Alter Wein In Neuen Schläuchen

Neuer Wein in alten Schläuchen

Seit seiner Pilgerfahrt waren nur ein paar Wochen ins Land gegangen, so dass sich Aureus noch am Glitzern des Schnees erfreuen konnte, als er sein Pferd Richtung Elenvina lenkte. Die Felder zu beiden Seiten der Straße waren immer noch weiß, wenn auch nicht mehr so dick bedeckt. Dennoch löste der grimme Herr Firun nur widerwillig seinen eisigen Griff von Land und Leuten.

Ein warmer Wind kam auf und versprach einen Hauch von Frühling. Der Altenweiner erinnerte sich dabei an das kleine Wunder, dass er erleben durfte. Die Gestalt eines Schwans im Glitzern des Schnees. Unwillkürlich griff er nach der Schwanenfeder, die er als Zeichen zur Vollendung der Pilgerfahrt erhalten hatte. Der Weg war schwierig gewesen und hatte einige unschöne Überraschungen parat, darunter ein grausamer Mord, doch das göttliche Zeichen wirkte immer noch in seiner Erinnerung nach und so wurde ihm warm ums Herz bei dem Gedanken daran.

Nun kamen auch schon die höchsten Dächer der Stadt in Sicht und je näher er ihr kam, desto schlammiger und dreckiger wurde der Schnee auf der Straße vor ihm. Er musste sich nun konzentrieren, wollte er doch verhindern, dass sein Pferd strauchelte und sich verletzte. Es war ein Geschenk seiner Mutter und seiner Schwester gewesen, die dafür bestimmt lange gespart hatten. Vermutlich hatte seine Mutter auch das ein oder andere Schmuckstück dafür veräußert. Er wusste es nicht, meinte aber sich an Ringe und Anhänger zu erinnern, die er schon lange nicht mehr an ihr gesehen hatte.

Langsam senkte sich die Praiosscheibe, als er endlich das Stadttor passierte. Er lenkte sein Pferd entlang der Stadtmauer, um eine günstige Unterkunft zu finden. Morgen würde er bei der Kanzlerin vorsprechen, die ihm dafür schon schriftlich eine Audienz gewährt hatte. Doch heute wollte er nur noch sein Pferd versorgen, ein warmes Bad nehmen und sich mit einem heißen Brei und einem Krug Würzwein den langen Ritt aus den Gliedern vertreiben.

Er stand rechtzeitig auf, wusch und kämmte sich und klopfte den Staub aus seiner guten Kleidung. Ein wenig Brot und Käse gönnte er sich zum Frühstück. Für eine richtige Mahlzeit war er zu nervös.

Nach einer Weile machte er sich auf den Weg zur bekannten Adresse. Was sie wohl sagen würde? Welche Pläne sie wohl hatte?

Die Landthauptfrau legte ihren Federkiel beiseite, faltete die Hände und blickte den jungen Burschen an, der auf dem nicht allzu bequemen Besucherstuhl in ihrer Amtsstube saß.

„Ihr seid um ein Erlebnis reicher, Wohlgeboren. Erzählt mir, welche Lehren ihr daraus gezogen habt.“ Mit wachen Augen musterte die Frau den jungen Krieger, merklich neugierig darauf, was er ihr zu erzählen hatte.

„Ich habe gelernt, dass verschiedene Menschen das gleiche Ziel haben können, aber obwohl sie zusammen gehen doch unterschiedliche Wege beschreiten. Manche können dabei nur an sich denken, andere wiederum haben auch einen Blick oder ein frohes Wort für ihre Reisebegleiter übrig. Außerdem gab es welche, die freiwillig gingen, während andere gezwungen waren. Es gibt Menschen, die sich nicht trauen um Hilfe zu bitten, egal wie schlecht es ihnen geht.

Zudem gab es noch diesen Geweihtenmord zu klären – möge Praios seiner Seele gnädig sein. Hier habe ich gelernt, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer gleich sind, dass auch Wahrheit nicht gleich Wahrheit ist und dass selbst einfache und klare Gesetze nicht immer Gültigkeit haben, da es immer auf die Situation ankommt. Aber auch, dass man sich manchmal auf den Rat eines Experten verlassen muss, selbst wenn man dessen Zunft verabscheut.

Zu guter Letzt durfte ich an einem kleinen Wunder des Ifirngeweihten teilhaben und habe einen Hauch von Ifirns Gnade selbst gespürt.

Somit kam ich zu dem Schluß, dass jedesmal, wenn ich einen Menschen beurteile, egal ob als Richter oder nur als Weggefährte, ich mir sowohl die Person, dessen Hintergrund sowie die Situation, in der sie steckt, genau betrachten muss, bevor ich mein Urteil festlege. Und dass ich mich nicht allein auf des Herrn Praios Strenge verlassen kann, sondern auch auf der Herrin Ifirn Gnade zurückgreifen darf.“ Aureus meinte jedes Wort ernst, doch war im ein leichtes Unwohlsein anzumerken, als er auf die Antwort der Kanzlerin wartete.

Die kniff die Augen zusammen und dachte einige Atemz üge lang nach. Still wurde es in ihrer Schreibstube, viel zu still, so dass man nur die Geräusche der Stiefel und Rüstungen der beiden Flussgardisten vor der Tür hören konnte.

„Ihr habt Eure Schlüsse gezogen.“ Die Landthauptfrau betrachtete den jungen Burschen aufmerksam. „Werdet Ihr künftig nach ihnen handeln?“ Ein etwas zweischneidiges Schwert war die Frage – aber Iseweine hatte nicht vor, den Burschen so einfach von der Leine zu lassen. Herz und Zunge lagen nahe beieinander, besonders in diesem Alter – doch war er gerade auf dem besten Weg, sich in eine viel zu offensichtliche Sache zu verrennen.

Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

„Versteht mich nicht falsch. Des Herren Praios Ordnung und seine Gesetze stehen mir nahe. Ich will und werde mich danach richten. Und sollte das Schicksal es so wollen, dass ich eines Tages als Henker fungieren muss, so werde ich auch dies bewerkstelligen. Aber ich bin nicht fähig jemandem die Schande zu nehmen, wenn ich ihn gebranntmarkt habe, ihm die Hand zu ersetzen, die ich ihm abschlug oder gar ihn aus dem Nirgendmeer zu bergen, wenn ich ihn gehängt habe. Ich will, sollte ich jemals über solch schwere Vergehen richten müssen, sicher sein, dass die beschuldigte Person auch wirklich schuldig ist. Sonst könnte man aus mir leicht einen Mörder machen indem man auf eine verhasste, aber unschuldige Person zeigt und Hexe oder Paktierer ruft.“

Iseweine nickte zu seinen Worten. „Eine gute Einstellung – sie gefällt mir.“ Sie betrachtete den jungen Mann und fällte eine Entscheidung. „Leistet mir noch vier Wochen in Elenvina Gesellschaft. Ich erwarte in den nächsten Wochen einige interessante Vorgänge, und es würde mich interessieren, welche Schlüsse Ihr daraus zieht. Habt Ihr Lust dazu?“

Ein Angebot - kein Befehl, das konnte auch der junge Mann erkennen.

Aureus dachte kurz an sein knappes Reisesäckel. Wie lange würde es wohl reichen? Er würde sich eine neue, kärglichere Unterkunft suchen müssen. Aber es würde wohl irgendwie gehen. Diese Chance konnte er nicht einfach verstreichen lassen. Also sagte er: „Es ist mir eine Ehre Euch assistieren zu dürfen. Gleichwohl muss ich mir natürlich erst die Erlaubnis meines Schwertvaters einholen.“

„Gut, dann erwarte ich Euch nächsten Mond in Elenvina.“ Die Landthauptfrau ging offenbar stillschweigend davon aus, dass der Schwertvater Aureus' keinerlei Einwände erheben würde. Sie lächelte. „Ich bin gespannt.“ --- Kategorie: Briefspielgeschichte

-- Main.YanTur - 13 May 2019