Auf zur Jagd, auf zum Tode!

Auf zur Jagd, auf zum Tode!

Das Wecken der Hohen

Still und schwer lag die Nacht über Koschwacht. Der Ruf von Eule und Uhu durchschnitt bisweilen die Ruhe. Das Plätschern der nahen Bäche, tagsüber im Orchester des Waldes noch untergegangen, konnte nun laut und klar im Solo tönen. Nur waren kaum Zuhörer für das erfrischende Spiel des Wassers anwesend: Lediglich einige niedere Jagdknechte, einfache Bauern im Frondienst, drehten in reichlichem Abstand zum Jägerlager ihre Runden. Doch diese waren taub für die Schönheit und Eleganz, die dem akustischen Werk des Wassers innewohnte.
So lag die Nacht über der Koschwacht.
Manch einer schlief tief und fest, hieß die Gaben Borons mit weiten Armen willkommen. Andere schliefen vor schierer Aufregung und Angst nicht ganz so gut. Doch half es alles nichts: Ob schlafend oder nicht, alle miteinander wurden nach gefühlt viel zu kurzer Zeit vom hellen Ton des Hifthornes geweckt, in welches auf der Stelle das helle Geläut der Hundemeute einfiel.
Ehrfürchtig stand Aureus vor der Hütte der Jägersleut und spielte die alte Melodie „Auf zur Jagd, auf zum Tode!“, mit welcher schon seit jeher die Waidleute zur Jarlaksjagd und anderen bedeutsamen Jagden geweckt wurden. Kaum waren die ersten Töne verklungen, gesellte sich Barnabas zum Jagdmeister. Ebenso andächtig wie dieser erhob auch er sein Hifthorn und stimmte in das Spiel des Meisters mit ein. Sie spielten so lange, bis alle Jäger versammelt waren und ein jeder Waidgeselle gab der Melodie eine neue Kraft und Stimme mit seinem eigenen Horne bis zum Schluss das Lied laut tönte. Eine Strophe spielten sie so vereint, dann endete das Lied und die Jäger machten sich auf, ihre Arbeit zu verrichten: Im Schein des Madamals, welches die Nacht fast schon taghell erleuchtete, wurden die Pferde gesattelt und Bernbrecht, der Rüdemannn, brach zusammen mit dem Knaben Madawin zur Vorsuche auf.
Aureus indes hielt Zwiesprache mit dem Führer der Treiberwehr, dem Bauern Rodiak. Doch es hatte in der Nacht keine Beobachtungen gegeben, welche eine Anpassung des aufgestellten Schlachtplanes notwendig mache würde. So wünschten sich die beiden Männer eine gute Jagd und einen guten Tod, ehe beide zu ihrem Werk zurückkehrten. Mittlerweile vertrieb auch schon die Dämmerung die Schatten, welche zuvor im Schein des Madamals geworfen wurden. Die blaue Stunde war angebrochen und nun war es an der Zeit, die Herrschaft zu wecken. Dieses gebührte dem Jagdmeister und dem ältesten Waidgesellen, während der Rest der Waidleute die Pferde hielt.

Nun, da das Hohe Wecken erschallte, erhob sich die Edle von Bilgraten von ihrem Lager. Hellwach. Mit ruhiger, ja beinahe andächtiger Geste benetzte sie sich das Gesicht mit klarem Wasser. Alles Weitere wurde getan und vollzogen wie bei einem Ritual: Sie stand aufrecht, atmete einmal tief durch, während ihr das Wasser vom Kinn tropfte. In Gedanken wandte sie sich an ihre Herrin mit jener Bitte, welche bereits ihre Mutter vor diesen Jagden an die Sanftmütige gerichtet hatte: „Gnädige Herrin Ifirn. Ich bitte dich, wenn ein Opfer von meinen Jägern gefordert wird, so möge der Grimme es schnell geschehen lassen. Und jede Qual, die mit dieser Bitte fortgenommen wird, werde ich am Ende meines Lebens gerne selbst tragen, wenn es dem Grimmen gefällt!“
Dass dieser fromme Wunsch mehr war als nur ein Wunsch, konnte Leuina selbst bezeugen: Auf den Jagden ihrer Mutter hatte niemals ein Jäger oder Gast übermäßig lange auf den Tod warten müssen. Doch ihr eigenes Sterben hatte sich über Monate gezogen, bis sie endlich am Wundfieber den Tod erfahren hatte.
Noch einmal atmete sie tief durch. Was hatte Aureus immer gesagt? „Ignoriere den Tod nicht, der neben dir reitet – dann macht er dir nur Angst. Aber du musst ihn auch nicht immerzu anstarren...“ So kleidete sie sich an, legte ihre lederne Brustplatte mit dem Familienwappen an und gürtete ihr Schwert.
Und erneut ein tiefes Durchatmen. Mit den Fingern tippte sie sich an die Schläfe, dem Heiligen zum Gruße, und schlug dann den Vorhang beiseite, der ihre Schlafstatt von den anderen trennte, und trat hinaus.

Der Edle von Wildenberg hatte die Nacht über gewacht. Ob dies eine so gute Idee gewesen war, er konnte es selbst nicht sagen. Aber er hatte beim besten Willen nicht einschlafen können und ehe er durch sein beständiges Hin- und Herwälzen noch jemanden weckte, hatte er sich hinausgeschlichen und sich, die Jagdmontur bereits übergeworfen, abseits des Lagerplatzes niedergesetzt, den alten Sauspieß des Vaters im Schoß, den Blick in den Wald gerichtet.
Mehrmals hatte er Bewegungen im Walde gesichtet und mit angehaltenem Atem ausgeharrt, doch das, worauf er tief in seinem Inneren gehofft, selbst wenn er sich dies niemals zugestehen würde, hatte sich nicht gezeigt.
Erst zum Klang der Hifthörner hatte er sich aufgerichtet, die halbtauben Glieder durch kräftiges Recken dem Schlaf entzogen und, den Frieden der nächtlichen Stille mitführend, seinen Weg zurück vor das Jägerlager gefunden, die Augen ein wenig umschattet, aber eine tiefe Ruhe in Antlitz und Gedanken.

Biora hatte sich nach den wenigen Stunden Schlaf (waren es drei gewesen? Oder gar noch weniger?) mit schierer Willensanstrengung von ihrem Lager hochgequält. Ihre Schulter pochte noch immer in dumpfem Schmerz. Tar'anam war schweigend an ihre Seite getreten und hatte ihr geholfen, den geliehenen Brustharnisch anzulegen, denn selbst wäre sie dazu kaum in der Lage gewesen. „Oh Firun, ich hoffe, Du hast einen guten Grund, mich noch vor der Jagd halb mit Kampfunfähigkeit zu schlagen,“ sandte sie ein kurzes, stummes Stoßgebet gen Alveran, wobei sie mehr Inbrunst hineinlegte, als es die reine Wortwahl hätte vermuten lassen, hätte sie einen menschlichen Zuhörer gehabt. Zum Glück war nicht ihre Schwerthand behindert, doch das Halten der Armbrust würde nicht einfach werden.
Doch schließlich war Biora endlich gerüstet, hatte Yidariwin gegürtet und die Armbrust auf das Pferd gespannt und harrte dem Fortgang der Nacht.

Als Flussgardist war es Anselm gewohnt, gelegentlich mit wenig Schlaf auszukommen. Allerdings wollte ihn Bishdariel in dieser Nacht überhaupt nicht erhören, und so schälte er sich nach dem Wecksignal mühsam aus der Schlafstatt. Was nur hatte er sich gedacht? Wieso nur trieb er sich hier im nördlichen Gratenfels herum? Hätte er nicht allen Anstand beiseite schieben und in Elenvina bei Lioba bleiben können? Zwar war Anselm inzwischen überzeugt, dass seine Schreckensvision während der Messe nicht vom Grimmen Jäger gesandt war, sondern von seiner Sehnsucht nach ihr rührte, doch das machte es nicht erträglicher. Er sandte ein Stoßgebet zum Wintergott, sein Herz zu verschließen, solange die Jagd als heiliger Dienst zu seinen Ehren währte, doch fürchtete er, dass der Schmerz hinterher nur umso stärker gegen ihn branden würde.
So kleidete und rüstete sich der Hauptmann, prüfte noch einmal den Mechanismus seiner Armbrust und trat hinaus zu den anderen und den Pferden.

Als die Hörner erschallten erhob sich Garobald von seinem Lager. Er war müde, hatte er diese Nacht doch kaum Schlaf gefunden. Zu sehr beschäftigte ihn die Vision während dem Firunsegen. Um munter zu werden klatschte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann wusch er sich und zog sich an. Zuletzt legte er den geliehenen Harnisch an, gürtete das Jagdschwert und nahm sein Bündel auf. Der Edle warf noch einen letzten Blick auf den Zweihänder, unschlüssig ob er ihn nicht doch mitnehmen sollte. Den Kopf schüttelnd nahm Garobald von diesem Ansinnen Abstand und ging nach draußen, sein Pferd satteln.

Kurz war die Nacht, und durchsetzt mit Träumen – und dennoch erwachte Lucrann mit einer seltsamen Mischung aus Erholung und Anspannung. Nach einem kurzen Gebet zu dem Schweigsamen kleidete er sich an, rüstete sich und kümmerte sich um sein Pferd, von dessen Wohlbefinden ein guter Teil seines Jagderfolges abhängen würde – von seiner eigenen Gesundheit im Fall der Fälle ganz zu schweigen. Interessiert beschnupperte der Rapphengst seinen Reiter, neugierig, was dieser Aufbruch zu nachtschlafender Zeit zu bedeuten habe, aber weder über Gebühr überrascht noch beunruhigt. Dem schwarzen Konya schien das Procedere nicht über Gebühr fremd und mit gespitzten Ohren wartete er auf die Dinge, die ihm da begegnen sollten.

“Was für eine Nacht!“, waren die ersten Gedanken die dem Vogt durch den Kopf gingen als er die Hörner schallen hörte. Er konnte nicht genau sagen ob es nun die schmerzende Nase oder die nächtliche Unruhe der anderen Jagdgäste war die ihn so schlecht schlafen gelassen hatten. Den Schlaf aus den Augen reibend begann er langsam, mit allem was seiner Sicht dazu gehörte, sich für die Jagd zu recht zu machen. Bei einigen günstigen Luftzügen boten die Vorhänge gelegentlich einen Blick auf das Nachtlager der anderen Gäste und so konnte er, wohl eher unbeabsichtigt aus dem Augenwinkel, das ankleiden der Baronin von Rickenhausen verfolgen. Da Biora aber wohl etwas früher dem Nachtlager entstiegen und bereits beinahe fertig bekleidet war, gab es wenig Anzügliches an der Situation. Bevor sich Melcher auf den Weg zu seinem Pferd machte, kramte er aus seinem Gepäck einen kleinen Beutel mit Gulmondblättern und schob sich einige davon in den Mund. Nach so einer Nacht und vor so einer Jagd sollte man lieber wach sein, befand er. Mit der schweren Armbrust über der Schulter trat er nun aus der Hütte, bevor er jedoch sein treues Pferd bestieg, spannte er die Armbrust am Boden ohne einen Bolzen einzulegen.

Nachdem alle Gäste versammelt waren, richtete Leuina ein letztes Wort an diese:
„Vor dem Herrn Firun gebe ich als Schirmherrin des Wildes auf diesem Lande zur Jagd beim Beritt frei: Vom Rehwild die Böcke, vom Schwarzwild reife Keiler, Überläuferkeiler, Überläuferbachen, so nicht führend, und Frischlinge. Vom Rotwild sollen allein die Spießer bejagt werden!“
Es mochte den Gästen auffallen, dass im Gegensatz zum Vortage eine sehr ernste Stimmung von den Jägern und der Gastgeberin Besitz ergriffen hatte. Es wurde nicht gescherzt und nicht gelacht, nicht einmal gelächelt. Selbst Aureus schaffte es, noch finsterer als sonst zu schauen und schien jeden Gast mit dem Blick dahinstrecken zu wollen, während seine Edle ihre kleine Ansprache hielt.
„Wo es das Gelände erlaubt, werden wir in Doppelreihenkolonne reiten, sonst in einfacher Kolonne. Vorweg werden Seine Hochgeboren von Rabenstein, Jagdmeister von Mauser und ich selbst reiten – wir dürfen von niemandem überholt werden. Den Abschluss bildet Marisya, welche selbst niemanden überholen darf. Bögen und Speere sind frei nach dem Signal ‚Jagd auf!“. Nach dem Signal „Wild in Ruh’!“ wird kein Wild mehr angegangen, außer aus Hegegründen. Die Jagd endet nach dem Streckelegen und dem Signal „Jagd vorbei, grimmer Jäger und wir leben noch!“. Auf dann, Waidmannsheil!“

Auf, auf zum fröhlichen Jagen!

Es dauerte zwar eine Weile, doch am Ende stand die Formation. Mittlerweile war aus der Dunkelheit der blauen Stunde auch das Licht der grauen Morgendämmerung geworden. Nebel kroch durch die umliegenden Wälder. Aus der Ferne schallte das tiefe Röhren eines Hirsches und verhieß einen ereignisreichen Tag.
Aureus ritt im schnellen Schritt vorweg, Leuina und Lucrann folgten. Die Waidgesellen hatten sich in die Kolonne eingegliedert und zeigten den Gästen durch ihr Vorbild, welcher Abstand zum Vordermann wohl der Jagd dienlich sei, wenngleich diese Formation wohl mit fortschreitendem Tage wohl lockerer und lockerer werden würde. Das wussten zumindest die beiden Offiziere sehr gut.
Die einzigen, die sich nicht für die Formation interessierten, waren die Hunde: Es wuselten insgesamt zehn kleine, weiße Hunde mit schwarzen und braunen Flecken durch die Reiterschar wie es ihnen gefiel. Dabei machten sie kaum Anstalten, sich allzu weit von ihnen zu entfernen. Sie bellten mit hoher Stimme und forderten manches der Reitpferde in deren Gemütsruhe heraus.
Kaum hatten sie alle das Lager verlassen und wurden vom Gebirgswald kühl empfangen, hieß Leuina ihren Jagdmeister an, das Signal „Jagd auf!“ zu geben. Hell durchriss der glockenhelle Klang die Luft und veranlasste die Hunde dazu, noch etwas lauter und kräftiger zu bellen und noch etwas wuseliger zu werden. Nun galt es also.
Nun galt es also! Das schoss auch dem Galebqueller durch den Kopf. Nun saß er auf Sternenfeuer, seiner treuen Teshkaler Stute, neben ihm trottete Ystävä, seine Nivesenhündin, her. Auch Roklans tierische Gefolgschaft war von der Aufregung ergriffen, der junge Mann spürte es deutlich. Wie es seinen Knappen erging – nun, sie würden bei seiner Rückkehr davon berichten, wie aufregend für sie der Ausflug gewesen war. Mit dem Waschen der Wäsche, dem Richten der Ausrüstung und allerlei aufregender Aufgaben mehr.
Während sie durch den Wald ritten – es war eine Mischung aus Schritt und Trab, die von den Reitern verlangt wurde – hatte Roklan während der ersten Zeit nichts anderes im Blick als die Kehrseiten des vor ihm Reitenden: Beide Kehrseiten übertrafen sich gegenseitig in ihrer Schwärze, kaum mochte man sagen, welche dunkler war: Der Rücken des rabensteiner Barons oder die Kruppe seines Elenviner Vollblutes?
Tief sog Roklan die hier frische und würzige Luft ein, kalt drang sie durch seine Nase in seine Lunge, deren Flügel sich enorm weiteten. Er lauschte den Geräuschen des Waldes, hoffte auf innere Stärke und Konzentration. Das war, was ihm schon immer abverlangt worden war: Selbstbeherrschung!
Und gleich, was in der letzten Nacht geschehen war – jetzt war Roklan Teil der Jagdgesellschaft. Sein Brustkorb hob sich wieder unter einem schweren Atemzug und er warf einen Blick auf den Reiter neben ihm. Wie mochte es diesem ergehen?
Der kaiserliche Burggraf ritt neben Roklan. Auch er starrte auf das Pferd der edlen Reiterin vor ihm. Anmutig erschien sie ihm, wie sie da durch die weniger werdenden Schleier der Dunkelheit ritt. Doch noch immer war er unter dem Eindruck der mitternächtlichen Andacht. Ein undefinierbares Unbehagen war in ihm Erwacht. Und dies passte so gar nicht zu der würdevollen Ausstrahlung der Jagdherrin und zur erhabenen Landschaft ihrer Wälder. Woher es kam, wusste er nicht. War es eine düstere Vorahnung? Oder war es doch die Erinnerung an jenen finsteren Tag im Nivesenland, den er leidlich versucht hatte zu verdrängen... Es fröstelte ihn. Unsicher blickte er über seine Schulter nach hinten. Um sich jedoch von seiner düstere Stimmung abzulenken, raunte er zum Galebqueller:
„Sagt einmal“ gerade mal so laut, dass Roklan es trotz des Hufschlags hören konnte „ wann wart ihr das letzte mal bei so einer Jagd?“.
In den ganzen vergangenen Jahren, insbesondere seitdem er näheren Kontakt mit seinem Schwager Lucrann von Rabenstein hatte, war es Roklan gelungen, seine eigentlich lebhafte und sehr ausdrucksstarke Mimik in gewissen, lebensnotwendigen Momenten unter Kontrolle zu halten. So auch jetzt. Wilmibert von Bregelsaum, Kaiserlicher Burggraf der Burg Elsterngau war nicht nur dies, sondern auch der selbsternannte und von Graf Alrik von Gratenfels bedingungslos unterstützte Zwangsverwalter der Baronie Orgils Heim. Sämtliche von Roklans Bemühungen, den eigentlichen Erben nach dem Tode seines Großvaters, seinen Onkel, Wolfhold von Streitzig, aufzufinden, waren bislang nicht von Erfolg gekrönt.
Dennoch gelang ihm ein freundliches Lächeln – zumal es Roklan weder danach dürstete, selbst Orgils Heim zu verwalten und es dem Burggrafen auch gelang, eine gewisse Ruhe zu sichern.
„Oh, Hochwohlgeboren, dies ist schon etwas länger her.“ erklärte der junge Mann und zügelte Sternenfeuer so, dass sie und das stolze Reittier des Bregelsaumers Schritt hielten. „Jagden finden in Galebquell zwar ebenfalls statt, aber eine solche wie hier, die durchaus als gesellschaftliches Ereignis gelten kann, habe ich lange nicht mehr erlebt.“ Er warf einen Blick nach vorn, doch nicht um den Weg abzusichern – er schien seiner kräftigen Stute voll und ganz zu vertrauen. Nein, er schaute nach der Edlen von Graufurten. „Fasziniert bin ich von der Ernsthaftigkeit dieser Jagd – die letzte Jagd, der ich beiwohnte und die eine gewisse Ähnlichkeit aufwies, fand im Horasreich statt und hatte den Charakter eines Spieles. Hier jedoch geht es um Ernst, Ehre, Opfer. Weit mehr als Vergnügen und Erholung.“ Sein Blick wurde ernst, auch wenn er immer noch lächelte. „Was meint Ihr, erwartet uns?“

Finmar war in sich gekehrt, während sein Ross dem vorangehenden mühelos folgte. Ein leichtes Unwohlsein hatte von ihm Besitz ergriffen und die Erinnerung, heruntergedrückt wie ein Würgen in der Kehle, suchte Mal für Mal kräftiger den Weg an die Oberfläche.
Der Vater war schon so lange tot, dass es ihm mitunter schwer fiel, sich sein Gesicht vor Augen zu führen. Und doch reichte der Klang des Hornes, das Rauschen eines kleinen Baches, das Brausen des Windes im Blätterdach aus, um ihm den Moment seines Todes wie in Granit gemeißelt vor Augen zu führen.
Ja, Blut hatte Blut gerächt und ein Frevel war gesühnt worden. Warum nur schlug die Erinnerung immer noch mit solcher Gewalt zu? Er war sich sicher gewesen, dass er den Tod des Vaters, den Mord, den Frevel an dieser heiligsten Zeremonie des grimmen Jägers zu einem Ende geführt hatte. Aber vielleicht brauchte diese Wunde doch noch mehr Zeit, zu verheilen. Immerhin hatte er sie mittlerweile aufgestochen, den schwärenden Eiter herausgeschwemmt, die Wunden notdürftig verbunden und ihnen Ruhe gegönnt.
Tief atmete er ein, dann hob er den Kopf und blickte nachdenklich auf die vor ihm Reitenden, froh, dass ihm niemand folgte … so verheilt war die Wunde noch nicht, dass er auf der Jagd ohne Bauchgrummeln jemand hinter sich geduldet hätte.
Biora hatte sich irgendwo in der Mitte eingereiht und Tar'anam an ihre Seite gebeten. Momentan war ihr aus verschiedenen Gründen nicht nach seichter Plauderei. Die Kälte der Nacht und der Schmerz in ihrer Schulter hatten endlich die letzten Schleier der Müdigkeit vertrieben, so dass sie die Schönheit der nächtlichen Umgebung tatsächlich einigermaßen genießen konnte. Dennoch ließ sich die aus ihren Vorahnungen herrührende Sorge nicht ganz verdrängen.

Aldec ärgerte sich. Zu gerne wäre er neben Marisya geritten. Nun denn, dem Herrn Finmar sei´s gegönnt. Also ritt er nun neben Barnabas und dieser war ja immerhin Jäger... so wie er, wenn auch ein ganz anderer. Um die Zeit zu überbrücken und mehr noch aus wirklichem Interesse, fragte er ihn: „Wie handhabt ihr es eigentlich hierzulande mit den Kirrungen für Schwanzwild?“
Der Älteste der Waidgesellen hatte abwesend in die tiefe Bläue gestarrt, das Gesicht ernst. Oder sorgenvoll? Als ihn der Wolfshager Ritter ansprach brauchte der junge Mann einen Moment ehe er sich ihm zuwandte.
„Hm? Achso, Kirrungen...ja, davon habe ich gehört“, antwortete Barnabas mit gesenkter Stimme. „In der Gegend um Elenvina setzt man die ein, nicht wahr? Nun, wir versuchen dem Schwarzwild durch bewegte Jagden oder die Pirsch Herr zu werden. Aber wir haben Wälder, da geht das ja auch...“, wie dankbar Barnabas war, dass sich der Ritter in eine Konversation mit ihm stürzte, konnte dieser kaum ermessen. Auch er spürte das Lauern hinter ihm und es behagte ihm ganz und garnicht.
Zwischen den beiden Jagdgesellen eingereiht hatte Anselm sein Pferd schweigend in die Formation geführt und lediglich mit einem Tippen des Fingers an die Schläfe und einem knappen Göttergruß gegrüßt. Dem Gespräch zwischen Aldec und Barnabas folgte er stumm, er konnte hierzu auch kein fachkundiges Wissen beitragen. Aber vielleicht vermochte er ja dabei etwas zu lernen?
Ruhig hatte sich der Edle von Bösalbentrutz neben Anselm eingereiht. In seiner Rechten hielt er einen Jagdspieß, am Sattel war ein langer Köcher festgemacht worden, der drei kurze Wurfspeere enthielt. Gedankenverloren starrte Garobald vor sich hin und lies die Vision von letzter Nacht nochmal Revue passieren. So bekam er auch von dem Gespräch zwischen Barnabas und Aldec nichts mit.

Schweigend hielt sich der alte Rabensteiner neben der Jagdherrin, die, Boron sei dank, zumindest nicht den Eindruck machte, auf eine flache Plauderei aus zu sein. Leise drangen als Gemurmel die leisen Unterhaltungen der anderen Jagdgäste an seine Ohren, schafften es aber nicht, die Geräusche des Waldes zu ertränken. Eine ganz eigenartige Spannung lag in die Luft, doch noch ließ kein Keckern eines Hähers, kein tiefes Schweigen unter dem Laubdach der Bäume warnte vor Ungemach – und dennoch stellten sich seine feinen Härchen an Nacken und Armen auf. Wachsam und mit allen Sinnen musterte er seine Umgebung – er hatte es mit langer Erfahrung gelernt, seinem Bauchgefühl in diesen Dingen zu vertrauen.
Stille war nicht allein dem Raben heilig – auch der Grimme Jäger verachtete Geschwätzigkeit. ‚Für jedes bei der Jagd gesprochene Wort wird einer deiner Speere fehl gehen’ – diese Worte wurden in Nablafurt jedem Jagdpagen mit auf den Weg gegeben. Und Leuina hatte diesen Satz ebenfalls verinnerlicht. Wenngleich dies zwar die Jagd zu Ehren des Heiligen Jarlak sein mochte, war doch viel Volk anwesend welches andere Traditionen pflegte.
Von hinten hörte sie die Stimme ihres ältesten Waidgesellen ohne die Worte zu verstehen. Ihre Jäger wussten sehr gut, dass die hohen Gäste nicht verprellt und vergrämt werden durften und so waren sie etwas gesprächiger als sonst üblich. Alles verlief also wie es sollte.
Auch Melcher hatte seinen Platz in der Formation inzwischen gefunden, die Armbrust schussbereit, schräg über den Oberschenkeln liegend, ritt er vor Biora und neben der blonden Isotta. Gelegentlich ging sein Blick hinüber zu der jungen Schönheit die gestern Nacht den Firunsdienst mit ihrem Ringen gegen Marisya eröffnet hatte. Zu so früher Stunde schien ihm jedoch wenig an einer Plauderei zu liegen, dies würde sich bestimmt ändern sobald die Blätter ihre Wirkung zeigten. So genoss er die frische, aromatische Waldluft und ritt schweigend nebenher.

Zur Warte

Gut eine Stunde zog sich der Ritt der hohen Jagdgesellschaft. Noch führte ein ausgetretener Steig an den Hängen des Vorderkosch entlang und tiefer hinein ins Gebirge. Zu ihrer linken plätscherte in hundert Schritt Tiefe ein Gebirgsbach fröhlich vor sich hin, tief eingeschnitten in des Kosches tiefe Wunde. An den gegenüberliegenden Felswänden ließ sich manche Gams erblicken, doch zu weit für einen Schuss und Gams ward auch nicht freigegeben. Gut passierbar war das Gelände durchaus, ein sanftes Auf und Ab wenn Felsrinnen und –kämme überquert wurden. In ersteren hatte sich noch Nebel gesammelt der schwadenartig hinab in die Tiefe zog. Doch bald schon kletterte im Osten das Schild des Fürsten über den Horizont und tauchte den herbstlichen Gebirgswald in ein sattes Gold – der Gesellschaft und dem Anlass angemessen.
Das Ziel war, dies wussten die Gäste von den Gesprächen mit den Waidgesellen am Abend zuvor, eine sogenannte Warte im Wald. Dort würde Bernbrecht, der Rüdemann, zusammen mit Madawin und der Leithündin auf die Gäste treffen. Dieser hatte wohl bereits mit dem Hund vorgesucht um die Fährte des gesuchten Hirsches ausfindig zu machen und dann die Gesellschaft auf diesen führen zu können. Dort würde es auch Gelegenheit geben, ein erstes Frühstück zu sich zu nehmen. Denn das laute Knurren eines hungrigen Edlenmagens hatte auf der Jagd schon manches Wild verschreckt!

„Reh! Links! Hinten!“, tönte die tiefe Stimme des Jagdmeisters durch die Stille des Waldes. Er hatte zuerst die zwei Rehe gesehen, die nun hastig zur nächsten Dickung sprangen. Diese, eine Gruppe mannshoher Tannen, befand sich schräg hinter der Jagdgesellschaft. Die ersten Sprünge des aufgeschreckten Wildes waren flüchtig, doch noch nicht hoch flüchtig und so mochte ein guter Schütze oder Werfer diesem die Waffe antragen.
Auf der Stelle war die Edle hellwach als sie die Stimme ihres Getreuen hörte. Auch zuckte kurz die Hand, in welcher sie den Wurfspeer schon die ganze Zeit gehalten hatte, doch ließ sie das Wild ziehen. Es gehörte sich nicht für die Jagdherrin, als erstes Beute zu machen. Sie warf ihrem Nachbarn, dem Baron von Rabenstein, einen kurzen Blick zu um sehen ob dieser Anstalten machte, dem Rehwild nachzustellen. In vorauseilender Umsicht hatte sie ihrem Pferd, einem kleinen Braunen von kräftiger Statur ohne jedem Flux nobler Herkunft, kurz die Schenkelhilfe gegeben und ihn so einen Sprung nach vorn machen lassen. Wenn der Rabensteiner wollte wäre ihm nun das Schussfeld frei.
Biora schreckte aus der Betrachtung der Natur um sie herum und aus anderen Gedanken, als der Ruf des Jagdmeisters ertönte. Sofort erfasste sie die aufgeschreckten Tiere. Die Geweihte ging davon aus, einer der anderen, erfahreneren Jagdteilnehmer würde sicher vor ihr schießen, werfen oder was auch immer. Dennoch lenkte sie ihr Pferd etwas zur Seite, um die Leute hinter ihr nicht zu behindern, doch sie musste anhalten, um die Armbrust aus der Halterung zu ziehen und einen Bolzen einzulegen – nur für alle Fälle, wenn denn noch ein Wild zu sehen war, wenn sie die Waffe endlich schussbereit gemacht hatte. Schon zuckte wieder ein stechender Schmerz durch ihre Schulter, doch sie biss die Zähne zusammen und hob die Armbrust endlich in Schussposition. Tar'anam, der sein Pferd leicht versetzt hinter ihr zum Stehen gebracht hatte, warf ihr stirnrunzelnd einen Blick zu, enthielt sich aber jedes Kommentars.
Zeitgleich mit Leuinas Aktion hatte der Rabensteiner seinen Elenviner innehalten lassen. Er löste mit einer flüssigen, jahrelange Übung verratenden Bewegung seine Armbrust vom Sattel, legte einen Bolzen ein, hob die Armbrust und fixierte einen Atemzug lang sein Ziel, das flüchtende Reh. Er löste den Schuß und der dunkel befiederte Bolzen, ein kleiner, unscheinbarer Todesbote, suchte sein Ziel.

Finmar war wie Biora aus seinen eigenen Gedanken aufgeschreckt worden und war hochgeruckt. Schon griff seine Hand nach dem uralten Jagdspeer seines Vaters, umklammerte das feste Holz, peilte Richtung und Geschwindigkeit der Beute und verharrte. Das war zu weit, zu flink für ihn. Die Tiere würden von seiner Position nur mit Bogen oder Armbrust zu erledigen sein und beides nannte er hier und jetzt nicht sein eigen. Er hatte ganz auf Anderes als die alten Waffen des Vaters verzichtet, wollte diese fast wider besseres Wissen und Vernunft – und nur mit dem wenigen an Geschick, das er in den letzten Monden an diesen Waffen antrainiert hatte – in dessen Angedenken gebrauchen. Wollte irgendwie zeigen, dass es ihm nach all den Jahren gelungen war, den Mann zu ersetzen, unter dessen schweren Schatten er unweigerlich gelebt hatte. Und musste sich doch eingestehen, dass der Schatten schwer wie Blei wog. Hier. Nicht in Punin. Dort war er ganz er selbst. Aber in Wildenberg, wo ihn alles an die Eltern erinnerte… Kurz seufzte er leise und sah dem Wild hinterher, den Speer weiterhin in der Hand wiegend.


Scharf waren die Augen der Jäger gewesen – denn die kleinen Knöpfe, welche der Bock auf seinem Haupte trug, waren kaum als Geweih zu bezeichnen und auch ebenso schwer zu erkennen. Drei Bolzen und ein Wurfspeer zerrissen die Luft – doch nur zwei Bolzen fanden ihr Ziel. Der Bock stieg kurz empor als die zwei Geschosse in seinen Körper einschlugen und sprang nun geduckt und hochflüchtig in die nahe Dickung. Laut tönte aus diesem sodann das Klagen des Rehbockes – er lebte noch.
Marisya und Barnabas gaben ihren Pferden die Schenkel, drei von den kleinen, weiß gescheckten Hunden nahmen sie mit sich. Barnabas warf dabei noch einen letzten Blick in die Runde – vielleicht wollte ja einer der edlen Herrschaften das Recht für sich, den Bock abzunicken.
Die Edle hatte das kleine Spektakel aufmerksam verfolgt und wohl gesehen, wie gut die zwei Bolzen getroffen hatten. Dass der Speer von Ritter Aldec sein Ziel verfehlt hatte – nun, das kam vor. Besser so als die Läufe getroffen. Sie warf einen Blick über die Schulter zu Lucrann und nickte diesem anerkennend zu. Sie hatte wohl gesehen, dass sein Bolzen getroffen hatte.
Der Rabensteiner tippte sich auf Leuinas Geste hin an den Hut und trieb Konya den beiden Jägern hinterher. Trittsicher war der schwarze Hengst und Gebirge gewohnt. Und ein verwundetes Wild entkommen – und sich damit die Beute entgehen – zu lassen, das war keine Sache, die dem alten Baron eingefallen wäre
Währenddessen stieg Anselm aus dem Sattel und zog das Jagdschwert. Er legte es nicht darauf an, vor Lucrann oder den Jagdgesellen den Bock zu erreichen, wohl aber wollte er den Weg zwischen diesen und der übrigen Gesellschaft sichern. Er hatte schon erlebt, wie eine Waldspinne oder ein Riesenschröter einen Kundschafter noch in Sichtweite der Truppen angegriffen hatten, und er hielt es mit der Vorsicht so, dass zu viel immer besser war als zu wenig.
Trotz ihrer Behinderung war Biora fast so schnell zum Schuss gekommen wie einige der anderen Gäste, doch sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, ob ihr Bolzen einer derjenigen war, welche getroffen hatten. Deshalb hatte sie es nicht sonderlich eilig, die Armbrust wegzustecken, das geliehene Jagdschwert zu ziehen und dann ihr Pferd dem geflohenen Wild hinterher trotten zu lassen, dicht gefolgt von dem aufmerksam um sich blickenden Tar'anam, welcher es allerdings noch nicht für nötig befunden hatte, selbst eine Waffe zu ziehen.
Anselms Manöver ließ den Edlen von Wildenberg kurz dem Manne zunicken, dann parierte und wendete er sein Pferd, so dass er den Wald hinter der Gruppe im Auge behalten konnte, sicher, dass Anselm von seiner Position und Leuina von der Ihren die übrigen neuralgischen Punkte abdeckten. Den Jagdspeer entließen seine Finger wieder dem Köcher aus altem Leder an der Flanke des Pferdes, dafür öffnete er die kurze Lederschnur, die sein Schwert sicherte.
Die Jäger ritten voran und sichteten bald die Pirschzeichen am Boden. Barnabas schwang sich aus dem Sattel und wies die Hunde an: „Such verwundt!“ rief er diesen zu – ob diese das Kommando wirklich benötigt hatten, war zweifelhaft, denn diese waren, seitdem die Rehe in Anblick gekommen waren, ohnehin schon aufgeregt genug. Jetzt, da sie geschnallt wurden, folgten sie rasch und aufgeregt bellend der Schweissfährte.
Barnabas ließ das Pferd zurück und folgte zu Fuß den Hunden.
Unterdessen hatte Marisya den Barnabas machen lassen und selbst die Tannendickung mit dem Pferd umschlagen, sodass sie das eventuell ausflüchtende Stück abfangen konnte.
Kaum waren die Hunde in der Dickung, tönte aus diesem ein Geschrei und Getose: Die Hunde waren an dem Bock dran. Barnabas war schon auf dem Weg, das Leiden der Kreatur zu beenden, ebenso wie Lucrann und Biora.

Der Ruf des Jagdmeisters holte Garobald aus seinen düsteren Gedanken. Allerdings benötigte er einige Zeit, bis er sich wieder seiner Umwelt voll bewusst war. Der Edle sah gerade noch, wie der Rabensteiner zusammen mit Barnabas, Biora und ihrem Leibwächter im Dickicht verschwanden, während Anselm sich in Abwehrhaltung vor der restlichen Jagdgesellschaft postiert hatte. Er schollt sich selbst für seine Geistesabwesenheit. Das durfte ihm nicht nochmal passieren. Entschlossen wechselte er seinen Jagdspieß gegen einen der Wurfspeere. Aufmerksam beobachtete er den Wald um sie herum.
Melcher schreckte ebenfalls vom Ruf des Jagdmeisters auf, er hatte zwar in weiter Ferne einiges Wild gesehen aber keines in unmittelbarer Reichweite seiner Armbrust. Die gespannte Schusswaffe über die Oberschenkel gelegt begann er nun aufgeregt mit der freien rechten Hand nach einem Bolzen in seinem Gürtelköcher zu suchen, das handhaben der Armbrust vom Pferderücken schien ihm nun doch schwieriger als gedacht. Als einige der hohen Jagdgesellschaft dem wohl verwundeten Wild hinterher hetzten, fing ob der plötzlichen Situation auch noch sein Elenviner Hengst an zu schnauben und unruhig den Kopf nach oben zu ziehen. Das Tier wieder etwas beruhigend gelang es ihm schließlich erst einen Bolzen in die Führung seiner Armbrust zu legen als er mit Garobald und Anselm zurück geblieben war. Immer noch auf seinem Pferd sitzend beschloss er ebenfalls den Rückweg der anderen zu sichern.

Der Weg durch das Unterholz war eine kleine Plackerei: Ständig schlugen einem die Äste ins Gesicht, zerkratzten selbiges und suchten auch danach, genau ins Auge zu treffen. Weit sehen ließ sich auch nicht, doch das Geläut der Hunde half bei der Orientierung enorm.
Stachelig und mühsam war die Kriecherei durch das Unterholz. Der Rabensteiner war froh an seiner stabilen Lederkleidung, auch wenn er auf den Harnisch hierbei gut hätte verzichten können – so lange zumindest, bis ein verwundetes Tier sich zum Angriff entschloss. Er hielt seine Waffen fest, damit diese sich nicht in den gierigen Fingern der Tannwedel verhakten, bis endlich wieder der Jagdgehilfe und die aufgeregten Hunde in Sicht kamen.
Die Geweihte folgte hinter Barnabas und Lucrann zwischen die Bäume, das Pferd notgedrungen zurücklassend. Allerdings ließ sie Tar'anam den Vortritt, so dass dieser die widerspenstigsten Zweige und Äste, welche ihre Vorgänger noch nicht geknickt hatten, aus dem Weg drücken konnte, denn da sie rechts das Schwert hielt, musste sie alle Räumarbeit mit der Linken verrichten, und dieser Arm hing nun mal an ihrer verletzten Schulter, so dass sie den Weg des geringsten Widerstands suchte. Wenigstens kam Biora hier ihre zierliche Statur zupass, der das Unterholz sicher weniger Widerstand bot als den ausladenden Gestalten manch anderer Jagdteilnehmer. Sie lauschte auf das infernalische Gebell der Hunde und versuchte abzuschätzen, ob sie sich dem verletzten Reh näherten.
Tar’anam war somit der erste der Adligen, der das verletzte Reh erspähte – zu Fuß und im Dickicht hatte der Baron von Rabenstein auch gegen eine verletzte Biora von Rickenhausen keinerlei Möglichkeit, schneller als diese zu sein. Was sich somit erst dem Leibwächter, dann der Baronin und zu guter letzt auch Lucrann offenbarte, war eine Szene die man von Malereien und Fresken nur zu gut kannte: drei Hunde hatten sich in den Rehbock verbissen, dessen Flanke mittlerweile rot vom Blute war. Neben dem Bock stand, den Hirschfänger schon gezogen, der Waidgeselle Barnabas und blickte erwartungsvoll in Richtung der ankommenden Schützen. Obwohl es ihm als Firungläubigen innerlich das Herz zerreissen musste, daneben zu stehen während sich die Kreatur in Todesqualen wandt und markerschütternd schrie, so bewahrte er doch Haltung und beherrschte sich. Der Todesstoß galt bei diesen Jagden dem Adel und nur im Falle der Gefahr musste und sollte er selbst eingreifen und diese höchste aller Ehren für sich beanspruchen.
Tar'anam brach als Erster durch das dichte Unterholz und nahm die Szene mit einem Blick auf. Seine Baronin direkt hinter sich wissend, zog er sein Tuzakmesser und machte einen Schritt zur Seite, um ihr die Entscheidung zu überlassen.
Biora spielte kurz mit dem Gedanken, auf Lucrann zu warten, der, soweit sie das mitbekommen hatte, nicht weit hinter ihr sein dürfte, aber angesichts der offensichtlichen Qual des Tieres sprang sie ohne weiter zu zögern entschlossen nach vorne und bohrte mit einer energischen Bewegung Yidariwin in die Flanke des Rehs.
Justament an diesem Augenblick bahnte sich auch der alten Rabensteiner seinen Weg durch das Gestrüpp. Seine Knie schmerzten und die Rickenhausenerin war ihm auch zuvorgekommen. Als er der Situation ansichtig wurde, hielt er jäh inne. Seine Miene versteinerte und seine Rechte schloß sich um den Griff seines Linkhanddolches. Er sagte kein Wort, doch der Blick, der auf dem Rehbock und dem Jagdschwert der Gratenfelserin lag, erzählte Bände.
Der Stich des Schwertes ließ den Bock noch ein letztes Mal aufbäumen, ein letztes Mal laut aufklagen, sodass selbst die Hunde für einen Moment in ihrem Geläut verstummten. Ein hoher heiliger Moment, in welchem Satinav den Lauf der Zeit verlangsamte um allen Anwesenden zu erlauben, dies Sterben in aller Fülle zu schauen. Dann war es vorbei und getan: Der Bock war tot. Barnabas zollte mit seinem Gruß den artigen Tribut an das gewesene Geschöpf und seine Streckerin, die Baronin von Rickenhausen.
„Kurimsheil!“, sprach er und schien ihr damit eine Art Glückwunsch auszusprechen. Doch dass dieser Kurim jenseits der Nabla bisweilen anstelle von Firun verehrt wurde und hierzulande als Synonym für gute Jäger galt mochte selbst die Hesindegeweihte nicht unbedingt wissen.
Da sie der firnun'schen Etikette, zumal der hierzulande gepflegten, nicht im Speziellen mächtig war, beließ Biora es bei einer kurzen Verbeugung mit dem Schwert vor Barnabas und dem getöteten Tier.
Tar'anam hielt sich im Hintergrund, behielt aber seine Waffe in den Händen, als halte er die Gefahr für noch nicht vorüber. Aufmerksam hielt er nicht zuletzt den Rabensteiner im Auge, dessen Blick ihm, im Gegensatz zu seiner Baronin, nicht entgangen war.
Der Rabensteiner fing des Blick des Leibwächters und einen Lidschlag lang drangen diese wie Klingen aufeinander ein. Bedachtsam löste der alte Isenhager seine Hand vom Griff seines Dolches. Aprupt wandte er sich ab.

Der Waidgeselle griff zu seinem Hifthorn und sein Mund entlockte dem groben Horn eine gar wundersam klingende Melodie. Während er die ersten Töne anspielte, ging ein Mordsgetöse los, gleich so, als würde ein Banner Schwere Panzerreiter der Herzöglichen Flussgarde durch den Wald brechen: Eine Rotte sauen hatte sich unweit des kleinen Grüppchens in der Dickung gedrückt und nun wohl beschieden, dass es hier zu unsicher sei. Das Hornsignal zum Anlass nehmend brach die über zehnköpfige Rotte durch das Unterholz, wenige Schritte neben den Herrschaften entfernt und doch verborgen hinter dem Tannreisig. Barnabas zuckte zwar zusamme ob dieser Störung, ließ sich jedoch nicht beirren und vollzog weiter seine Pflicht, die er selbst als heilig erachtete: Das Signal war der Seele des Bockes letztes Geleit, nichts sollte ihn davon abhalten ihm dieses Geleit zu geben, und wenn es seinen eigenen Tod bedeutet hätte.
Biora fuhr, noch ganz vom Eifer des Gefechts durchflutet, blitzschnell herum, als die Wildschweinrotte sich so vehement bemerkbar machte, doch als klar war, dass nicht die Gruppe um das tote Reh das Ziel der Borstenviecher war, entspannte sie sich und begann, ihr Schwert mit einigen Blättern halbwegs zu reinigen. Allerdings wurden ihr nun die Knie etwas weich, ihre verletzte Schulter ließ auf einmal jegliches Grfühl vermissen und die Bäume begannen seltsam hin- und herzuschwanken, doch da fühlte sie einen festen Griff um den rechten Oberarm, der sie nach einigen Augenblicken der Benommenheit wieder gerade stehen ließ. „Alles in Ordnung?“ raunte Tar'anam ihr zu, und sie nickte mit einem etwas schiefen Lächeln, woraufhin der Edle sie wieder losließ, einen Schritt zurücktrat und mit sorgenvoller Miene den Geräuschen von außerhalb der Dickung lauschte.
Erst jetzt schien Biora die Anwesenheit Lucranns aufzufallen, und sie warf diesem einen fragenden Blick zu, schien er ihr doch ein wenig steif und angespannt zu sein.
Weshalb nur mußten die Jäger jedem Tod mit derlei Getöse begegnen? Reichte es nicht, wenn der Alte zu seinem Recht kam und ihm schweigend gehuldigt wurde? Als die Töne verklangen, ließ er den Atem ausströmen, von dem ihm nicht bewußt war, ihn angehalten zu haben. Auf den Blick der Rickenhauserin hin dreht er sich um und hinkte zurück zum Pfad, wo das Inferno in Form der Schweinerotte über die Jäger hereingebrochen war.

Die Feuerprobe

Ausserhalb der Dickung vernahm der Rest der Gesellschaft recht wenig von dem Spektakel, welches sich darin abspielen musste. Hunde bellten und ein einzelnes Reh klagte in schierer Todesangst, als könnte sein lautes Geschrei sein Schicksal noch abwenden. Doch Barnabas war in der Dickung verschwunden, ebenso wie die Baronin von Rickenhausen samt Begleiter und auch, wenngleich weniger behände denn die anderen, der Baron von Rabenstein hatte den mühevollen Marsch in die Dickung aufgenommen. Mehr als zusehen und sichern blieb für den Rest der Gesellschaft vorerst nicht zutun – wenngleich die aufkommende Spannung den noch frühen Morgen zu zerreißen drohte und fast jeden einzelnen der wartenden Jäger erfasst hatte.
Bis ein gellender Ruf Erlösung brachte – denn was dem Wachenden die schlimmste Gemütsprobe war, war die Ungewissheit. Doch als Marisyas helle Stimme erklang und von der anderen Seite der Dickung hinüber rief:
„Sauen!“
War die Ungewissheit hinfort und augenblicklich der Erkenntnis gewichen, dass die Sinne nicht umsonst geschärft worden waren.
Kaum war ihre Stimme verklungen, brach aus der Dickung mit ungeheurem Getöse eine ganze Rotte Schwarzwild heraus: sechs ausgewachsene Tiere und im Gewusel und in der Vergänglichkeit des Augenblickes kaum zählbare Anzahl an Frischlingen.

Leuina und Aureus reagierten zuerst. Mussten sie auch, denn die Rotte hielt schnurstracks in ihrem Lauf auf die Spitze der Gesellschaft zu. Aureus zögerte nicht und sprang aus dem Sattel, den langen Spieß schon in Händen und bereit, die Flanke vor dem Ansturm der Rotte zu sichern. Leuina ließ ihr Pferd eine Drehung vollziehen, sodass es nun mit der Stirnseite zu den anrennenden Wutzen stand. Silbern glänzte die schmale Klinge ihres Schwertes im Lichte.

Isotta, weiter hinten in der Kolonne, versuchte unterdessen sich und ihr Pferd zwischen die Sauen und Melcher zu bringen, den Wurfspieß hielt sie dabei bereit zum Stich von oben falls es eine der Schwarzkittel wagen sollte, diesem zu nahe zu kommen...

Finmar und die Sauen

Von seiner Position am Ende der Gesellschaft aus wurde auch Finmar auf den Lärm der heraneilenden Rotte aufmerksam. Das Schwert, um welches sich seine Hand bereits geschlossen hatte, sprang wie ein lebendes Wesen aus seiner Scheide, bevor der junge Mann der Handlung überhaupt gewahr worden war. Sein Kopf ruckte herum und schätzte die Situation ab. Wie der Galebqueller memorierte auch der Wildenberger das Erlernte des Waidwerkes und versuchte, die Situation abzuschätzen, während sein Pferd bereits dem Schenkeldruck gehorchend die Position wechselte, in den gedachten Weg der Rotte hinein. So würde er nach Roklan eine Art zweite Mauer bilden, an die das Wild anrennen würde. Zumindest einer der Überläufer sollte ihm sicher sein. Genau nahm er die herannahende Rotte in Augenschein. Wem folgten die Tiere, welche Bache mochte den Sturm befehligen? Und in den wenigen Sandkörnlein, während derer er des Ansturmes harrte, das Schwert fest im Griff, bat er stumm zum Gott der Jagd, seine Hand zu leiten und ihn ein dem Grimmen gefälliges Ziel zuzuführen. Dann zielte er, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, und stieß mit aller Kraft seitlich am Pferde vorbei hinunter.
Weit musste sich der Neidensteiner im Sattel herabbeugen. Mit seinem linken Oberschenkel klammerte er sich am Rücken des Pferdes fest. Sein Rumpf, seine Schulter, sein Arm – alles vollführte in schier rondragefälliger Manier eine fließende Bewegung, einem Bogen gleich der seine Vollendung in einem tödlichen Stich durch sein Jagdschwert fand. Wahrlich, jeder Kürassier wäre auf der Stelle erblichen vor Neid beim Anblick dieses gekonnten Manövers!
Sein Ziel war eine der schwächeren Überläuferbachen in der Mitte der Rotte. Sauber versank er die scharfe Klinge im Brustkorb des Tieres. So kraftvoll war sein Stich gewesen und so geschickt die Weichung seines treuen Rosses, dass sein Schwert beinahe bis zum Heft im Körper der Sau verschwand. Ein lautes Quieken war die erste Reaktion seiner Beute, doch verhielt es mitnichten im Lauf! Nein, weiter rannte sie und riss das Schwert dabei mit sich – und Finmar, dem einmal beigebracht worden war dass ein Mann ohne Waffe in der Schlacht ein toter Mann sei, kannte keinen Reflex, der ihm das Loslassen des Schwertes ermöglicht hätte und wurde aus dem Sattel gerissen.
Dass er beim Aufprall auf den Boden seinen Oberarm auf einem abegbrochenen Ast schier aufspießte würde er erst nach dem Gefecht mit den Sauen bemerken – und wahrlich, es war ein Gefecht! Finmar konnte dankbar sein, dass ein eisiger Grimm Besitz ergriffen hatte von seinem Herzen und es ihm ermöglichte, geistesgegenwärtig und bar jeder körperlichen Empfindungen, die Arme schützend über seinen Kopf gerissen, über den Boden zu rollen und so weit weg von der nächsten heranstürmenden Sau zu kommen. Lediglich einige Frischlinge kreuzten seinen Weg, beschieden jedoch, ihn nicht weiter anzugehen und einfach über ihn drüber zu springen, sodass er lediglich noch einige Tritte von deren Läufen abbekam.
Seine Sau indes hatte sich, trotz des Schwertes, dass quer in ihrer Brust steckte, nicht davon abhalten lassen, noch weiter zu rennen und auf ihrem Todesweg noch soviele Opfer wie möglich mitzunehmen...

Das Missgeschick des Bregelsaumers

Mit festem Druck der Schenkel befahl Melcher seinem Pferd wenige Schritte nach vorne zu tun um zwischen Isotta und Wilmibert wieder freies Schussfeld zu bekommen. Als er sah wie eine der Sauen auf Wilmibert zuhielt legte er, überraschend ruhig zum Schuss an und...verfehlte es. Dafür traf er den Schwarzkittel dahinter, welcher gerade auf den Jagdmeister zugerannt kam genau auf's Blatt. Vor Schmerz riss das Tier das Gebrech empor und quiekte laut und jämmerlich, rannte jedoch weiter auf sein mit einem Stoßspeer bewaffnetes Ziel zu, ungeachtet seiner Verletzung. Gleiches galt für die noch muntere Wutz, welche es noch immer auf Wilmibert abgesehen hatte und auf diesen zupeste.... Melcher wusste das dies sein einziger Schuss gewesen war, da er die Schwere Armbrust zu Pferde nicht spannen konnte. Er entschloss sich dazu das schwere Ding vorerst los zu werden und ließ sie in ein dichtes Gebüsch gleich am Wegesrand fallen.
Die Sau, die in seine Richtung schoss, hatte der Burggraf gehört bevor er sie tatsächlich sehen konnte. Grunzend brach sie sich durch´s Unterholz. Dann erkannte er sie im Augenwinkel, drehte sich ihr zu und blickte ihr ins Auge. Sie war anders als die anderen Schweine ihrer Rotte: ihr Borstenkamm war hell, von jener fahlblonden Farbe, wie er es davor nur bei den meilersgrunder Straßenkötern in den verschlammten Gossen Gareths gesehen hatte. Von diesem physiognomischen Detail etwas zu sehr abgelenkt, merkte er zu spät, dass Rastaro, sein Rappe, scheute. Er spannte seine Unterschenkel an, zerrte etwas zu fest an den Zügeln... der schöne Almadaner bäumte sich auf. Zwar versuchte Wilmibert das Gleichgewicht zu halten, doch zeitgleich wollte Rastaro der Wutz ausweichen und so rutschte der hohe Herr aus dem Sattel, über den Rücken des Pferdes hinweg. Immerhin gelang es ihm noch, sich erstaunlich elegant abzurollen. So kam er neben der Sau zu liegen.
Das Wildschwein musste wohl ob der Reaktion des Rappen auch mehr als irritiert gewesen sein, denn es blieb abrupt stehen. Nicht ohne eine gewisse Geistesgegenwart nutzte Wilmibert den Augenblick: Schnell wie Rondras Blitz zückte er das Jagdschwert und präzise stach zu. Er hätt´ die Wutz sicher tödlich getroffen, wenn diese sich nicht plötzlich und unvermittelt um ein Viertel gedreht hätte. Dafür hatte sie nun einen roten Striemen an ihrer recht Flanke. Sie blutete und rannte weiter, wie von der Marakskantarantel gestochen. Im dichteren Unterholz verlor Wilmibert sie aus den Augen.

Ibenburger am Boden!

Man hatte dem Vogt nicht zuviel versprochen: Er wurde Zeuge eines Gefechtes, welches nicht härter und unerbittlicher geführt hätte können wenn die Gegner Orken gewesen wären! Was mit Wilmibert und seiner Sau auch geschah – er nahm es kaum noch wahr denn soeben war der Neidensteiner während des Todesstoßes vom Pferd geholt worden! Und etwas ganz und gar bizarres nahm nun Kurs auf die Gruppe um Melcher, Wilmibert und Roklan: Ein Wildschwein, in dessen Brustkorb ein Jagdschwert steckte, sodass schier Griff und Spitze herausragten! Mit gespanntem Atem, doch ohne gespannter Armbrust, harrte der Vogt des Grafen darauf, dass die Sau doch nun endlich tot umfallen möge wie es verdammt noch mal zu sein hatte, bei Boron! Doch sie tat es nicht. Sie schien dem Drescher noch zu entkommen, schlug gar noch einen Bogen um Isotta, welche schräg hinter Melcher mit dem Speer auf sie geharrt hatte, um dann doch durch die Beine von des Vogtes Pferd zu rennen, aufgeregt quiekend und das Gebrech hinaufwerfend. Es kam, wie es kommen musste: Das Pferd des Vogtes scheute. Sein Reiter war zwar geübt im Sattel und sonst untrennbar mit diesem verschmolzen, doch der Anblick der gespießten Sau hatte ihn zusehr im Bann gehalten sodass es ihn der Überraschung aus dem Sattel warf.
Unsanft schlug er mit der rechten Körperhälfte auf der Erde auf. Ein stechender Schmerz fuhr blitzartig in seine Schulter. Jetzt nur die Ruhe bewahren, dachte er sich, nachdem er sich auf den Bauch gerollt hatte. Gedanken schossen ihm durch den Kopf, über Dinge die man ihm für so einen Fall, militärisch knapp beigebracht hatte. Erst mal zurückziehen und neu formieren! Der Feind hatte sich wesentliche Vorteile des Geländes zunutze gemacht und seine taktische Überlegenheit voll ausgespielt, so hätte man das Desaster das sich hier anbahnte seinem Vorgesetzen erklärt. Das Gebüsch! in das er die Armbrust soeben geworfen hatte, fiel es ihm ein. Mehr stolpernd als gehend brachte Melcher sich hinter dem Gebüsch in Deckung um sich erst einmal neu zu sammeln.

Zu Hilfe!

Roklan zuckte zusammen, als der Warnruf Marisyas dröhnte. Sein Kopf fuhr herum, seine linke Hand ruckte zu seinem Heft an der rechten Seite und zog sein Jagdschwert. Sternenfeuer tänzelte zwei Schritte zurück, doch sie blieb ruhig. Sie war Kriege gewohnt, Wildschweine schienen sie nicht sehr zu beeindrucken. Roklan sichtete die Rotte, suchte in seinem Kopf blitzartig nach seinem anatomischen Wissen über Wildschweine. Die Sauen waren groß und kräftig, die flinken Füßchen berührten den Waldboden kaum, so schnell bewegten sie sich. Das Gequieke und Gekeife war durchdringend scharf. Geschickt wichen die Frischlinge den Hufen der Pferde aus. Roklan sichtete die Sauen, eine wirkte besonders rund und schwerfällig. Etwas in ihm sagte, schrie förmlich: ‚Diese nicht! Bei Ifirn, diese nicht!‘
Also suchte er sich ein anderes Opfer. Eine Sau raste auf ihn und Wilmibert zu, bereit ihre Frischlinge bis zu Golgaris Ruf zu verteidigen. Der Galebqueller musterte sein Schwert, reichte es aus? Würde die Klinge langen? Die Sau raste auf ihn zu, die Füßchen, die Hufe trippelten rasend schnell über den Waldboden, schlugen tiefe Kerben in die Erde. Roklan befahl Sternenfeuer, sich bereit zu halten, bellte Ystävä einen Befehl zu, zu weichen. Die schwarze Hündin sprang behände zur Seite – sie konnte nie im Leben mit einer wütenden Bache aufnehmen.
Sekundenbruchteile waren nur vergangen, gleich kam es zum Aufprall, würde das Jagdschwert ausreichen?

Die Sau welche auf Roklan zuhielt war jene, welche es vollbracht hatte den Vogt zu Fall zu bringen. Doch auch Roklan war es nicht vergönnt, sie nun endlich zum Tode zu befördern: obwohl das Schwert in ihrem Brustkorb sie beim Laufen einschränkte, schlug sie vor dem Baron von Galebquell noch einen engen Haken und entging so seiner Klinge. Auch sie brach ins Unterholz und verschwand aus dem Blickfeld der Gesellschaft.

Die beiden Vögte hatte es auf den Boden der Tatsachen geholt, allein der Baron von Galebquell hielt sich noch wacker im Sattel. Für Leuina als Jagdherrin eine Situation, die desaströser nicht hätte sein können: Sie hatte schon Finmar fallen und von Sauen überrennen sehen, doch er bewegte sich noch und hatte auch keine größeren Schmerzenslaute von sich gegeben.
Nun war es an der Zeit, ihre Gäste vor den anstürmenden Sauen zu schützen. Befehle brauchte sie dafür nicht: Nachdem eine Sau direkt vor Aureus sauber beschossen worden war und sein Speer ihr den Rest gegeben hatte, schwang sich wie selbstverständlich auch Isotta aus dem Sattel. Zu dritt rückten sie etwas näher zu den Gästen auf und bildeten einen Speerwall vor Wilmibert und Melcher.
Geistesgegenwärtig erkannte Leuina noch, dass Melcher von Ibenburg gerade bar jeder Waffe am Boden war: Sein Schwert hing noch am Sattel des Pferdes.

Ihre nächste Tat war eine, deren Größe wohl erst im nachhinein und selbst dann nur von jenen verstanden werden konnte, die sowohl Leuina als auch das Erbe ihrer Familie gut kannten. Die wussten, was es mit den alten Dingen auf sich hatte. Und für alle anderen wurde aus dieser Tat zumindest der Ernst und die Aufrichtigkeit der Jagdherrin ersichtlich, die über Herz und Wille verfügte diese Jagd so heilig zu zelebrieren wie es bestimmt war und jeden Zorn über persönliche Zwistigkeiten aussen vor zu lassen.
„Melcher!“, ihre Stimme klang hell über das Getöse der heranstürmenden Sauen. Mit flinken Fingern hatte sie die Schnallen gelöst, welche ihr Jagdschwert am Gürtel hielten. Kaum war der Angerufene stehen geblieben und hatte sich ihr zugewandt, warf sie ihm ‚Aijijuk’, das Schwert der Erben von Bilgraten, zu. Sie selbst sah noch, dass er die Waffe recht gefangen hatte und ergriff nun den Spieß mit beiden Händen um die anrennenden Sauen abzuwehren.

Seine scharfe Klinge war noch verborgen in der ledernen Scheide, sodass der Vogt die Waffe gut und sicher fangen konnte. Ungewöhnlich leicht lag sie ihm in der Hand, die Hand umschloss sicher den Griff – es war, als würde er in das aufgerissene Maul eines Bären greifen, welcher ihn aus kristallenen Augen wütend anfunkelte.
Er zog die Waffe aus der Scheide, die Klinge zeigte auch im diffusen Dämmerlicht des vormittäglichen Waldes einen ganz eigenwilligen Silberschein. Dies war Kristallwächter, Aijijuk, die Waffe jener Jäger, welche hier für den Grimmen Kriegsherrn ihr Banner in die Schlacht führten. In eine Schlacht gegen jene Wesenheiten, welche das Gleichgewicht der urtümlichen Wildnis störten und Feinde jener Ordnung waren, welcher man sich im „zivilisierten“ Süden so sehr brüstete. Melcher hielt dies alte Schwert in Händen, welches Ifirn und Firun gesegnet, geweiht war und wusste augenblicklich, dass jede kulturelle Errungenschaft nur bestehen konnte, weil sie mit diesem Schwerte beschützt wurde. Hier in diesen Landen verlief die Grenze zwischen Chaos und Harmonie, zwischen Winter und Sommer, zwischen Kultur und Barbarei – und die Nablafurter – Neidensteiner wie Bilgratener – hielten die Grenze und würden es immer tun: Für den Glauben, für die Menschen, für den Herzog.

Während sich die Waidleute, die Jagdherrin eingeschlossen, den letzten großen Sauen stellten – dem aufkommenden Gequieke nach machten sie ihre Sache gut – wuselten reichlich mittelgroße Frischlinge zwischen ihnen hindurch: Für Roklan, Melcher und Wilmibert war es an der Zeit, blutige Ernte unter ihnen zu halten.
Als Melcher von Ibenburg das Familienschwert derer von Bilgraten in die Hand genommen hatte und sich seine Finger um den Griff legten, spürte er ein anheimelnde Wärme einen Arm hinaufsteigen. Nun trat er ebenfalls in die Reihe zu Roklan und Wilmibert, nicht der fehlende Mut hatte ihn zunächst Schutz suchen lassen, es war die weise Entscheidung eines Offiziers sich nicht unbewaffnet auf eine Schlacht einzulassen. Als er mit der Waffe in der Rechten auf die anstürmenden Sauen wartete, machte sich in ihm ein Gefühl breit. Das auf eine eigenartige Art und Weise den Weg in seinen Geist zu finden schien. Keine blinde Mordlust, profane Rache oder grausame Blutgier war es, es war eine beinah frömmige Milde gepaart mit der untrüglichen Gewissheit Dinge tun zu müssen, weil sie sonst kein Anderer tun würde und sie andrerseits getan werden mussten. Schon war die erste Sau heran – Melcher stand breitbeinig in seiner ganzen Länge und Kraft, das Schwert sauste herab und traf eine der Sauen am Kopf. Diese stürzte jedoch beinahe unbeirrt weiter auf den Vogt zu. Nur ein schneller Schritt zur Seite bewahrte den Gratenfelser vor den Hauern der Sau. Nun stach er wild auf die vorbeirennende Sau ein, einmal, zweimal, dreimal. Die Klinge fuhr immer wieder in den Körper der Sau ein.
Roklan sprang von Sternenfeuer, mit einem gedämpften Geräusch landete er auf dem Waldboden auf seinen Füßen, seinen Jademilan in der Hand. Ein Frischling, offenbar ein halbwüchsiger, hielt auf ihn zu, seine flinken Hufe schlugen tiefe Wunden in den Boden. Er schlug einen Haken, sprang zur Seite. Der Baron von Galebquell sah sich dem Tier gegenüber, er wusste, er war hier auf einer Jagd. Der Grimme forderte Blut – also atmete der galebqueller Jäger tief durch, damit es nicht seines sein würde. Ein kurzer Blick verschaffte ihm eine Übersicht, zumindest eine teilweise – all dies geschah in Sekundenbruchteilen. Der Frischling stürmte heran, Roklan hob Jademilan zum Stich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, Roklan wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Seine Füße schwangen in die Luft, er riss die Arme hoch, die Augen auf. „WAH!“ presste er hervor, sah noch ein weiteres Wildschwein unter ihm hinwegstürzen, auf seiner Flanke rutschend. Krachend kam Roklan auf dem Boden auf, einen Moment wurde es dunkel, dann sah er nur noch Sterne, sein Schwert immer noch in der Hand. Er spürte unter seinen Schenkeln die dicke Haut eines Wildschweines, das sich gerade aufrappelte.
Schon war der Burggraf zur Stelle: Mit einem gezielten Stich pfählte er den Schwarzkittel von der Seite. Ein Bersten ertönte, als er sein Schwert um neunzig Grad drehte, einige Rippen brachen und so Luft in den Brustkorb der Sau strömen konnte. Ein jämmerliches Quieken war das letzte, was man von der Sau hörte – dann hauchte sie ihr Leben aus.
Das einzige, was die Sau und den Galebqueller gerade unterschied, war der Umstand, dass aus ersterer Blut in Strömen lief, aus letzterem nicht. Roklan stöhnte und versuchte sich, irgendwie zu bewegen. Doch der Schmerz, der durch seinen Körper zuckte wie einer von Rondras Blitzen, war zu stark. „Heilige Herrin Peraine!“ durchfuhr es ihn. Die Sau hatte ihn böse erwischt und der Boden noch viel schlimmer.
Immer noch drehte sich der Wald ganz bedrohlich um ihn herum, immer noch hielt er sein Schwert fest in der Hand. „Hochgeboren…“ riss ihn die Stimme des Burggrafen aus seiner schmerzverzerrten, schmerzverschobenen, schmerzerfüllten Welt. Roklan öffnete ein Auge. Helligkeit! Die Bäume, konnten sie nicht stehen bleiben?! Dann öffnete er ein zweites. „Es geht…“ keuchte er.
„Geht es Euch gut?“ Erstaunlich mitfühlend klang Wilmiberts Stimme, so sehr, dass Roklan sich fragte, ob es wirklich der kaiserliche Burggraf war, der jetzt sprach.
„Ja…“ Er versuchte, sich zu bewegen. Er konnte es, doch ein Zucken ging durch seine Wirbelsäule – immerhin, sie war noch vorhanden und schien in einem Stück zu sein.
„Ich ziehe nun die Sau unter euch heraus.“ Roklan spürte, wie etwas schweres, weiches, voluminöses sich unter seinen Beinen bewegte. Auch das ein gutes Zeichen – er spürte seine Beine, sie waren also noch vorhanden. Es dauerte einige Augenblicke, in denen der Galebqueller das angestrengte Ächzen des Burggrafen hörte und mehrere ruckartige Schübe spürte. Dann rutschten seine Beine auf den weichen Waldboden. Langsam normalisierte sich sein Gefühl wieder. Plötzlich tauchte ein schwarzer Schemen neben ihm auf. Er fuhr im ersten Moment zusammen, dann erkannte er Ystävä. Sie legte sich neben ihm und wedelte mit der buschigen Rute.
Nun ging auch Wilmibert neben ihm ihn die Hocke. Sah ihn an.
„Hochwohlgeboren…“ Roklan rang um sein Gleichgewicht, ihm war doch ein wenig schwummerig – um es dezent auszudrücken. „…sagt, könntet Ihr mir aufhelfen?“
Das Gesicht des jungen Barons war leichenblass. Er selbst saß in einer Lache aus Blut – oder war es Schweiß?. Seine Beinkleider zerrissen, die Haut darunter glänzte von sattem rot. Und dies nasse Rot strömte, pulsierte munter seine Waden hinab. Nein, Schweiß war es gewiss nicht. Es war das Blut des Barons. Zusammen mit der blassen Gesichtsfarbe musste der Burggraf kein studierter Medicus sein um zu wissen, um was es ging. Dass Roklan noch so munter tat, und in Anbetracht seiner Verletzung war er munter zu nennen, gar keine Frage, musste die Gabe Firuns sein. Die Medici sprachen dabei allerdings lieber vom Schock.

Stark im Rudel

Zu weit weg um Einzelheiten zu erkennen zögerte Garobald mit dem Wurf seines Speeres. Stattdessen trieb er sein Pferd nach vorne um rechts neben Anselm Position zu beziehen. Dort sprang er aus dem Sattel, legte sich den Jagdspieß bereit und hob den Wurfspeer bereit zum Wurf.

Durch das Unterholz hindurch versuchte Anselm, die Situation einzuschätzen. Die Sauen trafen auf die Jagdgesellschaft, das war nicht zu vermeiden.
Er konnte von seiner Position aus nicht gleich eingreifen, also lief er los, um die Schwarzkittel von der hinteren Flanke aus anzugehen. Um den Sturmlauf der Wildschweine abzubremsen und sie zu irritieren, riss er die Arme hoch und schrie, schlug im Vorbeilaufen an die Borke der in Reichweite stehenden Bäume.
Das Unterfangen des Hauptmannes war durch und durch von Erfolg gekrönt: Er irritierte tatsächlich eine der Wutzen samt einer Hand voll Frischlinge. Allerdings hatte er die Aggressivität der Sauen wohl unterschätzt, denn anstatt vor ihm und seinem Getöse zu fliehen, hielten ihn die Schweine wohl für leichte Beute und rannten nun schnurstraks auf ihn zu: Anselm sah sich einer ausgewachsenen Sau und dreier Frischlinge konfrontiert, die ihn ebenfalls im Sturmlauf angehen würden.
Die Situation sofort erkennend, und um die Gefahr wissend, sprang Aldec ihm zur Seite, das Jadtschwert schon gezogen. Er rief: „Deckt Eure Beine, sonst zerfetzt sie die Schenkel!“
Garobald fixierte die anstürmende Sau, holte aus und warf mit brutaler Wucht den Speer nach ihr. Leider hatte der die Geschwindigkeit der wütenden Sau falsch eingeschätzt und so traf der Speer nicht die Flanke des Tieres sondern streifte stattdessen nur die Kehrseite. Anstatt die Sau zu bremsen oder gar zu Fall zu bringen beschleunigte diese nur noch und stürmte nun auf ihre kleine Gruppe zu. Schnell griff er sich den am Boden liegenden Jagdspieß und ging neben Anselm in eine Abwehrhaltung, ähnlich wie sie ein Pikenier gegen einen Reiter einnehmen würde.
Schnell griff Anselm sein Jagdschwert um. Mit der Linken packte er die Waffe an der Fehlschärfe, während die angewinkelte Rechte den Knauf mit der Handinnenfläche umschloss. Leicht zur Seite gedreht machte sich der Flussgardist mit seiner so zur Stoßwaffe umfunktionierten Klinge bereit, den Ansturm der Sau auflaufen zu lassen. Da das Wildschwein mehr in seine Richtung als in die des Bösalbentrutzers lief, nickte er diesem zu, dass er bereit war.
Es galt, die Klinge so unter den Schulterknochen hindurchzuschieben, dass sie einen Lungenflügel des Schwarzwildes durchbohrte. Da Anselm zwar Ahnung von tödlichen Verletzungen, nicht jedoch von der Anatomie eines Wildschweines hatte, schien ihm dies die größte Aussicht auf einen Glückstreffer zu sein.
Allein, die Sau wollte ihm Phexens Gunst nicht gewähren. Im letzten Moment, bevor Anselm zum Stoß ansetzte, machte sie einen Sprung – direkt auf das Jagdschwert zu. Die Spitze der Waffe bohrte sich in ihren Schild, wie die Firunsdiener das Brustbein des Wildschweines nannten. Statt in den Körper des Tieres einzudringen, schob die Sau die Waffe vor sich her und riss ihren Träger rücklings zu Boden.
Mit wachsendem Schrecken verfolgte Garobald das Schauspiel. Als die Bache sprang und die Klinge nicht auf Fleisch sondern auf Knochen traf reagierte Garobald. Er tat zwei Schritte nach hinten und stürmte dann in Richtung des Wildschweins, den Speer nach vorn gestreckt. Hoffentlich war Anselm nicht allzu schwer verletzt worden. Noch 4 Schritt
Der Bösalbentrutzer zielte auf die Stelle hinter dem Ohr, dort wo kein Schädelknochen die Klinge aufhalten konnte. Noch 2 Schritt. Wenn er es richtig anstellte konnte er das Tier zu Fall bringen oder zumindest soweit von seiner Laufrichtung abbringen, dass es an dem Flußgardisten vorbeirennen würde. Noch 1 Schritt. Aufprall...
Der Edle traf. Anselm hatte schon die Erfahrung gemacht wie es war ein schnappendes, schaumiges Gebrech eines Wildschweines unmittelbar vorm Kopf zu haben, da wurde die Sau vom Speer Garobalds getroffen und riss sie zur Seite. Viel Glück war dabei gewesen, doch ein guter Treffer war auch mit Glück noch ein guter Treffer, soviel war klar. Nun war es an Aldec, die Falle perfekt zu machen: Von der anderen Seite rammte auch er nun seinen Speer in die Sau, welche erneut laut und unter Schmerzen aufbegehrte. So vermochten sie es zu zweit, das wilde Schwein zu halten, sodass Anselm aufstehen konnte...
Die fundierte Ausbildung bei der Flussgarde zeigte nun in Anselms Reflexen ihre Bewährung. Schneller, als er denken konnte, war er wieder auf den Beinen. Die paar Kratzer im Gesicht, die ihm die Bache auch ohne das imposante Gewaff ihrer männlichen Artgenossen zufügen konnte, die Prellungen durch ihre Tritte und die Schrammen durch den Sturz in die Dickung waren noch zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln sah Anselm, wie die drei Frischlinge aufgeregt quickend auseinanderstieben. ‚Grimmer Firun, steh mir bei!‘ dachte er, die Sau fest im Blick, und stieß zu.
Als die Bache tot zu Boden sank, zog der Bösalbentrutzer seinen Spieß aus ihrem Leib. Garobald musterte Anselm und suchte nach Anzeichen einer ernsten Verwundung, konnte aber nichts entdecken. „Anselm, geht es Euch gut?“ fragte er trotzdem nach.
Der Angesprochene hielt kurz inne, blickte an sich hinab. Dann nickte er: „Nichts, was einen alten Flussgardisten aus der Fassung bringen würde.“ Dann blickte er in das raschelnde Unterholz, die Jungtiere hielten offenbar immer noch die Nähe zu ihrer Mutter. Anselm verfluchte seinen Stolz, dem er es verdankte, dass er keinen Speer mit sich führte. Doch der Umgang damit lag ihm nicht und wie bei einer Schlacht hatte er nur die Waffen mit sich geführt, denen er vertraute. Doch die Armbrust hing, nachdem sie abgefeuert war, am Sattelbaum seines Pferdes, und so blieb ihm nun nur das Jagdschwert. Würde ein Frischling ihn angehen, konnte er sich mit der Klinge wehren, aber mit einem Angriff würde er die Tiere allenfalls vor sich her scheuchen.
Erleichtert nahm Garobald die Worte Anselms auf, eine Verletzung hätte ihnen gerade noch gefehlt. Einen kurzen Augenblick lang blieb der Blick des gratenfelser Hauptmanns an dem toten Wildschwein zu ihren Füßen hängen, dann sah er zu Anselm auf: „Waidmannsheil.“
Dem Hauptmann war es eher nach dem Ende eines Gefechts zumute als nach einem Jagderfolg, weshalb er irritiert zu Garobald blickte. Erst als er sich seiner Tat bewusst wurde, lächelte Anselm. „Waidmannsdank,“ erwiderte er.

Wunden lecken

Die Rotte war fort. Oder das, was von ihr übrig war: Es lagen insgesamt vier ausgewachsene Sauen am Boden, hinzu kamen noch zwei starke Frischlinge.
„Jemand verletzt?“, klang der Ruf der Jagdherrin durch den Wald, der nun wieder so still und friedlich schien wie vor der Attacke der Sauen.
Wilmibert von Bregelsaum, dem soeben erst die Verletzungen und das Ausmaß derselbigen beim Baron von Galebquell gewahr geworden war, rief sofort:
„Herbei! Sofort!“, seine Stimme gab dabei gut die Dringlichkeit weiter. Er selbst eilte zu seinem Pferde, um dort aus den Satteltaschen einen Flachmann zu holen.
Unterdessen eilte sich Marisya, zum Baron zu kommen.
Die Jagdherrin Leuina war beim Ruf des Burggrafen zusammen gezuckt. Ein rascher Blick über die Schulter, voller Bang und Sorge. Doch der Anblick des unversehrten Grafen brachte sogleich Ruhe in ihr Gemüt. Marisya war eine vorzügliche Heilerin, sie würde dem Baron zu helfen wissen. Für Leuina als Jagdherrin galt’s an diesem Tage wichtigeres zutun. Wild war versehrt worden und musste gesucht werden, ehe es zu Holtze kam! Ein Frevel, der an diesem Tage nicht hinzunehmen wäre!

„Bin zur Stelle!“ Wilmibert eilte herbei. „Peraine Hilf! Das sieht ja übel aus. Ich hoffe es schmerzt nicht all zu sehr!“ Etwas ungeschickt, nestelte er an seiner Satteltasche rum und holte ein Flachmann heraus. „Wie gut, dass ich bei der Jagt immer ein Heiltrank aus Vierblättriger Einbeere mit mir führe. Wartet einen Moment!“ Schon eilte er zu seinem Pferd um den segensreichen Trunk zu holen.

Roklan saß auf dem weichen Waldboden. Immerhin saß er! Oder vielmehr, er lehnte an einem Baum und konnte sich so aufrecht halten. Marisya genügte ein Blick um das Übel zu erkennen. Nun war auch Wilmibert wieder heran: „Ein Vierblatttrank!“, erklärte er und kniete sich neben Roklan und Marisya, machte in Anbetracht der gar schlimmen Verletzung ein diensteifriges Gesicht. Die Waidgesellin drückte ihm die eigene Satteltasche in die Hand mit den Worten: „Auspacken und auf’s Tuch legen!“, die Stimme der jungen Frau hatte einen Befehlston angeschlagen, der ihr nur in dieser Situation zu verzeihen war. „Hochwohlgeboren“, fügte sie dann noch hinzu um zumindest in dieser Sache den Herrn Praios milde zu stimmen. Dann besah sich die Waidgesellin die Wunden des Galebquellers. Dieser wollte soeben wieder anfangen mit Wilmibert zu plaudern, da unterbrach in Marisya:
„Still jetzt, still, Herr Baron!“ flüsterte die junge Maid und schärfte mit von kundiger Hand geführter Klinge die Hosen des Barons auf. Roklan konnte sich nur wundern, weshalb auf einmal alles etwas ernst um ihn herum wurde. Es war doch nichts! Und der Schwindel würde ihm wohl auch bald vergehen, ebenso wie die Übelkeit.
Doch Wilmibert und Marisya hatten Grund genug, ein Firunsgesicht zu machen. Das linke Bein hatte nur wenige Schrammen abbekommen. Doch das rechte, ach! Weit oben am Schenkel sprudelte das rote Leben munter hinaus, als wollte es sich mit dem lebensspenden Leib der Urmutter vereinen.
Das erste, was sie sich von Wilmibert anreichen ließ, war ein geflochtenes Band aus edler Seide. Damit band sie dem Baron die Ader ab, der zwar bald sein Bein nicht mehr spürte, doch immerhin ließ die Blutung so nach und es ließe sich ordentlich arbeiten dabei!
Das zweite, was sie sich anreichen ließ, war eine Phiole mit mehrfach Gebranntem. Doch zum Trinken war dies nicht gedacht, damit wusch sie sich die Hände.
„Hab schon lang nicht mehr nähen müssen! Na, das wird schon!“ Mit diesen Worten begann sie ihr Werk. Kundiges Auge, ruhige Hände. Man könnte meinen, sie nähte an einem Wams herum und nicht an der Ader eines Barons, so ruhig führte sie die Nadel.
„Da habt Ihr aber Glück, dass der Graf einen guten Trunk dabei hat...“, erklärte sie, nachdem zwar die Haut über der Arterie genäht, letztere aber noch nicht gestillt worden war. Dann nickte sie Wilmibert zu:
„Möge er euch munden!“, sprach dieser, zog den Korken und flößte Roklan den süßlich scharfen Inhalt in den Mund.
Am Ende wurde dann alles noch gut verbunden und siehe da: Es blutete gar nicht mehr.
„Hochgeboren, Ihr solltet nun viel trinken. Und wenn’s wieder warm am Beine runterläuft, sagt’s einfach mir. Dann kümmer ich mich da schon drum. Und ja nicht das Seidenbändsel lockern oder lösen, hört Ihr?“, sie strahlte Roklan über’s ganze Gesicht an und drückte ihm den Wasserschlauch in die Hand.
Mit jedem Handgriff, den die Jagdgesellin vornahm, wich der Schockzustand von dem jungen Mann. Sein Blick hatte sich während der notwendigen und doch improvisierten Operation mehr und mehr getrübt, dann wieder geklärt – bis Entsetzen in den braunen Augen stand. Er starrte an seinem Bein herunter, sah das furchtbare Elend. Er wollte die Hand heben, doch plötzlich versagte ihm sein Körper jeden Dienst. „Ich…“ krächzte er plötzlich nicht mehr munter, sondern schwach. „…Es … schlimmer… als dachte?“
Marisya nickte nur und schloss seine linke Hand um den Wasserschlauch. „Trinkt, Hochgeboren.“ Roklan sah, spürte es aber kaum auf seiner Hand, dass sie ihm half, den Wasserschlauch zum Mund zu führen. Nass rann ihm das Wasser die Kehle runter, doch sein Hals versagte. Er konnte kaum schlucken.
„Immer langsam…“ Marisya bemühte sich um einen unbekümmerten Tonfall, blickte jedoch zum Burggrafen.
Wilmibert klopfte Roklan anerkennend auf die Schulter: „Ihr seid ein wackerer Mann!“
Als Antwort ließ dieser den Wasserschlauch fallen, krümmte sich zur Seite und erbrach sich würgend auf den Waldboden. Wilmibert rückte überrascht etwas ab, Marisya langte hilfreich zu.
„Lasst es raus.“ Sie stützte ihm den Rücken, hielt ihm die Brust, die sich unter den ruckartigen Krämpfen stoßweise hob und senkte. Hustend brachte der Baron nach wenigen Augenblicken nur noch wenig Galle hervor.
„Tut…leid…“ röchelte er, während die Jagdgesellin ihm aufhalf und wieder an den Baum lehnte. Er atmete tief ein, während sie ihm wieder den Wasserschlauch gab. Diesmal schaffte er es aus eigener, restlicher, verbliebener Kraft, den Schlauch zum Mund zu führen und zu trinken sowie sich den Mund auszuspülen. Dann ließ er den Schlauch wieder sinken und lehnte auch den Hinterkopf an den Baum. „Die Sau… hat …“ Sein Atem kam schwach, aber regelmäßig. Marisya bemerkte, dass nun der Schock von ihm gewichen war und er die ganze brutale Härte seines derzeitigen Zustandes erkannte. „mich… bös erwischt, was?“
Die Jagdgesellin stand auf und wischte sich die Hände an ihrer Hose ab. „Ja, sehr böse. Passt auf Euch auf und, bei Peraine, schont Euch!“

Während sich nach besten Kräften um die Verletzten gekümmert wurde, machten die verbliebenen Waidgesellen sich daran, ihre Arbeit zu verrichten: Das tote Wild wurde geborgen und jene Stücke, denen die Gedärme verletzt worden waren, wurden auch auf der Stelle noch aufgebrochen und die Innereien in der nächsten Dickung für Fuchs und Sau entsorgt. Die guten Treffen indes ließ man liegen und verschob die rote Arbeit auf später.

Aureus hatte aus dem Unterholz die „gepfählte Sau“ geborgen. Obwohl der Schwert der Länge nach drin gesteckt hatte, war das Gescheide unverletzt geblieben. Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete der Jagdmeister sich diesen Treffer, zog mit einer kraftvollen Bewegung das Jagdschwert aus dem Schweine und schritt auf Finmar von Neidenstein zu. Diesem hielt er seine verloren gegangene Waffe hin mit den Worten:
„Khorimsheil, Wohlgeboren!“, dann beugte er sich etwas hinab und sprach leiser, sodass nicht unbedingt jeder es mitbekäme:
„Das nächste Mal: Einfach die Waffe drehen, dann liegt sie auch!“
Finmar lächelte den Waidmann ein wenig waidwund an, während er seine Schulter massierte: „Ich werde das Schwein das nächste Mal darauf aufmerksam machen, nicht so schnell weiterzulaufen, damit ich während des Vom-Pferde-Stürzens Euren Rat beherzigen kann“, kam die ebenso leise Antwort, gepaart mit einem verschmitzten Lächeln, aus dem durchaus Dank für die Geste des Mannes schimmerte. Dann nahm der junge Mann sein Schwert mit der gesunden Hand entgegen und versenkte sie in fließender Bewegung wieder in der Scheide. Ein kurzer Blick überzeugte Finmar, dass, wie befürchtet, die Wunden, die ihm Mütterchen Natur geschlagen, wieder aufgeplatzt waren. Aber sein Hemd würde heute wohl noch mehr Blut sehen, da lohnte sich kein Wechsel. Vorsichtig bewegte er seinen anderen Arm und verzog ein weiteres Mal das Gesicht. „Aber bis dahin sollte ich meinen Arm ein wenig schonen.“
Anselm hatte sich nach besten Kräften an der Bergung des Wildes beteiligt, bevor er mit einem vom Trinkwasser angefeuchteten Leinentuch seine Schrammen versorgte. Dabei nickte er Finmar zu, dem Marisya gerade den verwundeten Arm verband. „Tapfer gestritten, Wohlgeboren von Neidenstein. Und Waidmannsheil für Euren Jagderfolg.“
Der junge Mann lächelte offen zurück, nur um einen Lidschlag später unter den Fingern der Heilerin zusammenzuzucken. „Das Kompliment darf ich wohl ebenso zurückgeben.“ Ein neuerlichen kurzes Zucken. „Und“, kurz stahl sich der Blick des Neidensteiners zum Gesicht des Flussgardisten und sein Lächeln wuchs in die Breite, „auch Ihr habt aus der ‚Schlacht‘ die ein oder andere Ehrenscharte mitgenommen, wie mir scheinen will.“

Bock tot!

Barnabas, der mit den Herrschaften von Rabenstein und von Rickenhausen abseits des Getümmels gewartet hatte, beeilte sich alsbald zu seiner Herrin zu kommen als das gröbste Chaos vorüber war und auch ersichtlich wurde, dass niemand allzu ernsthaft verletzt worden war.
„Meine Jagdherrin, ich darf Euch berichten: Ihre hochgeborene Hochwürden hat wohl dem letzten der kümmerlichen und schwachen Böcke in Euren Ländereien den Gnadenstoß gegeben!“
Die Geweihte hob ob dieser abfällig klingenden Worte eine Augenbraue, verzog aber ansonsten keine Miene.
Leuina erwiderte, mit dem Anflug eines Lächelns:
„Nun dann hoffen wir, dass du recht hast, mein treuer Waidgesell, und fortan stärkeres Wild zur Strecke kommt!“ Dann wandte sie sich Biora und Lucrann zu:
„Waidmannsheil!“, sie tippte sich zum Gruße an die Schläfe „Was der Barnabas damit sagen wollte: Wir haben hier für gewöhnlich sehr starkes, kräftiges Wild. Dass ausgerechnet der schwächste und abgekommenste zuerst zur Strecke kommt war schon recht ungewöhnlich.“
Biora nickte, zog dann aber nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Woher wisst Ihr, dass es sich um den 'schwächsten und abgekommensten' Bock gehandelt hat?“
Die Jagdherrin zeigte sich etwas überrascht ob der Reaktion ihres Gastes. Lag hier ein kulturelles Missverständnis vor? Sie lächelte dennoch und erklärte:
„Nun, ich halte es für unwahrscheinlich, dass noch viel schwächere Böcke heute zur Strecke kommen werden. Wenngleich es selbstverständlich nicht ausgeschlossen ist, da mögt Ihr Recht haben.“
„Ihr meint, wegen dem praktisch noch nicht vorhandenen Geweih?“ Biora war die leichte Verwunderung der Gastgeberin ob ihrer Frage nicht entgangen, was ihre Neugierde aber nicht besänftigte, wie es schien.
„Auch. Aber wie es für solch’ Knopfer üblich ist, hat er auch keinen starken Körper gehabt. Oder hat mich mein Auge da getrügt?“, sie wandte sie Frage sowohl an Biora als auch an Barnabas. Letzterer antwortete mit einem Kopfschütteln
„Nein, Wohlgeboren: Ein schwacher Bock, sagt’ ich ja. Hätt’ wohl eh den Winter nicht überstanden, bei Firun!“
Biora hob entschuldigend die Schulter, während Barnabas antwortete. Rehböcke waren nun so überhaupt nicht ihr Spezialgebiet, aber sie nahm sich vor, nach der Jagd zumindest einige grundsätzliche Studien in dieser Richtung zu betreiben. Unwissenheit war ein Umstand, der so schnell wie möglich zu beheben war. „Ich verstehe. Vielen Dank.“
Der alte Baron zuckte die Schultern. Es war nur ein kümmerlicher Bock – doch ihr Vorpreschen würde er der Rickenhausenerin so schnell nicht vergeben. Nun denn – er würde abwarten, was der Tag noch bringen würde.

Aus Missgeschick wurd Frevel

Währendessen hatte Garobald sich in Richtung Melchers aufgemacht. Als er die Gruppe um Barnabas und Biora passierte lächelte er kurz Leuina zu. Etwa 2 Schritt vor dem Vogt blieb er stehen und stützte sich auf seinen Spieß. „Wie war euer erster Zusammenstoß mit den hiesigen Schwarzkitteln, Vetter?“ fragte er, bewusst jeden Spott aus seiner Stimme verbannend.
„Nun ja, ich lebe noch verehrter Vetter“, sprach Melcher während er gerade dabei war den Schaden an seiner Armbrust zu beheben. „Wenn jedoch die Edle Leuina von Bilgraten mir nicht ihre Waffe zugeworfen hätte, dann…nun ich bin wohl etwas unwissend zu dieser Jagd erschienen und unter uns“, Melcher trat einige Schritte näher an den Baronet heran und flüsterte, „gab es durchaus schon Augenblicke in denen ich mir selbst die Frage stellte, warum Seine Hohlwohlgeboren der Landgraf gerade mich hierher geschickt hat, aber einen Ibenburg, der is….“, verstummte Melcher nun um sich nicht noch weiter aus dem Fenster zu lehnen.
Im Wissen, dass sich um den schwerverletzten Roklan gut gekümmert wurde, lenkte Leuina ihren Falben zum ungeliebten Vogt. „Ihr habt etwas, dass zurück an meine Seite muss“ Kühl war zwar ihre Stimme, doch dem Blick wohnte Gnade inne, kein herablassender Spott. Kein „Ich hab’s Euch doch gesagt“-Gehabe.
Nach einem zustimmenden Kopfnicken nahm der Vogt das Familienschwert derer von Bilgraten vom Gürtel und überreichte es Leuina. „Habt dank Leuina von Bilgraten, dass ich Eure Klinge führen durfte, ich spürte welche ehrenvollen Taten damit schon vollbracht wurden. Nach unserer Rückkehr wäre es mir eine Freude noch mehr über Eure Familie zu erfahren und so Ihr es gestattet, in meinem Reisebericht an den Landgrafen zu erwähnen.“
Die Edle versuchte es mit einem Lächeln, welches ihr auch halb gelang. Nur halb, weil dort noch eine waidwunde Sau gefunden werden musste und das bald: Der Hund würde es auf der Fährte nicht leichter haben, je kälter diese wurde.
„Gerne, Herr Vogt. Wir werden dazu gewiss noch genug Gelegenheit haben!“
Nachdem sie Aijijuk wieder gegürtet hatte, machte sie sich mit ihrem treuen Barnabas auf zur Nachsuche. Mit einem der Hunde folgte der Waidgeselle der Spur, Leuina folgte in etwas Abstand. Doch man sah gleich: Der Hund wollte in alle Richtungen springen. Es gab viel zu viele Verleitfährten durch die anderen Sauen hier und der Treffer hatte auch nicht ausgereicht, um für reichlichen Blutfluss zu sorgen. Nachdem er es eine Weile versucht hatte, kehrte Barnabas kopfschüttelnd zurück:
„Es tut mir leid, meine Jagdherrin: Die find’n wir nich.“
Leuina straffte ihre Haltung. Sie wusste, wessen Sau es war. So lenkte sie ihr Pferd am Burggrafen vorbei, der noch ins Gespräch mit dem halb benommenen, halb sich wieder aufrappelnden Roklan befand.
Vom Pferde herab traf ein strenger Blick aus dunkelblauen Augen den Burggrafen. Sie wusste, dass Menschen eben fehlbar waren und noch soviel Disziplin und Können einen nicht davor bewahrte, einen Hieb zu setzen der dann doch nicht tödlich war. Doch heute war der Tag des Heiligen Jarlak. Heute würde sie ihm nicht vergeben können. Vielleicht morgen.
„Eure Sau – wir finden sie nicht. Sie wird wohl zu Holtze kommen, Hochwohlgeboren.“. Bei diesen Worten richteten sich die Nackenhaare des Burggrafen auf. Es war ihm, als ob jäh die Temperatur gefallen und ihm nun der Schweiß noch auf der Stirn gefroren wurd. Kein Wort zum Befinden des Barons, der soeben noch Golgaris Schwingenschlag vernommen hatte.
Wilmibert ärgerte sich. Er wusste genau was die edle Jagdherrin nun von ihm dachte. Er wagte dennoch ein Blick zu ihr und meinte entschuldigend: „Zu wenig Schweiß... bedauerlich...“.
Er holte tief Luft und hauchte: „Weise Jägerin, du Schwanengleiche, die Du Dich erbarmst der Not der Leidenden, schenke der Sau einen sanften Tod.“ Dann wandte er seine volle Aufmerksamkeit wieder Roklan zu.
Dieser kam langsam, sehr langsam wieder zu Kräften. Zumindest zu Atem. Er konnte seinen Blick nicht von Leuina nehmen.
Diese sah auf Roklan, doch momentan vermochte sie es nicht, in ihrem Herzen etwas anderes zu finden als kalte Entschlossenheit und eisigen Willen. So winkte sie ihren Jagdmeister heran:
„Aureus wird sich um alles Weitere kümmern“, sprach sie zu Roklan. Wilmibert würdigte sie keines Blickes mehr und ließ ihr Pferd schweigend über die Hinterhand wenden.
Diese Frau, so dachte der Burggraf leise bei sich, hat in ihrem Herzen nur Firuns Eis wo Ifirns milde sein sollte. Die ganze Person dieser Frau war ihm zunehmend zu wider. Wie war er nur darauf gekommen, dass sie eine gute Partie für Aldec sein könnte. Würde sie einen Traviatempel betreten, so würde auf der Stelle das Heilige Herdfeuer gefrieren. Nein als Gattin für Aldec taugte sie nicht. Er schnaufte tief und schüttelte den Kopf.
„Hochwohlgeboren…“ sprach Roklan. Der Burggraf, politisch gesehen vielleicht nicht unbedingt ein Feind, jedoch Roklan gerade unbequem, in dieser Situation jedoch mehr als nur willkommen, wandte zäh sein Gesicht von der davonschreitenden Jagdherrin zu seinem unfreiwilligem Patienten. „…haben wir Scheiße gebaut?“ Er berührte mit Zeige- und Ringfinger seiner linken Hand den Messingreif an seinem Hals. Sein Gesicht gewann langsam wieder Farbe, doch würde er mit Sicherheit die kommenden Tage – mindestens! – nicht wirklich aktiv sein können.
Wilmibert schaute streng zu Roklan nieder, eine Strenge die jedoch sich selbst galt: „Nein, nicht wir. Ich habe gefehlt.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er sich wieder ab und schritt von dannen.

Von seiner Herrin herbei gewunken näherte sich der Jagdmeister. Mochte seiner Gestalt, ja seiner gesamten Person, sonst etwas durch und durch Autoritäres und beinahe Furchteinflößendes inne wohnen, so zeigte sich nun in seinem Gang und seinem Blick etwas Weiches, etwas Menschliches. Dieser große, starke Mann kam nun zum Helfen und als er sich zum Baron herabbeugte, sich den Verband besah und das Gesicht des jungen Mannes, konnte dieser sich schon gleich sicherer fühlen.
„Hochgeboren, wie fühlt Ihr Euch?“, fragte er mit leiser, rauer Stimme „Ihr wisst, dies ist der Tag des Heiligen. Ungern würden wir Euch zurück zur Koschwacht bringen, zumal die Jagd gerade erst begonnen hat. Doch Euer Leben werden wir deshalb nicht auf’s Spiel setzen – wenn Firun es gefordert hätte, hätte er es sogleich genommen. Wenn’s drum Euer Wunsch ist, wird Euch einer meiner Pagen gern zurückgeleiten. Was meint Ihr?“
Der Angesprochene sah auf. „Habt Ihr Golgaris Schwingen gehört?“ Er versuchte sich an einem Grinsen. „Ich nicht. Vielleicht hat der Grimmige Jäger noch etwas mit mir vor – gleich wie, ich werde es schon schaffen!“
Anerkennung lag in den Augen des Jagdmeisters als er die Worte des Barons vernahm. Er nickte „So ist’s recht!“, dann half er Roklan auf’s Pferd. --- Kategorie: Briefspielgeschichte

-- Main.KennyS - 18 Aug 2014