Schwarz steht der Tann - Akt 1

Die Lichtung

Wie lange war sie nur schon unterwegs? Befinna hatte jedes Zeitgefühl verloren - vor allem aber hatte sie keinerlei Vorstellung mehr, wo sie sich genau befand. Vollkommen aufgelöst, wie sie gewesen war, war sie, ohne einem erkennbaren Pfad zu folgen, immer tiefer in den Wald hinein geflohen. So freundlich der Tann sie zu Beginn ihrer Flucht, noch in Gemeinschaft der hilfsbereiten Besucher des Efferdsfests, ihres verräterischen Lehrers und Rondrards empfangen hatte, so abweisend ging er jetzt mir der auf sich allein gestellten Baroness um: ihre Frisur befand sich in Auflösung und war inzwischen von Feuchte und anhaftenden Fragmenten der an vielen Stellen herabhängenden Bartflechten durchsetzt, ihr Gesicht zerkratzt und ihr Kleid verschmutzt sowie an mehreren Stellen vom Dickicht, das mit gierigen Klauen an ihm zerrte, eingerissen. Jetzt hielt sie sich an einen Pfad, auf den sie gestoßen war - mehr Wildwechsel als Weg - wohin dieser sie, mal deutlich erkennbar, mal auf festem Gestein oder unter umgestürzten Tannen verschwindend, oft über dick mit Nadeln übersäten Boden, zuweilen durch schlammige Wildschweinsuhlen und über bemooste Felsen führte, wussten die Götter alleine - wenn überhaupt. Die frühherbstliche Sonne stand bereits so schräg, dass sie im wachsenden Schatten der Tannen kaum mehr wärmte. Befinna fröstelte immer mehr vor Furcht und Kälte, als sich endlich eine Lichtung auftat, auf der sich wohl immer noch kein Hinweis auf den rechten Weg und schon gar keine Menschenseele finden würde, aber vielleicht noch etwas Licht und Wärme.
In einer Sache irrte sie jedoch: denn sie war dort keineswegs alleine.

Auf der Lichtung stand eine Frau in leicht gebückter Haltung. Befinna konnte nur ihren Rücken sehen. Die Frau trug eine ärmellose grüne Kutte und hatte ihr nussbraunes Haar zu einem langen Zopf geflochten, den sie sich wie einen Kranz um den Kopf gebunden hatte. Die Haut an den Armen war von der Sonne gebräunt, ebenso Hals und Nacken. Am Rande der Lichtung lag noch ein Kleiderhaufen, ebenfalls aus grünen Stoffen und von einem Strohhut gekrönt. Was Befinna aber mehr in den Bann zog, war der Duft, der aus Richtung der Frau zu ihr herüber wehte. Der Duft von Sellerie und Kräutern, Möhren, Lauch und Kartoffeln, die zusammen mit einem Hauch von Gewürzen und etwas Wasser in einem kleinen Kessel auf dem Feuer stand. Nun griff die Frau nach einem Stecken, der im Gras gelegen hatte und schob ihn vor sich. Befinna konnte ein metallisches Geräusch vernehmen. Dann griff die Frau den Stecken mit beiden Händen und drehte sich zur Seite. Auf der Mitte das Steckens hing der kleine Kessel, den die Frau nun behutsam auf ein paar Steinen abstellte. Befinna konnte nun einen Teil des sonnengebräunten Gesichts erkennen. War das etwa Mutter Waldlieb? Was machte die denn hier?

Die junge Baroness blieb in sicherer Entfernung stehen und beobachtete die Frau auf der Lichtung. Etwas in ihr rief sie zur Vorsicht. Konnte es sein, dass ihre Sinne bereits Schabernack mit ihr trieben? Befinna wurde unwohl. Unwohl und heiß. Ihre Backen nahmen einen leichten Rotton an und sie entfernte, aus Trotz, Zorn oder einfach bloß gefühlter Ohnmacht, die Spangen aus ihrem Haar, das daraufhin offen über ihre schmalen Schultern und den Rücken floss. Als die Geweihte sich in ihre Richtung umwandte, versteckte sie sich hinter einem dicken Baumstamm und hielt sich daran fest. Sie wollte hier nicht sein. Doch wo sollte sie hin? Ihre Schwester wollte sie an einen Gecken verschachern als wäre sie eine Fuhre Holz. Nein … ihre schmale Rechte ballte sich zu einer Faust und sie hieb bockig gegen den Stamm vor ihr.

Die Perainegeweihte drehte sich in die Richtung, aus der sie den Schlag, und zuvor auch das zerbrechen eines Zweigleins, gehört hatte. “Kommt ruhig näher. Ich beiße nicht”, sagte sie lächelnd. “Möchtet ihr etwas Suppe? Es reicht für mehrere.”

Es dauerte einige Herzschläge lang bis sich neben dem Baumstamm der Kopf einer jungen Frau zeigte. Mit großen, verweinten blauen Augen und geröteten Backen sah sie unsicher zu Mutter Waldlieb. Ihre langen hellbraunen Haare waren wirr und klebten zum Teil an ihrer Stirn und der Wange. Nur sehr zögerlich kam Befinna, nach einem schier endlos langen Moment des Zögerns der Einladung der Geweihten nach. Als sie sich mit schüchternen Schritt ins Zentrum der Lichtung bewegte, ließen ihre Augen die sitzende Waldlieb nicht los. Wie ein schüchternes Reh wirkte sie in diesem Moment. "Danke", meinte sie tonlos, "w...was tut Ihr hier?"

“Ich habe gehört, dass auf der anderen Seite des Waldes Roter Drachenschlund gesichtet wurde. Eine seltene Pflanze, die bei Lykantrophie helfen kann. Und der Weg durch den Wald ist eben kürzer, als der drumherum.” Waldlieb nahm den Strohhut und einen Überwurf vom Kleiderhaufen und offenbarte einen Rucksack, der darunter gelegen hatte. Sie holte eine Holzschale und einen Holzlöffel daraus hervor, nahm die Kelle und schenkte ein. “Hier, eßt erstmal etwas.” Sie reichte Befinna die dampfende Schale. “Möchtet Ihr noch eine Scheibe Brot dazu? Oder etwas zu trinken? Ich habe aber nur Wasser dabei. Ich könnte aber aus ein paar Blättern einen Tee kochen, wenn Ihr mögt.”

Befinna nickte der Geweihten wortlos zu. Eine Reaktion, die es für Waldlieb nicht unbedingt leicht machte, erschloss es ihr daraus ja nicht, welcher ihrer Fragen diese Geste galt. Wollte sie Brot, Wasser, Tee … oder alles zusammen? Dass die junge Frau Hunger hatte, zeigte sich jedoch sehr deutlich. Sie schlang ihre Suppe wenig damenhaft hinunter und griff auch dankbar nach dem Brot. "Ly..kn..o...pie…", sprach sie dann mit vollem Mund an die Perainedienerin gewandt, "...as … s … d...as?" Ihre durchaus hübschen blauen Augen lagen fragend auf Waldlieb. In der Zwischenzeit hatte sie hinunter gegessen. "Wisst Ihr denn wo wir sind … ich glaube ich habe mich verlaufen."

Waldlieb lachte: “Nicht so schnell, sonst verschluckt Ihr Euch noch.” Sie nahm die leere Schale entgegen und füllte nochmal nach. “Lykantrophie ist eine Krankheit. Menschen, die davon befallen sind werden im Volksmund als Werwolf bezeichnet. Mit dieser Pflanze kann man verhindern, dass diese Krankheit ausbricht. Dazu muss sie aber verwendet werden, bevor die erste Verwandlung stattgefunden hat. Leider lässt sie sich nicht kultivieren. Und was Eure zweite Frage betrifft, ich weiß, wohin ich von hier aus gehen muss, um mein Ziel zu finden. Wohin wolltet Ihr denn gerade?” Sie gab Befinna erneut die Schale und nahm ihr das Brot ab, um eine weitere Scheibe davon abzuschneiden.

Als Werwölfe zur Sprache kamen, klappte der Baroness die Kinnlade hinunter und sie sah sich furchtsam in der Gegend um. Was wenn ein solcher hier wäre? Langsam wünschte sie sich Wunnemine an ihre Seite zurück. Nein, Unsinn … sie zwang den eben gefassten Gedanken aus ihrem Kopf und löffelte die Suppe. "Ich … äh …", tja, wo wollte sie hin? Diese Frage konnte sich Befinna auch selbst nicht beantworten. Im ersten Affekt wollte sie weg. Weg von Wunnemine und diesem Gecken. Weg von ihrem Lehrer. Weg von … allem … der Stiernacken ihrer Abstammung und der damit verbundenen Pflichten wog schwer und Befinna wollte in jene Welt entfliehen, die sie stets so sehr geliebt hatte. Die Natur … die Tiere … die romantische Wildnis und Schönheit des Landes. "Ich äh …", setzte die Baroness noch einmal an, "… ich äh weiß es nicht." Sie ließ ihren Kopf für einen Moment hängen, dann sah sie flehentlich zu Waldlieb. "Kann ich mit Euch mit?"

Die Geweihte sah die Ausreißerin nachdenklich an. Ihr war klar, dass die junge Frau hier nicht her gehörte und wohl auch nie gearbeitet hatte. Aber sie schien in Not zu sein. “Ich werde mich eine Weile um Euch kümmern. Aber das Leben im Wald ist hart und Ihr müsst Regeln befolgen. Vielleicht erzählt Ihr mir erst einmal, was Euch hierher geführt hat und was Euch bedrückt. Dann will ich sehen, wie genau ich Euch helfen kann.” Sie lächelte. “Oftmals sieht alles schlimmer aus, als es ist.”

Das Antlitz der jungen Frau klarte sich auf und sie schenkte Waldlieb nun erstmals ein Lächeln. “...anke…”, meinte sie dann wieder an einem Stück Brot kauend. “...o...eid...i...enn...er?”, fragte sie dann. “...u...ann...eht...i...der...eim?”

“Geboren wurde ich in Tannenfels. Das Haus meiner Eltern gehört jetzt aber meinem Bruder und seiner Familie. Ich betreue den Peraineschrein der Baronie und reise von Ort zu Ort, um den fleißigen Bauern bei ihrer Arbeit, aber auch bei Problemen, Sorgen und Nöten zu helfen. Somit bin ich in der ganzen Baronie daheim. Und Ihr?”

Die Baroness schenkte der Geweihten ein schüchternes Lächeln. "Ich kenne Euch …", meinte sie dann, "... also ich habe von Euch gehört. Mutter Waldlieb, richtig?" Befinna nahm einen Schluck vom warmen Tee. "Ich bin Regintrud Befinna von Fadersberg und lebe auf der Burg meiner Familie. Freunde und Bekannte nennen mich Befinna. Meine Schwester Wunnemine ist die hiesige Baronin", es war nicht nötig ihre Hochgeboren einer ihrer Schutzbefohlenen vorzustellen, doch dachte die Baroness gegenwärtig nicht daran. "Und wenn Ihr diesen roten Drachenmund gefunden habt, wo geht Ihr dann hin?"

“Erwischt”, lachte die Geweihte,” genau die bin ich. Mein Geburtsname lautet Lioba Fäldle, aber schon als Kind nannten mich alle Waldlieb. Darf ich Euch dann Befinna nennen, oder soll es Wohlgeboren sein? Also, wenn ich den Roten Drachenschlund gefunden habe, dann brauche ich erstmal einen Ort, der trocken und warm ist, denn ich will die Blätter fermentieren und dann trocknen. Aber da vertraue ich auf meine Göttin. Sie wird meine Schritte schon in die richtige Richtung lenken. Ein bestimmtes Ziel habe ich nicht. Ich will auch offen sein für Menschen, die mir unterwegs begegnen und meine Hilfe brauchen.”

“Ihr dürft mich sehr gerne Befinna nennen”, die Baroness nickte um ihre Worte zu bekräftigen. Ja, diese Frau war nett. Bei ihr konnte sie sich für einige Zeit verstecken. “Habt Ihr denn keine feste Bleibe? Wo lebt Ihr denn wenn Ihr nicht durch die Baronie zieht?” Im Lehen ihrer Schwester herum zu spazieren war Befinna dann doch etwas zu riskant. Irgendwo würden bestimmt Wunnemine und dieser … dieser … ach, sie hatte seinen Namen bereits wieder vergessen. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, atmete tief durch und blickte unsicher auf Mutter Waldlieb.

“Bis jetzt hat mich immer ein Bauer oder eine Hirtin bei sich aufgenommen, auch über den Winter. Natürlich wäre ein eigenes Heim, oder besser ein Tempel eine gute Anlaufstelle, denn spätestens in 25 Jahren, wird mir das Reisen wohl zu beschwerlich, aber dazu braucht es Geld und noch zwei Geweihte mehr, die hinaus zu den Menschen gehen, die selbst nicht mehr reisen können.” Sie betrachtete Befinna. “Warum seid Ihr hier? Und warum sind Eure hübschen Augen so voller Tränen? Du kannst es mir ruhig sagen, ich werde es für mich behalten, wenn Du willst.”

Befinna schwieg für einige Momente vor sich hin. Immer hoch hatte sie ihre Arme vor der Brust verschränkt. Eine Körperhaltung, die nicht nur Unwillen und Trotz signalisierte, sondern ihr auf eine gewisse Art und Weise auch Sicherheit gab. Die Frage Mutter Waldliebs verunsicherte sie ein wenig. Würde die Geweihte sie wohlmöglich ausliefern … vielleicht gar gegen die Forderung, dass Wunnemine einen Tempel spendete? Kurz zuckte ein Mundwinkel der jungen Baroness. Nein, die Frau hatte ihr zu Essen gegeben und war offen und nett gewesen. Sie würde so etwas nicht tun. “Ich … meine Schwester hat mich einem blasierten Gecken versprochen, der noch dazu fast doppelt so alt ist wie ich es bin … ich … ich …” Sie vergrub ihr Antlitz in ihren schmutzigen Handflächen und die bebenden Schultern der jungen Frau zeigten Mutter Waldlieb, dass wohl wieder Tränen flossen.

Lioba holte eine Decke aus ihrem Rucksack, setzte sich neben Befinna und legte die Decke um beide. Dann nahm sie Befinna in den Arm und wiegte sie sanft hin und her.und summte dabei leise ein tröstliches, in der Baronie heimisches, Wiegenlied. Dabei achtete sie darauf, dass es nicht zuviel wurde, denn sie wollte nicht, dass Befinna sich dadurch beleidigt fühlte, schließlich war sie ja kein Kind mehr.

Es sollte Mutter Waldlieb verwundern, doch die gesummte Melodie hatte schon sehr schnell eine beruhigende Wirkung auf das in Auflösung begriffene Mädchen. Früh hatte Befinna ihre Mutter verloren und ehrliche Fürsorge war ihr deshalb nicht sehr geläufig. Sie liebte ihre Schwester, die immer so gut auf sie aufgepasst hatte … und ihre Freundin Ringard, mit der sie oft wild durch die Burg tanzte, wenn sie gemeinsam davon träumten in einem der großen Ballsäle Gareths zu sein. Doch mütterliche Zuneigung fehlte ihr. Getrieben von ihrer gegenwärtig empfundenen Verzweiflung ließ sie die Berührungen der älteren Frau nicht nur zu, sondern genoss sie auch. “Danke”, murmelte sie dann in die Decke der Geweihten hinein.

“Aber gern”, flüsterte die Geweihte. “Soll ich schon mal die Zeltplane aufbauen, oder sollen wir hier noch eine Weile sitzen?”

Der Kopf der Baroness zuckte ob dieser Frage hoch. “Hi … hier? Ich äh … ich dachte wir …”, sie stoppte und biss sich auf die Lippe. In Gedanken fasste sie einen Entschluss. “Ist gut”, meinte Befinna knapp und begleitet von einem gequälten Lächeln.

“Wir könnten auch noch ein Stück gehen, aber es wird hier schneller dunkel, als draußen auf dem Feld oder in einer Ortschaft. Ich weiß nicht, ob wir dann den Weg noch finden oder einen Lagerplatz, der so gut ist, wie dieser hier. Würdest Du Dir denn eine Nachtwanderung durch den Wald zutrauen?”

Befinnas Blick ging zwischen dem Lager und der Geweihten hin und her. Sie war so müde, doch sie konnte nicht rasten. Man würde bestimmt nach ihr suchen und sie finden. Die Baroness nickte Waldlieb zu. “Ihr habt Euer Lager schon aufgeschlagen. Wir sollten bleiben”, meinte sie wenig überzeugend. “Kann ich Euch irgendwie zur Hand gehen?”

Befinna konnte echte Freude im Gesicht der Geweihten sehen. “Wir machen das zusammen.” Mutter Waldlieb holte den Rucksack und griff hinein. Mehrere Zeltbahnen kamen zum Vorschein und Lioba erklärte Befinna, was wohin gehörte und wie man die Bahnen miteinander verknüpfte. “Nun müssen wir noch zwei gleich lange Äste suchen, die an einem Ende eine Astgabel haben. Normalerweise brauche ich nur meinen Wanderstab, aber da wir zu Zweit sind, brauchen wir mehr Platz, so dass mein Stab zum Dachfirst wird, verstehst Du?” Nachdem sie alles beisammen hatten, zeigte sie Befinna, wie man ein kleines Zelt aufstellte. “Leg Dich ruhig hin, wenn Du schon magst. Ich werde hier noch ein wenig wachen.”

Schon während sie gemeinsam an ihrer nächtlichen Bleibe arbeiteten - Befinna hatte keine Ahnung vom Leben in der Wildnis, doch versuchte sie so gut es ging zu helfen - konnte Lioba die wachsende Ungeduld in der Person ihrer jüngeren Begleiterin erkennen. "Habt Dank …", sie lächelte schüchtern, "... aber erst … ich müsste ...ähm …" Befinna deutete in die Büsche. "Die Suppe …", die Baroness blickte beschämt zu Boden.

Sie lächelte verständnisvoll: “Aber geht nicht zu weit. In der Dämmerung sind viele Tiere unterwegs. Einige können gefährlich sein. Ruf mich, wenn Du Dir unsicher bist.”

Die Angesprochene nickte eifrig, dann ging sie in die Büsche. Die Worte Liobas betreffend wilder Tiere hatten sie kurz zweifeln lassen, ob ihr Vorhaben wirklich eine gute Idee war, doch blieb ihr wohl keine andere Wahl. Sie musste weiter, obwohl ein kleiner Teil in ihr traurig darüber war, dass sie die liebevolle Frau in dem Glauben zurückließ, sie sei nur einmal für kleine Waldwölfe ausgetreten.

Als der zwölfte Teil einer Stunde vergangen war und Befinna nicht zurückkehrte, machte sich die Geweihte Sorgen. “Befinna! Seid Ihr noch da?”, rief sie in die Richtung, in die sie entschwunden war. Als keine Antwort kam, holte sie ihre Laterne, löschte das Feuer mit feuchter Walderde, zog sich ihren Überwurf an und ging der Baroness hinterher. Weit konnte sie ja nicht gekommen sein. Hoffentlich lief sie nicht den Goblins in die Arme.


Lioba hatte sich gerade zur Suche aufgemacht, als sie aus der Nähe knackende Äste und raschelndes Laub vernahm. Wer trampelte so durch den Wald? "Ich sagte, Ihr sollt..." erklang, hörbar gereizt und leicht außer Atem, eine Männerstimme, ehe diese jäh verstummte.


Der Pfad

Weit konnte es nicht mehr sein - wenn sie nicht irrte, würde sie bald da sein. Einmal bereits war Khorena an ihrem Ziel, dem alten Heiligtum gewesen, geführt von ihrer Tante Celissa. Obwohl dieser Besuch erst wenige Wochen zurück lag, war sie sich ihres Weges heute nicht mehr vollends sicher - zu verborgen lag er teils, der Pfad durch die Wälder. Endlich blickte ihr der goblinleibige und hirschköpfige Jagdgott von beiden Seiten des Weges grimmig entgegen, in zwei Stelen, beiderseits des Wegs angeordnet, geschnitzt, deren Rückseite je ein draller weiblicher Goblinkörper mit dem Haupt einer stattlichen Wildsau bildete. Die Stelen kündeten davon, dass sie richtig war, ließen aber auch Zweifel wachsen, wie willkommen sie tatsächlich war. Sie ließ ihre Finger über das Holz streichen und lächelte versonnen, als sie an ihre erste Begegnung mit dem Volk dachte, das diese Stelen erschaffen hatte. Während sie noch einmal die Götterbilder bestaunte, nahm sie hinter ihrem Rücken ein sachtes Knirschen wahr, leise Schritte, gedämpft von der mächtigen Nadelstreu.

Khorena drehte sich um, in dem Bewusstsein, dass Lupina einen potentiellen Feind sofort angreifen würde. Mehr neugierig, denn ängstlich suchte sie nach der Quelle des Geräuschs. "Kommt schon heraus, es ist unhöflich einer Dame hinterher zu schleichen." frotzelte sie gutmütig und lächelte. Zu spät erinnerte sie sich daran, dass sie hier und jetzt weder ihren Mund verborgen hatte noch ihre Brille trug. Aber dafür war es nun zu spät.

Erst war es ein Flügelschlag der ihre Aufmerksamkeit nach oben lenkte. Ein Käuzchen suchte sich ein Weg zwischen den Bäumen und landete in Sichtweite. Dann trat ein Mann auf den Pfad. Gekleidet war er ganz in braunem Wildleder. Enge Hosen mit festen Stiefeln, einen Umhang und einem Hut mit grünen Fasanenfedern. Sein dunkelblondes Haar lugte schulterlang und wild unter dem Hut hervor, sein hübsches Gesicht zierte eine feine Narbe die sich über seine linke Gesichtshälfte zog. Mit nussbraunen Augen zwinkerte er Khorena zu. “Du hast mich erst spät bemerkt, Khorena. Was machst du hier, so fern der Heimat.”, offenbarte sich ihr Vetter Tsamitrius.

Im Gegensatz zu Tsamitrius trug Khorena keine feste Wanderkleidung, sondern ein hübsches, doch einfach gehaltenes Kleid aus robusten grünen Stoff. Eine stabile lederne Tasche hing über ihre Schulter. An ihrem feinen, aus geflochtenem Leder bestehenden Gürtel hing einzig ein schmaler Dolch. Ihre dunkelblonden Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Freudig strahlte sie ihren Vetter an. Doch dann verzog sie das Gesicht als würde sie schmollen. “Du weißt doch ganz genau, dass ich nicht das gute Gehör meines Bruders habe.” Dann grinste sie. “Dich könnte ich übrigens ebenfalls fragen was du hier willst.” Ihre Hand legte sich auf eine der Stelen. “Heute ist Vollmond und ich wollte der Großen Mutter huldigen, ihr vielleicht ein Opfer darbringen, so es sich ergibt.” Sie sah Tsamitrius schelmisch an. “Du hast nicht zufällig ein bis zwei stramme Burschen oder einen schmucken Wanderer im Schlepptau, die ich haben könnte?”

Nicht weit von den beiden jungen Leuten entfernt, aber hoch über ihnen, saß Llyilliala auf einem Ast und schaute herunter. Mit ihrer in Braun und Grün gehaltenen Lederkleidung verschmolz sie nahezu vollständig mit dem Laub und den Ästen und Zweigen der Bäume. Sie war den Hinweisen gefolgt und nun in diesem für hiesige Verhältnisse recht urtümlichen Wald gelandet, doch zwangen die beiden Menschen dort unten sie, zu warten. Denn Llyilliala hatte die offensichtlich von den Goblins errichteten Stelen selbst gerade erst entdeckt und wollte sie nun genauer untersuchen, aber ungestört. Menschen brachten meist Ärger, auch wenn es oft zunächst nicht den Anschein hatte.

Also wartete sie. Und lauschte. Und wunderte sich.

Llyilliala wunderte sich nicht nur über die beiden offensichtlich wohl miteinander Vertrauten, die sich hier, mitten im Nirgendwo, ganz zufällig über den Weg liefen, sondern vernahm mit ihren scharfen Sinnen auch, wie seit einer Weile schon, ein Knacken hier und die leisen, für jeden anderen wohl kaum wahrnehmbaren Schritte dort im Dickicht. War da nicht ein fernes Flüstern, wenige, guttural intonierte Wortfetzen? Dieser Wald hatte viele Augen und Ohren…

Die Waldelfe wartete weiter ab. Natürlich gab es hier, in der Nähe dieser Standbilder, auch die zugehörigen Goblins, und natürlich würden diese ihr Gebiet überwachen. Llyilliala hatte keine Ahnung, wie diese beiden Menschen zu den Goblins standen und umgekehrt, aber sie würde es wohl bald herausfinden.

Das Käuzchen in ihrer Nähe schaute die Elfe mit seinen goldgelben Augen an, doch wie die Meisten nahm diese ihn nur als weiteren Waldbewohner war. Strix war jedoch mehr als das. Der Waldkauz war der Seelenverwandte, der Vertraute, des jungen Hexers Tsamitrius und dessen Aug und Ohr. Gespannt hielt er die Elfe im Blickwinkel.

Als sie die Miene ihres Vetter sah, musste Khorena laut auflachen. Es war ein fröhliches, kehliges Lachen. “Ich nehme dich doch nur auf den Arm.” Sie grinste ihn breit an und entblößte dabei ihre Zähne. “Wobei, gegen einen guten Ritt hätte ich nichts einzuwenden gehabt.” Dabei musste sie, wie schon so oft, an die Nacht mit Rahjel im Lilienpark denken. Zu gerne würde sie ihn wiedersehen.

Es raschelte im Gebüsch und ein großgewachsener Wolf -oder war es ein Hund?- gesellte sich zu Khorena. Er schmiegte sich an das Bein der jungen Frau, die das Tier hinter den Ohren kraulte und dabei den Kopf leicht schief legte. Ohne mit den Streicheleinheiten aufzuhören, meinte sie leise, aber noch für Tsamitrius gut hörbar und im Plauderton. “Wir sollten weitergehen, damit wir noch vor Sonnenuntergang unser Ziel erreichen.”

“Ist das nicht ein Götze der Rotpelze?” er deutete auf die Holzstele. “Ich war eigentlich zu einer Verlobung geladen. Selinde hat mich geschickt. Aber ich habe es verpasst. Ich fand es spannender einer holde Jungfer in den Wald zu folgen”, feixte Tsamitrius.
Irgendwie fühlte Llyilliala sich beobachtet. Beiläufig sah sie sich um, ohne etwas Besonderes entdecken zu können. Nur der Waldkauz dort drüben saß schon ungewöhnlich lange für ein Tier seiner Art auf seinem Platz und schaute immer wieder zu ihr herüber. Allerdings fühlte die Waldelfe keine Bedrohung, also beschloss sie, das Gefühl vorerst zu ignorieren. Sie konzentrierte sich wieder auf das Gespräch unter ihr.

Sie griff ihn an der Hand und ging den Pfad entlang. “Diese Stelen bewachen einen alten heiligen Platz der Großen Mutter. Bei Vollmond soll er geradezu magisch wirken und mir wurde nahegelegt. Ihn zu besuchen. Doch hat man mich auch gewarnt, dass ich den Platz unter gar keinen Umständen nach Einbruch der Nacht und vor Sonnenaufgang verlassen darf.” Sie rückte näher an Tsamitrius heran und flüsterte in sein Ohr. “Lupina meint, dass etwas durchs Unterholz pirscht.” Sie wechselte wieder in eine normale Lautstärke. “So so, eine Verlobung. Und anstatt bei der Verlobung aufzuwarten, bist du… deiner Rute gefolgt und einer Jungfer nachgelaufen. Aber scheinbar hast du sie verloren. Komm doch mit mir mit. Es wäre schön, mit jemanden gemeinsam das Heiligtum zu erkunden.” Lupina, die große Wolfshündin trabte neben Khorena her, während sie auch weiterhin ihre Umgebung im Auge behielt.

Der Kauz plusterte sich kurz auf und flog dann weiter. Zur Überraschung der Elfe landete dieser genau auf der Schulter des Menschenmannes.

Als Strix sicher auf Tsamitrius linker Schulter gelandet war berührte dieser das Ohrläppchen des Mannes mit seinem Schnabel. Der Hexer schloss kurz seine Augen und flüsterte Khorena zu. “Ein Elf, in den Baumkronen.” Vorsichtig griff er zu seinem Jagdmesser, das er am Gürtel trug. “Du hast recht ich muß sie verloren haben. Weit und breit keine Jungfer.”, sagte er wieder laut und lachte. “Lass uns das Heiligtum anschaun.” Verschwörerisch schaute er Khorena an.

Sie senkte die Lider als Zeichen dafür, dass sie verstanden hatte. Wie zufällig legten sich ihre Finger auf seinen Waffenarm und ein Blick in ihre Augen sagte, dass er das nicht tun sollte. Gewalt war ihr zuwider. In ihrem Kopf arbeitete es. Ein Elf? Was tat denn ein Elf hier? Gab es hier vielleicht irgendwo eine Sippe? Soweit sie sich erinnerte, hatte Tante Celissa nichts davon gesagt und eine Elfensippe hätte sie sicherlich erwähnt. Nun gut, vielleicht wollte er ja gar nichts von ihnen. Und wenn doch, sie würden sehen. Mit gespielter Unbekümmertheit flötete sie Tsamitrius zu: “Du hast völlig Recht! Es ist auch nicht mehr allzu weit.”