habe ich etwas getan, was, nunja, was Ulinai, also deiner Mutter, missfiel.“ “Hm.” Ifirnia biss sich auf die Lippen. Bisher war sie davon ausgegangen, dass ihre Mutter diejenige gewesen war, die sich nie hatte verheiraten wollen. Ganz sicher war sie sich jetzt nicht mehr. Und dieses begonnene Geständnis … “Was?”, fragte sie. „Ich…“, Baldos stockte einen Moment und sah seiner Tochter in die Augen. „Ich habe ihr gesagt, dass die Rufe nach einem Traviabund ja wohl lächerlich seien. Dafür gäbe es schließlich keinen Grund. Und als Ritter ohne eigenen Grund hätte ich ihr doch gar nichts zu bieten. So, wie es war zwischen uns, sei es doch gut gewesen, warum sollten wir das ändern? Und irgendwann träfe sie auf einen Mann, der besser für sie sorgen könnte. Am Tag darauf war sie weg.“ Ifirnia hatte die Lippen zusammengepreßt, während ihr Vater sprach, und unwillkürlich die Arme vor der Brust verschränkt. "Mama kann für sich selber sorgen!", stieß sie jetzt empört hervor und erinnerte Baldos mit ihrem zornigen Ausdruck erneut an seine einstige Geliebte, ihre Mutter. "Und ein Traviabund ist nicht lächerlich!"

Sie hatte sich daran gewöhnt, ihre Mutter als diejenige zu sehen, die von Traviabund und größeren Familienbanden nicht viel hielt. Jetzt kamen ihr Zweifel. Baldos nahm diesen Ausbruch gelassen hin. Er hatte nichts anderes von einer jungen, noch nicht ganz erwachsenen Frau erwartet – insbesondere nicht von einer Frau, die Ulinai so sehr ähnelte. Baldos schmunzelte. Ulinais Ausbrüche damals waren stets eine Herausforderung für ihn gewesen, der er sich gerne gestellt hatte. Sie zu Bändigen war keine leichte Aufgabe gewesen. “Tja, ich denke, deine Mutter fand den Traviabund ebenso abwegig wie ich, denn sonst hätte sie ja nicht fortgehen müssen. Sie hätte mir ja sagen können, dass es einen Grund für einen solchen Bund gab. Und scheinbar wollte sie auch mit keinem anderen einen Bund. Aber in einem hast du Recht: Deine Mutter kann gut für sich alleine sorgen, und scheinbar nicht nur für sich. Immerhin hat sie eine wundervolle Tochter großgezogen.” "Hm", kommentierte Ifirnia die Schmeichelei. "Wahrscheinlich wollte sie Euch ... dich ... nicht unter Druck setzen", sagte sie, schon deutlich ruhiger. "Aber, ja, sie ist gern ungebunden ..." Einen Moment lang ging ihr Blick ins Leere. Sie hatte wundervolle Pflegeeltern gehabt (und ein paar weniger wundervolle), war sehr jung in der Akademie aufgenommen worden, dazwischen hatte ihre Mutter sie immer wieder zu sich geholt, wenn sie gerade keine gefährlichen Einsätze hatte. Wenn Ifirnia ehrlich war, hatte sie diese Zeiten nicht nur genossen, so gut sie mit der Mutter zurechtkam. Nach zwei, drei Wochen hatte sie sich meistens in die Akademie zurückgesehnt. So wie jetzt … "Ich kam recht früh an die Akademie", fügte sie hinzu.

‘An die Akademie!’, dachte Baldos. Dies war wohl die Folge davon, dass er und Ulinai keinen Traviabund eingegangen waren, dass Ulinai sich von ihm getrennt hatte, als sie ihn vermutlich am meisten gebraucht hätte. Weil Ulinai zu stolz war, ihm zu sagen, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Weil er nicht erkannt hatte, was mit Ulinai los war und warum sie ihn verlassen hatte. Weil er zu stolz war, in verletzter Eitelkeit, sich um Ulinai zu bemühen, ihr hinterher zu gehen. Es war ja so viel einfacher, sie zu vergessen und Trost bei einer anderen zu suchen. Und davon gab es genügend. Doch ein wirklicher Trost waren sie alle nicht. Also, die wenigsten. Hätte er Ulinai damals nicht gehen lassen, er hätte Ifirnia nicht auf eine Kriegerakademie geschickt. Sie wäre jetzt Knappin bei… ja bei wem? Wem hätte er sie anvertraut. Vielleicht Reo oder Leomar? Dann wäre sie damals vor eineinhalb Jahren auch in großer Gefahr gewesen. Und was wäre dann jetzt? Vielleicht war es gut so, wie es jetzt war. Aber vielleicht hätte sie es besser gehabt. “Wie machst du dich auf der Akademie? Bist du gern dort?” Ifirnia nickte und lächelte unwillkürlich beim Gedanken an die Akademie. "Sehr gern!", erwiderte sie. Ihr Lächeln verflog. "Ich hoffe, Mama läßt mich meine Ausbildung dort weitermachen, wenn wir wieder zurück sind. Auch wenn ich nicht sooo gut im Kämpfen bin. Am meisten liegt mir der Säbel. Und beim Reiten bin ich schon öfters gelobt worden. Leuenantin Leuinsfold sagte mal, ich fahre den Streitwagen wie eine Ausflugskutsche, aber mit den Pferden käme ich gut zurande. Beim Formationsreiten war ich schon ein paar Mal Riegenführerin mit Odilon. Odilon ist mein Pferd ... also, an der Akademie ..." Sie schluckte. "Ich hoffe, ich sehe ihn wieder", setzte sie leise hinzu. “Das wirst du, ganz sicher!” Baldos lächelte sie an. “Ist es dein eigenes Pferd, dieser Odilon? Erzähl mir etwas von ihm!”

Ifirnias Lächeln kehrte zurück. Sie schüttelte sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht und begann zu erzählen: "Im Grunde ist er das: mein Pferd. Jeder Kadett bekommt gleich im ersten Jahr ein Pferd zugewiesen, für das er sorgen muß. Meistens ein ganz junges, das man auch ausbildet. Odilon war schon ein bisschen älter, aber sehr scheu. Der vorherige Schüler hat ihn, glaube ich, schlecht behandelt. Eigentlich war das viel schwieriger als wenn ich ein ganz junges Pferd bekommen hätte." Stolz schwang in Ifirnias Stimme mit. "Aber wir sind ziemlich schnell gut miteinander klargekommen. Er ist ein Fuchs mit schmaler Blesse, aus einer nordgratenfelser Zucht. Ziemlich groß, nicht grad ein Tralloper, aber Stockmaß 86. Und knochig! Merkt man vor allem, wenn man drauf sitzt. Der Trab ist entsetzlich, wenn er noch nicht warm ist! Ich versuch ihn immer erst ein paar Runden zu führen, bevor ich aufsitze. Wenn ich in Übung bin, brauch ich nicht mal mehr die Steigbügel lang zu schnallen. Dann komm ich ohne Steigbügel hoch! Beim Hufauskratzen versucht er mich immer in den Hintern zu zwicken. Ist aber bloß Spiel, wer schneller ist, er beißt nicht zu oder so. Jedenfalls nicht bei mir!" Ifirnia lachte kurz auf. Dann wurde sie wieder ernster. "Also, ich hoffe, daß ich Odilon mitnehmen kann, wenn ich von der Akademie abgehe. Ich meine, daß ich meinen Abschluß machen kann. Dann gehört einem das Pferd, das man ausgebildet hat. Oder daß Mama Odilon der Akademie wenigstens abkauft, wenn sie mich vorher von der Akademie nimmt ..."

Sie verstummte, etwas verlegen. So viel hatte sie gar nicht plaudern wollen, erst recht nicht von ihren Sorgen, nicht mehr in die Kriegerschule zurückzukehren. Baldos freute sich über die Begeisterung, mit der Ifirnia ihm von ihrer Leidenschaft erzählte. Sanft lächelte er sie an. “Ich bin sicher, wir bekommen das geregelt, dass du Odilon behalten kannst, falls du die Akademie vorzeitig verlassen solltest.” Falls Ulinai das Pferd nicht würde bezahlen können, würde er sich etwas einfallen lassen. allerdings hatte ein solch besonderes Pferd durchaus seinen Preis. Früher, in seinem alten Leben, wäre es kein Problem gewesen, das Geld dafür aufzutreiben. Doch was würde sein, wenn er zurück in der Heimat wäre? Würde er überhaupt seine Freiheit zurück erhalten? Das war nicht gewiss. Und welche finanziellen Mittel ihm dann zur Verfügung stehen würden, erst recht. Doch irgendwie würde er es schaffen, das nötige Vermögen aufzubringen. “Aber warum sollte deine Mutter dich von der Akademie nehmen?” "Naja ...", erwiderte Ifirnia nachdenklich, "in den letzten Jahren hat sie mich öfter mal zu Reisen mitgenommen. Noch nie so langen wie jetzt, aber immer sagt sie sowas wie: das würde mir viel besser gefallen als die Akademie, und all sowas. Und anfangs stimmt das ja auch! Aber dann vermisse ich irgendwann meine Kameradinnen und Kameraden ­ und Odilon natürlich! Und wenn ich zurückkomme, muß ich immer viel Stoff nachholen. Mama sagt zwar, da draußen, das ist das richtige Leben, nicht die Akademie! Und ein bißchen stimmt das ja auch. Aber ... Ach, ich weiß nicht!" Sie zuckte die Schultern. "Und Ihr, ­ ich meine du, was hast du für ein Pferd? Oder sogar mehrere?"

“Ich?” Baldos lachte kurz auf. “Ja, ich hatte ein Pferd. Zumindest bevor…, nun bevor ich die Nordmarken verlassen musste. Thurwin ist ein Elenviner Falbe. Doch ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, oder wer sich um ihn kümmert, seit ich…” Er sprach den Satz nicht zu Ende. “Ich vermute und hoffe, dass Thurwin im Stall meines Neffen untergekommen ist.” Ifirnia runzelte die Stirn. “Wieso weißt du das nicht? Hast du Thurwin nicht selber da untergebracht?” “Leider ließen die Umstände es nicht zu, dass ich mich um Thurwin persönlich kümmern konnte”, druckste der ehemalige Ritter herum. “Was weißt du um die Umstände meiner Reise?” "Du sollst Steuergelder aus der Kolonie nach Elenvina bringen", erwiderte Ifirnia prompt. "Aber Mama sagte auch was von einer Dummheit, die du gemacht hättest, und daß das so eine Art Strafarbeit wäre." Mit schräggelegtem Kopf sah sie ihn an, fast ein wenig herausfordernd.

Baldos lachte kurz auf und begann, seinen Bart zu zwirbeln. “Eine Dummheit, ja, so kann man es wohl nennen. Doch klingt es wohl zu harmlos. Wie ein dummer Jungenstreich. Ich habe mich verleiten lassen, einem Freund zu helfen. Nur war die Angelegenheit, zu der ich mich habe hinreißen lassen, nichts weniger als der Hochverrat an der Baronin von Schweinsfold, ein stümperhafter Umsturzversuch, motiviert durch die dämonischen Einflüsterungen eines Paktierers, der, wie sich später herausstellte, meinen Freund verführt hat. Doch trotz aller Bedenken, die ich von Anfang an hatte, bin ich seinem Plan gefolgt, aus falscher Loyalität. Nun, unser Unterfangen ging von vorn bis hinten schief und wir wurden festgesetzt. Diese Reise hier ist Teil meiner Strafe und ihr Erfolg meine einzige Hoffnung auf Wiedererlangung meiner Reputation.” Beim Wort 'Hochverrat' riss Ifirnia die Augen auf, wenige Worte später saß sie mit offenem Mund da, zurückgelehnt wie nach einem Stoß vor die Brust. 'Hochverrat', 'Umsturz', 'Dämonen', 'Paktierer' wirbelte es in ihrem Kopf. Und der Mann, der offenbar ihr Vater war, mitten drin. ­ Nicht, daß ihre Freunde oder sie selbst immer rundum folgsam, praiostreu oder ehrenhaft gehandelt hätten, durchaus nicht, und manche ihrer Taten bereute sie nicht einmal wirklich. Aber das ... ­ das! ­ war eine andere Ebene. Eine ganz andere.

Eine Weile schwiegen sich Vater und Tochter an. Baldos sah das schockierte Gesicht seiner Tochter und er wurde immer verzweifelter. Die Rumflasche gewann im gleichen Maße an Verlockung, bis er sie wieder öffnete und einen weiteren kräftigen Schluck nahm. “Es war ein riesen Fehler, den ich zutiefst bereue, den ich schon bereut hatte, als der erste Schritt gemacht war. Doch ich war blauäugig, und eine falsche Verbundenheit, ein Gefühl der Verpflichtung aus Loyalität zu meinem alten Freund Reo hatte mir den Mut geraubt, mich gegen ihn und Leomar zustellen.” Langsam beruhigte sich das Wirbeln in Ifirnias Kopf. Bilder der gemeinsamen Reise tauchten auf. Scherzereien mit Baldos. Wie er ihr aufgeholfen hatte, als sie an Bord gestolpert und gestürzt war. Der freundschaftliche Umgang ihrer Mutter mit ihm, obwohl diese ganz sicher mehr wußte als nur von einer 'Dummheit'. "Ach du meine Güte", flüsterte sie. Als Baldos darauf nichts weiter sagte, sondern nur verzweifelt auf die Rumflasche starrte, fragte sie weiter nach: "Wieso? Wie kamt ihr dazu?"

“Enttäuschung. Bei Reo war es Enttäuschung. Und bei Leomar auch. Reo wurde von seiner Mutter übergangen. Er hätte Baron werden sollen, hätte Baron werden müssen. Doch Selinde, also sein Mutter, hat ihn von der Thronfolge ausgeschlossen und verfügt, dass ihre Enkelin, also Reos Tochter Selinde ihr auf den Thron folgte. Dabei ist sie dafür einfach nicht einmal reif genug. Reo wäre eindeutig der fähigere Baron gewesen.” Aufmerksam war Ifirnia den Worten ihres Vaters gefolgt. Eigentlich klang das gar nicht so arg falsch. "Das ist blöd", sagte sie langsam. Ihre gerunzelte Stirn zeigte deutlich, wie sehr sie darüber nachdachte. Baronsangelegenheiten waren Grafensache. Schweinsfold ... Das war Gratenfels ... Graf Custodias-Greifax. Nein, Landgraf. Über den sich Gratenfelser schon abfällig geäußert hatten, aber nie etwas Genaues. "Und Beschwerde beim Grafen?", fragte sie bedächtig. Baldos lachte auf. “Das hatte Reo natürlich schon längst vorher versucht. Erfolglos. Eigentlich wollten wir mit unserer Aktion nur zeigen, wie unfähig Selinde ist, dass sie es nicht einmal schafft, auf ihrer eigenen Hochzeit für Ordnung zu sorgen. Reo wollte lediglich die Trauringe stehlen, während der traditionellen Prozession, auf der die Ringe neu geschmiedet werden. Dies hätte einen symbolischen Charakter gehabt, und wir waren sicher, dass sich uns dann auch all die anderen Schweinsfolder Adelshäuser angeschlossen hätten, die Selinde als ebenso fehl auf den Thron sehen, wie wir. Und gemeinsam hätten wir dann noch einmal beim Landgrafen unser Ansinnen vortragen können. Dann mit mehr Gewicht. So war der Plan, wie ich ihn zu verfolgen bereit war. Doch dann kam alles anders, vor allem, weil Reo auch zu mir nicht ehrlich war.” Ifirnia runzelte noch mehr die Stirn. "Was hat er stattdessen getan?", fragte sie nach.

„‚Stattdessen‘ ist das falsche Wort, wir haben getan, was Reo geplant hat. Oder es zumindest versucht. Doch hatte sich Reo von eben jenem Paktierer aufstacheln lassen, wie ich erst zu spät erfahren habe. Und der hat unsere kleine Revolte genutzt, um sich selbst die Ringe unter den Nagel zu reißen und uns allen auch noch einen Dämon auf den Hals zusetzen. Dabei wurde leider auch noch eine Knappin“ - in etwa in Ifirnias Alter, schätzte Baldos - „getötet, von dem Dämon." "Schei...!", entfuhr es Ifirnia leise, dann schlug sie die Hand vor den Mund. Baldos nickte knapp. "Das war nie in unserem Plan, dass jemand zu Schaden kommen sollte. Jedenfalls nicht in meinem Plan.“ Was Reos Pläne anging, oder Leomars, da war sich Baldos nicht mehr so sicher. Dämonen, die wirklich auf Dere auftauchten, Menschen verführten, töteten! Namenlose Tage mit Sturm, ebenfalls Toten ­ Ifirnia dachte an Nihi und verschwundene Dorfleute ­ und sonderbaren Erinnerungslücken! Das war etwas anderes als die mahnenden Erzählungen in den Praiostagspredigten oder die entsetzlichen, aber weit entfernten und fast schon wie Sagen klingenden Berichte aus Mendena oder der Rabenmark. "Oje", flüsterte sie und etwas lauter: "Und jetzt?" Baldos zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Rum. „Jetzt fahren wir erstmal nach Hause und ich bringe dem Landgrafen seine verfluchten Steuereinnahmen. Und dann hoffe ich auf Milde von ihm.“ Baldos schaute seine Tochter eindringlich an. „Und du, du bringst gefälligst deine Ausbildung zu Ende!“

Ifirnia nickte. “Das hab’ ich vor.” Sie musterte den Mann vor sich eindringlich. Irgendwann mußte sie sich ohnehin daran gewöhnen, warum nicht gleich … “Papa”, setzte sie hinzu. Baldos lächelte sie an. Er stellte die Rumflasche ab und stand auf. “Komm her, Kleines, lass dich in den Arm nehmen!” Auch Ifirnia erhob sich. Noch etwas zögerlich, dann aber herzlich umarmte sie ihren neu gewonnenen Vater. Bevor Baldos reagieren konnte, hatte sie die Rumflasche wieder in den Schrank gestellt, rückte die Stühle an ihren Platz, schaute noch einmal nach dem schnarchenden Kapitän und hakte sich bei ihrem Vater unter. "Na denn ..., Papa."