Auf zum bunten Schloss

3: Auf zum bunten Schloss:

Am nächsten Morgen waren Imma und Ira in aller Frühe aufgebrochen. Kurze Zeit, nachdem sie den Ort Rickenbach durchritten hatten, zügelte Imma ihre Stute.

„Unser Weg trennt sich jetzt. Ich muss dort entlang.“ Sie zeigte auf den Pfad, der links vom Hauptweg abknickte und in den gerade zwei Kaufmänner nebst Bedeckung mit ihrem Pferdewagen eingebogen waren. Sie hatte aushandeln können sich den beiden Händlern gegen einen geringen Obolus anschließen zu dürfen. „Du allerdings, folgst einfach nur dieser Straße. Dann erreichst du Obena in vielleicht ein oder zwei Stundengläsern. Und Ira – halte einmal auf der Brücke dort drüben an. Und präg dir das Bild ein. Es ist das letzte Friedvolle vor Obena.“

Nach einigen herzlichen Abschiedsworten, Bekundungen, sich zu schreiben und das erneuerte Angebot Immas, Ira mit allem zu helfen, wenn sie nur fragen würde, setzten sich gerade beide in Bewegung, als Imma noch etwas einfiel: „Ira!“ raunte sie der Freundin zu, als beide sich umdrehten und die Ritterin ihr Reittier rasch zu dem ihrer Freundin zurückdirigierte.

„Kommst du nun doch mit?“ Ira machte sich keine Hoffnungen, konnte die Frage aber trotzdem nicht sein lassen.

„Wenn ich es könnte, würde ich es gleich tun, das weißt du doch.“ Imma seufzte, bevor sie sorgenvoll zu der Ritterin blickte. „Hör mir bitte noch einmal genau zu! Vergiss nicht, was ich dir zu dem Baron erzählt habe: Er ist gefährlich. Mache ihn dir nicht zum Feind. Nochmal: Bleib immer höflich, misch dich nicht in seine Angelegenheiten ein, ignoriere jede Bösartigkeit und jede Provokation. Und erwähne nie, wirklich NIEMALS, dass du mit meiner Familie bekannt oder befreundet bist. NIEMALS.“

„Das wird nicht passieren. Das verspreche ich dir, große Schwester.“

„Versprich nicht, was du nicht halten kannst, kleine Schwester.“ Imma schmunzelte ob der Worte Iras vom vorherigen Tag, aber ihre Sorge blieb. Ira war ein ebenso großer Hitzkopf wie ihr Bruder Lupius es sein konnte. Und sie war schwanger. Hieß es nicht, dass Schwangere sich ab und an vergaßen?

Noch einmal umarmten sich die beiden jungen Frauen vom Pferderücken aus, dann trabte Imma der kleinen Karawane nach, die freundlicherweise ein paar Wagenlängen weiter auf sie gewartet hatte.

So ritt Ira nun also alleine durch die schneebedeckten Wälder gen Obena. Auf der steinernen Brücke hielt sie tatsächlich an und erntete dafür einen atemberaubenden Blick, direkt auf den verschneiten Eisenstein. Nach dem Schrecken von Mendena, der Ira nach wie vor in den Knochen saß, wirkte alles hier fast surreal. Die Landschaft wirkte friedlich, so … rein. Vollkommen.

Obena selbst, wo Ira tatsächlich kaum zwei Stunden später ankam, war eine der größeren Ortschaften in den Ingrakuppen. Die Wege waren ordentlich geräumt worden und die Menschen wuselten hektisch zwischen den Häusern umher. Anders als sie es von den meisten anderen Ecken Aventuriens gewohnt war, blieb kaum jemand stehen, um sich zu unterhalten. Die einen oder anderen Personen grüßten sich hastig im Vorbeigehen, was aber schon das Höchstmaß an Kommunikation darstellte, welche die Obener an den Tag legten.

Der Ort an sich war allerdings äußerst spektakulär. Die steinernen Wände einiger der meist zweigeschossigen Häuser waren nämlich direkt an den Stein gebaut worden. So fügten sie sich in die Umgebung ein, als seien sie bereits seit jeher dort gewesen. Schon immer ein Teil der Landschaft und der Berge.

Waren die Häuser zwar ungewöhnlich, aber gleichförmig und unauffällig, dann war das Schloss … erstaunlich. Und zweifelsohne nicht dazu bestimmt, unauffällig zu sein. Es lag elegant und majestätisch auf dem Burgberg und war von sehr ungewöhnlicher Architektur, die noch durch die vielen bunten Farben unterstrichen wurde. Zahllose Säulen, Erker und Balkone, etliche Türme, alles in den unterschiedlichsten Farben gehalten. War eines rot angestrichen, so war das nächste mit blauen Fliesen verziert und das übernächste mit grün-gelber Holzvertäfelung ummantelt. Ira wurde fast schwindelig, als sie davorstand. Hineingelassen wurde sie allerdings – nicht.

4: Eine unangenehme Begegnung:

Zunächst zumindest. Sie solle warten, hieß es. Erst nach einem halben Stundenglas und etlichen Rückversicherungen mit die-Götter-wussten-wem wurden ihr die Tore geöffnet. Der Baron von Hlutharswacht habe sie erst für den Nachmittag angekündigt. Es sei Vormittag. Wenn sie nun gefroren hatte – nun dann war das wohl ihre eigene Schuld. Der Baron sei noch bei seiner wöchentlichen Gerichtssitzung und daher noch nicht zu sprechen. Aber großzügig wurde ihr gewährt in der großen Halle zu warten, wo die Audienz stattfand. Dort war es fast ungehörig warm, brütende Hitze für jemanden, der im kalten Winterwald unterwegs und daher großzügig mit vielen Lagen Stoff umhüllt war, so dass Ira ihren Mantel von der Schulter nahm, bevor sie sich zu den Anwesenden gesellte. Den Mantel über den rechten Arm gehängt trat sie näher. Ihre graue Surcotte war vor der Brust mit einer langen Knopfleiste versehen, besaß einen kurzen Stehkragen, lange, weitfallende Schlupfärmeln mit einem weißen Unterfutter, der ebenfalls weiße Maurenbrecher-Drachen war auf Herzhöhe aufgenäht. Ohne Mantel konnte man trotz des winterlich-dicken Gambesons ihren Zustand durchaus erkennen.

Im Inneren der großen Halle war es nicht weniger spektakulär, als es das Schloss von außen war. Bunte Glasscheiben, große Statuen aus Marmor, fast unheimlich realistisch geformt, Wandteppiche, gewebt in eigenartigen Mustern, Säulen, von absonderlichen Farben und Formen.

Ira hielt sich lieber im Hintergrund der Gerichtsverhandlung. Sie wollte zum einen nicht stören, zum anderen sich erst mit ihrem Gegenüber vertraut machen. Von ihrem Kommen schien bis auf die Wache an der Tür niemand Notiz genommen zu haben.

„Du hast also gestohlen?“

Ein Stöhnen erklang, als dem mageren Mann, dem ein Bein fehlte, der Handknauf eines Ritters in die Seite fuhr. „Antworte deinem Herrn gefälligst.“ Die Stimme des hünenhaften Riesen, dessen Körper weit über Iras hinaus ragte, drang kalt und schneidend in Iras Ohr. Sie wusste gleich, wer er war. Der erste Ritter des Barons von Eisenstein. Auch bekannt als „der eiserne Schlächter“. Er machte niemals Gefangene, er kannte keine Gnade. Freund wie Feind machten einen weiten Bogen um ihn.

Der Baron thronte mit unnahbarer Miene über dem Geschehen: „Du hast gestohlen?“

„J..aa.. Herr. A..bbe..er…“ Wieder brach er stöhnend unter dem Schlag des Ritters zusammen. Blut rann aus seinem Mund. Scheinbar hatte er sich während des Stürzens auf die eigene Zunge gebissen. „Kein Aber.. du Wurm.“

„Du hast gestohlen?“

„Ja Herr.“

Ein Wimpernschlag verstrich, da hörte Ira eine zweite Stimme. Unsicher. Ängstlich. „Herr, et war nur een Brot. …“ Kaum hatten diese Worte den Mund der älteren Frau verlassen, war der Knauf des Schwerts auch in ihre Richtung gefahren. Stieß sie hart zu Boden und der Ritter drückte sie mit seinem Knie zu Boden. Hielt sie dort fest. „Das, mein Herr, ist die Bäckerin.“

Der Baron nickte stoisch.

Der Angeklagte rutschte nun auf seinen Knien in Richtung des Barons. „Bbbiiiitttee .. Herr. Während ihr en Mendena wart….. Isch war … bei de Landwähr … Hab eens meener Been verlorn… Isch … kann nimmer loove. Isch kann nimmer minge Feld bestelle. Minge Frau hammse jekriescht. Minge Päänz ham Hunger.“ Der Mut der Verzweiflung war es, der den Mann nach vorne trieb.

„Dann will ich heute gnädig sein.“ fuhr die Stimme des Barons ihn an. Kurz flackerte Hoffnung in den Augen des Mannes auf. „Ich werde dir nur eine der Hände abhacken lassen, Dieb.“

Nur einen Lidschlag später hatte der eiserne Schlächter von der Bäckerin abgelassen und den dürren Mann an seiner Hand in die Höhe gezogen. Sein Zappeln ignorierte er, während er den armen Tropf an seinem Arm hinunter auf einen Hackklotz drückte. „Gnade. Bitte. Herr…“ winselte der Verurteilte. „Das Urteil ist gesprochen. Und wenn deine andere Hand dir noch etwas wert ist, rate ich dir: Unterlasse dieses Gekrieche.“ sprach der Baron, völlig unbeeindruckt von den Bitten des Mannes. Dann nickte er.

Das Schwert des monsterhaften ersten Ritters fuhr hinab. Ein Schrei. Blut.

„Schafft ihn raus! Der Mamor. Er tropft mir sonst noch alles voll.“

Als der Mann, mittlerweile nicht mehr bei Bewusstsein, hinaus geschafft wurde, wandte sich der Baron der Bäckerin zu. „Euch scheint es gut zu gehen. Wenn euch der Verlust eines ganzen Brotlaibs so wenig interessiert.“ Die Frau sah zu Boden. Ira, die in ihrem Rücken stand, sah, dass die Hände der Frau zitterten.

Bevor diese etwas sagen konnte winkte der Baron ab: „Mitleid. Meine Gute. Mitleid. Ist etwas, das man sich leisten können muss. Da du meinst es dir leisten zu können, gibt es dafür nur eine Erklärung. Deine Abgaben … sind wohl zu niedrig. Ich denke, wir werden sie zukünftig ein wenig … erhöhen.“

Die Bäckerin ballte kurz ihre Hände zu Fäusten, ließ dann aber locker, senkte nur ihren Kopf noch weiter. „Nun geh, elendes Weib. Ehe ich es mir anders überlege…“

Ira konnte gar nicht so schnell gucken, da war die Frau entfleucht – Und anstelle der Bäckerin stand sie nun da, genau im Blickfeld des Barons.

„Und wen haben wir denn da?“ Er inspizierte ihren Körper. Blieb an ihrem schwellenden Leib hängen und ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht.

Ira ignorierte diesen Blick, grüßte mit einem ehrerbietenden „Der Rechtssprecher und die Leuin mit euch, Hochgeboren!“ bevor sie Namen, Titel und Anliegen kundtat und auf den Briefwechsel zu sprechen kam, der sie letztlich hergeführt hatte. Sie sprach dabei ausgewählt höflich und vermied es, vor den Untergebenen des Barons allzu viel über den Inhalt des Briefwechsels zu verraten, aber eben gerade so viel, damit der Baron wusste, mit wem er es in ihrem Falle zu tun hatte. Auch überbrachte sie dabei die allerbesten Grüße seiner Hochgeboren zu Hlutharswacht.

Dann wartete sie ab. Und hoffte, dass sie Imma zufriedenstellen würde.

„Kommt näher, junge Frau!…. Also eine Ritterin. Soso. Der junge Baron legt also die Sicherheit meiner Tochter in die Hände einer Ritterin.“ Ein Laut des Missmuts drang an ihre Ohren.

„Eine Ritterin, die, wie Ihr, in Tobrien gekämpft hat, Hochgeboren.“ Erwiderte Ira freundlich und nickte noch einmal, als sie sich dem Baron näherte. Jemand wie er, der so auf Taten schaute, und vor dem man sich beweisen musste, um in seinen Augen ein wenig Anerkennung zu erlangen, würde diese Bemerkung verstehen – dachte sie jedenfalls. Doch sein strenger Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er das wohl anders sah.

Als sie vor dem Landesherrn stand roch sie ihn auch. Seit ihrer Schwangerschaft war ihr Geruchssinn aus irgendeinem Grund durcheinander. Alles wirkte viel intensiver, viel stärker. Der Baron roch erstaunlicherweise ... gut. Nach Seife und ein wenig Parfum. So viel Schlechtes hatte sie von ihm gehört, dass ihr Verstand völlig irritiert war, dass er nicht auch so roch: „Wart ihr nicht erst kürzlich noch … seine Knappin?“ Lauernd klang seine Stimme, während er mit schiefem Mundwinkel die Mitte ihres Leibes musterte.

Sie hielt auch diesem Blick stand. Auch wenn es schwerfiel, zu ignorieren, dass er nur ihren Bauch anstarrte. „Das ist richtig, euer Hochgeboren. Der Baron, mein Schwertvater, gab mir die Ehre der Schwertleite, als die Schlacht um Mendena zu Ende war und wir den Tempel der Leuin vom frevlerischen Pack der Gefallenen Töchter Rondras gesäubert hatten.“

„Ahja Rondra…. Ihr sollt ja in Mendena ohnehin ein ganz BESONDERES Verhältnis zu dieser Göttin entwickelt haben.“ Einen kurzen Moment ließ der Baron die Worte in der Luft hängen. „Aber genug der Plauderei, Zeit ist kostbar. Ihr sollt also meine Tochter Odelia nach Hlutharswacht führen? Gut. Mein erster Ritter und zwei seiner Männer werden euch begleiten. Drei Schwerter sind besser als … nun ja… ein halbes. Denn niemand, der euch ansieht, bezweifelt, welches Schwert es ist, das euch euer Schwertvater zu führen lehrte.“ Hohntriefend war die Stimme des Barons in Ira gefahren.

Die musste an sich halten, nicht sogleich das Schwert zu ziehen, ob der Unverschämtheiten, die aus dem lästerlichen Maul dieses Laffen kamen. Jost und sie, ja, ihr Verhältnis war zur Zeit etwas …schwierig… doch die Beleidigung ihres Schwertvaters, Waffengefährten und Barons, der nicht minder mächtig und reich war, als dieses aufgeblasene Schwein, und den sie darüber hinaus liebte, wie einen älteren Bruder, wollte sie nicht hinnehmen. Ihr Mund ging schon auf, da kam ihr Immas Bitte in den Sinn, also schluckte sie ihre Widerworte erst einmal hinab – nur, um zur Erkenntnis zu gelangen, dass dies falsch war. So was von falsch! Rahjagefälligkeit statt Minne und die Lehren des geflügelten Legionenführers waren sicherlich das eine, was zweifelbar an Josts Ausbildung war… Doch Duckmäusrigkeit war nichts von alledem, was Jost ihr beigebracht hatte! Es entsprach auch nicht Iras Charakter, die Klappe zu halten. Sie hatte diese schon in ganz anderen Situationen aufgerissen und obwohl sie es Imma versprochen hatte, musste sie dieses Versprechen nun leider brechen.

Allerdings wollte wenigstens sie höflich bleiben – wenn schon der Baron es nicht tat. Denn nicht nur Gerechtigkeit und Mut waren ritterliche Tugenden, sondern auch Weisheit, Selbstbeherrschung und eben Höflichkeit. Ganz zu schweigen davon, dass es lästerlich gegenüber der Herrin Travia war, einem Gast so entgegen zu treten.

„Verzeiht, Hochgeboren, wenn ich euch in irgendeiner Weise beleidigt haben sollte…“ erwiderte Ira dem Baron freundlich, fast ein wenig fragend, „doch ist es mir entgangen, wann dies geschehen sein soll. Bitte, teilt euch mir mit, auf dass wir das Missverständnis aus dem Weg schaffen können. Denn meinem Herrn und Baron, wie auch mir, seiner Dienstritterin, ist sehr daran gelegen, euch nicht zu verärgern – sind wir doch alle bestrebt, einen Schulterschluss zwischen dem euren Haus und dem Geschlecht derer von Sturmfels-Maurenbrecher zustande kommen zu lassen, um der Herrin Travias und des Herren Praios‘ Gefallen.“

Iras Brust bebte, während ihr Herz raste. Ihre Sinne schärften sich. Blut schoss in alle Extremitäten, wie in den Momenten vor einem Kampf. Das Kind in ihr war auf einmal hellwach und umtriebig.

Es tut mir leid Imma, aber so geht das nicht. Ich bin jetzt Ritterin! Ich kann das nicht so hinnehmen, auch wenn ich es dir zuliebe gern getan hätte. Doch das geht nicht.

„Andernfalls bin ich gern bereit, euch zu demonstrieren, dass ich den Umgang mit meinem Schwert wohl beherrsche. Und den Schwung meines Rapiers auch – sicher wisst ihr, dass mein Schwertvater lange Zeit im Horasiat gelebt hat. Er ist ein formidabler Fechter an dieser Waffe. Außerdem ist so, wie ihr sagtet: ich habe in Tobrien ein ganz besonderes Verhältnis zur göttlichen Leuin entwickelt: ich habe ihren Tempel befreit!“ Fügte sie die Wahrheit hinzu, vor der sie sich nicht schämen brauchte – im Gegenteil! – und neigte den Kopf zu einer weiteren ehrfurchtsvollen Verbeugung. Ihr Gespür für Ritterlichkeit und Anstand sagte ihr, dass sie alles richtiggemacht hatte. Nun würde es darauf ankommen, ob dieser Wicht von Baron selbige ebenfalls besaß.

Ein schiefes Lächeln erschien auf dem Gesicht des Barons: „So, IHR habt einen Tempel befreit. Ich hörte wohl, dass der BARON von Hlutharswacht gemeinsam mit einem RONDRAGEWEIHTEN und einem halben ZWERGENREGIMENT den Tempel befreite.... Und ich bezweifele keinesfalls, dass der Baron von Hlutharswacht euch gelehrt hat, gut mit eurer Waffe umzugehen. Jedoch denke ich eine strengere Hand, hätte euch gutgetan. Gut getan zu erkennen, dass nicht jedes Schwert auch geführt werden sollte.“

Ach, so war das also: ihre Mithilfe bei der Befreiung des Tempels war also nichtig? Gegen die Zornfalten auf ihrer Stirn bezüglich des unverschämten Tadels konnte sich Ira nicht erwehren. Aber… sie riss sich zusammen und versuchte, die Armseligkeit in der Person des Barons zu suchen. Trotzdem: eines konnte sie sich nicht verkneifen: „Es ist doch interessant, dass ihr von den Kriegstaten meines Schwertvaters hörtet, aber an unsere Ohren nicht gedrungen ist, ob ihr euch ebenfalls auszeichnen konntet.“ Entgegnete sie seinen Worten mit einer leichten Spitze, lenkte aber sogleich wieder höflich und demutsvoll ein: „Hochgeboren, ich bin mir sehr sicher, dass auch ihr in Tobrien Taten vollbracht habt, für die das Reich euch Anerkennung schuldet und für die auch ich euch Anerkennung zolle, dies sei euch versichert. Allerdings ist ‚Ruf‘ etwas, was all die Gefallenen nicht wieder lebendig macht, nicht wahr?“ fuhr sie fort und wirkte nicht nur nachdenklich, sie war es auch. „Ich bete um jeden Eisensteiner, der mit euch gegen den Feind stand und fiel. Auch Hlutharswacht hat viele Verluste erlitten.“ Ein kurzer Moment des Innehaltens, ehe sie Zuversicht versprühte: „Umso schöner ist es doch, dass es, nachdem wir gemeinsam Tobrien vom Joch befreit haben, viele schöne Dinge zu gewinnen gibt: neue Allianzen, neue Verbündete, Brückenschläge …Hochzeiten! – Nicht wahr?“

Der Baron hob belustigt die Augenbraue. Diese Mitgefühlsduselei! Bei anderen amüsierte sie ihn. Bei seinen eigenen Leuten war er stets darum bemüht sie auszumerzen. „Mit den Jahren lernt man eben, dass jedem durch Praios ein Platz zugewiesen wurde. Und man diesen zu erfüllen hat.“ Unmissverständlich war seinem Ton zu entnehmen, dass seiner Meinung nach diese Erkenntnis bisher wohl nicht zu Ira durchgedrungen war. „Und in der Tat, nachdem Tobrien befreit ist, bleibt wieder mehr Raum für … die anderen Verpflichtungen, denen wir als Hochadelige nachkommen müssen.“ Auch sein Ton klang abschließend versöhnlicher, denn wenigstens das schien Ira ja begriffen zu haben.

Dann ließ er nach seiner Tochter schicken und während sie warteten, fiel Ira zum ersten Mal auf, dass neben dem riesigen Stuhl des Barons - gefertigt aus einem ihr unbekannten Holz und verziert mit unzähligen Schnitzereien - ein weiterer Sitz angebracht war. Weniger prächtig, wenn auch immer noch von außergewöhnlicher Kunstfertigkeit. Auf diesem Stuhl saß in sich versunken eine ältere Frau. Sie mochte ähnlich alt sein wie der Baron und ihre klare Haut und ihre feinen Gesichtszüge mussten sie einmal zu einer Schönheit gemacht haben. Ihre Kleidung, ihr Haarschmuck, ihre Ringe und Ketten. All das zeigte ihren Stand, den Reichtum des Barons. Doch ihr Gesicht – ihr Gesicht war das eines gebrochenen Menschen.

Dass es überhaupt jemand mit diesem Kerl aushielt, wunderte Ira. Doch wusste sie auch, dass im Hochadel Ehen nicht der Liebe wegen geschlossen wurden.

Wenig später tauchte sie dann auf. Die potentielle Braut. Ein wenig jünger als Ira. Feingliedrig. Anmutig. Und wunderschön.

Bei Travia, eine Puppe! – war das erste, was Ira in den Sinn kam, kaum, da Josts Buhlerin den Saal betrat. In Gedanken sah sie schon Jost die Haare raufen, weil er sich fragte, ob und wenn ja wie er mit so jemanden das Bett teilen sollte. Ira hatte viele Gespielinnen Josts kennengelernt, zumindest vom Sehen, und keine hatte auch nur annähernd diesem …Püppchen… entsprochen. Dazu kam, dass Ira sich nicht vorstellen konnte, wie jemand, der noch jünger als sie selbst war, Baronin werden konnte. Hlutharswachter Baronin. Und Josts Eheweib noch dazu. Insgeheim gruselte sie diese Vorstellung. Nein, ihr wurde übel davon, also versuchte sie, nicht daran zu denken.

„WO IST PRIANNA?“ Herrschte Radojan den Ritter an, der alle seine Töchter in den Saal geleitet hatte. Eine kleine Entourage lieblicher Kindergesichtchen. „Los! Hol auch sie her!“ Dann wandte er sich an das zarte Mädchen, während er die Jüngeren missachtete: „Odelia, dies ist Ira von Plötzbogen. Die frühere Knappin des Hlutharswachter Barons. Sie wird dich und deinen Geleitschutz in den Norden führen. Der Schlitten wird gerade bereitgemacht und beladen.“

„Hohe Dame, es ist meine ritterliche Pflicht und eine Freude euch nach Albenhus führen zu dürfen.“ wies Ira mit eigenen Worten darauf hin, dass sie Ritterin war und kein Waffenknecht, was die Bezeichnung ‚frühere Knappin‘ auch hätte heißen können. Ein Detail, das der Baron wohl für zu unwichtig hielt.

Odelia musterte Ira erstaunt und neugierig. Doch schnelle Schritte lenkten die junge Keyserring ab und sie blickten einer herbeieilenden, jungen Frau in einfacher Gewandung entgegen.

"Ihr habt nach mir geschickt?“ Ihre klare Frauenstimme klang erstaunlich widerwillig. Und als sie vor dem Baron stand, war Ira überrascht, hatte sie doch den Eindruck, als wäre diese das weibliche Ebenbild des Unsympathen. Fast schwarz war ihr Haar, genau wie das seine, und in einfachen Zöpfen geflochten um ihren Kopf gebunden. Die Nase und das forsche Kinn, das dem seinen so unglaublich glich, reckte sie ihm entgegen.

Seine Stimme klang hart und ungeduldig. „Ah Prianna. Sehr schön. Dies dort ist Ira von Plötzbogen. Die frühere Knappin des Hlutharswachter Barons. Sie wird Odelia und ihren Geleitschutz in den Norden führen. Der Schlitten wird gerade bereitgemacht und auch deine Truhen geladen. Denn, wie wir es besprochen hatten, wirst du sie nach Hlutharswacht begleiten.

Und wenn der Baron Odelia verschmähen sollte …. Weiß ich sehr genau, wen ich verantwortlich zu machen habe… Wage es nicht, meine Weisungen und Befehle erneut zu missachten. Mein Maß an … Toleranz und Nachgiebigkeit… ist übervoll!! Verabschiede dich und dann geh!“

Ira stutzte, ließ sich aber nicht anmerken, dass sie diese Informationen sehr wertvoll fand. In der Miene dieser Prianna konnte Ira allerdings schlecht lesen. Das einzige, was offenkundig war, war der Widerwille der jungen Frau. Mit vollendeter Etikette verabschiedete sie sich vom Baron: „Natürlich werde ich mich an eure Weisungen halten, Hochgeboren.“ Dann drehte sie sich um und verließ die Halle. Ira stellte erstaunt fest, dass die Miene der Baronin der jungen Frau nachfolgte. Tiefe Trauer konnte sie im Gesicht der Eisensteinerin erahnen.

Der Baron beachtete seine Gattin in keinster Weise, sondern wandte sich seiner Tochter zu: „Mach auch du dich bereit und verabschiede dich von deiner Mutter.“

Das Mädchen ging zögerlich und fast – ja Ira erschien es fast unwillig – auf seine Mutter zu. „Lebt wohl, Mutter. Wir werden uns in wenigen Monden wiedersehen.“

Die Frau hob nur kurz die Hand und lächelte - ohne dass dieses Lächeln bis zu ihren Augen gedrungen wäre.

Odelia wandte sich anschließend kurz zu Ira um, taxierte ihren Bauch und verzog höhnisch den Mund. „Odelia von Keyserring, Baroness von Eisenstein. Sehr … Erfreut. Ich erwarte euch dann bei den Pferden.“

„Natürlich,“ gab Ira unberührt von sich.

Dann wandte sich der Baron ein letztes Mal an die Hlutharswachter Ritterin: „Achtet auf das Leben meiner Tochter und entbietet dem Baron meinen Gruß. Aves sei mit euch.“ Er winkte eine ältere, rotbäckige Bedienstete herbei, die an Ira herantrat und ihr anbot, Wasser und Proviant aufzufüllen und bis zum Aufbruch ein wenig zu ruhen.

Das hatte Ira jedoch nicht vor. Ihre Sinne waren immer noch gespannt und ihr Herz klopfte nach wie vor wild in ihrer Brust. So trat sie nach der formvollendeten Verabschiedung ins Freie, um ihm Burghof das Anspannen der Pferde zu überwachen und auch ihre eigenes Reittier für den nahenden Aufbruch bereit zu machen. Den versprochenen Proviant nahm sie gern in Empfang, aufatmen wollte sie erst, wenn die Eisensteine weit hinter ihr lagen.

Ira war froh, dass ihre Begegnung mit diesem Ungetüm von Baron so …glimpflich… ausgegangen war. Allerdings reichte diese Zufriedenheit nicht, um ihre harten Schultern zu entspannen. Ihr gefiel nämlich diese eine Andeutung nicht, die der Baron gemacht hatte. Ihr BESONDERES Verhältnis zu Rondra! – Konnte es tatsächlich sein, dass--? War das möglich?? Wusste dieser Kerl tatsächlich etwa von ihr und Hagrian? Dies schien ihr zwar fast unmöglich, da sie und er sich nie öffentlich Zärtlichkeiten hingegeben hatten, aber dennoch war das nicht gänzlich unmöglich. Ira musste also in Betracht ziehen, dass der Baron etwas wusste. Zu dumm, dass sie darüber nicht sofort mit Imma sprechen konnte.