Auf nach Hlutharswacht

5: Auf nach Hlutharswacht:

Mit den beiden jungen Frauen, dem Eisernen Schlächter und zwei weiteren Streitern Bedeckung brachen sie auf. Gen Hlutharswacht. Am ersten Abend erreichten sie eine kleine Herberge am großen Fluss. Morgen gleich würden sie ihre Reise mit dem Schiff fortsetzen.

Erschöpft und ermattet von dem ermüdenden Ritt und ihrer Begegnung mit dem Baron, war Ira froh, sich endlich entspannt setzen zu können, und genoss das Mahl, das man ihnen im Gasthaus gereicht hatte. Einen deftigen, leicht überwürzten Eintopf mit einem speckigen Würstchen.

„Einen guten Appetit wünsche ich allen zusammen.“ Sagte die junge Frau namens Prianna, bevor sie sich ebenfalls an dem nahrhaften Mahl gütlich tat.

Ira wunderte sich kurz, warum niemand am Tisch Wert darauf legte, einen Dank an die Herrinnen Alverans zu sprechen. Hast du wirklich erwartet, so jemand wie der Baron achtet auf solche Dinge? antwortete sie sich selbst, nachdem wirklich niemand am Tisch Anstalten machte, auch nur ein einziges kurzes Travia-Dank zu sprechen. So wartete sie ab, bis alle die Löffel benutzten, formulierte ein stilles „Oh, ihr Herren und Herrinnen Alverans – das kann ja noch was werden.“, dann aß auch Ira. Vor der anstehenden Heimreise grauste es sie genauso wie vor der Reise in die Eisensteine. Sie nahm sich vor, sich die angewiderten Blicke ihrer durchweg männlichen Mitstreiter nicht zu Herzen zu nehmen. Mochten die ruhig denken, was sie wollten. Das galt auch für die Baroness und ihre Zofe.

Die Zofe, ja. Irgendwie wurde Ira das Gefühl nicht los, dass sie mehr war, als „nur“ eine Bedienstete. Hatte der Baron mit ihr etwa einen Bastard in die Welt gesetzt? Dass diese Prianna, wie sie sich nannte, dem Baron ähnlich sah, legte zumindest diese Vermutung nahe. Vielleicht würde sich im Verlauf der Reise eine Gelegenheit ergeben, ihr auf den Zahn zu fühlen? Immerhin brachte Ira diese Frau mit nach Drachenwacht, das heißt ins Herz der Baronie Hlutharswacht, mit ins Zuhause von Jost. Da wollte Ira natürlich sichergehen, dass diese Zofe nicht irgendeine Gefahr darstellte. Abgesehen davon, war Drachenwacht auch Iras Zuhause. Die junge Plötzbogen starrte nachdenklich auf ihre Speise, bevor sie den Kopf hob und dann ihren Blick frei durch die Gaststube fliegen ließ, während sie über den Begriff ‚Zuhause‘ nachsann. Nun, wenn es nach dem Willen des Eisensteiner Barons ging, sollte die junge Baroness ihres in Obena aufgeben und nach Hlutharswacht übersiedeln, so weit, so gut. Ira selbst hatte Josts Vorschlag zugestimmt, dass Drachenwacht noch ein ganzes Jahr lang ihr Zuhause sein würde. Aber war es das noch? Ira hatte Zweifel daran, denn Beilunk und Elenvina hatten ihr gezeigt, dass sie die Drachenberge Hlutharswachts nicht so sehr vermisste, wie sie es vielleicht tun sollte, weil sie fast ihr ganzes bisheriges Leben dort verbracht hatte. Ira überlegte scharf: Wo war denn nun ihr Zuhause? Geboren war sie Elenvina, bis sie 8 Sommer zählte, war die Vogtei Paggenau, wo beide ihrer Eltern am Hof Anstellung hatten, ihr Heimat. Mit Antritt der Pagenschaft verschob sich diese Heimat nach Hlutharswacht. Und nun? War es nun Rickenbach? Oder Elenvina? Nein, ganz sicher nicht Elenvina, wo sie ihre fürchterliche Großmutter wusste! Aber Rickenbach war es auch nicht. Oder doch? Nein, nicht einmal Hagrian hatte sich in Rickenbach heimisch gefühlt. Rickenbach war Gereons Heimat, fiel es ihr ein und sie dachte wieder einmal seufzend an ihren verletzten Freund. Unweigerlich führten diese Gedanken sie zu jenem Moment ins Feldlager vor Mendena zurück, da Gereon sie im Vertrauen gebeten hatte, Hagrian nicht weh zu tun. Wie würde Gereon reagieren, wenn sie ihm irgendwann einmal beichtete, dass sie dies doch getan hatte?

Wie zum Hohn machte der Wicht in ihr einen großen Tritt. Ira fiel spritzend der Löffel in den Eintopf, als sie sich mit der Rechten an den Bauch griff und dann für einen Moment bewusst ein- und ausatmete.

„He. Du …. !“ Odelia herrschte Ira unfreundlich an, verstummte aber, als sie Priannas warnenden Blick auffing. Die hob den Löffel auf und reichte ihn Ira. Die andere Hand strich dem Rotschopf über den Rücken – sanfter, als sie erwartet hatte. „Keine Sorge. Das geht gleich vorbei. Ihr seid zu verkrampft. Das merkt das Kleine.“ Doch kaum waren die Worte ihrem Mund entschlüpft– der Ira doch sehr an das Küßmündchen von Odelia erinnerte- als sie die Hand zurück zog und ihr Mahl abrupt und stillschweigend fortsetzte. Und die anderen vier taten es ihr gleich.

Diese Prianna war wirklich merkwürdig. Die Ritter schienen richtiggehend Respekt vor ihr zu haben und auch Odelia kuschte förmlich vor ihr. Sie sah dem Baron ähnlich, wie es nur enge Verwandtschaftsverhältnisse zuließen, gleichzeitig mochte sie diesen Mann nicht, das war ganz offensichtlich. Wer war diese Frau wirklich? Nur eine Zofe? Ha ha. Dass Ira nicht lachte!

Gelegenheiten zum Gespräch unter 4 Augen gab es nicht viele. Immer war einer der Ritter dabei, wie, als hatten diese Kerle Angst, nicht nur die Baroness, sondern auch die Zofe zu verlieren. Ira nahm sich vor, weiter zu beobachten, wie sich Prianna verhielt.

*

Eines frühen Morgens, einige Tage bevor sie Drachenwacht erreichen würden – Ira war wie immer im Dunkeln aufgestanden, um sich der Fellpflege ihres Reittiers zu widmen und dabei eine Weile allein zu sein – stand die junge Frau plötzlich unerwartet im Halbdunkeln der Stalltür. Die Hand der Ritterin war schon am Korb ihres Rapiers, als sie die Zofe erkannte. „Was macht ihr so früh auf? Und: warum seid ihr allein? Ich dachte, ihr geht nicht ohne einen eurer Wachhunde aus dem Haus?“ Iras Worte klangen schneidender, als es ihr vielleicht bewusst war. Doch fühlte sie sich von der Zofe in ihren morgendlichen Momenten, die nur Ira allein gehörten - ihr und ihren Gedanken an Hagrian, Imma, Tobrien und Hlutharswacht und an die ungewisse Zukunft des Kindes in ihrem Bauch – gestört. Als ihr bewusst geworden war, dass sie aus Versehen im Ton vergriffen hatte, entschuldigte Ira sich sogleich. „Tut mir leid. Ihr habt mich in meiner kleinen Andacht erschreckt.“ Ira klopfte ihrem Pferd abschießend den Hals und trat in die Stallgasse. Ihr prüfender Blick glitt aufmerksam über die Silhouette der Eisensteinerin. „Alles in Ordnung?“

Im Dämmerlicht schauten sie die zwei großen, dunklen Augen der jungen Frau an. In diesen Augen zu lesen, war schwer. Ira hatte dies auch bei den älteren Küchenhelfern festgestellt, die ihr den Proviant gereicht hatten. Es waren Augen, die alles an Gefühl zu verbergen wussten, was hinter ihnen lag: „Mir geht es gut – Aber Ihr habt da etwas missverstanden, SIE gehen niemals ohne mich aus dem Haus. ICH aber gehe durchaus ohne sie.“ Wenigstens Priannas Stimme zeigte ihre Gefühle, wie Ira bereits zuvor festgestellt hatte. Nämlich Trotz, Stolz, ein wenig Hohn und eine Menge Selbstbewusstsein. Viel zu viel für eine einfache Bedienstete. „Ihr huldigt der Liebholden? Recht habt ihr. Wenigstens auf sie kann man immer zählen. Selbst an den schwärzesten Orten findet sie dich und zeigt dir aufs freudvollste, was das Leben bieten kann.“ Im anschließenden Seufzen der Schwarzhaarigen lag Bitterkeit: „Und euch? Geht es euch ebenfalls gut? Ich treffe so früh am Morgen selten Seelen, die ebenfalls unterwegs sind. Die meisten sind es – nicht freiwillig.“ Priannas Versuch zu lächeln wirkte grob. Oft schien sie es nicht zu tun.

Ira schmunzelte. Die Worte der Zofe gefielen ihr und langsam fing sie an, diese Frau zu mögen. „Oh, ich bin es auch nicht freiwillig. Welcher Unhold auch immer da auch drin sitzt,“ sie tippte mit dem Finger auf ihren Bauch, „will, dass ich morgens mit den Hähnen aufstehe, mich erst mal auf einen Topf setze, und dann keinen Schlaf mehr finde. So ist das wohl, habe ich mir sagen lassen. Naja, ändern kann ich es nicht, hab’s schon versucht.“ Ira ließ sich mit dem Rücken gegen einen Stützpfeiler sinken, während sie ein tiefes Seufzen von sich gab und Prianna mit schiefem Kopf musterte. Sie wusste noch ganz genau, was der Baron zu dieser Frau gesagt hatte. Über seine Drohung ihr gegenüber hatte Ira bereits oft nachgedacht, ebenfalls über ihr Aussehen, und dann natürlich auch immer über die Frage, ob sie Jost davon erzählen sollte, oder nicht.

„Welche… Pflicht… ist es, die EUCH zu dieser Stunde hinaustreibt? Erwartet eure… Herrin… denn nicht, dass ihr da seid, sollte sie auch einmal früher als sonst erwachen? Immerhin ist diese Reise nicht alltäglich und die Baroness ist jung. Ihr tut sicher gut daran, ihr eine Stütze zu sein. Wenn ich bedenke, wie es mir selbst gehen würde, wenn ich dann so weit weg von der Familie wäre und allein unterwegs zu einem fremden Hof, zu einem mir fremden Mann, den ich heiraten soll. Unterwegs in eine Zukunft, die alles bereithalten könnte, auch ein … Scheitern.“ Ira ließ ihre Worte einen Moment im Raum stehen, weil sie nach etwas Heu griff, das in einer der Pferdeboxen aufgetürmt lag, um es ihrem Tier zu füttern, während sie dem Braunen vertrauensvoll den muskulösen Hals kraulte. Unter dem Pferdekopf hindurch sah sie Prianna freundlich an. „Darf ich euch eine Frage stellen? Eine sehr persönliche?“

„Fragen, hohe Dame, dürft ihr alles. Nur eine Antwort bekommt ihr nicht zwangsläufig.“

„Ich weiß selbstverständlich, dass ihr mir nicht antworten müsst. Ich bin ja – wie sagte euer Herr? – nur ein halbes Schwert,“ Ira lächelte kühl; dass diese Worte sie beleidigt hatten, war ihr aber am Tonfall zu hören. „Aber ihr dürft es natürlich gerne, wenn es euch erleichtert, die Antwort mit mir zu teilen. Wisst ihr, ich mache mir durchaus Gedanken über eure Herrin die Baroness, meinen Herrn, und in diesem Zusammenhang natürlich auch über euch, da es meiner Verantwortung obliegt, euch nach Hlutharswacht zu führen. Drum nehmt mir meine Neugier bitte nicht krumm: Welche Konsequenz hat es denn, wenn mein Herr in diese Hochzeit nicht einwilligt? Benötigt ihr dann…“ Die Ritterin zögerte und musterte die Reaktion ihrer Gegenüber. Ira war sich nicht sicher, ob sie es aussprechen sollte. Auf der anderen Seite, wenn sie nicht den Mut hatte, einen Vorstoß zu wagen, würde sie nicht schlauer werden. „…in irgendeiner Art irgendeine… hm... Unterstützung?“

Sie hielt den kauenden Pferdekopf mit beiden Händen fest und sah zu Prianna hinüber.

Die dunklen Augen musterten Ira direkt. Ohne jedes Zwinkern: „Ihr seid ziemlich neugierig. Aber … ich denke, ich kann eure Beweggründe nachvollziehen. Zunächst: Die Baroness ist in keiner Weise meine Herrin. Ich bin auf Weisung des Barons hier. Und nur ihm … verpflichtet. Ich brauche nicht allzu viel Schlaf. Und ich bin … gerne für mich alleine. Unbeobachtet. Unbewacht.“ Sie machte eine Pause. Wägte ab. Wieviel sollte sie dieser jungen Ritterin anvertrauen? „Ihr scheint mir eine Person des offenen Wortes zu sein. Das finde ich begrüßenswert.“ Begann sie. „Das bin ich auch. Ich kenne die Konsequenzen nicht. Vermutlich hat er sich noch keine zurechtgelegt. Unterstützung? Ein befremdliches Wort, wenn man in Obena aufgewachsen ist. - Darf auch ich offen sprechen?“

Sie war sehr gespannt, wie sich dieses Gespräch noch entwickeln würde. Dinge waren gefallen, Zugeständnisse. Ira verspürte Sympathie für die Gesellschafterin, die auf der einen Seite als solche vorgestellt worden war, aber sich selbst interessanterweise nicht als solche bezeichnete. Auf der anderen Seite mahnte die Ritterin sich zur Vorsicht. Gleichzeitig kam ihr das, was diese Prianna sagte, ehrlich vor. Ehrlich und ebenfalls vorsichtig. Als würde sie sich ebenfalls nicht ganz sicher sein, was sie von ihrem Gegenüber halten sollte.

Ein aufmunterndes, mit einem Lächeln untermaltes Nicken für Prianna und ein liebevolles Tätscheln für das Tier. „Natürlich. Bitte, ihr braucht euch mir gegenüber nicht verstellen. Wenn ich euch helfen kann, dann lasst es mich wissen.“

„Würdet ihr … Odelia ein wenig nachsehen, wenn sie … so ist, wie sie manchmal ist. Sie nicht dafür verurteilen, dass sie ein Kind Obenas ist … und ein Kind des Barons?“

Ira wusste ungefähr, was sie meinte. Sie seufzte leise, bevor sie sich die Hände abklopfte und wieder in die Stallgasse trat. Allerdings griff sie dort nach einem weiteren Handbesen, mit dem man Pferden das Fell bürstete. Dabei nickte sie noch einmal, diesmal zustimmend. „Ich werde es versuchen. Aber die Entscheidung liegt beim Baron von Hlutharswacht. Und wie ich ihn kenne, wird er zwar andere Meinungen anhören, sich aber selbst gerne seine eigene bilden wollen.“

Das unterscheidet ihn eindeutig von Rajodan, dachte Prianna bei sich.

Ira hielt der Frau den Besen hin. „Wollt ihr mir beim Bürsten vielleicht ein wenig Gesellschaft leisten? Wir können der Liebholden auch gemeinsam huldigen.“ Ira grinste kurz verschwörerisch, als sie die Worte Priannas verwendete und sie einladend einsah.

Prianna zögerte merklich, griff dann aber das Heft des Kehrgeräts. „Ich mag Pferde.“ Sie klopfte mit der freien Hand den Hals einer Falbe, ihrem Kutschpferd. Mehr sagte sie nicht, sondern begann still mit der Stallarbeit. Ein wenig unbeholfen wirkte sie dabei. Nicht routiniert, die Hände viel zu fein für diese Art von Arbeit. Keine Schwielen, nur sanfte rosa Haut, die man sonst nur von kleinen Kindern kannte. Das schien die Isenhagerin aber nicht weiter zu stören. Denn wenn Prianna etwas wollte, dann wollte sie es. Und oftmals fand sie dann einen Weg. Selbst in Obena.

Die Ritterin, deren täglicher Umgang Pferde und ihre Pflege darstellten, sah sich die Unbeholfenheit eine kurze Zeit über an. Dann trat sie an die Eisensteinerin und den Falben heran. „Darf ich euch zeigen, wie sie es lieben?“ Sie deutete auf die Bürste in Priannas Hand.

Die zögerte merklich, hob dann aber eher halbherzig die Hand, um sie dem Tier auf die Flanke zu legen, während Ira ihre eigene darüber legte. Die Nähe schien der jungen Frau nicht sonderlich zu behagen.

Ira zeigte der Zofe, wie man mit beherztem Druck vom Rückgrat abwärts strich, dass es nur so staubte. Der Besen hinterließ bei jeder Bewegung eine sichtbare Spur auf dem Pferdekörper. Ira versicherte Prianna aber, dass dies dafür sorgte, auch die untersten Fellschichten zu erwischen und es darüber hinaus eine wohltuende Massage für die Pferdemuskeln sei. Wie um ihr Recht zu geben, schnaubte die Stute dankend und stellte einen Huf auf. „Seht ihr, sie genießt das,“ erklärte Ira mit Blick auf das entspannte Bein. „Und wenn ihr diesem Geschöpf noch mehr Ehrerbietung zukommen lassen wollt, dann streicht ihr mit der Bürste vom Rücken über den Bauch und bis zu den Hufen aus. Am Unterbauch und an den Beinen dann bitte nicht mehr so stark drücken, sonst kann es sein, dass ihr das Knie in den Bauch bekommt. Oder in den Allerwertesten gebissen werdet.“ Ira erinnerte sich lachend daran, dass wohl jeder Page diese Strafe schon einmal gespürt hatte. „In der Regel hat man zwei Bürsten, eine mit Borsten, die andere mit Zinken, um das Fell in einem stetigen Rhythmus abwechselnd zu kämmen und zu bürsten. Und wenn ihr glaubt, dass euch das Kutschpferd schon Arbeit macht: macht das mal bei einem großen, muskulösen Streitross!“ Nach dieser kleinen Einführung in die Fellpflege reichte sie Prianna lächelnd die Bürste. „Wenn ihr mehr wissen wollt, sagt nur Bescheid. Ich zeige euch gerne, wie man mit Rössern umgeht.“

Für den Moment hatte Ira ganz vergessen, wem sie hier Stallarbeit näherbrachte.

Prianna nickte und bedankte sich für Iras Angebot. Zögerlich. „Euch macht es Freude Ritterin zu sein?“ Seinen Herrn frei wählen zu können. Die Welt zu sehen. Andere Orte, andere Menschen kennenzulernen. Einen kurzen Moment stahl sich Wehmut in Priannas Blick.

„Ja, das tut es. Denn es ist weitaus mehr als nur der Umgang mit der Waffe! Ich sehe meine Pflicht, unsere Heimat und die Schwachen zu verteidigen, als Ehre!“ Einen Moment lang dachte Ira an ihren Hader zurück, den sie vor ihrem Ritterschlag empfunden hatte. Darüber war sie aber nun längst hinweg. Über Hagrian, an den sie dabei auch denken musste, allerdings noch nicht. Die Sehnsucht nach ihm machte ihrer Heiterkeit ein jähes Ende. So schluckte sie einmal schwer, fasste sich dann jedoch wieder und setzte sie Unterhaltung fort, weil sie sich nichts anmerken lassen wollte. „Natürlich, jemand wie ihr könnte sagen, dass es ein hartes Handwerk ist, bei dem der Tod stets präsent ist. Doch ihr müsst wissen: ich bin mit Ritterlichkeit aufgewachsen. Meine Mutter ist Hausritterin am Hof von Paggenau. Mir ist also das mit den Rechten und Pflichten der Ritterschaft in die Wiege gelegt worden, könnte man sagen.“ Ein vorsichtiges Lächeln, während sie fortfuhr ihrem Reittier die Mähne zu kämmen. „Und wie ist das bei euch? Erfüllt es euch, die Zofe Ihrer Hochgeboren Odelia zu sein?“

Irritiert blickte Prianna Ira an. Was für eine völlig absurde Frage: „Erwecke ich eurer Meinung nach diesen Eindruck? Dass mich das erfüllt?“

„Wenn ich ehrlich sein darf?“ Ira ließ von der Mähne des Pferdes ab und sah zu der Zofe hinüber. „Ihr seht mit Argwohn auf eure Pflicht und es scheint euch eine Last zu sein, Dienst an der Baroness zu tun, das habe ich euch vom ersten Augenblick an angesehen. - Aber ich wollte nicht unhöflich euch gegenüber sein. Außerdem steht es mir nicht zu, euch mit meiner Beobachtung zu konfrontieren, außer, ihr sagt es selbst.“ Sie schenkte der Zofe ein mitfühlendes Lächeln, bevor sie beide weiter arbeiteten.

Still striegelte Prianna das Pferd so, wie Ira es ihr gezeigt hatte. Dann hielt sie inne und sah Ira noch einmal direkt an. Schüttelte dann aber den Kopf und bearbeitete weiter das Fell des Tieres, das ihr schnaubend die Flanke entgegendrückte. Nur, um wenige Augenblicke später erneut inne zu halten: „Glaubt ihr, allein das Schwert kann die Schwachen verteidigen? Glaubt ihr nicht, man kann Menschen schlimmere Dinge antun als sie zu töten?“

Auch Ira hielt inne. Überlegte kurz. Irgendwie musste sie dabei an die Junkerin von Reussenstein denken, die jetzt in Tobrien Baronin auf sehr, sehr dünnem Eis war. Noch etwas, was ihr als Beispiel einfiel: Folter.

„Doch, doch, das kann man bestimmt.“ Ihr Blick musterte Prianna eindringlich. „Redet ihr etwa… von euch selbst??“

Die junge Frau hielt inne. „Ich rede von jedem. Jedem kann man schlimmere Dinge antun als den Tod. Man kann nämlich jedem etwas wegnehmen, was ihm mehr bedeutet als sein eigenes Leben. Einer Mutter das Kind, einem König seine Krone, einer Ritterin … vielleicht ihre Ehre?“ Sie blickte in der langsam einsetzenden Morgendämmerung zu Ira herüber: „Ein Gedankenspiel: Wenn es schlimmeres als den Tod gibt, gibt es dann nicht auch schlimmere Waffen als Dolche und Schwerter? Und wenn es schlimmere Waffen gibt als den Stahl, muss es dann nicht auch Menschen geben, die sich solchen Waffen entgegenstellen? Und brauchen diese Menschen nicht ihrerseits Waffen, andere Waffen als die Klinge? Und sind dies dann nicht auch Menschen, die sich um die Schwächeren verdient machen und Ehre in sich tragen?“ Sie drückte Ira den Striegel in die Hand. „Ich danke euch für eure Ratschläge. Ich werde mich zurückziehen. Bald steht Odelia auf, und irgendjemand muss ihr ja in den Hintern treten, damit wir zeitig aufbrechen können.“ Dann drehte sich Prianna um und verließ den Stall, Ira nachdenklich zurücklassend.

Ira sah der Frau hinterher, bis diese durch die Stalltür und damit außer Sicht getreten war. Interessante Auffassung, dachte sie so bei sich. Wobei sie abwog, wer von den beiden Männern, die ihr lieb und teuer waren, die größere Freude daran gehabt hätte. Hagrian, oder Jost?

Als sie Prianna wenig später beim gemeinsamen Frühstück wieder begegnete, hatte sie noch immer keine Antwort darauf gefunden. Jedoch tat sie es der Zofe gleich und benahm sich distanziert höflich wie immer. Wenn es nach Ira ging, war sie zum Wohle Priannas gerne bereit, eine Übereinkunft zu treffen, dass dieses Gespräch im Stall nicht stattgefunden hatte. Diese Übereinkunft würde nicht mehr als einen einzigen Blick benötigen. Und so war es dann auch.

6: Ankunft auf Burg Drachenwacht

Nur noch ein paar Windungen den Berghang hinauf, dann würde Drachenwacht vor ihnen auftauchen und die Reise würde ein Ende haben. Ira beschlich bei der Erwartung der letzten hundert Schritt ein zwiespältiges Gefühl, das sie schon eine ganze Weile mit sich trug, aber das jetzt so stark war wie nie. War Drachenwacht noch ihr… ‚Zuhause‘?

Immerhin: sie hatte ihre Aufgabe in allen Punkten erfüllt, hatte die Baroness mitgebracht und sich dem Drang wiedersetzt, fortzubleiben, obwohl sie das vielleicht gerne getan hätte. Jost würde hoffentlich zufrieden sein. Immerhin lockte Rickenbach nun mit bitterer Süße – und Ira kam nicht umher, sich einzugestehen, dass sie gerne noch länger dort geblieben wäre. Auftrag hin, Auftrag her. Dennoch war sie wie ein wohlerzogener Hund zu ihrem Herrn zurückgekehrt und würde nun weiter der Dinge harren, die sich gaben.

Zuerst einmal stand die Übergabe der Buhlin an und Ira war gespannt auf Josts Reaktion, wenn er dieser überhebliche Schnepfe das erste Mal gegenüberstand. Odelia von Keyserring mochte zwar auf den ersten Blick durch ihr Aussehen bezaubern, aber sobald sie den Mund aufmachte, würde der Baron sicherlich wissen, mit wem er es hier zu tun hatte. Und wenn nicht… dann geschah es ihm schon irgendwie recht.

Ira ritt dem kleinen Zug bestehend aus Schlitten und drei Rittern voran, blies beizeiten in ihr Drachenwachter Rufhorn, damit jeder wusste, dass ein Hlutharswachter den Stich hinaufkam, tat am Burgtor kund, wen sie mit sich führte und kam dann stolz auf den Hof eingeritten. Der erhabene Blick, mit dem sie Jost begrüßte, nachdem dieser auf seinen Stock gestützt herausgehumpelt kam, ließ keinen Zweifel zu, dass sie um den Umstand wusste, diese Aufgabe mit Bravour erfüllt zu haben.

Jost war selbstverständlich erleichtert, Ira wohlbehalten zurück zu wissen. Zwar drängte sich ihr frostiges Verhältnis in sein Gemüt, und über den aufmüpfigen Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, musste er noch beizeiten mit ihr diskutieren, doch nicht jetzt. Also ließ er ihr diesen kleinen Triumpf, nickte und formte mit seinen Lippen ein wortloses „Danke“. Dann schob er dieses Problem für den Moment beiseite, um gespannt seine Gäste zu betrachten und zu begrüßen.

Der hühnenhafte Mann, der auf einem riesigen Streitross neben ihr ritt, sie um mehr als Haupteslänge überragend, ließ seine Männer und den Reiseschlitten vor den Stufen zum Eingangstor halten. Zu Iras Überraschung stieg er, nachdem sie die Reisegruppe kurz eingeführt hatte, ab und grüßte den jungen Baron mit allem gebührenden Respekt. „Hochgeboren, mein Name ist Anselm von Eschengrund. Ich wurde vom Baron von Eisenstein beauftragt, eure entsandte Jungritterin zu begleiten.“ Er öffnete den Verschlag und half Odelia hinunter. Der dicke Mantel verbarg ihre atemberaubende Gestalt zwar noch, doch ihr bezauberndes Gesicht mit einem nun tatsächlich freundlichen Lächeln war Jost bereits zugewandt als sie aus dem Schlitten stieg. Mit ihren dicken, schneeweißen Pelzstiefeln stand sie schließlich im Schnee und sah Jost an. Röte überzog ihre Wangen und fast scheu blickte sie auf den Boden. „Dies ist Ihre Wohlgeboren Odelia von Keyserring. Sie ist die Tochter des Barons von Eisenstein, meines Dienstherrn.“

Jost ging die letzten Schritte zur Kutsche, wobei er sich auf seinen Stock stützen musste und mehr als offensichtlich humpelte. Doch als er Odelias liebreizendes Gesicht erblickte, wusste er, dieser Winter würde doch etwas komplizierter, als von ihm gedacht. Er musste kurz schmunzeln. So fiel es ihm nicht schwer, seinerseits ein charmantes Lächeln zu zeigen, während er Odelias Hand in die seine nahm, um sie mit einem formvollendeten Handkuss zu begrüßen. „Meine Teuerste, ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise? Ich bin Jost Verian von Sturmfels-Maurenbrecher, Baron von Hlûthars Wacht. Unsere Väter kannten sich gut. Seid willkommen auf Burg Drachenwacht. Meine Diener bereiten alles vor, sollte es Euch an etwas fehlen, klingelt nur. Doch nun, lasst Euch Eure Zimmer zeigen und erholt Euch von der Reise. Wir sehen uns dann später beim Diner.“

Odelias Wangen waren leicht gerötet und sie blickte fast scheu zu Boden. „Habt Dank für die freundliche Begrüßung. Ich freue mich auf unser Abendessen.“ Viel sanfter klang die Stimme der jungen Frau- viel sanfter als sie Ira bisher vernommen hatte. Und während Odelia sprach, strich der Blick des Eisernen Schlächters über Prianna, die das Kinn in seine Richtung hob, als wolle sie ihn an etwas erinnern. Anselm gab sodann einige barsche Befehle an seine Soldaten und Knechte weiter, das Gepäck betreffend. Und die Eisensteiner sammelten ihre Truhen, Taschen und Schützlinge in der großen Eingangshalle der Burg.

*

Als Ira in die große Halle zurückkehrte, fand sie Odelia, die ihr mit gekräuselten Lippen entgegenblickte, und den Eisensteiner Ritter mit seinen beiden Knechten, nur Prianna und Jost waren …. verschwunden.

„Sie hat einiges mit dem Baron zu besprechen. Auf Geheiß unseres Herrn.“ entgegnete einer der Soldaten auf Iras neugierigen Blick. Klong. Der Eiserne Schlächter hatte mit seiner Hand ausgeholt. Die Pranke traf den jungen Mann am Hinterkopf. „Dis-kre-tion!“ fuhr er ihn an. „Muss nicht jeder dahergelaufene Ritter alles wissen.“

„Führt mich doch bitte hinauf in mein Gemach.“ fuhr Odelias Stimme dazwischen, die nun wieder den alten Tonfall hatte. Überheblich, selbstgerecht und absolut arrogant.

Auch wenn sie den Worten des Schlächters nur doch wieder entnahm, wie wenig er von ihr hielt, juckte Ira das nun nicht mehr. Sie waren nun in Hlutharswacht und auf der Burg des Barons. Ganz gleich, welches Verhältnis sie und Jost gerade hatten: hier war sie diesen Eisensteiner Arschlöchern überstellt. Die Männer mochten zwar Gäste sein, aber nicht mehr als das. Ira hingegen war hier aufgewachsen und außerdem gehörte sie als Adelige und Ritterin zur Herrschaft der Burg. Sie hatte also Befehlsgewalt hier, konnte man sagen, und diesen Umstand würden diese blasierten Laffen erst mal schlucken müssen. Diese Genugtuung hielt die Jungritterin auch davon ab, das Gesicht zu verziehen.

Freundlich lächelnd trat sie der Baroness entgegen und tat ehrerbietig, wie geheißen.

*

Prianna folgte dem jungen Baron zu seinem Schreibtisch. „Verzeiht, dass ich mich noch nicht in aller Form vorgestellt habe. Mein Name ist Prianna von Keyserring. Der Baron von Eisenstein hat mich gebeten seine Tochter Odelia hierher zu begleiten und ihr Gesellschaft zu leisten, während sie über den Winter hier ist, um euch besser kennenzulernen.

Und wenngleich Odelia noch jung und voller Unschuld ist, noch niemals die Freuden rahjanischer Genüsse kosten durfte, weiß sie um die Bedeutung der angestrebten arrangierten Ehe. Und ich hoffe ihr lernt sie in den nächsten Monaten als jemanden kennen, mit dem ihr das Ehebett teilen möchtet, aber noch mehr, sie als jemanden zu sehen, der euch in einigen Jahren eine gute Baronin sein wird.“ Prianna händigte Jost noch einen Brief Rajodans aus. Darin war detailliert beschrieben, welcher Art die Mitgift war, die er seiner Tochter mitzugeben gedachte:

o Als Brautgabe fünf Stücke aus der Kunstsammlung des Barons

o Eine nicht unstattliche Menge Gold

o Fünf hervorragende, schwarze Schlachtrösser

o Zwanzig Schwerter aus zwergischem Stahl, verziert in feinster zwergischer Handwerkskunst

o Zur Vermählung weitere zehn Kunstschätze

o Die Erbschaft der Baronswürde für den ersten unter Travias Segen geborenen Enkelsohn des Eisensteiners

Josts Blick entglitt ihm, als Prianna so freimütig über Genüsse und Freuden sprach. „Werte Prianna, ich muss doch bitten. Wir kennen uns nicht, und schon am ersten Tag über rahjanischer Freuden und die Jungfräulichkeit Eurer Schwester zu sprechen, scheint mir doch mehr als gewagt. Ich darf Euch freundlichst um etwas mehr Anstand und Haltung bitten. Dies ist kein Gesprächsthema, welches ich mit Euch erörtern werde und möchte.“

Der Blick der etwa gleichaltrigen Frau vor ihm blieb einige Zeit ungebrochen, dann senkte sie einen kurzen Augenblick den Blick. Gerade so lange wie es die Etikette gebot, bevor sich ihre dunklen Augen erneut mit den seinen vereinten: „Es lag mir fern euch in irgendeiner Art und Weise zu brüskieren, Hochgeboren. Und darüber hinaus liegt es fern meiner Absicht mit euch en Detail intime Themen zu erörtern. Verzeiht, wenn meine Ausdrucksweise Anlass war, euch dies glauben zu lassen.“ Woher wusste er denn, dass Odelia ihre Schwester war? Wenn er das wusste, wusste er auch, dass der Baron ihr Vater war. Und sie hatte sich so sehr gewünscht, wenigstens hier aus diesem langen, dunklen Schatten treten zu können. Sie seufzte kurz auf, ohne den Blickkontakt mit Jost zu unterbrechen: „In einer arrangierten Ehe geht es -wie ihr sicher wisst.“ Scheinbar wusste dieser Kerl es nicht, aber was sollte es. Schön, wenn jemand so alt werden konnte, ohne die Erfahrung gemacht zu haben, wie ein Stück Vieh auf dem Markt verschachtert zu werden. „Vor allem um den Traviabund. Und leider beinhaltet das Schließen arrangierter Ehen im Hochadel Gespräche über Themen, die zu jedem anderen Zeitpunkt aus Gründen von Anstand und Höflichkeit vermieden werden sollten.“ Gut das war jetzt genug: „Wenn es euch allerdings unangenehm ist mit mir darüber zu sprechen, dann nennt mir gerne einen … Vertrauten, bei dem ich die relevanten Punkte Odelia betreffend vorbringen kann.“ Auch wenn Prianna keine Gefühlsregung anzusehen war, rumorte es in ihr. Ihrer Erfahrung nach gab es drei mögliche Gründe, warum ihm ihre offene Ansprache so verärgert hatte. Er hatte keinerlei Erfahrung mit der Ehestifterei, er war ein hoffnungsloser Romantiker. Oder aber- Und diese Option gefiel Prianna aus völlig selbstsüchtigen Gründen überhaupt nicht- Oder aber, er hatte bereits eine Braut gewählt. Eine andere als Odelia. Sie würde auf der Hut sein müssen. Zur Not musste sie ein wenig nachhelfen.

Der Baron seufzte. Solche Themen sollten eigentlich zwischen den Müttern, oder zur Not, den Schwestern oder Großmüttern der künftigen Eheleute behandelt werden, nicht vom potentiellen Bräutigam selbst. Doch gab es hier niemanden, mit dem er sich austauschen könnte, niemand, der diese delikaten Themen besprechen könnte. Sicher, er war alles andere als prüde, hatte seine wilden Jahre erlebt und wusste das zotige Gespräch in den Laken zu schätzen – doch dies war etwas anderes, eine andere Ebene. Dessen war er sich bewusst, und leider schien sein Gegenüber dies vergessen zu haben. Aber er musste es ihr nachsehen. Mit wem sollte sie diese Themen denn auch ansprechen? Wieder einmal vermisste er seine werte Frau Mutter über alle Maßen. Aber auch seine Schwester Isida könnte ihm hier weiterhelfen. Er musste seine Korrespondenz intensivieren, so viel stand fest! „Gibt es weitere Themen dieser Art, welche Ihr ansprechen mögt oder gar müsst? Denn in diesem Fall würde ich Euch vertrösten müssen, bis eventuell meine Frau Mutter oder meine liebe Schwester anreisen können. Alternativ könntet Ihr auch in Briefkontakt zu beiden treten. Gerne erwähne ich Euch in meinem nächsten Schreiben. Andernfalls können wir unser Gespräch gerne fortsetzen.“

Prianna nickte, "Ich denke die wichtigsten Argumente kennt ihr nun," und sie deutete auf den Brief, "alles andere kann ich mit eurer Frau Mutter besprechen, wenn sie hier ist." Sie schwieg einen Moment, erinnerte sich dunkel an die erste Begegnung mit Jost, als ihre Väter noch darüber gesprochen hatten, sie selbst mit dem jungen Baronet zu verloben. Bisher hatte sie diesen Tag erfolgreich verdrängt. Auch jetzt wollte sie nicht zurückdenken. Das lag mitnichten an Jost, der damals nicht mehr als ein kleiner Junge gewesen war, bereit für seine anstehende Pagenschaft. Sie war damals erst kurze Zeit in Obena gewesen und dieser Tag hatte ihr die schlimme Erkenntnis gebracht, wer oder besser wie der Mann war, der sie gezeugt hatte.

Als dann Odelia auf der Welt war, wunderschön, charismatisch, mit einnehmendem Wesen und Rajodan erkannt hatte, wie weit der Ungehorsam seiner Ältesten mittlerweile gegangen war, änderten die Väter ihre Meinung.

Die Details hatte der Eisensteiner Baron sicher mit niemandem geteilt, aber die verdrehten Grundzüge hatte er dem befreundeten Baron erläutert, dessen war Prianna sich sicher. Und Jost hatte die alten Korrespondenzen zwischen ihren Vätern gelesen. Dessen war sich die ältere Tochter des Eisensteiners auch gewiss. Kein Wunder, dass er eben so reagiert hatte.

Ein Räuspern von Jost riss Prianna zurück in die Realität.

Sie nickte erneut: "habt Dank für das Gespräch, verzeiht erneut, wenn ich euch brüskiert haben sollte. Ich werde euch nun alleine lassen und meiner Schwester behilflich sein. Deshalb hat mich der Baron von Eisenstein schließlich hierhergeschickt." Und vermutlich, weil er hoffte Prianna würde sich grämen, wusste sie doch, dass ursprünglich SIE die Braut gewesen wäre.

Sie seufzte als Jost sie entließ und folgte dem Hausdiener zum Gemach ihrer Schwester und hoffte im Stillen, der Baron hätte ihren unterschwelligen Wunsch verstanden und würde sie lediglich als Odelias Begleiterin vorstellen, nicht mit ihrem Titel und den genauen Verwandtschaftsverhältnissen. So würde alles im Rahmen der Etikette bleiben. Mochte auch er denken, es läge an der Schmach der gelösten Verlobung. Es war ihr gleich.

***

Eine der Hausmägde wartete in der offenstehenden Tür der Kemenate, als Odelia dort ankam. Man hatte bereits vor längerer Zeit das ehemalige Studierzimmer der Hochgeboren Magistra, Josts Mutter und daher Baronin, zu einem herrschaftlichen Gästezimmer umgebaut. Nun stand in der ehemaligen kleinen Bibliothek ein breites, mit einer bemalten Holzdecke versehenes Bett, ein in gleichem Stil bemalter Kleiderschrank und am Bettende eine ähnlich verzierte aber eisenbeschlagene Truhe, die abgeschlossen werden konnte. Den alten Schreibtisch der Baronin mit seinen kunstvoll geschnitzten Beinen hatte Jost kurzerhand unter das aus bunten Glasbildern gefertigte Fenster schieben lassen. Er war definitiv das älteste Möbelstück im Raum, von einem gemauerten Kamin mal abgesehen, an dessen rückseitig gelegenen Zimmerwand sich ein weiteres Schlafgemach befand. Das Glasmosaik unter zwei nahestehenden Rundbögen zeigte – natürlich – beides mal Szenen, in denen ein Drache vorkam. Trotz Erwartung seines hohen Besuches fand sich an ‚teurem Krimskrams‘ recht wenig. Nur eine feingearbeitete silberne Waschschüssel mit dazu passendem Wasserkrug würde wohl darunter zählen, wenn man von ihrem Alter mal absah. Freilich war alles tadellos gepflegt und auf Glanz poliert, aber entsprach nicht mehr der neuesten Mode – wie man sagen würde, mochte man sich auskennen. Ähnlich „von gestern“ war der kippbare Standspiegel in einer Ecke, der fünf-armige Kerzenständer auf dem Schreibtisch, ein einfacher Kerzenhalter auf dem Nachtkästchen und das Service aus silbernen Trinkpokalen, das auf einem kleinen Beistelltischchen seiner Verwendung harrte. Die Holzvertäfelung von Wänden und Decke war ebenfalls alt und hatte sicherlich viele Herrschaften auf dieser Burg kommen und gehen sehen. Der Teppich, der vor dem Bett auslag, fügte sich geradezu unaufregend ins Bild.

Eine offenstehende Tür an der Kamin-abgewandten Seite gab den Blick frei auf eine zweite, etwas kleinere Kammer, in der ebenfalls ein Bett stand, nur eben kein herrschaftliches, sondern eines in normaler Breite. Dazu ebenfalls eine abschließbare Truhe, einige Regale an der Wand mit Büchern und einer Abschrift des Breviers göttlicher Unterweisung.

Odelias Gepäck stand in einer Ecke, so auch Priannas.

Die junge Baroness drehte sich zu der Magd um. „Wo ist das Badewasser?“ Sie taxierte die Hlutharswachterin. Saubere Hände, saubere Kleider. Immerhin.

„Es wird gleich gebracht. Ich werde sofort gehen und euch frische Tücher und Seife bringen.“ Sie knickste artig und verließ die Kemenate. Kurze Zeit später kam sie erneut herein - mit Prianna und dem Badewasser - wurde aber von Prianna umgehend gebeten, die beiden Gäste aus dem Isenhag allein zu lassen.

Odelia saß zu der Zeit auf ihrer Truhe und schickte einen fragenden Blick zur Tür des Nebenraums. Die Eingetretene nahm ihre ledernen Reisetaschen, die sie neben einer äußerst kunstvoll verzierten Truhe mit sich führte, und trug sie in das kleinere Schlafzimmer. Odelia seufzte erleichtert auf, stand auf und ließ sich sogleich auf das große, weiche Bett fallen. „Hast du gesehen. Alles hier ist so … alt. So unmodern.“ Sagte sie zu Prianna, die aus dem Nebenraum trat. „Pria - und dieser Baron. Er ist auch .. so .. alt und er ist ein … Krüppel.“ Warum hatte ihr Vater nicht einen jungen, hübschen jungen Mann aus Elenvina für sie aussuchen können, anstatt dieses alten Hinkebeins vom Land. „Das ist soo ungerecht.“ Sie hatte von Festen in Elenvina geträumt. Von Künstlern, die sich bei ihr, der jungen, schönen Baronin vorstellten und denen sie ihre Gunst schenkte oder nicht. Stattdessen musste sie hier am Arsch der Welt hocken. Mit einem Veteranen.

„Odelia, der Mann hat sein Leben riskiert für den Heerzug unserer Kaiserin.“ Gut am Ende war alles nur eine Finte gewesen. Die ein klügerer Feldherr vielleicht hätte durchschauen können- Prianna hatte ihren Vater belauscht als er mit Anselm darüber gesprochen hatte. So viele Leben für … Nichts. Sie seufzte: „Wenn jemand diese Opfer für seinen Lehnsherrn bringt, wird er sie auch für seine Familie, für seine Kinder bringen. Und das solltest du sehr zu schätzen wissen. Immerhin wirst du VIELLEICHT seine Frau - Und damit wir dieses VIELLEICHT eliminieren, verlange ich, dass du dich am Riemen reißt. Zeig ihm deine freundlichen Seiten. Zeig ihm deine Kultiviertheit. Deine Intelligenz. Deine Begeisterung und deine Talente in den schönen Künsten. Aber … bei den Göttern … unterlasse es bitte, irgendjemanden unnötig zu brüskieren. Und solange wir nicht sicher sind wie der Baron zu Iradora von Plötzbogen steht, gilt das im besonderen Maße für sie.“ Odelias Unterlippe bebte und begann sich trotzig nach vorne zu schieben. „Und lass diese kindische Schmollerei. Ich bezweifele, dass DAS beim Baron gut ankommen wird…. Nun zieh dich aus, damit du baden kannst. Wir werden mit dem Baron zu Abend speisen.“ Pria klatschte in die Hände und Odelia erhob sich widerwillig vom Bett und ließ sich die Schnürung ihres Kleides öffnen, zog es sogleich aus, glitt in das warme Wasser und seufzte entspannt.