Ankunft Furtwacht

Ankunft auf Feste Furtwacht

Herbst in Nablafurt

Von Winhall dem Lauf der Nabla flussaufwärts folgend, wandelte sich zunehmend das Bild der Landschaft. Der Anblick der geernteten und noch im Stummelschnitt golden schimmernden Felder wurde seltener, dafür die Wälder häufiger und dichter. Arraned, ein größerer Ort direkt an der Nabla gelegen, ließ man hinter sich und folgte weiter dem Strom hinauf. Der Herbst stand in voller Pracht an Himmel und Boden, strahlend blauer Himmel kündete vom einem schier letzten Aufbegehren des Sommers wider den nahenden Winter während Eichen und Buchen als farbige Tupfer neben hohen Tannen in den Wäldern auf sich aufmerksam machten, wie die eitlen Gecken um die Gunst der Betrachter buhlend. Und auch die Eschen und Weiden an den Auen der Nabla bereiteten sich bereits auf die stille, dunkle Zeit vor und hatten auch schon ihr farbiges Kleid angelegt.
So folgte man dem Strom, der sich schlängelte und wand, von der Hand der Götter in’s Land gezeichnet als hätte man die Kurven eines schönen Weiberrückens zu Papier gebracht. Wilder wurde die Nabla hier, doch hielt dies die Flößer nicht ab, noch vorm Winter das letzte kostbare Steineichenholz gen Winhall zu schiffen. Die langen Stämme zu Flößen getäut ging es für sie hinab, die Aussicht auf den baldigen Wandel ihres Wassergefährtes zu Golde machte sie wohl arg sehr fröhlich, denn fast alle grüßten die berittenen Reisenden mit einem lauten, frohen „Die Götter mit Euch, hohe Herren!“, dabei lachten und scherzten sie, als gäb’s nix Schlechtes in der Welt.
Zur rechten der Nabla erstreckten sich weite Wiesen, noch fett im grünen Safte stehend. Niedrige Mauern aus aufgeschichteten, flachen Steinen und Hecken von Schwarzdornsträuchern, Apfel und Birne trennten die Wiesen in Mein-und-Dein. Selbst aus der Ferne ließen sich die Früchte erkennen, die mit strahlendem Rot die Leute zu versuchen und verführen schienen
Mit der Sense mähten wenige, dafür aber fleissige Bauersleute die Halme der Wiesen um und wenn einer von ihnen die Besucher zu Gesicht bekam, grüßten auch sie eifrig, nahmen ihre Mützen ab und verneigten sich vor den hohen Leute brav.
Zur linken des Flusses aber dräuten nur dichte, wilde Wälder. Wie zur Warnung an die guten Leut: ‚Gebt schön acht! Hier, auf meiner Seite, ist das wilde Andergast und wehe dir, armer Märker, wenn du dich hierher verirrst!’

Nähme man weiter an, die Nabla sei der Rücken einer Frau, so verwunderte es nicht, dass bald schon die Landschaft in sanfte Hügel überging. Aufschäumendes Wasser im Flusslauf kündete von der Nähe zum Kosch, der vor Zeitaltern einige Felsbrocken geopfert und sie hier der Nabla überlassen hatte.
Rauchfahnen kündeten dann auch bald von einer nahen Siedlung, die sich schnell aus der Ferne betrachten ließ: Vielleicht zwanzig aus Holz erbaute Hütten, in der Mitte ein aus Stein erbautes, größeres Gebäude bei dem es sich, wie sich beim Näherkommen leicht feststellen ließ, um ein Wirtshaus handelte. Alle Gebäude drängten sich mit ihren kleinen Gemüsegärtchen als Puffer zueinander hin zu einer Wehranlage, welche die Bezeichnung „Feste“ wohl auch nur hier, im wohl wildesten und hinterletzten Winkel des Herzogtums, verdiente:
Eine hohe Palisade aus Eichenholz, immerhin mit Wehrgängen ausgestattet, umrankte einen lehmigen Innenhof, in dem immerhin ganze drei Gebäude Platz hatten.
Vom Innenhof durch einen Wassergraben, einen umgeleiteten Strom der Nabla, getrennt erhob sich eine künstliche Insel von beachtlicher Höhe. Auf dieser Motte erhob sich ein Wehrturm, ebenfalls aus Eichenholz erbaut, mit beinahe 12 Schritt gen Himmel strebend. Auf der Spitze des Turmes wehte eher lustlos das Banner mit dem Wappen derer von Bilgraten im sachten Wind. Das einst wohl strahlende Blau und Gelb war verwaschen, manche Sturmböe hatte gar so heftig an ihm gezerrt, dass es häufig geflickt worden war und wohl bald würde ersetzt werden müssen.

Der Vogt des Grafen kommt an...

Noch bevor die Reisenden das Tor erreicht hatten, stieß der Wachmann am selbigen ins Horn und kündete mit hellem, klarem Klang von der Ankunft der erwarteten Gäste. Hatten diese dann das Tor erreicht, grüßte er freundlich und etwas vergnügt:
„Im Namen der Zwölfe, Praios voran, grüße ich Euch, hohe Herrschaften! Reitet ruhig hinein, es ist schon alles bereitet!“

Die kleine Reisegruppe unter der Führung des Vogtes der Grafenmark, Melcher von Ibenburg ritt in langsamen Schritt durch das Tor, der Vogt nickte kurz dem Wachmann zu um diesem für seinen Gruß zu danken. Er war froh gewesen diese mehrtägige Reise ohne Zwischenfall hinter sich gebracht zu haben und freute sich nun auf einen großen Krug Bier oder einen Kelch Wein um seine vom Staub der Straße ausgedörrte Kehle zu benetzen. Seinen Begleitern, der jungen Knappin Binya und den beiden Gratenfelser Gardereiter, die ihn als Bedeckung unterstellt waren, ging es bestimmt ebenso, dachte Melcher.

Zur Freude der Reisenden hatte es seit längerem nicht mehr geregnet und so war das schlimmste, was sie im Innenhof der Feste ihren Füßen zumuten mussten lediglich der Staub des festgetretenen Lehmbodens. Kaum hatte man das Tor passiert, schlugen einige Hunde Alarm, welche wild und aufgeregt kläffend am halbhohen Zaun eines kleinen Bretterverschlags standen. Der Verschlag selbst hätte wohl für mindestens zwei Dutzend Hunde Platz geboten, doch diese mussten wohl schon im ausgewählten Jagdrevier sein und hatten ihre bepelzten Kameraden zurückgelassen.
Ein Ritter von hochgewachsener, rondragefälliger Gestalt Anfang Dreissig mit dem Wappen derer von Bilgraten auf der Brust erwartete die Gäste bereits, hinter ihm hatten ein Knecht und eine Magd Aufstellung bezogen um zur Hand zu gehen.

„Praios zum Gruße!“, donnerte er und schlug sich die Faust zum Schwertgruß auf die Brust
„Ich bin Aetius von Mauser, Ritter von Graufurten, und darf Euch im Namen Ihrer Wohlgeboren von Bilgraten willkommen heissen! Wir haben ausreichend Zimmer gerichtet und würden Euch, so es Euch beliebt, nun zur Eichenhalle führen wo Euch die Edle selbst empfangen wird. Um Euer Gepäck und Eure Pferde wird sich das Gesinde kümmern!“, seine Stimme war tief und maskulin, das Gebahren das eines Mannes, der im wilden Land das restliche und zivilisiertere Herzogtum mit Schwert und Streitkolben vor Orken und anderen Kreaturen zu beschützen hatte. Und dieser Aufgabe auch fleissig nachkam.

Die beiden Gardereiter und die Knappin waren die ersten die von ihren Pferden abstiegen. Binya stellte sich vor den Elenviner Vollbluthengst des Vogtes und beruhigte das Tier in dem sie es über den Pferdekopf strich, sodass Melcher elegant vom Pferd steigen konnte.
"Praios zum Dank, werter Aetius", erwiderte er mit einem Grinsen und begann seine in der Herbstsonne blinkende Plattenrüstung in die richtige Position zu ziehen und prüfte mit der Rechten den Sitz seines Kusliker Säbels am Schwertgehänge.
"Schön habt ihr es hier" eine Floskel die dem Vogt wohl etwas unpassend heraus gerutscht war wie er nun selbst bemerkte. "Binya!, denk an die Holzkiste und folge mir", sprach er ohne seinen Blick von Ritter Aetius zu nehmen. Die recht barsche Aufforderung galt dem jungen Mädchen, das etwas dürre, blonde Ding, das seine Knappenzeit am Hofe des Landgrafen wohl erst begonnen hatte. "Jawohl, Eurer Hochgeboren", erwiderte die Knappin leise. "Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich in diesem Alter meine Gedanken stets woanders gehabt hätte, tz" entfuhr des dem Vogt. Binya zog eine dunkle Holzkiste vom Packpferd und folgte hastig Ritter und Vogt.
Der Ritter musste den Vogt nicht erst nach abfälliger Manier von oben bis unten mustern um zu erkennen, was für eine Gestalt er da vor sich hatte. Bereits auf den ersten Blick hatte er für sich erkannt, dass dies wohl dessen erste Jagd im wilden Norden sein musste. Doch wie er seine Knappin erzog gefiel ihm gut – und wie er sich in den nächsten Tagen in den Wäldern schlagen würde, sollte das Problem seines Bruders, des Jagdmeisters, sein.
So entgegnete er schweigend lediglich den Blick des Vogtes und wartete ruhig ab, bis dieser dann soweit war.

...und macht sich beliebt


Mit weit ausholenden Schritten ging der Ritter voraus über die hölzerne Brücke, unter welcher munter der künstliche Seitenstrom der Nabla gurgelte und zusammen mit dem hellen Klingen von des Ritters Sporen und seinen kräftigen Tritten auf dem Holz ein stimmiges Willkommenskonzert bildeten. Weiter klang die Melodie beim Ersteigen der langen Treppe, welche aufwärts zum Turm führte. Hier öffnete der Ritter das wuchtige Tor und gab den Blick frei in das innere des Erdgeschosses, welches nur aus dem großen Eichensaal bestand:
Durch die Schießscharten drang wenig Licht in den vollständig mit Holz verkleideten Raum, sodass man einige Fackeln an der Wand entzündet hatte deren Rauch durch die undichten Fugen der Dielendecke entschwand. Am Boden lagen Felle von Bär, Wolf und Hirsch, manche wohl erst dieses Jahr vom Kürschner fertiggestellt, andere lagen hier wohl schon einige Jahre besah man sich das gelittene und dünn gewordene Haar der Decken.
An den Wänden prangten aufbereitete Geweihe von Hirsch und Rehbock, sehr viele und beeindruckende Wildschweinzähne sowie ein paar wenige Schädel von Steinböcken und Gemsen. Unter jedem dieser Trophäen konnte man anhand ihres Schimmerns Messingschildchen erkennen, deren Gravuren jedoch nur bei wirklichem Nahetreten in dem Licht der Fackeln zu lesen waren.
Für den Empfang hatte man drei große, eicherne Tische zur Tafel aufgebaut. Auf den Tischen verhießen Schalen mit frischen Äpfeln und Birnen, Platten mit kaltem Braten, geräuchertem Schinken und Beerenmuß sowie allerlei Karaffen mit noch unbekanntem Inhalt das baldige Ende des Hungers und auch, dass die Edle in Ihrem Schreiben mit dem Hinweis auf die traviagefällige Sorge ums leibliche Wohl der Gäste nicht gelogen hatte.
Ebenfalls aus Eiche waren die großen, teilweise kunstvoll mit Schnitzereien verzierten Stühle ringsum. Der Stuhl am Kopfende der Tafel unterschied sich lediglich durch seine Lehne, welche an ihrer oberen Kante das ausladende Geweih eines Hirsches nachbildete. Von diesem Stuhl erhob sich beim Eintreten eine große, kräftige Frauengestalt, angetan in blauem Wams mit goldenen Stickereien, auf ihrem Haupte ein goldener Reif, von Krone zu sprechen wäre der Sache zuviel. Zu ihrer rechten hatten eben noch zwei junge Männer gesessen: Ein eher blasser, schmaler, angetan im goldweißen Gesellschaftsornat der Praiosdienerschaft, Sphärenkugel und Sonnenzepter verrieten sofort den einfachen Geweihten. Der andere, deutlich kräftiger, in grüner Leinenweste und weißem Hemde, an der Seite einen Hirschfänger und ein Hifthorn gegürtet und so eindeutig als Waidgeselle zu erkennen. Beide erhoben sich zusammen mit der Edlen.
Mit einem strahlenden Lächeln schritt diese um die Tafel auf ihren Gast zu, während der Ritter sie vorstellte:
„Ihre Wohlgeboren Leuina Praiolind von Bilgraten, Edle zu Graufurten, Rittfrau von Nablafurt und Feder der Schwanenschwinge“

Der Ritter wandte den Blick zum Vogt und präsentierte diesen mit ausholender Geste:
„Seine Hochgeboren Melcher Sigismund von Ibenburg, Vogt der Mark Gratenfels und Edler von Buchenweiher, Oberhaupt der Familie von Ibenburg“ Er sprach mit klarer Stimme während er fehlerfrei den Gast vorstellte – ob er alle Namen, Titel und Wappen der erwarteten Gäste in den vergangenen Wochen auswendig gelernt hatte?

Die junge Edle strahlte frohgemutes
„Es ist mir eine wahre Freude, Euch begrüßen zu dürfen! Bitte nehmt doch Platz, Ihr müsst erschöpft sein von der Reise. Bedient Euch nach Herzenslust an dem kleinen Mahl – es soll nur das Warten bis zum Hauptmahl heute Abend erleichtern.“, mit einladender Geste deutete sie auf die gedeckte Tafel hinter sich und wollte ihren Gast schon zu Tisch geleiten, als sie durch ein Räuspern des Herren im Praiosornat unterbrochen wurde. Dieser war ebenso wie der Jägersmann hinter der Edlen zur Türe geschritten und hatte sich bis eben dezent im Hintergrund gehalten.
„Oh, ja, Recht hast du, wie unhöflich von mir. Verzeih, Bartolos!“, wie ertappt errötete sie als ihr gewahr wurde, dass sie die beiden Herren ja hätte vorstellen sollen. Bartolos, neben seiner Schwester mit der rondragefälligen Statur blieb ihm wohl nichts anderes übrig als mit seiner hageren Gestalt nahezu zu verschwinden, nickte wohlwollend und schien die Entschuldigung gnädig zu akzeptieren während der Jäger ob des hohen Besuches, und seiner Rolle beim Empfang, seine Hände knetete und sehr aufgeregt und nervös schien.
„Dies ist mein werter Herr Bruder und Lichtbringer des Praios, Seine Gnaden Bartolos Praidian von Elenvina“
Der Geweihte nickte dem Vogt auf genau jene huldvolle Art zu, wie es in unverwechselbarer Manier wohl nur die Praiosdiener vermochten und dabei sowohl demütig als auch unglaublich arrogant wirkte.

„Und dieser hier ist Barnabas Deringer, mein treuester und ältester Waidgeselle“, fuhr die Edle, immernoch fröhlich, fort. Aber vielleicht war ihre Fröhlichkeit auch nur ein Ausdruck ihrer eigenen Aufregung, schließlich hatte sie ihr bescheidenes Heim nun voll von allerlei gar hohem Besuch. Ob sie einen euphorischen Lachkrampf bekommen würde, käme einmal der Landgraf persönlich zur Jagd vorbei?
Der Jäger indes tippte sich zum Gruße mit zwei Fingern der rechten Hand an die Stirn
„Die Götter zum Gruße, hoher Herr!“, mit Müh brachte er, der als ältester Waidgeselle gerade einmal Mitte 20 war, den Gruß hervor und fuhr stammelnd fort:
„Ich bin nur als Vertretung des Jagdmeisters hier, der seit Wochen schon an der Koschwacht droben ist um alles für die Jagd zu bereiten und ich als ältester seiner Gesellen muss ihn nun...äh...habe nun die außerordentliche große Ehre ihn zu vertreten und eigentlich...“, während er sprach vermied er auf’s Peinlichste, dem Gast zu lange in die Augen zu blicken sodass seine Augen immer hin und her huschten. Gegen Ende seines aufgeregten, und vermutlich mehr schlecht als recht einstudierten Vortrages wurde er immer leiser und gen Ende verlor er sich in einem dumpfen Geknurre mitten im Satz.

Die Edle klopfte ihm tröstend auf die Schulter und wandte sich entschuldigend an den Gast:
„Ich bitte um Verzeihung, Hochgeboren. Ein Jägersmann, vor allem dieser hier, dient am liebsten und besten draussen in Wald und Flur und nicht in einem solchen Saale“, noch immer lächelte sie und schien weder peinlich berührt noch dem Barnabas irgendwie zu grollen.

„Habt dank Euer Wohlgeboren Leuina Praiolind von Bilgraten, Edle zu Graufurten für das wirklich traviagefällige Willkommen hier auf eurer...Feste“, Melcher war gerade das richtige Wort nicht eingefallen. „Seine Hochwohlgeboren Alrik Custodias-Greifax, Landgraf zu Gratenfels lässt die besten Grüße bestellen und ist untröstlich nicht persönlich an Eurer Jagd teilnehmen zu können, da Ihn wichtige Regierungsgeschäfte, die keinen Aufschub dulden, in Gratenfels halten.“ Mit einem anerkennenden Nicken in Richtung der Edlen zu Graufurten und ihrer Entourage bedankte sich Melcher Sigismund von Ibenburg.
„Aber“, fuhr er nach einer Anstandspause fort, „möchte ich mich natürlich auch persönlich im Namen des Hauses Ibenburg und der Grafenmark für die Einladung bei Eurer Wohlgeboren bedanken“, mit diesen Worten drehte sich der Vogt zu Knappin Binya um, die inzwischen die dunkle, kleine Holzkiste über beide Arme haltend, präsentierte. Melcher Sigismund öffnete die Metallschließe, nahm die Kiste mit der Öffnung nach vorne und drehte sich wieder zu Leuina. „Nehmt dies als eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses Ibenburg und als Zeichen meiner Vorfreude auf die kommende Jagd“ Die Kiste klappte auf und zum Vorschein kam ein aus dem hellbraunen Leder eines Kronenhirsches gefertigtes Jagdwams, die Ärmel waren aus dunkelgrünem Bausch gefertigt und mit Jagdszenen bestickt worden. Der Bärenpelz an Kragen und Saum versprach selbst an kalten Tagen wohlige Wärme. Die mittig angebrachten Hornknöpfe, zwölf an der Zahl, konnten zusätzlich einzeln mit je einer kleinen Lederschlaufe vor dem versehentlichen öffnen gesichert werden. Es war zu erkennen dass hier Jäger, Schneider und Kürschner eine hervorragend Arbeit getan hatten und das Wams auch durchaus zu besonderen Anlässen getragen werden konnte.
Auf ein weiteres Räuspern des Praiosgeweihten hin erwachte Barnabas aus seiner kleinen Schockstarre und ergriff ehrfürchtig und vorsichtig das Wams, um es der Edlen in seiner ganzen Pracht zu präsentieren. Diese betrachtete es mit einem sinnierenden Lächeln, verzichtete jedoch auf das obligatorische Auflegen am eigenen Körper um den Vogt nicht in Verlegenheit zu bringen. Sie würde schon noch Gelegenheit haben, ohne Zeugen herauszufinden welche Statur der Vogt ihr zugeschrieben und den Handwerkern aufgetragen hatte.
„Oh habt Dank, werter Vogt! Welch vortreffliches Geschenk Ihr mir da macht!“, sie nickte Barnabas zu, der daraufhin das Wams ordentlich faltete und behutsam zurück in die kleine Truhe legte.
„Wir sollten es hier mit auf die Tafel stellen, sodass auch die anderen Gäste Gelegenheit haben, Euer Geschenk zu bewundern.“, ihre Worte mochten zu sehr nach beinahe horasischen Floskeln und der gewissen Überportion an Höflichkeit klingen, doch sie meinte es tatsächlich ernst damit. Insgesamt hatte der Vogt durchweg das Gefühl, dass ihm eine Frau gegenüber stand, der Tändeleien, indirekte Anspielungen oder gar Intrigen völlig fremd waren.
Als die erste Freude verklungen war ergriff Melcher Sigismund erneut das Wort „Habt dank für die Einladung an Eure Tafel, aber gestattet mir mich zuerst etwas frisch zu machen, nur ungern möchte ich den Staub der Straße an Eure Tafel tragen. Ein kühler Krug Bier wird mir bis dahin reichen um vorerst meinen Durst zu stillen“.
Der Hinweis des Vogtes trieb der Edlen die Verlegenheitsröte ins Gesicht. Natürlich hätte sie dem Ritter anweisen müssen, den Ankömmlingen zuerst diese Gelegenheit einzuräumen ehe er sie in den Saal führte. Doch nun war es geschehen und das gerade beim Vogt des Landgrafen.
„Sorgt Euch nicht um den Staub der Straßen, doch ich verstehe natürlich Euren Wunsch und danke Euch, dass Ihr erst einmal ein Bier mit mir trinken wollt“, mit einer einladenden Geste deutete sie auf einen der Stühle und ging voraus, um sich auf den daneben zu setzen. Der Waidgeselle indes war nach seiner gelungenen Einlage als Präsentator des Gastgeschenkes zu neuer Selbstsicherheit gelangt und schenkte den beiden nun vom Biere ein, ganz ohne dass Bartolos ihn mit einem Räuspern darauf hinweisen musste.
Während dieser einschenkte, hatte der Vogt Gelegenheit sich die Edle genauer zu betrachten. Das hellbraune, lange Haar hatte sie zum Zopf gebunden und diesen in blaues und schwarzes Leinen eingeschlagen, nur einzelne Strähnen von Stirn und Schläfe hatten sich gelöst und fielen ihr äußerst schmuck in das Gesicht. Ein Gesicht mit schönen Wangenknochen, einem edel geschwungenen Mund und klaren Augen von der Farbe des Himmels an schönen Praiostagen. Erst jetzt, aus der Nähe, konnte er unter ihrem linken Auge eine Narbe erkennen: schon mehrere Jahre alt, leicht hakenförmig und nur die Kante eines dünnen Pergamentes passte zwischen das Ende der Narbe und dem Anfang ihres unteren Augenlids. Egal, was dort geschehen war: Da mussten alle Zwölfe gleichzeitig gewacht haben, sonst hätte sie wohl das Auge verloren!
An ihrer rechten Schulter trug sie eine silberne Brosche, auf der ein schwimmender Schwan abgebildet war, an ihr waren auch drei weiße Schwanenfedern befestigt.
Nachdem Barnabas beide Humpen gefüllt hatte, erhob Leuina den ihren und blickte ihren Gast lächelnd an:
„Auf willkommene Gäste!“
Melcher nahm den Humpen mit der rechten Hand und erwiderte, “Und eine firungefällige Jagd!", stieß mit der Edlen an und trank einen großen Schluck und wischte sich danach den Mund mit dem linken Handrücken trocken. Eine Manier die er sich eigentlich schon lange abgewöhnt hatte, auf die er aber nun wieder zurückgriff um nicht all zu affektiert zu erscheinen. Mit frisch geölter Stimme fuhr er fort, "Sagt, Wohlgeboren Leuina welches Wild werden wir am morgigen Tage jagen? Ihr müsst wissen, dass ich mich sonst eher mit Garadan oder dem Erlangen der Meisterschaft im Umhang mit meinem Schwerte übe und bisher auf wenigen Jagden zu Gast gewesen bin."
„Nun, da werdet Ihr wohl nicht der einzige sein, seid unbesorgt“, sie schenkte ihm ein gütiges Lächeln. „Unter anderem deshalb laden wir ja zur Herbstjagd auch jene ein, welche bislang nur die schändlichen Jagden des Mittelreiches kennen, falls überhaupt“ Ein Anflug von Kälte huschte durch ihr Gesicht, als sie an die großen Jagden des mittelreichischen Adels dachte.
„Mein Waidgeselle Bernbrecht, er ist zur Zeit schon droben an der Koschwacht, wird mit dem Hund einen Hirsch auf der Gesundfährte verfolgen. Die Gesellschaft, also wir, folgen ihm in gutem Abstand. Der Wurf auf diesen einen Hirsch wird dem Baron von Rabenstein gebühren – mein lieber Freund Finmar, mein Nachbar und Edle von Wildenberg, hat mich darum gebeten, dem Baron ein ihm gemachtes Versprechen zu erfüllen und so wird es geschehen. Das Abfangen des Hirsches, bei dem viel Geschick und vor allem ein wack’res Herz vonnöten ist, steht jedem frei der es sich zutraut und Gelegenheit bekommt“
Sie nahm einen Schluck vom Bier, einem dunklen, sehr malzigen Gebräu das mit Wasser verdünnt worden war damit es nicht zu schnell zu Kopfe stieg. Anstatt die Lippe mit der Hand vom Schaum zu befreien leckte sie sich diesen genüsslich mit der Zunge fort.
„Während wir dem Hundeführer folgen, was durchaus den ganzen Tag dauern wird, steht es der Wehr, dass sind wir alle, frei, Wild zu strecken welches währenddessen in Sicht kommt. Dafür werde ich jegliches Schwarz- und Rehwild freigeben, so es nicht führend ist. Vor dem kleinen Bankett am Abend, wenn wir alle vollständig sind, werde ich dazu aber noch mehr sagen.“
Sie blickte den Vogt ernst an als sie die wohl wichtigsten Worte in dieser Sache zu ihm sprach:
„Das wird kein Spaziergang. Hirsch, Sau, Reh – sie alle sind in dieser Zeit sehr wehrhaft. Für Ungeübte können sie schnell zum Verhängnis werden. Die Sauen wissen ganz genau, wie sie einem Zweibeiner am besten beikommen können: Sie fahren ihm zwischen die Beine und reissen das Gebrech dabei hoch, ihre Waffen sind scharf genug, Euch die Oberschenkel zu zerfetzen und wenn erst einmal die großen Adern dort zerfetzt sind, seid Ihr verblutet ehe Euch jemand zu Hilfe eilen kann.“ Kurz ließ sie die Worte wirken und gab dem gräflichen Vogt einen Rat, bei dem sie ihm wieder ein sanftes Lächeln schenkte:
„Versucht auf dem Pferd zu bleiben und unterschätzt die Gegner nicht. Wir, also meine Waidgesellen und ich, sind erfahren und wissen, was wir tun. Lasst im Zweifel einen von uns die Sau abfangen wenn Ihr es Euch nicht zutraut.“
Keines ihrer Worte war herablassend oder belehrend gesprochen. Sie machte sich nicht lustig über den Vogt und stellte sich nicht über ihn. Im Gegenteil: Manch einer hatte schon darauf verzichtet seine fehlende Erfahrung mit dem Waidwerk mitzuteilen, die meisten von denen lagen anschließend auf der Bahre. In Leuinas Augen adelte es diesen etwas zu bunten Gecken, dass er zu seinem Unwissen stand und sie respektierte ihn dafür gleich mehr.
Der Vogt schluckte kurz und blickte die Edle mit großen Augen an, „Nun, ich…Ich hatte mir gedacht, dass es kein Spaziergang in den Gärten von Sangreal werden würden als ich Seine Hochwohlgeboren, den Landgrafen um die Teilnahme an seiner statt bei eurer Jagd bat“, flunkerte Melcher ein wenig. „Da ich Euch, Leuina seid meiner Berufung zum Vogt noch nicht in Gratenfels begrüßen durfte, mir aber von eurem schönen und ebenmäßigem Antlitz berichtet wurde, hielt ich es für ein sehr gute Gelegenheit euch in kleiner Runde einmal persönlich meine Aufwartung zu machen“, sprach Melcher und versuchte mit einigen Schmeicheleien das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken. „Erzählt mir doch etwas über Euer Gut Graufurten, gibt es Ärger mit Schwarzpelzen oder Andergastern? Gibt es irgendein größeres Vorhaben bei dem ich Euch vielleicht unterstützen könnte? Oder Neuigkeiten aus dem Norden in Form von noch nicht bis nach Gratenfels vorgedrungenen Dingen, die Ihr mit mir teilen möchtet, gar Neuigkeiten von Burg Nablafurt?“. Des Vogtes Stimme wurde sanfter und ein wenig leiser und er blickte Leuina tief in die Augen, während er mit dem Fingerrücken ganz leicht über die Wange der Edlen strich, „Bedenkt, das Wünsche an den Landgrafen, durch den richtigen Bittsteller, zum richtigen Zeitpunkt und gut formuliert vorgetragen, ein manches Mal in Erfüllung gehen. Wie schon seine Eminenz Luminifactus Pagol Greifax zu sagen pflegt: „Sichtbarer Ausdruck der Ergebenheitshandlung ist das Einlegen der Hände in die des Herrn“
Die Edle blinzelte etwas verwirrt. Es war damit zu rechnen gewesen, dass der Landgraf zu wissen wünschte wie es hier oben stand, vor allem auch um den Gehorsam ihm gegenüber, und dass sein Vogt auch, oder gar vor allem, deshalb hier war. Die Art und Weise, wie dieser das jedoch anstellte, verblüffte selbst Leuina, die in ihrem Leben schon einer Vielzahl von Männern mit Hintergedanken begegnet war, die wenigsten davon waren nordmärkisch gewesen. Ihr zumindest war offensichtlich, weshalb der Vogt ihr halb den Hof machte. Es war nicht aufrichtig, weshalb er soeben den Respekt, den er sich zuvor noch verschafft hatte, mit einem Male verspielte.
„Ich danke Euch für Eure Sorge“, antwortete sie wahrheitsgemäß mit einem Lächeln. Die Lehren des Firun beinhalteten auch die Beherrschung von Körper und Geist so es erforderlich war und nun war es das.
„Die Ernte war gut, die Erlöse aus Eiche und Jagd waren besser. Ärger mit den Andergastern hatten wir noch niemals ernsthaft – hin und wieder verirren sich deren Wilderer auf unsere Seite der Nabla, doch das haben wir im Griff. Auch die Orks haben sich noch nicht aus diesem Winkel verkrochen, im letzten Götterlauf kam es zu einigen Scharmützeln, als sich die Schwarzpelze droben am Kosch einzunisten versuchten. Dazu mag Euch Ritter Aetius gewiss noch mehr berichten. Und das neueste, was es von Burg Nablafurt zu berichten gibt ist, das die Baronin sich entschuldigen lässt“ Bei ihrem kurzen Bericht war ihr selbst wohl erst aufgefallen, wie erfolgreich ihre Amtszeit bisher verlaufen war. Und erinnerte sich auch an die Zahlen, die Bartolos erst vergangenen Mond zusammen getragen hatte. Sie straffte ihre Haltung etwas und fuhr fort:
„Unsere Bücher wurden seit Generationen praiosgetreu geführt. Und diese sagen, dass wir in den letzten fünf Jahren jedes Jahr mehr als das doppelte an Zehnt abführen konnten als noch vor 20 Jahren. Unseren Bauern geht es gut, die Feste ist in Schuss. Ich plane im nächsten Götterlauf mit dem Bau einer Palisade um das Dorf herum zu beginnen, um den Wölfen Herr zu werden. Holz, Sägewerk und Zimmersleute haben wir genug in Graufurten und Nablafurt. Und selbst wenn wir die Handwerker bezahlen und den Erlös der verwendeten Eiche, die dann nicht mehr zum Verkauf kommt, abziehen, wird der Landgraf noch denselben Zehnt bekommen wie im letzten Götterlauf. Ihr seht, mein lieber Vogt“, nun war sie es, die ihrem Gegenüber beinahe tröstend über die Wange strich – nur war ihr Trost absolut ernst gemeint. „Wir brauchen die Hilfe des Grafen nicht“
"Mit Verlaub, Ihr seid Stolz, Leuina von Graufurten", Melcher hatte ihr nicht so einen Schneid zugetraut und eigentlich damit gerechnet das sie ihn ob seiner Worte von nun an mit Informationen aus der Baronie Nablafurt versorgen würde, Informationen und Gerüchte die seine eigene Stellung beim Landgrafen festigen und steigern würden, so er diese an die richtigen Stellen weiter geben würde. Der Vogt wandte seinen Blick ab, trank einen Schluck Bier aus dem Humpen und begann erneut leise zu sprechen, "Ein Stolz der Euch ein wenig übersehen lies, dass meine Worte nicht in erster Linie aus dem Munde des Landgrafen zu Gratenfels kamen sondern aus dem eines Mitgliedes eines Edlen Hauses der Nordmarken und keines Boten." Melcher Sigismund pausierte, es schien als würde er nachdenken um dann deutlich ernster fortzufahren. "Meinen Glückwunsch ob des Erblühen eures Gutes unter eurer Führung und ebenso wohlwollend wird mein Bericht in Gratenfels nach meiner Rückkehr ausfallen, darauf mein Wort. Ich hoffe jedoch aufrichtig, dass in stürmischen Tagen in denen Demut in Graufurten Einzug hält, ebensolche "Boten" an eurer Seite stehen und euch Gleiches unterbreiten wie ich es soeben versuchte und nun entschuldigt mich, ich bin doch etwas müde von der langen Reise und möchte mich nun zurück ziehen." Mit einer schnellen Handbewegung stellte er den Humpen Bier auf den Tisch, sodass das halb volle Gefäß wohl eher versehentlich überschwappte und etwas des guten Nordmarker Gerstensaftes auf der Tafel landete.
Mit eben jener kühlen Selbstbeherrschung, ja scheinbar Gelassenheit, mit der sie zuvor noch die intime Geste des Vogtes hingenommen hatte, begegnete sie ihm nun bei seiner leicht erzürnten Reaktion. Immerhin erhob sie sich noch, als er aufstand und den Saal verließ.
Die Edle indes ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und versank innerlich im Grübeln. War es allein ihr Stolz gewesen, der sie zu dieser Reaktion verleitet hatte? Gut möglich. Sie hatte allen Grunde stolz zu sein und es war in ihren Augen auch etwas kurzsichtig vom Vogt gewesen, dies zu verkennen. War sie zu harsch gewesen? War es dem Vogt herablassend vorgekommen? Oft wurden ihre ehrlichen Züge missverstanden. Grund dafür war die Unehrlichkeit im Rest der Welt. Sie hatte ihm für Angebot und Sorge gedankt, beides war aufrichtig gewesen. Und weshalb hätte sie Hilfe annehmen sollen, wo sie diese doch nicht brauchte und sowohl Aufmerksamkeit als auch Gold an anderer Stelle der Grafschaft dringender benötigt wurden? Sie würde dies unglückliche Gespräch noch mit jemandem besprechen müssen. Die Baronin musste informiert werden, aber als Berater kam sie nicht in Frage. Dazu war die alte Neidensteinerin zu sehr gegen den Grafen gebürstet.
„Na das lief doch hervorragend“, riss sie Barnabas aus den Gedanken. Er grinste verlegen.
„Ach, mein guter Waidmann...“, seufzte die Edle „...sieh’ nur, wie gut du es im Walde doch hast! Doch der Herr Praios hatt’s gefügt, und wir alle müssen folgen!“
Just in diesem Moment ertönte das Signalhorn. Ritter Aetius, der bis eben noch etwas verloren neben der Saaltüre gestanden und dem Vogt auch nur beim ‚Davoneilen’ zugesehen hatte, horchte beim Klang des Hornes auf und beeilte sich, zurück in den Hof zu kommen.
Leuina horchte auf, spürte wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und sie ging hoffnungsvoll zur Saaltüre. ‚Bitte Finmar, komm doch endlich!’, dachte sie bei sich und war enttäuscht, als sie die Wimpel im Hof sah und die dazugehörigen Gestalten. Nach dem Abgang des einen Vogtes freute sie sich nicht allzu sehr auf den Auftritt des zweiten.
„Und, isses Finmar?“, der Waidmann war nun ebenfalls zur Türe und spähte in den Hof
„Nein, es ist der nächste Vogt.“, antwortete Leuina und verbarg ihre Enttäuschung darüber kein bisschen
„Na, Eure Frau Mutter macht ja gute Scherze mit Euch von dort droben!“, Barnabas lachte der Edlen ins Gesicht und brachte auch sie damit zum Lachen.
„Ach, guter Barnabas, was brauch’ ich mehr als einen lustigen Jäger wie dich an meiner Seite!“

Die nächsten unerwünschten Gäste

Ein weiteres Gefolge nähert sich der Burg: Zu sehen waren gelbe Wimpel mit einem roten Wolf und goldene Scheiben vor grünem Feld. Das waren ohne Zweifel die Banner des Hauses Bregelsaum und der Baronie Orgils Heim. Wilmibert von Bregelsaum, der kaiserliche Burggraf auf der Elsternhöh und seine Getreuen kamen daher. Seit dem Feuertod des Barons Ulfried von Streitzig hatte der Landgraf ihn zum Vogt über Orgils Heim ernannt. Und es war ein Sohn eben dieses Ulfreids und ein Neffe Wilmiberts der heute an dessen Seite ritt: Aldec von Bregelsaum-Streitzig, der stattliche Ritter vom Wolfshag. Als dieser die Motte sah, wandte er sich zu seinem Oheim: „Sagt, ich glaube wir sind zu weit geritten, mir dünkt, wird sind schon in Andergast.“ Wilmibert musterte die „Feste“ und schmunzelte. Seine enzianblauen Augen funkelten: „Höflichkeit, mein Neffe, ist Travias Gebot! Vergesse das nicht.“ - „Die Nacht wird da drin sicher zugig.“ - „Seit wann stört das einen Ritter?“ Jetzt schmunzelte Aldec. - „Ich weiß was du denkst, mein Junge. Benimm dich!“, Wilmiberts Ton klang barscher als er wollte.- „Ist ja schon gut, Onkel.“
Die kleine Schar kam näher, und schon bald stand sie auf dem Burghof. Der Burggraf stieg elegant vom Pferde. Sein ganzes Wesen verriete, dass er ein Großteil seines Lebens in der Neuen Residenz verbracht hatte. Er war es gewohnt Eindruck zu hinterlassen. Sicher hatte er seine Reisekleider aus gutem Samt erst wenige Meilen vor der Feste Furtwacht angelegt. Seine Bewegungen waren geschmeidig, sein Auftreten elegant ohne all zu liebfeld´sch zu wirken. Er hatte ein rundes Kinn mit spitzem Bart. Seine Haare waren ergraut, jedoch verrieten einige Strähnen, dass es eins tief schwarz gewesen waren. Seine durchdringenden, stets alles musternden Augen hatten die Farbe jener blauen Schärpe, die ihn als Diener des Greifenthrons auswies.
Der Ritter vom Wolfshag wirkte im ersten Moment fast etwas unbeholfen neben seinem Onkel. Doch dieser Schein war trügerisch: Aldec war zwar breiter aber auch krägtiger gebaut, vor allem aber war er flinker als der Burggraf. Sein Gesicht war breit, sein Kinn kantig. Er trug einen dichten, wohl gestutzten, blonden Vollbart. Gekleidet war er nach der Art der Elfen in Leder und grünem Bausch, sehr zweckmäßig für eine Reise. Und da nicht gleich ein Diener der edlen Gastgeberin zur stelle war, rief er mit keckem Ton: „Heda! Ist da jemand?“
„Jawoll!“, antwortete der Ritter quer über den Hof während er soeben den Fuß von der Brücke auf den Hof setzte. Er straffte seine Haltung und schritt zügig auf die Neuankömmlinge zu. Vermutlich war der Stallbursche noch, zusammen mit der Knappin des Herrn von Ibenburg, dabei, dessen Pferd zu versorgen. Langsam wurde der Lupius auch alt, wenn er schon das Horn vom Tore überhörte...
Als er bei den Herren angelangt war, donnerte er sich zum Gruße die Faust auf die Brust und sprach mit der tiefen, befehlsgewohnten Stimme der altschlägigen Ritter:
„Willkommen auf Feste Furtwacht, hohe Herren! Ich bin Aetius von Mauser, Ritter von Graufurten. Darf ich Euch zuerst Euer Zimmer zeigen, welche für die Herrschaften bereitet wurde, ehe ich Euch zur Herrin von Graufurten führe?“, die Edle hatte es zwar nicht explizit angeordnet, doch mitbekommen hatte er deren Verlegenheit ob des kleinen Faux pax in dieser Sache sehr wohl und beschied in vorauseilendem Gehorsam, ihn nicht zu wiederholen.

Wilmibert und Aldec schauten sich überrascht an. "Wo denkt ihr hin ?", platzte der Ritter heraus. Der Burggraf räusperte sich:" Mein Neffe meint, dass dies vorerst nicht nötig sei. Es ist gute Traviagefällige Sitte, dass der Gast als aller erstes und zuvörderst dem Gastgeber seine Aufwartung macht. Alles andere wäre unrecht, schließlich haben wir Ihrer Wohlgeboren zu Danke, Uns zu ihrer Jagd eingeladen zu haben. Seid so gnädig und führt uns als erstes zu ihr damit wir ihr unser Gastgeschenk überbringen können."

Aetius unterdrückte ein Augenrollen und strafte den vorlauten Ritter mit einem herablassenden Blick. Er hätte gut Lust, beiden auf seine eigene, unglaublich charmante Art deutlich zu machen, in wessen Innenhof sie hier nicht standen und wessen Vorstellungen von Höflichkeit und Gastfreundschaft sich beide folglich unter zu ordnen hatten. Doch er verzichtete auf die ausführliche Version und erwiderte dem Vogt nur knapp:
„Andere Länder, andere Sitten. Doch ich möchte Eurem ausdrücklichen Wunsch ungern widersprechen. Dann bringt Ihr den Vogt der Mark Gratenfels auch nicht noch mehr in Verlegenheit – dieser hatte ebenfalls noch keine Gelegenheit sich zu waschen und dies sehr bedauert. Folgt mir bitte.“
Er schritt voran und rief, als er auf Höhe der Stallungen war, laut:
„Lupius! Hof! Sofort!“, woraufhin ein schon betagterer Knecht aus den Stallungen kam um sich der Pferde der beiden anzunehmen.

Der Ritter schritt nun wieder voran, unter dem Wehrgang hindurch und über die hölzerne Brücke, unter der noch immer die Nabla fröhlich und freudig plätscherte. Die Treppenstufen nahm er in geübtem Tempo, lediglich vor der halb offen stehenden Türe hielt er an und bedeutete den beiden zu warten während er hinein trat, die Tür ganz öffnete und mit lauter Stimme ankündigte:
„Ihre Wohlgeboren Leuina Praiolind von Bilgraten, Edle zu Graufurten, Rittfrau von Nablafurt und Feder der Schwanenschwinge“ Die Edle, die noch eben im Gespräch mit dem Waidgesellen vertieft war, blickte zur Türe und strahlte erneut über’s ganze Gesicht, als sie ihre neuen Gäste erblickte. Ein Schatten huschte kurz über ihr Gesicht, als sich ihr Blick mit dem des Burggrafen traf. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ihre Intuition flüsterte „Der bedeutet Ärger!“. Sie blinzelte einmal, wischte das unsägliche Gefühl beiseite und fokussierte die Freude über ihre soeben angekommenen Mitjäger. Mit jedem Schritt, den sie auf beide zutat, fiel es ihr leichter sich zu entspannen und wieder zur gütigen Gastgeberin zu werden, die sie gewesen war bevor der Blick aus einzianblauen Augen sie getroffen hatte. Während sie auf die beiden Neulinge zukam, hielt sie ihr gegürtetes Schwert an der Scheide fest sodass dieses nicht unselig baumelte. Die Geste wirkte sehr routiniert und lenkte auch den Blick des Betrachters wie automatisch auf den Silbergriff des Schwertes, dessen lange, überaus schlanke Klinge in einer Scheide von guter Sattlersarbeit verborgen war. Das Stichblatt der Waffe hatte die Form eines Bärenkopfes mit weit aufgerissenem, zur Klingenspitze hin zeigenden Maul. Als Augen dienten ihm zwei Bergkristalle, die im Fackelschein bedrohlich rot schimmernden. Seine Pranken waren zu einem kurzen Parier ausgearbeitet. Auf den ersten Blick eine beeindruckende und schöne Waffe, in jedem Fall einer Familie wie der von Bilgraten würdig.

„Seine Hochgeboren Wilmibert von Bregelsaum, Burggraf von Elsternhöh’, Vogt der Baronie Orgils Heim“, die Stimme des Ritters wirkte fast wie ein Aufruf zur Schlacht, aber dies mochte auch nur die persönliche Wahrnehmung der Edlen sein.
„Euer Hochgeboren, es ist mir eine Freude euch endlich persönlich kennen zu lernen! Schön, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid und ich bin gespannt auf die nächsten Tage in Eurer Gesellschaft!“, ihre Freude war, wieder einmal, echt.

Ritter Aetius fuhr pflichtbewusst fort:
„Seine Hochgeboren Aldec von Bregelsaum-Streitzig“, stellte der den Neffen des Vogtes vor.
„Euer Hochgeboren, auch Eure Bekanntschaft zu machen freut mich. Mir kam zu Ohren, dass Ihr über reiche Erfahrungen in der Wolfsjagd verfügt. Ich hoffe sehr, dass wir bei passender Gelegenheit unseren Wissensschatz in dieser Sache austauschen können!“
Sie tat einen Schritt zurück und stellte sowohl Barnabas als auch ihren jüngeren Bruder, den Praiosgeweihten, vor. Letzterer hielt sich auch jetzt dezent im Hintergrund und verstand sich mehr auf’s Beobachten und den Saal mit seinem inneren Licht zu erhellen.

„Euer Wohlgeboren ! Die Freude ist ganz meinerseits. Es ist mir eine Ehre, zu Eurer Jagd geladen worden zu sein. Schon viel habe ich über den vortrefflichen Bestand eurer Wälder gehört." "Und ich über Eure Schönheit", fiel ihm Aldec verschmitzt lächelnd ins Wort und machte eine formvollendete Verbeugung. Wilmibert strafte ihn eines strengen Blickes: "Wenn ich vorstellen darf: mein Neffe, der Hohe Herr Aldec Ritter vom Wolfshag, mein neuer Jagdaufseher."
Die Edle mühte sich ihre Freude aufrecht zu erhalten. Vermutlich wollten die Herren nur höflich sein. Den Wildbestand zu loben hinterließ dennoch einen faden, schlichten Eindruck bei ihr. Nur zu gut konnte sie sich vorstellen, was für Jagden der Vogt bisher im Mittelreich erlebt hatte.
„Das erklärt, weshalb die Herren meiner Einladung in den nördlichsten Winkel des Herzogtums gefolgt sind, weitab des wohl gewohnten Komforts“, sie lächelte erneut und verbarg so geschickt, wieviel Wahrheit in den soeben entschlüpften Worten steckte. Man mochte es für einen dezenten Scherz halten. Lediglich Bartolos, der Praiosgeweihte, schien aufzuhorchen.
Der Burggraf zuckte innerlich zusammen, überspielte aber die Spitze und wandte sich dem Lichtbringer zu. Fast zeitgleich verbeugen sich auch Aldec voll echter Ehrfurcht vor dem Geweihten. Dann drehte sich Wilmibert wieder zur Edlen: "Oh, glaubt mir, auf Komfort kommt es mir bei einer Jagt wenig an. Wie sind ja nicht im Kosch! Und aus meiner Zeit bei den Nivesen bin ich einiges gewohnt." Er lächelt freundlich, wohl hoffend, dass die von ihm gerade eben so hingeworfene Bemerkung ihre Wirkung nicht verfehlt. Derweil beobachtete der Ritter vom Wolfshag seine Gastgeberin ganz genau.
„Tatsächlich?“ Nun hatte Wilmibert mit einem Schlag die volle Aufmerksamkeit der Edlen. Sie musterte ihn von oben bis unten, was einem durchaus unangenehm sein konnte, und ihr Blick verriet deutlich, dass sie ihm schwer glauben konnte – und es dennoch tat.
„Ist das schon länger her? Man mag es Euch heute kaum zutrauen...“
"Durchaus! In meiner Jugend hatte mich Kaiser Hal in seiner Eigenschaft als Protektor der Nivesen Richtung Norburg entsandt. Zusammen mit einigen ... nun sagen wir Abenteuerern ... die von der Derographischen Gesellschaft empfohlen worden waren. Ich habe das halbe Bornland bereist. Und wo wir bei dem Thema sind: ich habe die Ehre euch dieses Gastgeschenk zu überreichen." Auf ein Wink reicht Aldec ihm ein bunt besticktes Lederbündel; der Burggraf übergab es der Edlen .
Leuina folgte den Worten des Burggrafen und war insgeheim dankbar, dass dieser ihre rüden Worte von zuvor so trefflich ignorierte. Vermutlich war es der Umstand, dass ausgerechnet ihr verabscheuter Onkel den Vogt als Gast empfohlen hatte, weshalb sie so barsch und abweisend auf ihn reagierte. Denn eigentlich war es so garnicht ihre Art, Menschen so zu deren Ungunsten vor zu verurteilen. So lächelte sie, und diesmal war es deutlich herzlicher als noch zuvor. Das Geschenk nahm sie mit gespannter Neugier entgegen und öffnete behutsam den Lederbeutel, gespannt darauf, was zum Vorschein kommen mochte...
Unter dem Leder kam ein Hirschfänger hervor, schlicht in seiner vor, jedoch mit kunstvoll verschlungen Ornamenten, die das Licht grünlich brachen. "Ich habe ihn bei einem Norbadischen Händler erworben. Es sei wohl ein Werk der Steppenelfen. In Festum ließ ich ihn von der Schwanentochter weihen. Sicher habt ihr von Iloïnen schon gehört ?"
Die erste Reaktion, die das Geschenk bei Leuina auslöste, war recht verhalten. Schon wieder etwas, von dem man hier bereits reichlich hatte. Auch wenn derartige Waffen von guter Qualität der Kasse des Gutes arg zusetzen mochten, so war doch immer ungewiss, wann eine alte Klinge zerbrechen und durch eine neue ersetzt werden müsste.
Das zum Grün gebrochene Licht und die Worte des Burggrafen versetzten die Edle dann jedoch in Erstaunen.
„Ihr...Ihr bringt mich in Verlegenheit, Euer Hochgeboren! Gewiss kenne ich das Oberhaupt meiner Kirche, wenngleich ich niemals ihre Aufmerksamkeit erringen konnte. Seit dem Fluch des schändlichen Jägers ist ihr Geist entrückt und sie weilt in anderen Sphären...“, ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht, als sie an den Widersacher Firuns dachte. Schweren Herzens legte sie den Hirschfänger zu den anderen Geschenken, seufzte leise und schüttelte die Wehmut über die Zustände im hohen Norden ab. Als sie wieder zum Burggrafen schaute, versuchte sie sich erneut an einem Lächeln.
„Bitte, setzt Euch doch, meine werten Gäste. Ihr habt einen langen Ritt hinter Euch, bedient Euch nach Herzenslust an meiner Tafel...“ Wie bei den anderen zuvor auch setzte sie sich auf einen beliebigen Stuhl, während der ‚Thron’ am Kopfende leer blieb. Das kam ihr wohl allzu förmlich vor.
„Und, Ritter, wie steht’s bei Euch um die Wolfsjagd?“ Ihr Blick prüfte den Neffen Wilmiberts eindringlich. Zwar hatte der Onkel wohl sein Ansehen von der Empfehlung des Onkels gesäubert, doch dieses hatte Aldec noch vor sich.
"Mit der Wolfsjagd ist das so eine Sache ... Wie ihr wisst, ist der Wolf das Wappentier von Orgils Heim ..." Wilmibert fiehl im unterstützend ins Wort, er wusste dass, was nun gleich folgte würde, keiner Ifirnjüngerin gefallen konnte: "Der Heilige Orgil soll einen Wolf gezähmt haben, der dann der Uhrahn aller Wolfshunde wurde." - "Genau ... Daher ist das Erschlagen der Wölfe verpönt. Sie werden gefangen und unserem heiligen Vorbild folgend im Wolfshag domestiziert." - "...so gut es geht." fügte Wilmibert hinzu, " ...so gut es geht..."
Der Edlen klappte die Kinnlade herunter bei dem, was sie da hörte.
„Was?! Das ist ja abscheulich!“, fuhr sie den Ritter ungezügelt an.
Bartolos, der zwischenzeitlich die Hoffnung gehabt hatte, dieses Gespräch würde trotz des ungeschickten Anfangs doch noch irgendwie gut verlaufen, wandte sich mit einem Stöhnen ab und massierte sich die Nasenwurzel, angestrengt darauf konzentriert, seine Schwester nicht zur Mäßigung zu ermahnen.
„Man stelle sich vor, die Rondrianer würden einen Löwen fangen und ihn zwingen, sich mit Hauskatzen zu paaren!“ Leuina sprang von ihrem Stuhl auf:
„Wölfe sind die Nachkommen der Himmmelswölfe, welche zum Gefolge des Weißen Jägers zählen! Solche Tiere darf man nicht fangen, im Käfig halten und versuchen, sie dem Menschen gefügig zu machen...“, ihr Blick sprach Bände über die Abscheu, welche sie allein bei dem Gedanken empfand. Ehrbar jagen und schnell töten, gewiss. Doch derartig erniedrigen?
Konsterniert sahen sich die Herren aus Orgils Heim einander an. Die Edle schien sich zu vergessen. Unwillkürlich musste Wilmibert an jene walwütige Thorwalerin denken, der er einst in Havena begegnet war.
"Aber wer sagte hier etwas von Käfig?“, stammelte Aldec, „Der Wolfshagen ist sozusagen ein umzäunter Wald! Im übrigen waren es ja die Himmelswölfe, die Sankt Orgil auftrugen den Wolf zu zähmen!"
„Die Käfige in welche das Wild für die hochherrschaftlichen Jagden des Mittelreiches getrieben wird sind auch nur ‚umzäunte Wälder’.“, voller Verachtung spie sie jedes einzelne der Worte aus und ließ keinen Zweifel an ihrer Meinung zu jeder Form von Zaun, Mauer oder sonstigen Grenzen.
Bartolos trat nun an die Parteien heran und räusperte sich:
„Schwester, diese Tradition gründet auf den Taten eines Heiligen der Rondrakirche. Euer Gast“, er betonte das Wort als kleine Erinnerung an seine Schwester „folgt nur den Riten der Rondrianer. Stellt Euch vor, was ein Jünger der Ewigjungen zu Eurem Dienste am Grimmen Jäger und Eurem Vorhaben am übermorgigen Tage zu sagen hätte....“
Wilmibert nickte ernst.
Leuina funkelte ihren Bruder zornig an. In gleichem Maße, wie ihre Augen sonst gnädig, herzlich und sanft zu blicken vermochten loderte nun ein Feuer in ihnen, dass eher an das einer Löwin erinnerte, die ihre Jungen verteidigte.
Die Edle amtete tief durch und erkannte die Wahrheit in den Worten des Bruders.
„Nun gut. Lassen wir das. Folgt mir, ich zeig Euch die Zimmer, hohe Herrschaften“, es gelang ihr halbwegs, ihren Zorn nieder zu kämpfen. Mit zügigem, doch nicht zu hastigem Schritt ging sie an den beiden vorbei gen Ausgang. Nachdem sie rasch die Stufen des Wehrberges hinab genommen hatte, begann sie zu sprechen. Laut genug, dass beide sie verstehen konnten und ohne sich umzublicken:
„Wer hier in diesen Wäldern, Auen und Tälern aufgewachsen ist, hat die Freiheit des Landes in sich aufgesogen. Wir mögen in einfachen Verhältnissen leben, die Winter sind kalt und lang. Aber kein Gold und kein noch so pompöses Turnier würde ich eintauschen wollen gegen die Weite dieses Landes und seine Schätze, die sich durch Ifirns Gnade manifestieren. Jeder Tag hier ist ein Kampf ums Überleben. Manchmal unmittelbar, manchmal auch nur zum nahenden Winter hin. Und ich wollte nicht woanders sein“
Der kaiserliche Burggraf blickte überraschend verständnisvoll: „In diesen, Euren Wäldern bekommt man eine Vorahnung der Weiten des Nordens. Der Weiße Jäger ist hier gegenwärtiger als in unserem Lande, das von Peraine verwöhnt wird. “
Mit weit ausholenden, eleganten und gleichermaßen kraftvollen Schritten durchmaß sie den Innenhof. Die Herren aus Orgils Heim folgten ihr. Ihrem Körper wohnte dabei ein eigener Schwung und Rhythmus inne, gleich so als wäre jede Faser ein Ton und der Wille der Edlen formte alles zu einer Gesamtkomposition welche den Damen Rondra und Rahja gleichermaßen ein Vergnügen wäre anzuhören.
Sie kamen an Barnabas vorbei, der bei der Begrüßung noch oben mit im Saale gewesen und den Herren vorgestellt worden war, und nun hier am Boden saß und mit ein paar Wollknäueln spielte, die nach dem Gequieke und Gequietsche nach wohl dunkelhaarige Welpen waren. Zwar fragte sich die Edle beim Anblick ihres Waidgesellen wohl, wann dieser sich aus dem Saal hinaus geschlichen hatte, bevor oder nachdem sie ihre Pflichten als Gastgeberin vergessen hatte, doch das konnte warten.
Sie betraten den Palas, in dem es noch verhältnismäßig ruhig war. Schnell und in gewohnter Manier erklomm sie die Eichentreppe, der Duft von Holz, Tradition und urtümlicher Lebensweise lag in der Luft.
„Allein der Gedanke, die Geschenke der Urmutter, von denen wir hier so unfassbar reichlich haben, zu Umzäunen und sie irgendwie ‚nutzbar’ zu machen, sie in ihrer Freiheit zu beschränken, sie ihrer Wildheit zu berauben – es schmerzt mir das Herz, wenn ich derlei höre. Kein Lebewesen sollte eingesperrt sein. Dann lieber tot!“
„Ihr habt eine Vorstellung vom Wolfshag“, beteuerte Aldec etwas unsicher. „ Die Elfen von den Auen der Galebra halfen ihn einst anzulegen. Der Zaun, von dem mein Onkel sprach, nun er ist anders. Er besteht nicht aus Latten... er lebt! Es sind Blumen, Ranken und Hecken, die ihn begrenzen. Gerne würde ich ihn euch einmal zeigen.“ Aldec richtete einen erwartungsvollen Blick auf die Edle. Diese zeigte sich, wie zu erwarten war, etwas verblüfft ob des so liberalen Umganges mit heidnischer Magie und mochte bereits jetzt etwas von ihrem Zorne einbüßen. Doch eingesperrt blieb eingesperrt, egal wie, egal durch wen.
„Wenn sich die Gelegenheit ergibt, mögt Ihr das gerne tun, werter Ritter!“, antwortete sie recht nüchtern. Die Herren machten es ihr sichtlich schwer, länger gegen sie zu grollen, so sehr sie dies auch zu wollen schien.

Im ersten Stock schritt sie den Flur entlang und öffnete eine von drei Türen, welche ein geräumiges, wenn auch bescheidenes Zimmer verborgen hatte: Zu dem bereits vorhandenen Bett hatte man ein zweites vom Schreiner aufstellen lassen, beide wirkten solide und zweckdienlich. Die grünen Laken waren offenkundig frisch gewaschen und verströmten den Duft von Eisenkraut.
An den Wänden hingen die "üblichen" Trophäen: Geweihe von Rehbock und Hirsch und auch mehrere Keilerwaffen. Unüblich waren dagegen der der blanke Schädel eines sehr, sehr großen Raubtieres, ein dazu passendes Bärenfell, ein recht großes Fell von orangener Farbe mit schwarzen Streifen, ein anderes in Gelb mit schwarzen Punkten sowie ein seltsamer Unterkiefer (?) in schwarz mit 2 beinahe unterarmlangen "Zähnen". Dies schien weder Knochen noch Horn oder Geweih zu sein...
Zwischen den einzelnen Erinnerungsstücken hingen, sorgfältig gerahmt, einzelne Karten auf die mit Pinsel und Tinte wunderschön zu betrachtende Kalligraphien aufgemalt waren. Ein kundiges Auge hatte keine Schwierigkeiten, diese Ornamente als Glyphen der Elbenschrift zu identifizieren.
Leuina machte einige Schritte in den Raum hinein und drehte sich zu Onkel und Neffe um.
„Dies war einst mein Jugendzimmer. Nun soll es Euch als Lager für die Nacht dienen.“ Nun, da sie sich etwas von ihrem Zorn von der Seele gesprochen hatte, fühlte sie sich deutlich besser und schaffte es gar, den Herren erneut ein Lächeln zu schenken.
Wimibert musterte die elfischen Kalligraphien: „Namen!“, er runzelte erst die Stirn, dann schmunzelte er: „Eine hübsche Trophäensammlung habt ihr da.“ Dann sah er sich im Zimmer um, verbeugte sich vor der Edlen und raunte die Worte: „A´ndhin erin sala samagra doa!“, was auf der Sprache der Elfen so viel hieß wie „Ich danke Euch für diese einladende Schlafstätte“. Aldec stand etwas Verdattert neben ihm und wusste nicht so recht, wie er sich zu verhalten habe, entschied sich dann aber ebenfalls vor der Edlen zu dienern.
Leuina betrachtete sich die beiden Bregelsaums abwartend und mit ruhigem Blick. Fast hätte man meinen können, sie hätte den Onkel nicht verstanden. Dem war jedoch mitnichten so: Sie fand sich in einer völlig abstrusen Situation wieder. Eigentlich hatte sie die beiden Empfohlenen ihres eigenen Onkels mit der Unterbringung in ihrem alten Zimmer und dem Vorführen ihrer Trophäen verschrecken wollen. Sie hatte ihnen, wenn diese nachgefragt hätten, einige schlüpfrige Details zu den Namen an den Wänden erzählt und spätestens dann hätte wohl keiner von beiden noch Heiratsgedanken gehegt – falls sie überhaupt mit solchen gekommen waren. Nun jedoch schämte sie sich fast für ihr eigenes, vorschnelles Urteil gegen die beiden Herren, dafür, dass sie oben im Saal so aus der Haut gefahren war und auch, weil sie jetzt hier stand mit zwei höflichen, belesenen und sowohl welt- als auch walderfahrenen Gesellen die es nicht im mindesten verdient hatten, von ihrer Gastgeberin so gegen die Wand gefahren zu werden wie sie eingangs geplant hatte. Doch war da noch immer dies dräuende Gefühl des nahenden Ärgers, ja der Gefahr welches in ihrem Bauch aufloderte sobald sie in die Augen des Burggrafen schaute. Wäre dies nicht gewesen, sie hätte sich wohl auf der Stelle für ihr Verhalten entschuldigt.
„Sanyasala, la’mia’agra“, sprach sie dann nach einer recht langen Pause und bedachte sowohl Onkel als auch Neffe mit einem undurchsichtigen, ruhigen Blick. Im Lichte schienen ihre Augen eher ein tiefes Kobaltblau zu haben als noch drinnen in der Halle, wo sie mehr wie ein Himmelsblau ausgesehen hatten. Ihre Worte waren wohl gewählt und der Onkel würde seinem Neffen wohl bei Gelegenheit übersetzen: „Seid willkommen, (meine?) Wolfsgefährten (Gefährten der Wölfe?)“
„Es sind Erinnerungen, keine Trophäen.“ Fügte sie dann noch auf Garethi hinzu, warf einen letzten Blick auf die Stücke an der Wand und lächelte, als ihr so manche Begebenheit wieder in den Sinn kam „Ausschließlich schöne Erinnerungen.“ Erneut der Blick zum Onkel: „Das Leben ist zu schön, um auch nur einen einzigen Moment des Vormittages am Abend vergessen zu haben.“, sie nickte, deutete ebenfalls eine Verbeugung an:
„Die Dienerschaft wird Euch beim Gepäck helfen. Fühlt Euch wie zuhause. Lasst Euch soviel Zeit wie Ihr wollt, anschließend seid Ihr mir oben im Eichensaal wieder willkommen...“, mit diesen Worten zog sie sich zurück.

Von wack'ren Waidgesellen

Drei Reiter kamen durch das noch immer geöffnete Tor. Alle drei trugen das Wappen von Bösalbentrutz, auf ihren Waffenröcken ein diagonal durch ein silbernes gewelltes Band halbierter Schild, oben der silberne Turm auf blauem Grund, unten auf Grün drei silberne diagonal angeordnete Bäume.
Garobald von Fischwachttal trug einen blauen Waffenrock über einem Kettenhemd, dazu eine lederne Reithose und Reitstiefel mit Sporen. An seiner Seite hing ein Langschwert, während am Sattel ein prächtiger Zweihänder festgemacht war. Sein roter Vollbart leuchtete regelrecht in der Nachmittagssonne. Er fuhr sich durch seine kurzen dunkelblonden Haare während seine Augen nach einem Bewohner der Motte suchten. Garobald warf einen Blick über seine Schulter: „Amaldus, Rupo, ihr könnt absteigen.“ Mit diesen Worten stieg er selbst aus dem Sattel und streckte sich.
Nur kurz nach den Tommelsbeugern traf ein weiterer berittener Gast ein, den sein Weg offenbar ganz allein in dieses abgelegene Gut geführt hat. Gerüstet mit Plattenzeug und Kürass, eine Lanze aufrecht in einem Sattelhalfter verstaut und ein Langschwert an der Seite, präsentierte er sich wehrhaft, als er in den Burghof einritt. Das Wappenwams zeigte einen wachtelartigen, rundlich plumpen, aufsteigenden goldenen Vogel auf grünem Grund. Dem in der Heraldik kundigen Nordmärker war dieses Wappentier als Bolle bekannt, einem flugunfähigen Federwild, das vor allem – und fast ausschließlich – im Süden des Herzogtums verbreitet ist. Eine weiß-blau-grüne Schärpe wies ihn zudem außerdienstlich als Offizier der Flussgarde aus. Der kastanienbraune Vollbart war ordentlich gestutzt, das Haupthaar auf Fingerbreite gekürzt. Die auf dem Hof Versammelten grüßte er mit dem rondrianischen Faustschlag auf die Brust. „Den Göttern zum Gruß. Anselm Ettenharz von Bollenstieg, Edler zu Bollstieg, Hauptmann der herzöglichen Flussgarde. Dies ist die Feste Furtwacht, nehme ich an?“

Garobald drehte sich zu dem Neuankömmling um und erwiderte den Faustschlag auf die Brust. „Die Zwölfe zum Gruße. Garobald von Fischwachttal, Baronet von Tommelsbeuge, Edler von Bösalbentrutz, Ritter von Lîfstein und…“ sein Blick blieb auf der Schärpe seines Gegenübers hängen, „Hauptmann des Gratenfelser Garderegiments. Dies ist die Feste Furtwacht. Ich würde Euch ja gerne Willkommen heißen, aber ich bin selber nur Gast.“

Aus dem kleinen Holzverschlag neben den Stallungen trat nun ein Geselle von Mitte 20 hervor. Ein Quietschen und Quäken war aus diesem zu hören, was von einer Vielzahl kleiner Mäuler verursacht werden wusste. Das wohl frisch gewaschene, weiße Leinenhemd des Burschen hatte heute erst etwas von seiner Pracht eingebüßt und war etwas dreckig geworden, ebenso war des grünen Weste ergangen. Im Gehen klopfte er sich den Staub von den schwarzen Hosen und ging auf die Ankömmlinge zu, ein Lächeln auf den Lippen. Der Hirschfänger an seiner linken und das Hifthorn an seiner rechten Seite, beide am kreuverlaufenden Bandelier getragen, verrieten den Kundigen seinen Status als Waidgeselle.
„Hohe Herren, verzeiht! Ich bin Barnabas Deringer, ältester Waidgeselle am Hofe und darf Euch auf der Feste Furtwacht willkommen heißen!“, zum Gruße tippte er sich mit den Fingern an die Schläfe. Ein Gruß, den die beiden Hauptleute vielleicht von den Schützeneinheiten kennen konnten. „Wollt Ihr zuerst Quartier beziehen oder darf ich Euch sogleich zum Eichensaal hinauf geleiten, wo Ihr der Herrin von Graufurten die Aufwartung machen könnt?“

Garobald musste grinsen, hier war es also auch nicht anders als bei ihm auf dem Hof. „Die Zwölfe zum Gruße, guter Mann. Ich würde mich gerne erst etwas frisch machen, bevor ich eurer Herrin gegenübertrete.“ An seine Knechte gewandt: „Rupo, du kümmerst dich um die Pferde, Amaldus du trägst meine Sachen.“ Er drehte sich noch mal zum Edlen von Bollstieg um: „Wie steht es mit Euch?“

Anselm nickte Garobald zu. „Ich habe eine weite Reise aus Elenvina hinter mir. Es wäre mir auch sehr recht, wenn ich zuerst den Straßenstaub abklopfen kann, bevor ich der Edlen gegenübertrete.“ An Barnabas gewandt ergänzte er: „Was ich benötige, ist in den Satteltaschen verstaut. Wenn du also bitte dafür Sorge tragen könntest, dass die Taschen in mein Nachtquartier gebracht werden? Und, da ich ohne Personal reise, darf ich dir auch gleich mein Pferd anvertrauen. Ich werde mir zuerst hier im Hof ein wenig die Beine vertreten, gerne darf mir dann jemand in etwa einem Viertel Wassermaß mein Zimmer zeigen.“
Auch wenn das Absteigen vom Ross im Harnisch wenig elegant wirkte, gelang es Anselm doch ohne Hilfe, sich aus dem Sattel zu heben.
Der Waidgeselle nickte lächelnd bei dieser höflichen Bitte und wollte sich daran machen, die Satteltaschen vom Pferde zu bekommen.

Garobald nickte Barnabas zu, „kümmer dich zuerst um die Pferde, meine Knechte werden dir zur Hand gehen.“ Er drehte sich wieder Anselm zu: „Wenn es Euch nicht stört, leiste ich Euch Gesellschaft bis uns jemand zu unseren Zimmern führt.“

Bei den Worten des Edlen atmete Barnabas tief durch und straffte seine Haltung. Es war nicht ungewöhnlich, dass Gäste aus dem Süden seinesgleichen nicht zuzuordnen wussten. Doch ehe er sich hier wie ein einfacher Knecht herum schubsen ließe, musste er dem Herrn wohl zeigen was Jägerstolz und Jägerehre bedeuteten. Und beides versuchte er, bei den kommenden Worten zu ignorieren und so höflich wie möglich zu sein:
„Hochgeboren, Ihr mögt es aus Eurer Heimat nicht kennen. Ich hörte schon, dass vielerorts jeder, der ein Hirsch von einem Reh zu unterscheiden weiß, vornehm zum Wildhüter bestellt wird. Doch in der Baronie Nablafurt ist ein Waidgeselle ein freier Mann, der ebenso wie ein Ritter die Schwertleite empfangen hat und damit satisfaktionsfähig ist.“ Fest blickte er Garobald in die Augen während er sprach: „Ich bin der älteste der Waidgesellen und damit der Stellvertreter des Jagdmeisters selbst. Behandelt mich wie diesen, und wir werden wunderbar miteinander auskommen“ Barnabas schickte ein herzliches Lächeln hinterher, um auch sicher zu gehen dass er diesen Gast nicht zu sehr vergrätzt hatte. Immerhin hatte er es geschafft, sich Sätze wie ‚...oder ich erwarte, dass Ihr mir die Gelegenheit zur Satisfaktion anbietet!’ oder ‚Vor der Sau sind wir alle gleich, Euer Blut schmeckt ihr ebenso wie meines’ zu verkneifen. Diese großen Geschütze überließ er dann doch lieber der Edlen oder dem Meister der Jagd...

Anselm, der sich an die Seite von Barnabas gestellt hatte, um ihm bei den Satteltaschen behilflich zu sein, wechselte einen Blick zwischen Garobald und dem Waidgesellen. Dann trat er einen Schritt zur Seite, als würde er erwarten, dass die in der Luft schwebende Duellforderung sogleich ausgesprochen und auch ausgetragen würde. Er verkniff sich ein erwartungsfrohes Grinsen, denn das Schauspiel konnte interessant werden. Des Gratenfelser Hauptmannes Ehre fand sich momentan zweifelsohne auf dem Prüfstand, und eine Einschätzung seiner Person war auch für einen Flussgarde-Offizier nicht unwesentlich.

Die Züge des Edlen verhärteten sich, von der zuvor gezeigten Fröhlichkeit war nichts mehr geblieben und einer finsteren Miene gewichen. Rupo stellte sich zwischen Barnabas und Garobald, der gerade einen Schritt in Richtung des Waidgesellen getan hatte und legte ihm eine Hand auf die rechte Schulter. Dann beugte er sich etwas vor und flüsterte dem Edlen ein paar Worte ins Ohr. Dieser starrte den Waffenknecht zuerst zornig an aber dann nickte er Rupo trat zur Seite und warf Barnabas einen beschwörenden Blick zu.
Garobald blickte Barnabas direkt in die Augen: „Waidgeselle Barnabas, ob Ihr satisfaktionsberechtigt seid oder nicht werde ich später mit der Edlen von Bilgraten besprechen. Solltet Ihr tatsächlich über dieses Recht verfügen, werde ich Euch zur Verfügung stehen.“
Seine Stimme nahm wieder einen normalen Tonfall an: „Wo wir das jetzt geklärt haben, zeigt meinen Knechten wo sie die Pferde hinbringen können, sie werden sich dann um die Tiere kümmern.“
Barnabas, der es mitnichten auf ein Duell mit dem Hauptmann angelegt hatte, lächelte zufrieden. Dass sein Wort nicht ausreichte und man sich erst bei jemandem von Stande darüber informieren musste war nichts neues für ihn. Es verletzte ihn zwar jedes Mal erneut, wenn ein Gast von außerhalb ihn oder seinesgleichen derartig herabsetzte, doch so hatte es eben der Herr Praios gefügt. Und der Herr Firun würde in seiner unerbittlichen Härte schon dafür Sorge tragen, dass den Adelssprösslingen Angst und Bange wurde und sie darum bettelten, es möge weniger blaues Blut in ihren Adern fließen sondern mehr von dem heißen Jägersblut!
So antwortete der Waidgeselle mit einem herzerweichenden Lächeln und einer angedeuteten Verneigung:
„Gewiss, Hochgeboren.“, er blickte zu den Knechten und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Stallungen:
„Es sind genug Boxen frei. Sucht euch eine aus“, er grinste und wandte sich dann wieder an den Edlen:
„Wenn Ihr mir folgen wollt werd’ ich Euch das Zimmer zeigen...“

Der Edle von Bösalbentrutz zog also die Sicherung des Gebietes einer schnellen Konfrontation vor. Keine verkehrte Taktik auf unbekanntem Terrain. Die Rolle seines Waffengefährten, der ihn offenbar vor einer impulsiven Handlung zurückgehalten hatte, war indes auch nicht uniteressant. In welchem Verhältnis mochten die beiden zueinander stehen? Die Forschheit des jungen Barnabas gefiel Anselm jedenfalls. Mal sehen, in welche Schwierigkeiten ihn das noch bringen konnte und wie er diese meistern würde.
Anselm schüttelte sich. Er war so sehr ins taktische Analysieren verfallen, dass er seine eigenen Verpflichtungen vergaß. Die Gastgeberin warten zu lassen war unhöflich. So beeilte er sich, sein Ross in eine der leeren Boxen zu führen. Das Abhalftern würde sicherlich eine der Stallmägde übernehmen. Er konnte gerade noch Barnabas mit Garobald durch eine Tür im Gutshaus verschwinden sehen und schickte sich an, den Anschluss wiederzufinden, um dem Jagdgesellen die Arbeit mit der Zuweisung der Zimmer zu erleichtern.

und ehrbaren Gästen

Garobald sah sich in dem kleinen Zimmer um während Amaldus das Gepäck des Edlen im Raum abstellte. Er dankte Amaldus mit einem Nicken und schickte ihn zurück zu Rupo, der immer noch im Stall war. Nachdem er endlich allein war zog er sich aus und wusch sich ausgiebig mit dem kühlen Wasser aus dem bereitgestellten Eimer. Das Wasser hatte nach dem langen Ritt eine belebende Wirkung auf Garobald. Fröhlich eine Marschmelodie vor sich hin summend wählte er seine Abendgarderobe. Ein schön gearbeitetes blaues Wams aus Wolle mit silbernen Stickereien an Kragen und Ärmel, auf der Brust das Wappen von Bösalbentrutz. Dazu eine schlichte schwarze Wollhose, dunkelbraune Stiefel unddein gleichfarbiger Gürtel an dem ein einfaches Langschwert samt Scheide hing. Eine weiß-rote Schärpe, die ihn als Offizier des Gratenfelser Garderegiments auswies, rundete das Bild ab.Zufrieden nahm er das Gastgeschenk und trat vor die Tür.

Auf dem Hof war gerade nichts los und so schritt Garobald, das Geschenk geschultert, in Richtung der Halle. An der Tür angekommen verharrte er kurz und ordnete seine Gedanken.
Er erinnerte sich an den Moment als er die Einladung erhalten hatte, an das Treffen mit seinem Vater und seiner Stiefmutter, als sie ihm zum wiederholten Male darauf hinwiesen, dass er noch immer ledig sei, an seine wütende Erwiderung darauf. Bei den Zwölfen, er war nervös wie ein Knappe bei seinem ersten Kampf. Tief einatmend machte er sich daran die Tür zu öffnen und einzutreten.

Garobald öffnete die Tür und fand sowohl einen hochgewachsenen, strammen Ritter als auch eine junge Frau in blauem Wams am Tische sitzend, ins Gespräch vertieft. Der Saal war nur durch einige Fackeln erhellt und durch die schießschartenartigen Fenster fiel kaum Licht hinein, sodass es selbst am hellichten Tage eher düster war. Das Flackern der Fackeln ließ die Trophäen an den Wänden zu einem unheimlichen Schattenreigen werden. Eine weitere Gestalt im Ornat der Praiosdienerschaft hatte den beiden den Rücken zugedreht und besah sich, wohl in Gedanken versunken, eines der aufgehängten Geweihe. Ein prächtiger Kronenhirsch war dies gewesen, dessen oberste Geweihsprossen zu Kelchen verwachsen waren.
Als der Edle eintrat, zuckte der Ritter zusammen und straffte sogleich seine Haltung. Mit einem schnellen Blick musterte er ihn, erkannte das Wappen und lächelte:
„Hochgeboren von Fischwachttal!“, er blickte suchend hinter den Edlen und wandte sich erneut fragend an diesen: „Hat Barnabas Euch nicht geleitet? Wo steckt der Kerl nur wieder?“
Die Frau, es musste wohl die Edle sein, lächelte indes und erhob sich.
„Lasst gut sein, Aetius. Er wird wohl seine Pflichten erfüllen...“ sie schob den Ritter beiseite und trat auf den Edlen zu. Die drei Schwanenfedern an ihrer Brosche zuckten in der Zugluft von Tür und Fenster.
„Ich bin Leuina Praiolind von Bilgraten zu Graufurten, Edle von Graufurten“, sie lächelte herzlich und tippte sich mit den Fingern an die Schläfe
„Sei willkommen in meiner Halle, Hochgeboren!“
Dem Ritter wurde nun gewahr, dass er seinen Einsatz des Vorstellens verpasst hatte und lief rot an. „Ich werd mal nach Barnabas schauen. Und den anderen Gästen. Nicht, dass die sich verlaufen haben...“, seiner Stimme nach schien er gerade letzteres den bereits eingetroffenen Gästen durchaus zuzutrauen.
Ihr Götter, habt Gnade! Er benahm sich hier wie ein Tölpel. Garobald tadelte sich selbst dafür, nicht erst Barnabas gesucht zu haben, damit ihn dieser hier noch geleitete. Beim Ritter Aetius musste er sich nachher auch noch entschuldigen, ihm war nicht daran gelegen den Ritter gegen sich aufzubringen. Hoffentlich nahm ihm die Edle von Bilgraten sein Eindringen nicht übel.
Der Edle schaute einen Augenblick lang ein wenig schuldbewusst drein, straffte sich aber wieder, dann trat er ein paar Schirtte nach vorn und damit ins Licht. Mit hochrotem Kopf deutete er eine Verbeugung an: „Garobald von Fischwachttal zu Bösalbentrutz, Baronet von Tommelsbeuge, Edler von Bösalbentrutz, Ritter von Lîfstein und Hauptmann beim Garderegiment Koschwacht., zu Euren Diensten.“ Er blickte auf und lächelte schüchtern. „Ich danke Euch für die Einladung zu dieser Jagd und im Namen des Hauses Fischwachttal möchte ich Euch dieses Geschenk überreichen.“ in seinen ausgetrckten Armen lag auf einmal ein langer Stoßspeer, den er zuvor in der Linken gehalten hatte.
Die Speerspitze war wie ein fliegender Schwan geformt, wobei der Knebel die Flügel und die Klinge Körper, Hals und Kopf bildeten. Wenn man genau hinsah konnte man sogar das eingravierte Federkleid sehen. Dieses Gebilde saß auf einem eichernen Schaft, welcher mit weißem Leder umwickelt war.
Die Edle schien von seinem töpelhalften Verhalten nicht viel mitbekommen zu haben. Oder es war ihr schlicht nicht so wichtig wie dem Edlen selbst. Sie lächelte, ergriff in Ermangelung des Waidgesellen, der sich bisher schon wunderbar als Präsentator gemacht hatte, den Stoßspeer selbst. Neugierig und mit großen Augen betrachtete sie die kunstvolle Arbeit. Dann ergriff sie ihn mit beiden Händen, um ein paar eindrucksvolle Probestöße mit dem Speer zu probieren. Wieviel Kraft in diesen lag vermochte Garobald nur zu vermuten. Bewundernd verfolgte Garobald die Bewegungen Leuinas. Die Bewegungen der Edlen waren flüssig und elegant, ihr Blick auf ein imaginäres Ziel gerichtet. Sie schien zufrieden mit der Arbeit, nickte ihrem Gast freundlich zu
„Habt Dank, mein werter Herr von Fischwachttal! Eine wahrlich vortreffliche Arbeit. Dieser Speer wird gewiss gute Dienste leisten, ich danke Euch!“, sie stellte den Speer behutsam an die Tafel zu den anderen Geschenken. Der Edle freute sich augenscheinlich über die Worte.
„Bitte, setzt Euch doch. Und bedient Euch frei an meiner Tafel, Ihr seid gewiss hungrig und durstig nach dem langen Ritt!“ sie setzte sich an einen der Stühle und lud Garobald ein, es ihr gleich zutun. Der Einladung folgend, setzte sich Garobald der Edlen gegenüber auf einen Stuhl. „Habt Dank, einem Humpen Bier wäre ich nicht abgeneigt.“
Dem Praiosgeweihten indes fiel auf, dass nachdem der Ritter ja hinaus war um nach Barnabas zu suchen er allein mit der Edlen und ihrem Gast war. Innerlich seufzte er und bereitete sich darauf vor, nun den beiden als Mundschenk dienen zu müssen...

Nachdem vor den beiden Edlen zwei Humpen mit dem dunklen, malzigen Gerstensaft stand,
erhob die Edle von Bilgraten den Krug und prostete ihrem Gast zu: „Auf willkommene Gäste!“ Der Edle von Fischwachttal erhob ebenfalls den Krug: „Auf eine erfolgreiche und firungefällige Jagd!“ Er nahm einen tiefen Schluck und genoß es wie das kühle Gebräu die Kehle hinabrann, dann setzte er den Krug wieder ab. Mit der Linken wischte er sich den Schaum aus dem Bart. „Das tat gut, ein vortreffliches Bier habt ihr hier.“
„Ja, nicht wahr? Viel davon brauen wir nicht selbst, dafür sind die Böden zu karg. Allerdings reicht das, was die Bauern an Zehnt abführen müssen, um es bei besonderen Gelegenheiten anbieten zu können. Gelegenheiten wie diese hier.“
„Auf die hohe Braukunst in Graufurten!“ Garobald prostete der Edlen zu und nahm noch einen Schluck. In einem freundlichen, von Interesse geprägtem Tonfall setzte er zu einer Frage an:
„Euer Hochgeboren, Ihr habt gewiss schon von dem kleinen Disput zwischen eurem Waidgesellen Barnabas und mir gehört. Empfangen eure Waidgesellen tatsächlich die Schwertleite?“
Leuina atmete tief durch. Das musste neuer Burgrekord sein: Kaum angekommen schon mit den Waidleuten angelegt. Auf irgendeine Art und Weise und sie hoffte inständig, dass Barnabas, denn er war ja als einziger Jäger noch hier unten auf Furtwacht, sich zurückgehalten hatte. Vermutlich hatte da, wie es meist immer der Fall war, eine Verwechslung vorgelegen.
„Um es kurz zu sagen: Ja. Wir stehen zu den alten Traditionen und um diesen folgen zu können, muss ein Waidmann eine sehr aufwändige Ausbildung durchlaufen. Da er ein Privileg ausübt und mitunter auch das Wild vor Wilderern schützen muss und in sehr seltenen Fällen auch Recht sprechen darf ist es wichtig, einem Waidgesellen auch mit dem Recht, eine Waffe zu tragen und sich, seine Ehre und die des Wildes zu verteidigen auszustatten. Außerdem gelten für ihn natürlich verschärfte Strafen bei Verfehlungen. Es gerät zwar immer mehr in Vergessenheit, da ein solcher Jäger deutlich teurer und aufwändiger ist als ein dahergelaufener Bogenschütze, aber wir pflegen diesen Brauch noch. Zu Zeiten meiner Großmutter hatten wir auch nicht wenige Jagdpagen, so nennt man die Jünglinge die noch nicht das Recht haben, Hifthorn und Hirschfänger zu tragen, aus guten Häusern hier. Doch heute scheint es wichtiger zu sein, den Garetiern und Almadanern nachzueifern und dafür braucht man solche gut geschulten und wackeren Gesellen nicht mehr.“ Die Edle wirkte durchaus etwas traurig, als sie den Sittenverfall der modernen Zeiten und Länder ausführte.

„Diese Tradition wird in Tommelsbeuge nicht mehr gepflegt und wahr mir bis eben auch unbekannt. Ich erkenne allerdings den Sinn hinter dieser alten Tradition.“ Garobald atmete tief durch: „Dann werde ich mich wohl bei Waidgeselle Barnabas dafür entschuldigen müssen, dass ich sein Wort in dieser Sache angezweifelt habe.“ An den kleinen Wortwchsel auf dem Hof denkend, musste er plötzlich grinsen: „Ich muss schon sagen, einen wackeren Waidgesellen habt Ihr da. Er hat sich doch tatsächlich vor vier Gerüsteten aufgebaut und mir mit einem Duell gedroht, wenn ich ihn als einfachen Pferdeknecht behandeln würde. Was gar nicht meine Absicht war. Tadelt ihn bitte nicht dafür, ich schätze unverblümte, ehrliche Worte mehr als doppelzüngiges, horasisches Geschwätz. Da weiß man wenigstens woran man ist.“ Man sah ihm an, dass er seine Worte ernst meinte.
Die Worte ihres Gastes entlockten der Edlen ein gar sanftes Lächeln und, als er von dem Vorfall im Hof berichtete, gar ein höchst entzückendes Kichern.
„Ohja, dem Barnabas liegen Waidwerk und Jägerehre im Blut. Gut geraten ist er seit er als junger Bub zu uns kam. Anfangs beneidete ich ihn noch, weil er im Gegensatz zu mir das viel freiere Leben eines Jägers lernen durfte während ich selbst als Knappin dienen musste. Bis ich ihn dann einmal mit blut’gen Fingern wiedersah: Er hatte wohl ein falsches Pirschzeichen gelegt und damit den Meister selbst auf eine stundenlange Irrsuche in den Wäldern gelockt anstatt sogleich zum toten Rehbock zu kommen. Da hat ihn der Meister, damals war das noch der alte Bärnric, zur Strafe die Hände mit der Blankseite des Hirschfängers bearbeitet, dass er einen Mond nichts halten konnte!“, sie lachte hell auf bei dem Gedanken an die Geschichten von damals, wo sie selbst noch ein junges Mädchen gewesen war.
„Sorgt Euch nicht, ich glaube er wollte nur weiteren Missverständnissen vorbeugen. Und spätestens auf der Jagd werdet Ihr sehen, dass der gewissermaßen erzwungene Respekt ihm und seinesgleichen gegenüber verdient ist. Er würd’ sich zwischen Euch und den waidwunden Keiler werfen, da leg ich meine Hand auf’s Herz, bei Praios!“
Garobald lächtelte Leuina an, „Das will ich Euch wohl glauben. Hoffentlich kommt es nicht dazu, meine letzte Jagd liegt schon etwas zurück.“
Er erstarrte kurz, seine Augen weiteten sich etwas und er lief puderrot an. Dann griff er an seinen Gürtel wo eine Brieftasche hing. „Ich habe noch ein Schreiben von Arlan Leoncor von Sturmfels-Streitzig, dem neuen Edlen von Treuklingen für Euch.“ Damit hob er einen gesiegelten Brief hoch und reichte ihn Leuina über den Tisch.
Seufzend nahm die Edle den Brief entgegen. „Es wird wohl eine Absage sein, oder? Nunja. Er ist ja noch recht frisch im Amt, da hat er wohl für’s Erste genug damit zutun, das Lehen zu verwalten. Aber zur nächsten werd’ ich ihn gewiss wieder einladen...“ Sie öffnete den Brief und überflog rasch die Zeilen.

In kleinen, sorgfältigen Lettern stand dort geschrieben:
Die Götter zum Gruß Wohlgeboren Leuina von Bilgraten zu Graufurten,

ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich doch nicht wie angekündigt
zu Eurer Jagd erscheinen kann, aber die Zustände des von mir übernommenen
Lehens lassen leider keinerlei Aufschub zu. Ich habe, um dieses große und
vielversprechende Stück Land besser bewirtschaften zu können, umgehend Ausrufer
in alle umliegenden Baronien und Städte geschickt, auf dass Neusiedler helfen, die
Wildnis urbar zu machen. Zudem erwarte ich schon bald die Ankunft von Vertretern der
PERaine- und INGerimmkirche, auf dass sie die Aufbauarbeiten der Siedler göttergefällig
unterstützen mögen.
Ich bin mir sicher, dass Euer Wohlgeboren meine Lage versteht und hoffe aufrichtig, dass
Ihr meine Absage nicht als beleidigend empfindet. Zur Wiedergutmachung möchte ich
Euch herzlich Einladen, jederzeit sobald Ihr in der Nähe von Gut Treuklingen seid, einfach
vorbei zu kommen und Euch unserer Gastfreundschaft zu erfreuen.
Mögen die Zwölfe weiterhin allzeit mit Euch sein!

Hochachtungsvoll,
Euer Ritter Arlan Leoncor von Sturmfels-Streitzig, Edler zu Treuklingen


Erneut öffnete sich die Tür und der Edle Anselm Ettenharz von Bollstieg trat ein. Seine Plattenrüstung hatte er abgelegt und trug nun ein einfaches graues Leinenwams unter seinem Wappenrock, dazu eine hellbraune Wildlederhose sowie standesgemäß das Schwert an der Seite. Unter den Arm hatte er sich ein in Wachspapier eingewickeltes Paket geklemmt. Mit einer leichten Verneigung in Richtung der drei Anwesenden blieb er an der Tür stehen, nachdem er diese geschlossen hatte.
Der Praiosgeweihte, der sich etwas abseits der ins Gespräch vertieften Edlen hielt, wurde sofort auf Anselm aufmerksam. Laut räusperte er sich und gewann so die Aufmerksamkeit:
„Ihre Wohlgeboren Leuina Praiolind von Bilgraten zu Graufurten, Edle von Graufurten“, sprach er laut woraufhin sich die Edle, wie schon so oft an diesem Tage, erhob und freudig lächelnd auf den Hauptmann zuschritt. Unterdessen musterte Bartolos rasch den Neuankömmling und schien ihn identifizieren zu können. Wenngleich nicht so rasch wie es wohl Ritter Aetius gekonnt hätte, doch der war ja den Barnabas suchen, der wohl noch eben schnell die gängigen Duellbestimmungen nachlesen musste.
„Seine Wohlgeboren Anselm Ettenharz von Bollstieg, Edler zu Bollstieg, Hauptmann des ersten Banners der herzöglichen Flussgarde, der Leibgarde des Herzogs!“, im Gegensatz zu Aetius sprach Bartolos die Worte mit Bedacht und verlieh damit dem sonst eher bodenständigen Auftreten des Edlen von Bollstieg etwas sehr Erhabenes.
Leuina trat auf Anselm zu, auch ihn bedachte sie mit dem Schützengruß und einem freudigen Lächeln:
„Wohlgeboren, wie schön, dass Ihr hier seid!“, sie ließ keinen Zweifel daran, dass es sie einen Kuhdung interessierte aus welchen Verhältnissen er eigentlich stammte – aber das hatte sich Anselm sicher schon durch die Begebenheit mit Barnabas und dem Edlen von Bösalbentrutz denken können.

Auch Garobald erhob sich aus seinem Stuhl und grüßte den Edlen von Bollstieg erneut mit dem Schwertgruß, hielt sich aber ansonsten im Hintergrund um der Edlen von Bilgraten nicht in die Begrüßung zu fahren.
Anselm erwiderte Leuinas Gruß rondrianisch, womit er auch Garobald erneut bedachte. Es war ihm wohl dabei, hier nicht als der bürgerliche Emporkömmling behandelt zu werden. Auch in der Garde fühlte er sich meist unter seinesgleichen, aber selten verspürte er eine solche Herzlichkeit dabei. „Wohlgeboren, ich möchte Euch nochmals von Angesicht zu Angesicht für die Einladung danken und das Bedauern Eurer Schwester überbringen, dass sie die Reise in die Heimat wegen dringlicher Verpflichtungen nicht antreten konnte.“
Anselm griff sich mit der freien Hand in den Wamsausschnitt. „In diesem Schreiben wird sie Euch sicherlich die Gründe für ihre Absage in persönlichen Worten erläutern. Ich hoffe, mit der Überbringung des Briefes konnte ich Euch wie Eurer Schwester einen Dienst erweisen.“
Anselms Blick fiel auf das Paket unter seinem Arm. „Ach ja, und ich habe mir erlaubt, Euch ein kleines Geschenk aus Elenvina mitzubringen.“ Er legte das Paket auf den Tisch und befreite es vorsichtig von dem Wachspapier. Zum Vorschein kam ein dünner Foliant, gebunden in rauem Leder, auf welchem der Buchtitel eingeprägt war: Erbaulich Werck über das Gevögel für Jungmann und Jungfer.
„Auf dieses außergewöhnliche Machwerk hat mich seine Gnaden Salasandro Birkenstock vom Hesinde-Tempel zu Elenvina aufmerksam gemacht. Eigentlich suchte ich nach etwas geläufigem, wie etwa einer überarbeiteten Abschrift von Prems Tierleben oder einer aktualisierten Fassung des Bestiariums von Belhanka. Nachdem ich seiner Gnaden Auskunft über die Empfängerin des gesuchten Gastgeschenkes gegeben hatte, war er überzeugt davon, dass Ihr solche Standardwerke sicherlich bereits Euer Eigen nennt. Ich bin mir zwar nicht sicher, wie er die Möglichkeiten, die Ihr bei der Ausstattung Eurer Bibliothek zur Verfügung habt, einzuschätzen vermochte, aber als er mir dieses Kleinod präsentierte, erschien mir die Frage nebensächlich. Ich bin überzeugt, dass Euch die Gepflogenheiten der Jagd auch im Bornlande vertraut sind, hoffe aber dennoch, dass Ihr das Wissen noch nicht in der vorliegenden äußerst autentischen schriftlichen Form besitzt. Auch wenn sich das Werk vornehmlich mit dem waidmännischen Wissen über das Federwild beschäftigt, sind die Abhandlungen über das Jagdwerk zumeist fernab größerer Ansiedlungen und die besonderen Sitten des bornischen Waidwerks sicherlich auch für jemanden Eures reichhaltigen Erfahrungsschatzes erbaulich.“
Der Edlen verschlug es schier die Sprache und freudig schlug sie die Hände vor ihr Gesicht:
„Oh, Wohlgeboren! Nach just diesem Werke suchte ich selbst schon seit ich damals im Bornland war! Dort droben hatte ich nie Gelegenheit – und hab auch nicht dran gedacht – mir eines zu kaufen und hier in den Nordmarken ist es abseits der großen Städte nicht zu bekommen! Habt Dank, habt vielfach dank!“
Sie griff nach dem Buch und begann damit, vorsichtig darin zu blättern und es zu überfliegen. Dies dauerte eine gewisse Weile, bis ein Räuspern des Praiosgeweihten die Edle aus den Gedanken riss und sie, erschrocken darüber wie sie sich in dem Buch vergessen hatte, das Buch auf den Präsentetisch stellte.
„Bitte, Hauptmann, stoßt mit mir und dem Hauptmann an! Ich seh’ schon, die Sauen werden es dieses Jahr schwer haben unseren Blutzoll zu nehmen!“, sie schenkte selbst dem Edlen von Bollstieg ein, dem anderen Hauptmann und sich selbst noch einmal nach und erhob erneut den Humpen:
„Auf Hauptleute und andere stets willkommene Gäste in diesen Hallen!“

Lehrer und Lernende

Der Abend dämmerte schon, als Biora Tagan, Baronin zu Rickenhausen und Hohe Lehrmeisterin der Hesinde, ihr Pferd um die letzte Biegung des Waldweges aus Richtung Neidenstein lenkte, welche bisher den Blick auf die Motte versperrt hatte. Wie immer folgte ihr Tar'anam sin Corsacca, ihr schon ergrauter Leibwächter, der mittlerweile auch ein guter Freund geworden war, sich aufmerksam umsehend in wenigen Schritt Abstand, ein weiteres Packpferd am Zügel führend. Die tiefstehende Sonne tauchte den zentralen Turm in ein herrlich anzuschauendes Licht, doch das Schauspiel würde nur von kurzer Dauer sein.
Langsam ritten die beiden weiter, vermutlich würden sie genau jetzt von den Wächtern der Festung gesehen werden. Biora trug einen weiten Reisemantel gegen den Staub, darunter Reitstiefel, Lederhose und ein bequemes, elegant geschnittenes Wams von grüner Farbe, nur der Schlangenhalsreif ließ ihren kirchlichen Stand erkennen. Sie hielt nicht viel davon, auf dem Weg durch die Wildnis nahe der andergaster Grenze die nicht gerade bequeme und reitfreundliche Tracht der Hesindekirche zu tragen. Sie schmunzelte bei dem Gedanken, wie wohl der Empfang aussehen mochte, denn sie hielt genausowenig davon, ihre Herkunft aller Welt durch ein prominent platziertes Wappen kundzutun.
Mit diesem Gedanken kamen sie in Rufweite des Tores. Biora war schon neugierig auf die Edle, die sie bisher noch nicht persönlich getroffen hatte. Außerdem war sie gespannt darauf, welch' andere Gäste den weiten Weg an die Nordgrenze des Herzogtums gefunden hatten.
Als sie in den Hof einritten, war mittlerweile Ruhe eingekehrt. Dem Lichtschein aus dem Palas nach herrschte nun in der Küche emsige Geschäftigkeit, während mittlerweile alle Pferde versorgt waren.
Wieder war es Barnabas, der Waidgeselle, der beide in Empfang nahm als er aus den Stallungen kam:
„Die Götter zum Gruße, werte Gäste!“, rief der junge Mann und ging ruhigen Schrittes auf beide Reiter zu. Sowohl der Dunkelheit als auch der Kleidung Bioras und ihres Weggefährten waren es zu schulden, dass Barnabas auch beim Herantreten nicht wusste, um wen es sich da genau handelte. Und im Gegensatz zum Ritter Aetius hatte er weder alle bereits eingetroffenen Gäste im Kopf noch wusste er die vollständigen Namen und Titel der Gäste.
So tippte er sich nach Schützenmanier mit den Fingern an die Schläfe als er nah genug heran war und sprach, wiederum mit fester Stimme:
„Ich bin Barnabas Deringer, der älteste der Waidgesellen gleich nach dem Jagdmeister und darf Euch willkommen heißen...“, so langsam hatte er das Gefühl, sein Name verschließ heute so sehr, dass er am morgigen Tage einen neuen benötigen würde. Sein Blick war etwas fragend an Biora gerichtet, kannte er sie doch nicht und getraute sich nicht, sie selbst zu fragen wer sie sei. So mancher Adlige hatte das schon als Beleidigung empfunden weshalb er hoffte, sie würde ihm nach diesem Blick aus treuen Augen, deren Farbe ein Rätsel der Dunkelheit blieb, doch bitte helfen und sich selbst ebenso vorstellen...
„Biora von Rickenhausen?“, rief Melcher erstaunt. „Seid ihr es wirklich? Ja, Ihr müsst es sein, die Diener der Allweisen Herrin sind nicht so zahlreich in unserem Stand. Mein Vater Odumir hat mir früher viel von Euch erzählt, aber ich hatte bisher nicht die Gelegenheit Euch persönlich zu treffen. Gerade kommen ich von einem abendlichen Spaziergang und habe bei der Gelegenheit nach meinem Pferd und meiner Knappin geschaut.“ Versuchte der junge Vogt sein plötzliches erscheinen zu erklären. „Oh, ich sehe schon. Verzeiht Hochgeboren Biora von Rickenhausen, wie unhöflich.“ Melcher Sigismund stellte sich neben das Pferd der Adligen und bot ihr mit der linken Hand ihr vom Pferd zu helfen. „Ich bin übrigens Melcher Sigismund von Ibenburg, Vogt der Grafenmark, euer Nachbar sozusagen.“ Grinste Melcher.
Biora, welche die Verlegenheit des Waidgesellen wohl bemerkt hatte, schickte sich gerade an, ihm aus derselben zu verhelfen, als der Ibenburger um die Ecke kam. Ein wenig erstaunt ob dessen fast überschwänglich zu nennenden Begrüßung wandte sie sich ihm leise lächelnd zu und nahm seine Hilfe an. Halb wandte sie sich nochmals zu Barnabas um: „Biora Tagan, Baronin von Rickenhausen und Hohe Lehrmeisterin der Hesinde – wenn es auch gerade nicht so aussieht.“ Vielleicht war es schon zu schattig, als dass der Waidgeselle den Schalk in ihren tiefgrünen Augen aufblitzen hätte aufblitzen sehen. „Meldet mich und meinen treuen Gefährten, Wohlgeboren Tar'anam sin Corsacca, den Edlen zu Hottenbusch, Ihrer Wohlgeboren Leuina von Bilgraten.“ Diese Aufforderung verwirrte den Waidmann wohl ein wenig. ‚Melden’ hatte es bisher nicht gegeben. Nur ‚Auf’s Zimmer führen’ oder ‚In den Saal führen’. Natürlich verstand er, was gemeint war, doch wollte sie wirklich solange im Hof warten? Schließlich waren die Mägde gerade in der Küche am werken und der Knecht...wo steckte der eigentlich? Schnell verschob Barnabas diese Gedanken und antwortete pflichtbewusst:
„Gewiss, Hochgeboren!“ Er wandte sich schon halb um und tat den ersten Schritt gen Turm während er halb zu sich, halb zu der Baronin grummelte: „Ich schau’ mal ob ich den Lupius find’, der wird sich dann um Eure Pferde kümmern...“
Dann widmete Biora sich ganz dem Vogt: „Euer Hochgeboren, dann habt Ihr mir einiges voraus,“ erwiderte sie ihm lächelnd. „Zwar kenne ich Euch selbstverständlich, aber doch eher vom Hörensagen, das persönliche Vergnügen war mir bislang nicht vergönnt, und insofern hält sich meine Kenntnis über Euch doch bedauernswerterweise in Grenzen. Aber,“ schon wieder kehrte der Schalk in ihre Augen zurück, zudem schlug sie nun endlich die Kapuze des Reisemantels zurück und schüttelte ihre lange rote Mähne aus, „nun haben wir ja die Gelegenheit, dies zu ändern.“ Melcher staunte nicht schlecht, er hatte zwar gehört das die Baronin aus dem südwestlich der Grafenmark gelegenen Rickenhausen schön anzusehen sei, aber so schön? und grazil, zudem fast alterslos wie es schien? Sein Vater, der alte Vogt hatte in besseren Tagen im Hause Ibenburg, oft über den Streit der Baronin mit den Riedenburgern und über die geteilte Stadt Nembutal erzählt und nun wusste er auch warum der alte Odumir den Namen – Baronin Biora Tagan von Rickenhausen,- gebetsmühlenartig immer wieder bei seinen Erzählungen erwähnte und keine Gelegenheit ausließ diesen genauso so auszuschmücken, der alte Odumir, Melcher Sigismund musste schmunzeln „Mit Sicherheit sollten, nein müssen wir das ändern Euer hochgeborene Hochwürden Biora“, er hielt die rechte Hand der Baronin noch immer obwohl diese bereits neben ihm, seitlich ihres Pferdes stand. „Von Eurem kommen zur Jagd wurde mir noch nicht berichtet, was natürlich kein Zufall sein kann“, Melcher blickte der Baronin tief in die Augen. „Euch, Biora von Rickenhausen auf einer so langen und gefährlichen Reise zu wissen hätte mich vor Sorge wohl kaum schlafen lassen und ich wäre versucht alle Reiter der Grafenmark auszusenden um euch zu geleiten“, mit diesen Worten gab Melcher der Baronin einen Handkuß.
„Ey, Lupius! Da stehn’ drei Pferde im Hof, mach mal!“, tönte es derweil vom anderen Ende des Hofes. Hühner gackerten und der Angesprochene, der soeben wohl die Hühner in den Stall getrieben hatte, beeilte sich, zu seiner neuen Aufgabe zu kommen...
Bevor der Knecht sich der Pferde annahm, entwandt Biora elegant ihre Hand dem Griff des Vogtes, um schnell noch ein Bündel vom Packpferd anzunehmen. Wo blieb denn dieser Barnabas? Aber es herrschte ja auch geschäftiges Treiben allerorten, so dass es fast schien, als würde die kleine Feste bald aus allen Nähten platzen, wenn noch ein paar weitere Gäste mit entsprechendem Gefolge ankommen sollten.
Dann wandte sie sich Melcher noch einmal leise lächelnd zu. „Euer Hochgeboren, da habe ich ja Glück gehabt, dass mein Weg nicht so lang und gefährlich war, wie Ihr annehmt, denn ich musste nur von der Neidenstein herüberreiten, wo ich bislang als Gast der dortigen Baronin residierte. Aber wenn ich mal wieder eine weitere Reise unternehme, werde ich mich Eurer Worte gerne erinnern und möglicherweise auf den in Aussicht gestellten Geleitschutz zurückgreifen, schon um Euch nicht die borongefälligen Träume zu rauben – wenn ich auch bislang nicht wusste, dass ich darin eine Rolle spiele.“ Biora blinzelte Melcher mit einem harmlosen Augenaufschlag an, wobei sich einer der letzten Sonnenstrahlen in einer silbernen Strähne fing, welche zusammen mit ein paar Geschwistern hier und da ihre roten Locken durchzog. „Ihr dürft mich gerne zu Eurer Rückreise bei meinem Worte nehmen, Baronin. Gute Gesellschaft kann nie schaden, noch dazu eine so reizende Dienerin der Allweisen Herrin. Lasst uns doch einige Schritte in Richtung des Halle gehen, ihr kennt den Weg, ich werde Euch darauf beschützen und Wohlgeboren Leuina von Bilgraten gerät nicht weiter ob ihrer zu sehr beschäftigten Gesellen in Verlegenheit“. Mit diesen Wort hielt ein breites Grinsen auf dem Gesicht den Vogtes Einzug und er bot der Baronin von Rickenhausen seinen linken Arm zum einhängen an.
„Ihr habt wohl recht, das Gesinde scheint mir ein wenig überlastet. Nun gut.“ Sie wandte sich ihrem Leibwächter zu. „Tar'anam, warte hier, bis sich jemand um uns kümmert, und sorge dafür, dass unser Gepäck ordentlich untergebracht wird. Das hier nehme ich mit.“ Sie klopfte auf das Bündel, das sie vorher vom Pferd genommen hatte. Der Angesprochene nickte wortlos, wie er auch bisher keine sichtbare Regung ob des Wortwechsels zwischen seiner Baronin und dem Vogt hatte erkennen lassen, sondern seine Aufmerksamkeit eher den vielen umher eilenden Leuten widmete.
„Und Ihr, mein lieber Vogt, dürft mir gerne den Weg zeigen. Aber die Gunst, mir den Arm reichen zu dürfen, müsst Ihr Euch zuerst verdienen.“ Ein strahlendes Lächeln begleitete Bioras Worte, und nur wer genau hinhörte, konnte einen ganz leisen Anklang von Schärfe in ihrem Tonfall wahrnehmen.

So erreichten sie den Turm. Die Tür stand noch halb offen und nachdem Melcher auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde sie vom Ritter ganz geöffnet. Ein schneller Blick schien ihm zu genügen um Biora zuzuordnen und mit lauter Stimme sprach er:
„Ihre Wohlgeboren Leuina Praiolind von Bilgraten, Edle zu Graufurten, Rittfrau von Nablafurt und Feder der Schwanenschwinge“, woraufhin sich die Edle, die soeben noch in ein Gespräch mit Barnabas vertieft gewesen war, erhob und ihren neuen Gast herzlich anstrahlte. Mit eleganten und nahezu erhabenen Schritten ging sie auf Biora zu, während der Ritter fortfuhr:
„Ihre hochgeborene Hochwürden Biora Tagan von Rickenhausen, hohe Lehrmeisterin der Hesinde, Baronin von Rickenhausen“, als der Ritter formvollendet aus dem Gedächtnis die korrekte Anrede der Baronin zum Besten gab, zuckte Barnabas wie ertappt zusammen. Er wäre wohl rot angelaufen, wenn sein Wangen nicht ohnehin aufgrund der ingerimmgefälligen Wärme schon rot gewesen wären, hatte er die Baronin doch stets nur ‚Hochwürden’ genannt...
Kurz war im Saal Stille eingekehrt. Die Gespräche der bereits anwesenden Gäste verstummten kurz.
Leuina, der die Hitze in der Halle bereits die Röte ins Gesicht getrieben hatte, lächelte Biora entgegen und grüßte sie nach Schützenart.
„Oh seid mir herzlich willkommen auf meiner Feste, hochgeborene Hochwürden! Schön, dass Ihr da seid!“, ihre Freude war ehrlich und herzlich.
Die Baronin von Rickenhausen streifte Barnabas mit einem leichten Schmunzeln, wer es bemerkte, konnte aber erkennen, dass es durchaus Belustigung und nicht gar Herablassung ausdrückte. Dann nickte sie der Gastgeberin mit einem offenen Lächeln formlos zu. „Euer Wohlgeboren, die Freude ist ganz meinerseits, verspricht doch so eine Jagd durchaus eine andere Erfahrung zu werden als ein Ritt durch die Kanzleistuben in Elenvina. Und zwar erreichte mich Eure Einladung recht kurzfristig, doch war es mir mit Hilfe der Baronin von Nablafurt doch möglich, ein angemessenes Gastgeschenk zu organisieren.“ Biora holte das nicht gerade kleine Bündel unter ihrem Arm hervor und entrollte es vorsichtig:

Dieser Wandteppich soll fortan den Platz zieren, der Euch angemessen erscheint und Euch auch an Tagen, an denen Ihr Euch mit profaneren Dingen beschäftigen müsste, an die Freuden der Jagd erinnern, im Namen Firuns, des Ewigen Jägers und Hesindes, der Göttin der Kunstfertigkeit.“
Das Geschenk versetzte Leuina in Erstaunen. Sie betrachtete sich den kostbaren Teppich lange und konzentriert, ein feines Lächeln zierte dabei ihre Lippen.
„Ich merke schon, man kann sich beim Betrachten des Werkes verlieren, habt Dank!“, es fiel ihr sichtlich schwer, die Augen von dem Teppich zu nehmen
„Der Darstellung der Hunde nach muss dies eine Szene aus dem Flachland sein, oder? Für die Überlandjagden bevorzugt man doch diese schnellen, wenigen Hunde...Ihr müsst mir heute unbedingt berichten, von wem dieses Werk stammt! Doch nun bitt’ ich Euch: Nehmt Platz und bedient Euch nach Belieben am Zwischenmahl wider den gröbsten Hunger!“
Der Vogt hatte an der Türe des Saales gewartet, schließlich war es nicht seine Begrüßung gewesen zu der er nun erschienen war. Er konnte aber an dem Gesichtsausdruck und der Freude von Leuina erkennen wie ein wirklich herzlicher Empfang auf Feste Furtwacht aussieht. Nachdem Biora Tagan von Rickenhausen ihr Gastgeschenk überreicht hatte, trat er näher heran und bat die Baronin „Euer Hochgeboren, gestattet mir für dieses festliche Mahl Euer Sitznachbar zu sein, es würde mich mit Stolz erfüllen.“ Ohne sich aufdrängen zu wollen wartet er ab welche der beiden hohen Frauen zuerst antworten würde.
Biora blickte sich nun endlich ausführlich im Saal um und nahm die anderen Gäste zur Kenntnis, indem sie unverbindlich und ebenso formlos wie bei Leuina in deren Richtung nickte. Soweit sie sehen konnte, war noch niemand persönlich bekanntes dabei. Dann wandte sie sich wieder dem Vogt gemessen lächelnd zu. „Ich verwehre es Euch nicht, Euer Hochgeboren.“ Mit diesen Worten steuerte Biora den freien Platz zur Rechten der Gastgeberin an.

Die letzten verehrlichen Gäste

Die Sonne versank unter blutrotem Farbenspiel hinter den Wipfeln der Bäume, saugte die Farbe aus dem gesamten Alveranszelt und ließ nur ein verwaschenes Graublau zurück. Wie die Finger einer gewaltigen Hand schloss sich der dunkle Wald um die kleine Siedlung und schien sie in seinem mächtigen Griff zu bergen. Unter den Bäumen herrschte bereits Dunkelheit und der erste Stern funkelte am Abendhimmel, als der Baron von Rabenstein mit seiner Begleitung auf den Hof der Graufurtener Motte ritt.
Drei Halbwüchsige und zwei Kriegsleute, angetan mit dem Wappen Rabensteins, einem aufsteigenden silbernen Raben auf schwarzem Feld, geteilt durch einen Schrägrechtsbalken, hielten sich hinter ihrem Herrn und mühten sich, den Reitern mit dem Wappen des Baronshauses von Leihenhof, den Herrn von Galebquell, und des Edlen von Wildenstein, eines Nachbarn der Graufurtenerin, nicht in die Quere zu kommen.
Ganz in schwarz war der Herr der Baronie Rabenstein gekleidet, wie immer angetan mit schwarzen Handschuhen und gewappnet mit Rapier und Linkhand. Sein Reittier, ein Elenviner Rapphengst, warf den Kopf auf und sog die Witterung der fremden Umgebung ein, als die Gruppe im Hof zum Stehen kam. Einen Lidschlag lang senkte sich Stille auf den Hof und verwandelte die Menschen und Tiere in Standbilder aus Schatten, ehe sie unter dem Schnauben und Scharren der Pferd zerbarst wie die ruhige Oberfläche eines Teichs, in die ein Kiesel eintauchte.
Ein Windstoß fegte über den Platz, fing sich in den Mähnen und Schweifen der Pferde und bauschte die Mäntel der Reiter. Die Knappin des Barons sprang vom Pferd, um die Ankunft der Herrin dieser Feste zu melden.
Unter dem goldenen Widder auf blauem Grund, dem Wappen der Baronie Galebquell, war die Gesellschaft aus Galebquell dem Rabensteiner gefolgt. Roklan von Leihenhof, ein junger freundlich lächelnder Mann von nicht einmal 30 Jahren, saß auf seiner kräftigen Teshkaler Stute, deren blauschwarzes Fell im blutroten Sonnenlicht metallisch glänzte. Er wurde begleitet von zwei Waffenknechten in galebqueller Farben und zwei Knappen, bei denen der Ritterschlag nicht mehr fern zu sein schien, auf robusten, angemessenen Pferden, sowie einer Dienerin auf einem Maultier.
Auffällig an dem Baron aus den südlicher liegenden gratenfelser Landen war insbesondere sein Schlangenhalsreif aus Messing, den er als Zier trug. Der junge Mann sah sich, auf seiner großen Stute um.
Auf dem Sattelknauf des speckigen, weil scheinbar oft genutzten Sattels saß ein blaugrauer Jagdfalke mit einer ledernen Haube. Erstaunlich ruhig hielt sich der gefiederte Jäger, fast als fühlte er sich wohl in der Aura des jungen Barons. Neben der Teshkaler Stute lief ein schwarzer, beinahe fuchs- oder wolfsartiger und mit großen Ohren und einer kräftigen Rute. Er hatte den Kiefer zu einem beinahe fröhlichen Grinsen verzogen, die Zunge hing hechelnd heraus.
Der hochgewachsene Knappe mit dem wuscheligen nussbraunem Haar und dem feingeschnittenen hübschen Gesicht sprang vom Pferd, sein stämmigerer Gefährte folgte sogleich und die beiden begannen, sich um die Pferde der Gesellschaft zu kümmern.

Aus dem Schatten des Hundezwingers, in dem schon seit geraumer Zeit Ruhe eingekehrt war, eine Gestalt und auf die Besucher zu.
„Die Götter zum Gruße, hohe Herren!“, rief er, noch ehe er ganz heran war. Es war der Waidgeselle Barnabas, wie der Edle von Wildenberg erkannte. Ein meist schüchterner Bursche von Mitte 20, der aber schnell lustiger werden konnte, sobald es um Jagd und Tiere ging. Diese unauffällige Bescheidenheit war der Grund dafür, weshalb er den meisten recht sympathisch war: Er meinte nicht, bei Dingen mitsprechen zu können, von denen er nichts verstand, und hielt sich daher meist zurück. Wie ein Fisch an Land verschwendete er keine Luft zum Sprechen sondern erst, wenn er wieder in seinem Wasser war.
„Ihre Wohlgeboren trug mir auf, mich um Euer Wohl zu sorgen, sobald Ihr eintrefft. Ich bin Barnabas Deringer, der älteste Waidmann am Hof gleich nach dem Jagdmeister. Darf ich Euch Eure Quartiere zeigen?“ selbst im Dunkel war das scheue Lächeln des jungen Mannes zu erkennen.
Finmar nickte bestätigend und sprang aus dem Sattel. Kurz klopfte er den Hals seines Reittieres, dann lockerte er den Gurt und wand den Zügel durch einen Ring am nahen Gebäude. Sobald die Pferdeknechte Zeit fanden, würden sie sich der Reittiere des Besuches annehmen und das Gepäck auf die Zimmer schaffen.
Etwas langsamer stieg auch der Isenhager von seinem Roß. Er band sein Roß an, strich über den Hals und die Schultern seines Tieres, ließ seine Hände über die die Beine des Pferdes gleiten und hob die Hufe, prüfend, ob sich das Tier bei der letzten Tagesreise einen Stein eingetreten oder sonstigen Schaden zugezogen haben. Der junge Elenviner stand wie angewachsen und nur seine spielenden Ohren verrieten die Aufmerksamkeit des Rappen. Dann erst nahm folgte der alte Baron dem Waidmann, der bis dahin notgedrungen gewartet hatte.
Barnabas führte die Herrschaften in den Palas, das größte Gebäude der Feste und im Gegensatz zu den anderen aus Fachwerk erbaut. Die Gefächer waren erst diesen Sommer neu verputzt worden; im Lichte des Madamals strahlten sie geradezu. Im Inneren waren die Flure eng und gänzlich mit Holz verkleidet, der Duft von alter Eiche, kalter Abendluft und brennendem Kiefernholz erfüllte jeden Raum und jeden Winkel.
Kaum waren sie zur Tür hinein, deutete Barnabas auch gleich auf eine Tür zur Linken:
„Euer Hochgeboren von Rabenstein, dies wäre dann Euer Zimmer“, er blickte Lucrann direkt an und versuchte sich an einem Lächeln.
An den Baron von Rabenstein indes erwies sich das als verschwendet. Dessen Blick streifte den Waidgesellen und besaß dabei die Wärme und Herzlichkeit des Firunatems. Mit einem knappen Nicken bedankte Lucrann sich für den Dienst Barnabas’, bedeutete seinen Knappen und dem Pagen, die Satteltaschen, die diese tapfer schleppten, abzulegen, und entließ die drei Jugendlichen dann zu ihren Pflichten, die unter anderem in der Versorgung der Pferde bestanden.
Die Älteste der dreie war eine hochgeschossene und kraftvolle blonde Frau, deren klar geschnittene Züge die Verwandtschaft zur Nablafurter Baronin, der Lehnsherrin der Graufurtenerin, zeigten. Tsalind von Neidenstein stand kurz vor ihrem Ritterschlag, den sie in diesem, spätestens wohl aber im kommenden Jahr empfangen würde. Ungefähr gleichen Alters war Traviadan von Schwertleihe, ein rothaariger, sommersprossiger Schlacks, bei dem sich erst langsam eine Ahnung des gut trainierten Kriegers abzeichnete, der er dereinst wohl werden würde. Der dritte im Bunde, Sean ui Niamad, war der Sohn der albernischen Baronin von Orbatal. Der Neunjährige, ein dunkelhaariger Bursche mit wachen, grau-grünen Augen, diente noch als Page und wartete darauf, mit seinem zwölften Götterlauf als Knappe an den Waffen ausgebildet zu werden.
„Kommt, machen wir uns nützlich. Meister Deringer, zeigt ihr uns, wo ihr die Pferde unterbringt – und wo wir selbst unterkommen?“ Tsalind war, wie meist, die Sprecherin des Trios. „Und ehe ich’s vergesse, ganz herzliche Grüße soll ich von Eurer Tante Aldaia bestellen, das hat sie uns ganz dringend aufgetragen.“
Der Waidgeselle lächelte die Knappin aus dem Haus Neidenstein freundlich an. Tatsächlich ahnte er nichts von ihrer Herkunft: Sie war in Knappschaft gewesen als er selbst gerade noch Jagdpage war und auch bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen der Herr von Rabenstein zu einer Jagd der Baronin – die folglich von den Herren von Graufurten aufgestellt wurde – geladen war und sie mitgebracht hatte, war ihm der volle Name der Knappin entgangen. Er konnte nur sagen, dass sie ihm aus irgendeinem Grunde sympathisch war, ohne selbst zu wissen weshalb. Als die Sprache auf seine Tante Aldaia kam stockte er, sein Lächeln gefror ihm im Gesicht und er brauchte einen Moment, um der Knappin zu antworten:
„Habt Dank. Ich hoffe, Ihr werdet ihr Gutes zu berichten haben wenn Ihr wieder in Rabenstein seid“, der Moment war verflogen und er kam etwas zurück in seinen Tritt als er fortfuhr:
„Die Stallungen sind schräg gegenüber vom Palas. Ihr werdet zusammen mit den Wachleuten und dem Gesinde der Gäste im Gesindehaus übernachten können. Wartet nur eben schon im Hof, ich schick Euch jemanden...“
Er öffnete die Tür zur Küche, steckte den Kopf hinein und man hörte ihn laut sagen:
„Ich brauch’ mal fix den Lupius und jeden der grad zu entbehren ist, Pferde stehn’ im Hof und sind ganz nass! Schnell jetzt!“ Er wartete keine Antwort ab, schloss die Tür und lächelte. Die Gäste durften ruhig wissen, dass er sich auch um das Wohl der Pferde sorgte, Jawohl!

„Der Herr von Galebquell würde gleich das Zimmer daneben“, er zeigte auf die nächste Tür auf der linken Seite „bekommen, wenn’s genehm ist. Auf der anderen Seite sind die Küche und das kleine Speisezimmer“ Dank der dicken Wände war das emsige Treiben von drüben, wo das Abendmahl bereitet wurde, kaum zu hören.
„Bitte fühlt Euch ganz wie zuhause. Ich werd nur noch eben schnell den Herrn Finmar von Wildenberg zu seinem Zimmer bringen“

Die Zimmer der beiden Barone mochten bescheiden sein, aber geräumig. Es waren kleine Öfen aufgestellt worden in denen bereits etwas eingeheizt wurde, daher der angenehme Duft nach Kiefernharz.
Roklan vergewisserte sich noch, wie sein Gefolge untergebracht war, dann nahm er Hund und Falke mit in den Raum. Der Hund folgte seinem Herrn ohne Befehl bei Fuße, der Falke saß auf dem Arm des Barons.
Die Dienerin, eine kräftige untersetzte Frau mit ordentlich zurückgebundenen braunen Haaren, räumte das Gepäck des Galebquellers in die Kammer und stellte als erstes eine kleine Specksteinstatue der Göttin Hesinde auf die Fensterbank.
Dann breitete sie ein Schaffell auf dem Boden aus, auf dass sich sogleich der Hund – Roklan rief ihn Ystävä – ruhig legte. Der stämmigere Knappe brachte sogleich den Ständer für den Falken, der auf einer breiten Scheibe ruhte, die deutliche Reibespuren aufwies. Offenbar eine Vorrichtung der Hygiene.
Roklan von Leihenhof sah sich in der Kammer um, wohlwollend, wie sein verhaltenes Lächeln ausdrückte: „Travias Heim, Travias Ehr, hier komme ich gerne her.“
Die Dienerin legte gerade noch eine frische Tunika in Grün und Gold sowie eine frische Hose bereit, damit ihr Herr des Abends nicht aussah wie ein Bettler auf der Reise. „Und heute Abend wird Euch Rahja begleiten.“
„Dhieda!“ zischte Roklan – doch halbherzig. Sein älterer Knappe, Travin von Tannwirk, ein Verwandter der Baronin von Witzichenberg, betrat mit einer letzten Tasche die Kammer. Als der Blick seines Knappenvaters auf ihn fiel, senkte er schüchtern lächelnd den Blick

Der Wildhüter stieg vor dem Edlen die Treppen hinauf – ein wenig kannte sich dieser ja auch hier aus und wusste genau, dass man vermutlich mindestens einen der Familie hatte ausquartieren müssen. Vermutlich war die Wahl auf den unleidlichen Lidowin, den Onkel der Edlen, gefallen. Dieser hatte nämlich schon immer an alles und jedem etwas auszusetzen gehabt, selbst am Praiosgeweihten. Und seine Nichte war, das hatte sich in den letzten zwei Jahren gezeigt, eine „Herrscherin“, die auch gerne mal lachte, Gnade und Milde vor Disziplin und eiserner Ehrfurcht stellte und sowieso ganz anders war, als sich der Onkel das wohl erhofft hatte.
Während sie die Treppen erklommen, plauderte Barnabas munter drauf los:
„Ich soll im Namen Ihrer Wohlgeboren um Verzeihung bitten, dass wir Euch unterm Dach unterbringen müssen. Aber es ist ja nur für eine Nacht und nachdem der landgräfliche Vogt und der kaiserliche Burggraf von Elsternhöh’ da sind und Seine Gnaden Bartolos nach seiner letzten Nacht im Gesindehaus zwei Wochen mit Fieber daniederlag, wollten wir ihn nicht auch noch ausquartieren. Dafür wird auf Koschwacht dann genug Platz für wirklich alle sein, aber das wisst Ihr ja. Nein? Wie, Ihr ward noch nie auf Koschwacht? Na dann dürft Ihr euch ja auf etwas freuen! Gemütlich ist es da oben. Ich sagte zwar, Platz ist für alle da, aber die Wände sind ja nur aus Vorhängen. Was man da schon für Geschichten gehört hat, jaja...“
Finmar hob erstaunt eine Augenbraue gen Himmel. Zwar wusste er, dass der Barnabas gut mit ihm auskam und dann recht bald seine Schüchternheit ablegte, doch dieser Redeschwall des Waidgesellen musste ihn dann doch erstaunen. Er schien ob der anstehenden Herbstjagd recht nervös zu sein.
„Das wird schon alles werden;“ beruhigte er seinen Führer. „Und was die Geschichten angeht, da mach dir mal keine vorschnellen Hoffnungen. Wenn ich mir die Jagdgesellschaft so ansehe, wird wohl kaum mehr die Nacht zerreißen als das Borongebet des Rabensteiners. Und der betet bekanntlich schweigend.“
„So, hier wären wir“, erklärte Barnabas, nachdem sie die letzte steile Treppe erklommen hatten.
„Dort schläft der Vogt des Landgrafen“, er deutete auf das größte Zimmer – das Zimmer des Onkels.
„Hier vorn dann der Edle von Bollstieg, dort der Edle von Treuklingen, hier der Edle von Fischwachtal und dieses hier,“ er öffnete die Tür in der Mitte, „soll Euer Zimmer sein!“ Er grinste fröhlich.
Das Zimmer war klein. Ein Bett hatte Platz, welches frisch bezogen war, eine kleine Luke diente der Frischluftversorgung und Kühlung im Sommer. Sie stand noch offen. Ein einfaches Regal würde den nötigsten Kleidern Platz geben und neben dem Bett stand ein Eimer mit frischem Wasser zum Waschen. Theoretisch wäre noch Platz für eine Kleidertruhe gewesen.
„Richtet Euch ein, ich wart’ dann unten auf Euch!“
„Das werde ich.“ Freundlich nickte der Edle dem Waidgesellen zu, dann sah er sich kurz im Zimmer um. Er würde wohl noch einen kleinen Moment warten müssen, bis man ihm die Satteltaschen und das Gepäck brachte. Das würde er auf angenehme Weise zu nutzen verstehen: Wohlig aufseufzend ließ er sich auf das Bett fallen und schloss kurz die Augen.

Mit ruhigen Schritten steig Barnabas wieder hinab. Das Haus war nun zum Lebenszeugnis geworden. Im Gegensatz zu sonst hörte er das Treiben der vielen Besucher. Die Edle würd’s sicher freuen, denn lang schon war es hier herinnen zu still gewesen. Ihm aber behagte dies alles nicht. Er hatte es still gemocht. Er ließ sich von der allgemeinen Geschäftigkeit nicht anstecken. Ein Jäger übereilt nicht, niemals. So kam er dann unten im Hof an und stellte fest, dass alles seinen Gang nahm. Nur das Pferd vom Finmar stand noch etwas verloren herum. Er seufzte und machte sich selbst an die Arbeit. Es half ja nichts, die Mägde wurden gewiss in der Küche benötigt und der alte Knecht kam eben grad so hinterher.
Er nestelte das Gepäck des Edlen los und versorgte erst einmal dessen nasses Pferd. Im Stall rieb er es mit Stroh ab, sprach ihm in unbekannter Zunge ruhig zu und überließ es dann dem Knecht. Dann erst brachte er Finmar seine Satteltaschen und die Gepäckrolle.
„Wohlgeboren? Ich bringe Euer Gepäck...“, er versuchte sich erneut an einem Lächeln.
Finmar blinzelte, dann fuhr er hoch, schneller als er dies hätte tun sollen. Kurz bemerkte er farbige Punkte vor den Augen, dann klärte sich sein Blick. Augenscheinlich hatte ihn der Waidmann aus tiefem Schlaf geweckt.
„Sei bedankt.“ Der Edle konnte ein Gähnen gerade noch so unterdrücken. „Hast du eine Ahnung, wie es weitergeht? Gibt es bald Essen oder ist vorher noch ein Beisammensein vorgesehen?“
„Nun, man hat mit dem Bankett auf euch gewartet. Bankett und Beisammensein finden ja oben im Eichensaal statt.“, antwortete Barnabas.
Finmar erblasste. „Hab ich so lange geschlafen?“ Während der Waidvogt noch wartete, riss er auch schon sein Hemd vom Leibe und griff in die Satteltasche. Zwar hatte er sich noch ein wenig Wasser überwerfen wollen, aber dies hatte er ja wohl im Wahrsten Wortsinne verpennt.
Der Geselle war durchaus erstaunt über die erschrockene Aufregung des Edlen, kam aber natürlich nicht auf die Idee, dass dieser seine Aussage irgendwie missverstanden haben könnte. So sah er Finmar in aller Ruhe, die ein Jäger aufbringen konnte, zu und geleitete ihn dann ebenso ruhig wieder hinab in den Hof, wo sich durch die Anwesenheit des Rabensteiners und des Galebquellers dieses Missverständnis für Finmar schnell aufklärte.
Dann atmete er tief durch, blickte kurz durch die Reihen der herausgeputzten Gäste und nickte ihnen zu.
„Tja nu. Dann mal los“ sprach er und marschierte hinauf zum Turm, wo er die Gäste erst einmal vor der Türe warten ließ um den Ritter zu holen. Sie wechselten einige Worte, dann öffnete Barnabas die Türe. Im Saal schienen nun alle anderen Gäste versammelt, denn es war warm und nahezu alle Plätze an der langen Tafel waren belegt. In den Ecken waren, selbstbewusst auf die feuerresistente Steineiche vertrauend, Feuerkörbe aufgestellt worden, die etwas mehr Licht in den Saal brachten. In deren Schein tanzten die Schatten der Trophäen an der Wand, als wollten sie die Geschichten ihrer vormaligen Träger erzählen.
Auf der Tafel selbst war noch das Zwischenmahl aufgebaut: Obstschalen und kalte Platten sowie große Krüge, die schnelle Linderung von den Unbillen der Reise versprachen.
Neben der Türe hatte ein stattlicher Ritter Position bezogen, dem bei der Wärme im Saal der Schweiß auf der Stirn stand, sich aber ansonsten nichts anmerken ließ.
„Ihre Wohlgeboren Leuina Praiolind von Bilgraten, Edle zu Graufurten, Rittfrau von Nablafurt und Feder der Schwanenschwinge“, die Stimme des Ritters übertönte ohne Schwierigkeiten den Lärm im Saal. Ihren Namen hörend, erhob sich die Dame am Kopfende der Tafel und lächelte vorfreudig den letzten Gästen entgegen.

„Seine Hochgeboren, Lucrann von und zu Rabenstein, Baron von Rabenstein“

„Seine Hochgeboren, Roklan Odulf Aedan von Leihenhof, Baron von Galebquell, Consortis santa marta oratorium Hesindianus, Ritter von Elenvina“

„Seine Wohlgeboren, Finmar Neidenstein von Wildenberg, Edler von Wildenberg“

Während der Ritter die Titel und Namen ihrer Gäste noch frei aus dem Gedächtnis vortrug, schritt die Edle auf diese zu. Sie strahlte freudig, das Gesicht von der Hitze gerötet, tippte sich zum Gruß mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an die Schläfe:
„Seid mir willkommen! Bitte tretet ein und setzt Euch, greift zu und bedient Euch wider den gröbsten Hunger frei von meiner Tafel. Bald werden wir zum kleinen Bankette auftischen“
Der Rabensteiner Baron war ein schlanker, mittelgroßer Mann mit schulterlangen, schwarzen Haaren, die an den Schläfen bereits großzügig mit Silber untermischt waren. Sein linkes Auge war von einer Augenklappe bedeckt, darüber zog sich eine fingerbreite weiße Strähne durch sein Haar. Sein verbliebenes Auge schien im Zwielicht der Halle schwarz und bildete einen starken Kontrast zu seiner sehr hellen Haut. Er trug einen schmalen Oberlippenbart, und die harten Linien und Kanten seines Gesichts bezeugten die etwa sechzig Sommer, die er wohl zählte. Gekleidet war er in Wams und Hosen aus feinem schwarzem Wollstoff, hohe Stulpenstiefel und schwarze Handschuhe, die er auch in der Wärme der Halle nicht ablegte. Seine Linke ruhte auf dem silbernen Knauf eines Gehstockes, der vor dem altehrwürdigen Eichensaal entschieden deplatziert wirkte.
„Euer Wohlgeboren, seid bedankt für die Einladung.“ Er trat auf seine Gastgeberin zu, ergriff ihre Hand und beugte sich in einem formvollendeten Handkuß über diese. Kühl war das Leder seiner Handschuhe und eisig sein Atem, als er die warme Haut der jungen Edlen streifte. „Es ist mir ein Vergnügen.“
„Euer Hochgeboren, dass Vergnügen ist ganz auf meiner Seite!“, erwiderte sie mit einem Lächeln und sträubte sich auch nicht gegen den galanten Handkuss. Sie hatte heute schon ganz anderes erlebt und diese Form der Ehrerbietung war ihr wenigstens vom Hörensagen bekannt. Eigentlich seltsam, denn diese Geste war ja doch sehr nahe am Kuss des Siegelringes, welchen die Untertanen vollzogen um ihre Demut und ihren Gehorsam auszudrücken...

Der Baron trat einen Schritt zurück, betrachtete die Dame und winkte seine Knappin herbei, die ein mit Silber beschlagenes Kästchen aus Mooreichenholz in den Händen hielt. Sie überreichte es mit einer tiefen Verbeugung der Herrin des Hauses und zog sich dann wortlos zurück.
„Nehmt dies als Dank für Eure Gastfreundschaft.“
Es enthielt ein perfekt gearbeitetes Jagdmesser aus Zwergenstahl mit einer passenden, mit zwergischen Ornamenten gezierten Scheide.
Der Jäger war wohl mittlerweile auf Betriebstemperatur. Das viele hin- und herhofieren am heutigen Tage war eine gute Übung gewesen und insgeheim war er stolz auf sich. Und auch dankbar, dass von seinem ersten Auftritt, denn er gründlich verstammelt hatte, nur ein einziger Gast Zeuge geworden war.
Als dann der Baron die Truhe hervorholte und öffnete, war er gleich zur Stelle um der Edlen das Geschenk zu präsentieren. Mit angemessener Ehrfurcht hob er das Messer aus dem Behältnis, drehte es und zog es auch zur Gänze heraus, drehte es erneut. Er selbst betrachtete dabei das Geschenk mit ebensolcher Neugier. Er wusste sehr gut, dass die Edle selbst bereits Waidbesteck besaß, allesamt Erbstücke welche dem Familienoberhaupt der Bilgratens gebührten, und es mochte gut sein, dass dieses Messer in andere Hände kommen würde. Vielleicht gar in seine.
Auch Leuina betrachtete das dargereichte Werk mit kundigem Blick und nickte zufrieden.
„Welch bemerkenswerte Arbeit! Habt Dank für dies außerordentliche Geschenk, werter Baron!“, sprach sie und lächelte ihn herzlich an. Tatsächlich war ihr eine so ehrliche, sanfte und gütige Wärme zu eigen, die nicht einmal das borongefällige Auftreten des Rabensteiners zu erfrieren vermochte.
Ein kurzer, nachdenklicher Blick traf die junge Edle, ehe Lucrann ihr mit einem kurzen Nicken antwortete. Er nahm an der nahezu vollbesetzten Tafel Platz, während sich die Knappen und der Page sich götterergeben und aus langer Gewohnheit heraus einen Platz an der Wand des Saales suchten, um ihrem Herrn aufzuwarten, wenn ihre Dienste benötigt würden. Neugierig musterten die dreie die Umgebung, vermieden es aber – bislang – noch, ihre Erkenntisse auszutauschen.
Nur wenige der Anwesenden waren dem alten Baron von Angesicht zu Angesicht bekannt. Aufmerksam musterte er seine beiden Sitznachbarn.
Nun war es an dem Baron Galebquells, die Gastgeberin zu begrüßen. Der Baron mit dem kurzen, mittelbraunen Haar war nur halb so alt wie der Rabensteiner – der doch sein Schwager war, wie man mitbekommen konnte. Der junge Mann war etwa neun Spann in der Höhe messend, wahrte dabei eine schlanke Gestalt wie ein junger Hirsch. Als er so neben seinen Schwager trat, wirkte er beinahe wie ein Grünspecht neben einem Raben, trug er doch eine bis auf den Oberschenkel reichende Tunika in schlichtem Schnitt, aber von einer satten, grünen Farbe, deren Säume mit goldenen Borten eingefasst waren. Einziger Schmuck des Barons schienen ein Halsreif aus Messing in Gestalt einer sich selbst in den Schwanz beißenden Schlange, den er um seinen schlanken Hals trug und eine goldene Nadel in Form eines schlichten Strohhalms an seiner Brust zu sein.
Seine rehbraunen Augen, die den Eindruck eines jungen, sehnigen Hirsches noch verstärkten, funkelten freundlich und versanken schier im Gesicht des Gegenübers. Der breite Mund Roklans formte ein freundliches, die gepflegten Zähne entblößendes Lächeln, als er sich elegant wie besagter Hirsch vor der Gastgeberin leicht verbeugte.
„Hesinde zum Gruße und Travias Ehr über Euer Haus und Eure Familie, Euer Wohlgeboren.“ grüßte er mit einer ruhigen Stimme. „Ich freue mich, hier zu sein. Und auch ich habe im Namen des Hauses Leihenhof ein Geschenk mitgebracht.“
Sein Knappe, der hochgewachsene schlanke mit dem Wuschelhaar, Travin von Tannwirk mit Namen, trat mit einem länglichen in Fell gewickeltem Paket herbei und reichte es auf Anweisung seines Schwertvaters der Edlen.
Leuina wickelte es bedächtig aus und zum Vorschein kam ein Kurzbogen aus einem eigentlich hellen, biegsamen Holz, welches bis auf einige feine Gravuren, die erstaunlich filigrane Hirsche und Wölfe zeigten, dunkel gebeizt waren. Auffällig hoben sich die Sendboten Firuns und Ifirns von dem Geschenk, welches zwischen einem Schmuckstück und einer Jagdwaffe schwankte, ab. Der griff war mit fein gegerbtem, hellen Leder umwickelt und gewährleistete so eine Grifffestigkeit selbst bei nasser oder kalter Witterung.
„Dieser Bogen wurde einst von meiner eigenen Bognerin gefertigt.“ erklärte er und fuhr sich bübisch mit der linken Hand durch sein Haar. „Ich dachte, das wäre doch ein passendes Geschenk.“ Auf einmal war der Baron, Consortis und Reichsrichter ein kleiner Junge, der sich über die Geste des Schenkens einfach nur freute.
Auch hier war Barnabas sogleich zur Stelle um der Edlen das Geschenk zu präsentieren. Dabei gab er sorgsam Acht, das Leder nicht zu berühren um es nicht schon durch seine Finger fettig zu machen. Auch dieses Geschenk wurde von Leuina neugierig betrachtet, ein verzücktes Lächeln zierte dabei ihr Gesicht. Dass sie selbst nur mit dem Wurfspeer jagen ging und den kurzen Bogen nur höchst selten verwendete, verschwieg sie dem Baron.
„Hochgeboren, ich danke Euch von Herzen für dieses wahrlich außerordentliche Geschenk, habt Dank!“, die Worte kamen von Herzen und vermutlich würde sich der Firungeweihte noch mehr über diese Waffe freuen, weshalb auch ihre Freude an den Baron gerichtet eine echte war. Barnabas legte auch dieses Geschenk artig zu den anderen. Irgendwann im Laufe des Tages hatte man ein kleines Beistelltischchen organisiert auf dem alle Geschenke ihren Platz fanden und von den Gästen bewundert und betrachtet werden konnten, ohne dabei dem Bankette im Wege zu sein. Dass dieser Tisch sonst für’s Präsentieren der Häupter vom erbeuteten Wild beim Tottrinken desselbigen genutzt wurde, erkannte man nur bei gutem Licht anhand der Blutflecken...

Im Hintergrund hatte bislang der Edle von Wildenberg verharrt. Nun, da sich auch der Galebqueller zu Tisch setzte, trat er an die Edle heran. „Es ist wundervoll, wieder hier zu sein“, bedankte er sich artig. Ich hoffe, mein Geschenk ist bereits angekommen.“ Finmar ging fest davon aus, hatte er den almadanischen Wein doch schon vor Wochen in Punin gekauft und ins Edlengut liefern lassen.
Nachdem am heutigen Tage genug auf andere Weise geschehen als geplant und vorgesehen war, strahlte die Edle ihren Nachbarn geradezu an, als sie ihn erblickte. Immerhin war am Ende doch noch ein Vertrauter im Saal, dessen Harmoniebedürfnis und Einfühlungsvermögen ihr wohl Rückendeckung geben konnten, wenn ihre sprichwörtlichen inneren Wölfe sich auf Jagd begaben und mit ihr durchgingen, wie es heute nicht nur einmal geschehen war.
So begrüßte sie Finmar auch mit einer herzlichen, wenn auch kurzen Umarmung und flüsterte ihm ins Ohr, nur für diesen hörbar:
„Ich bin so froh, dass Ihr da seid!“
Die vertraute Begrüßung beendet, lächelte sie auch ihn mit von der Hitze geröteten Wangen an und antwortete ihm:
„Natürlich, werter Finmar! Und es wird Euch gewiss freuen, dass wir ein Fässlein schon hinauf zur Koschwacht gebracht haben. So wir uns vor Firun beweisen, werden wir den Hirsch mit diesem vortrefflichen Tropfen gebührend tottrinken können!“
Jaja, das Tottrinken. Das letzte Mal, dass der Edle von Wildenberg bei diesem Brauch zugegen gewesen war, war nach dem Tode der alten Edlen von Graufurten gewesen. Man saß beisammen, trank ordentlich und lobte das Leben der Verstorbenen. Dabei wurde viel gelacht und auch geweint. Finmar durfte also gespannt sein, wie es sich beim Tottrinken des Wildes verhielt, doch auch dies versprach eine lustige Veranstaltung zu werden.
Finmar nickte still und freute sich. Wie es dazu gekommen war, war ihm immer noch nicht so richtig klar, aber die Edle hatte ihn in der Zeit, die sie sich kannten, scheinbar einfach ihrer Familie zugefügt und behandelte ihn auch so; eine Form der Nähe, die er aus der eigenen Familie so gar nicht kannte. Dort bestimmte die alte Baronin den Umgang und lediglich zu Reglindis hatte er freundschaftliche Bande aufgebaut, bedingt durch die vielen abenteuerlichen Situationen, in die das Leben und das Reich sie geworfen hatten.
Hierher kommen hatte fast mehr von heimkommen als wenn er sich mit den restlichen Neidensteinern in der Stammburg traf.
„Dann wollen wir hoffen, dass wir tatsächlich eine Strecke zum Tottrinken haben, wenn die Jagd vorbei ist.“ --- Kategorie: Briefspielgeschichte

-- Main.KennyS - 26 Feb 2014