Marhibora von Havena

Präludium

Als die Eikapsel in den letzten Stunden des ausklingenden Götterlaufs Rahja im Jahres 970 nach dem Falle Bosparans durch einen raschen Schnitt in den Unterbauch aus der Mutter geborgen wurde, verspürte das Mädchen wohl das erste Mal das quälende Verlangen nach dem pulsierenden Gleichklang strömenden Blutes, welches ein stetig in der Brust pochendes Herz durch den menschlichen Körper treibt. In der Folge als das Geschenk Satuarias der erschöpften Mutter verzweifelt, sehnend schreiend in die Arme gelegt wurde und es den bekannten Herzschlag - das Leben der Mutter - mit ihrem Körper spüren konnte, überkam dem Kinde diese ausfüllende innerliche Befriedigung, während sich das Neugeborene erstmalig in höchster Zufriedenheit am Klang eines vergehenden Herzschlags erquickte, bis sie von den Schwestern des inneren Zirkels dem leblosen Fleisch ihrer Mutter entrissen wurde.

Wie ein drohender Schatten langten die nahenden namenlosen Tage nach dem Geschenk, der Nebel der Niederhöllen zog bereits durch die Täler der Wälder und Isyahadin würde sich in Kürze durch die Sphärenschleier zwingen, während der Fötus sich unnachgiebig an der Lebenskraft der Mutter gelabt hatte, sodass die werdende Mutter letztendlich ausgezehrt nach stundenlanger Austreibungsphase unter schweren Wehen erschöpft auf dem Wochenbett zusammenbrach. Ganz so als würde das ungeschlüpfte Leben sich den Wehen verweigern, um nicht vom hämmernden Blutstrom des mütterlichen Blutkreislaufs loszulassen. Die Faszination für das Vitae - die Lebenskraft, die mit dem Blut untrennbar verknüpft ist, schien bereits als Ungeborenes das Leben des Mädchens zu bestimmen.

Lasst mich Euch von ihrem ersten Mord an einem Menschen berichten, dem Menschen, der dem Bannstrahl der Praioten ein Lied gesungen hatte, das dereinst im Jahre 983 BF den Scheiterhaufen im Dorfe Grimmwyn in der Ritterherrschaft Wolfswald entzündet hatte: Diese einschneidende Erfahrung ereignete sich an einem Rohalstag des abnehmenden Madamals im Praios des Folgejahres. Die Erinnerungen sind verzerrt, der Blickwinkel eventuell ob des Schreckens umnachtet: Im Zwielicht einer Laterne konnte man durch ein Astloch einer Stallwand blickend Zeuge einer berauschenden Untat werden, als das zu einer zauberhaften Blüte herangewachsene Geschenk der Erdmutter zu einem mit Perlmutt besetzen Griff eines im Stroh unter ihrem Deckenlager verborgenen Messers griff, während sie in rhythmischen Stößen ihr Becken auf und ab bewegend Levthans Rausch auskostete, um abschließend die Klinge in das Herz des wenige Jahre älteren Jungen zu versenken, welcher sein Leben mit einem letzten Verkrampfen der Muskeln und unter entsetzt geweiteten Pupillen - den Widerschein ihres wahnsinnigen Blicks in seine Netzhaut eingebrannt - aushauchte. Die junge Hexe beobachtete das Vergehen seiner Seele mit angespanntem, lüsternen Interesse, während sie sich innehaltend zu ihm herunterbeugte, die Hand zärtlich seine bebenden Lippen versiegelte, die Maske fallen ließ und ihre leisen Worte "Ich werde diesen Augenblick in meinem Herzen bewahren!" den Todeskampf des Jungen beendeten. Die Schwingen Golgaris verhüllten seinen Blick im Entsetzen des Erkennens. Albträume hatten das Bild gewandelt.

Hintergrund

Die auf dem Kindbett verstorbene Mutter von Töchterchen Marya, mit Namen Lysa aus Bockshag, gehörte zum äußeren Kreis des Hexenzirkels von Hallerû und vertrat als Schöne der Nacht die Schwesternschaft bei Zusammenkünften und Hexenfesten. Das Neugeborene wurde von Vertreterinnen des inneren Zirkels in die Obhut von Mütterchen Hana - einer Freien Frau - übergeben, um die Tochter Satuarias an Kindes statt auszubilden. Töchterchen Marya wuchs als eine von zwei Töchtern Hanas in dem Dorf Grimmwyn, einer Siedlung am Wolfswald in Albernia auf. Lediglich die Vertreterinnen des inneren Zirkels wissen um die Besonderheit der Geburt, die im drohenden Schatten der namenlosen Tagen empfangen wurde. Um Hana nicht zu beunruhigen, wurde der 11. Rahja als Tsatag genannt und Informationen zur Mutter und den besonderen Umständen der Geburt wurden verschwiegen, sodass das Mädchen Mütterchen Hana und ihre Schwester Junivera als leibliche Familie wähnte.

Marya lernte von klein auf, dass Heimlichkeit den Kern ihrer Profession auszeichnet und sie zeigte sich als überaus begabte und leidenschaftliche Tochter Satuarias, sodass sie bei Vollmond im Rahja 982 im Alter von zwölf Sommern mit einsetzender Blutung als Frau in die Schwesternschaft der Schönen der Nacht eingeführt wurde. Leidliche Verschwiegenheit versuchte Hana bezüglich der mit Einsetzen der Pubertät beginnenden Persönlichkeitsveränderung von Töchterchen Marya zu bewahren. So außerordentlich schön und begabt die Tochter sich zeigte, so widerspenstig, verdorben und jähzornig entwickelte sich die impulsive junge Frau. Es schien, als würde das Mädchen von dem drohenden Schwert der Mächte ihrer Geburtsumstände eingeholt - als würden Schatten namenloser Tage, die einen Kaiserschnitt am letzten Rahjatag zu verhindern suchte, die junge Frau erfassen.

Das Gasthaus "Zum Tanzenden Weibe" in Grimmwyn, eine sichere Einkehr für Reisende, das bereits der hörigen Familie der väterlichen Blutlinie seit Generationen anerkanntes Auskommen gesichert hatte, wurde nach siechender Krankheit des verstorbenen Ehemannes in nachtschöner Tradition von Mütterchen Hana weiter geführt, allerdings im Jahr 983 BF vom Bannstrahl des Praios erfasst. Töchterchen Marya gelang es, in den Farindelwald zu fliehen, sodass das Mädchen von dreizehn Sommern wegen Frevel wider der Zwölfgöttlichen Ordnung steckbrieflich gesucht, dennoch nicht aufgefunden wurde. Mutter und Schwester wurden nach hochnotpeinlicher Befragung und öffentlichem Prozess auf dem Marktplatz zum Scheiterhaufen geführt.

Ein verbreiteter Aberglaube besagt: "Wer nach drei Tagen nicht aus dem Farindelwald zurückkehrt, bleibt für immer dort verschollen." Töchterchen Marya entkam dem Bannstrahl und den Schrecken des Waldes. Allerdings barg die Zusammenkunft im Feenwald mit ihrem Seelentier einen Preis, der die Zukunft der jungen Hexe maßgeblich beeinflussen sollte. Getrieben vom Überlebenswillen, angefacht von der gleißenden Glut in ihrem Herzen, Feuer mit Feuer zu vergelten - ein Herz überschattet von Rachsucht - gleich einer Macht wurde die Aufmerksamkeit jener, die die Schicksalsfäden zu beeinflussen wussten, von dem Potenzial der jungen Hexe angezogen. Ein Durst nach dem Blute jener, die das Geschehene zu verantworten hatten, trieb Marya vorwärts auf einen Pfad, der ihre Seele in Versuchung zu führen trachtete. Die Flucht, gleich der zwölf Paraden der Götterprüfung dem Schwerte der Rondra, initialisierte die Prägung mit ihrem Vertrautentier, das Marya zum Geleit geschickt aus den Fängen des Farindel führte.

Grymmel, ein Hermelin von makellosem seidig weißen Fell, welches den Gegensatz zu seiner von Dunkelheit befleckter Launenhaftigkeit betont, scheint als ein Fokus für die chaotischen Einflüsse dunkler Gedanken den Weg zu schwarzmagischen Einflüssen in der Zukunft zu zeichnen. Gleich einer komplementären Persönlichkeit ergänzte die Seele ihres Vertrauten das ungestüme Potenzial der jungen Hexe und verschaffte ihr Zugang und Affinität zu den dunklen Pfaden der Invokation, um Willen mit Macht zu erzwingen. Minder Anrufung als die vorbestimmte Aufmerksamkeit einer Macht ließen die junge Frau fortan nahe der Grenzlinie zum ersten Ring der Verdammnis jener erzdämonischen Entität wandeln, die Verlockung ihrer Rachsucht verheißen sollte.

Auf der Flucht vor dem langen Arm der Verfolger folgte sie Richtung Firun, dann entlang des Ufers des Flusses Gemhar, um dem Tommelquell zu folgen. Auch wenn das Mädchen ländlich und angesichts der Nähe zu den Feenwäldern in Ehrfurcht vor der Natur aufgewachsen war, war der Nachtschönen das gesellschaftliche Leben nicht fremd - als Bedienung und Unterhaltung im "Tanzendem Weibe" war Marya aufgrund ihres hübschen Aussehens bei den Gästen beliebt und anstehende Besorgungen für das Gasthaus hatten das Mädchen in unregelmäßigen längeren zeitlichen Abständen in die Stadt Winhall geführt. Auf der Flucht hatte es die junge Frau, ein ganzer Sommer war ins Land gezogen, nach Havena verschlagen, weil sie schloss, dass auch bei gelockertem Magieverbot dort zuletzt nach einer flüchtigen Hexe Ausschau gehalten würde, wenn sie sich bedeckt hielte. Als Maja Efferdine Vialigh beging ein junges Mädchen die Anonymität der großen Stadt. Gestrandet im niederen Stadtteil Orkendorf verlor die junge Frau zunächst auch noch das Wenige, das sie neben den Fetzen ihres Unterkleides am Körper noch besaß - infolgedessen eine jede Vergewaltigung ihren Vorsatz festigte, jenen Peinigern, die sich in Überzahl an ihrer Hilflosigkeit zu berauschen trachteten, mit ihren Mitteln Vergeltung zu lehren. Die erbarmungslosen Erfahrungen - einer dreckigen Straßenkatze gleich - sorgten dafür, dass das Leben sie ihre Magie zum Vorteil lehrte. Die Große Gier befahl ihren Willen zu dem Willen jener Peiniger, die auf das Straßenmädchen herabgesehen hatten. Der launenhaft bösartige Einfluss Grymmels tat seiniges dazu, die Emotionen der jungen Frau anzufeuern, um der jungen Hexe beizubringen, dass sich das elementare Wachstum eines Haselbusch und Ginsterkraut Zaubers gewirkt auf eine Eichel missbrauchen ließe, um einem Menschen unvorstellbare Qualen zu bereiten, wenn jene Eichel verschluckt würde, sollte ein Jemand ihren Interessen zuwider handeln. Die nunmehr sechzehn Sommer zählende Hexe erzwang ihren Willen zum Aufstieg und gewann Einfluss. Sie zeigte sich äußerst begabt in Umgang und Formulierung mit ausstehenden Diensten, die ihrem sozialen Aufstieg ebneten.