Travianische Umtriebe

Travianische Umtriebe

Ort: Calmir in der BaronieRabenstein.

Zeit:: Ende Efferd / Anfang Travia 1042 BF.

Beteiligte: Oberst Dwarosch, Ihre Gnaden MarboLieb, Seine Hochwürden VieskarVonSturmfelsMaurenbrecher sowie Mutter Ganslind und Vater Ganslieb, die Hochgeweihten des Tempels der Gütigen in Calmir. Und Gänse. Viele Gänse.

Autoren: RekkiThorkarson und IseWeine, mit Ideen und Input von Chris

Inhalt: Oberst DwaroschSohnDesDwalin und Ihre Gnaden MarboLieb versuchen, eine vergangene Missetat auszubügeln - und werden dabei vor unerwartete Entscheidungen gestellt. (Dokument hängt an).

Verfehlungen und Einsichten

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Calmir, Efferd/ Travia 1042 BF „Was willst du ihnen sagen, wenn du dort bist? Die zierliche Geweihte des Raben legte eine Hand auf den Arm des Oberst, ihre Art, ihren Gesprächspartner ihre vollen Aufmerksamkeit zu versichern. Sie befanden sich in einem Gasthof in Gingelbach, einem der größeren Orte Rabensteins, nicht ganz einen Tagesmarsch von Calmir entfernt, das auf der entgegengesetzten Seite des Gingelbacher Sees, eines tiefen, klaren Gebirgssees, den die Niacebra hier bildete, lag. Heute noch den Hauptort der Baronie Rabenstein zu erreichen war unmöglich – und aus unausgesprochenen Gründen waren weder der Oberst noch die Geweihte erpicht darauf, bei Nacht zu reisen. So hatten sie heute die letzte Etappe ihrer Reise schon am zeitigen Nachmittag beendet und saßen mit ihrer Begleitung, dem Geweihten der Travia Vieskar von Sturmfels-Maurenbrecher, nach einem ausgiebigen Mahl auf einer Bank vor dem Gasthaus und genossen, zumindest im Fall der beiden Männer, den Ausblick auf den silbrig schimmernden, ruhig wie ein Spiegel daliegenden See, in dem sich die firnüberzogenen Spitzen der über tausend Schritt aufragenden steinernen Riesen des Eisenwaldes spiegelten. Marbolieb war froh, für heute die anstrengende Wanderung hinter sich zu haben. Sie streckte die Beine aus und lauschte auf das glückliche Lachen Mirlas, die wieder einmal ihre Freude an den Metallkuben und -perlen in Dwaroschs prachtvollem Bart fand. Eine Freude, die der Priesterin im Moment sehr fremd war. Morgen schon würden sie in Calmir eintreffen, und sie spürte, wie sich diese Aussicht wie eine eiskalte Hand um ihr Herz schloss und es von Stund zu Stund enger presste. Dass sie den Geboten der Gütigen gefrevelt hatte – und das darüber hinaus noch mit aufrichtiger Wollust – beschämte sie zutiefst. Ebenso wie das feste Wissen, dass sie es wieder tun würde, ergäbe sich jemals die Gelegenheit. Tiefe Röte kroch bei diesen Gedanken über ihre Wangen und ihre Finger schlossen sich fester um den Unterarm des Zwergen. Zu gerne hätte sie seine Hand gefasst, doch wollte sie das angesichts der strengen, spürbaren Präsenz des Geweihten der Gütigen, der sie seit Senalosch begleitete, nicht wagen. Dwarosch besaß ein mit ‚schwierig‘ wohlwollend umschriebenens Verhältnis zu den Geweihten der Zwölfe, und die Angelegenheit war schon lange sehr zerfahren. Wenn sie einen sicheren Weg aus diesem Schlamassel gewusst hätte, so hätte sie ihn mit größter Erleichterung ihrem Liebsten gewiesen. Doch auch sie fand nur mehr oder minder untaugliche Möglichkeiten, auf einem sehr feinen Seil über einen sehr, sehr unerquicklichen Abgrund zu tanzen.

„Die Geweihten der Gütigen Herrin sind auf ihre Weise ebenso unerbittlich wie mein Herr. Sie werden Forderungen stellen. Ich wäre traurig, wenn es mehr Streit gäbe.“ Ihre sanfte Stimme verriet den darin geübten Ohren des Oberst mehr als deutlich ihre Anspannung – und ihre Sorge vor dem folgenden Tag.

Dwarosch zuckte mit den mächtigen Schultern. "Ich werde mich entschuldigen, so wie ich in Hlutharsruh einwilligte, nicht mehr und nicht weniger.  Forderungen an dich oder mich, an uns aber werde ich nicht akzeptieren. Vielmehr werde ich erklären, warum ich so handelte, auch wenn es falsch war. Das was uns eint ist nicht wider den Willen der Götter. Am Ende zählt nur das."

Die Boroni schwieg eine Weile und grübelte an ihrer Antwort. “Ich wäre erleichtert, wenn sie uns Verzeihung dafür gewähren, dass wir in ihr Haus eingebrochen sind. Sie ist die Hüterin von Heim und Familie.” Sehr überzeugt indes klang sie nicht. “Aber ich denke nicht, dass Mirla die ärgste Schwierigkeit mit ihnen sein wird, Dwarosch. Ich durfte Mutter Ganslind und Vater Ganslieb eine Weile kennenlernen. Viel mehr wird sie aufstören, was Mirla und ich sind. Was wir alle drei sind.”  Sie neigte den Kopf und versank in grüblerisches Schweigen. Ihre Anwesenheit war kein Problem, das sich mit einer Entschuldigung von Dere schaffen ließ, und dies bereitete ihr seit geraumer Zeit Unbehagen, auch wenn sie dies bislang mäßig erfolgreich zu verdrängen versucht hatte. Der Oberst spürte, wie sich ihre Finger fester in seinen Arm gruben.

Wiederum zuckte der Oberst mit den Schultern. "Ich will mich entschuldigen, nicht über irgendetwas diskutieren. Entweder sie akzeptieren meine Worte des Bedauerns oder sie tun es nicht. Das was wir, du, Mirla und ich teilen, wird von ihnen nicht infrage gestellt, oder ich werde den Tempel verlassen." “Und dann, Dwarosch?” Die leise Stimme Marboliebs nahm den Faden seiner ausgesprochenen Gedanken auf. “Ziehen wir danach nach Senalosch und alles wird sein wie zuvor?”

"Räblein, ich habe aus Liebe heraus etwas falsches getan, dies habe ich eingesehen und deswegen werde ich um Verzeihung bitten." Dwarosch schnaubte. "Aber nicht nur ich habe gefehlt. Die Diener der Herrin des Herdfeuers taten dies ebenfalls. Sie hatten kein Recht dazu dir deine Tochter vorzuenthalten, noch dich zu einer Heirat zu zwingen. Kein Geweihter, keiner Kirche darf so etwas. Das ist anmaßend und verachtend, nichts anderes.  Unser Begleiter", Dwarosch tat einen Seitenblick zu Vieskar, "wird dies klarstellen. Einsicht ist also auf beiden Seiten von Nöten. Ohne dies wird es keine Aussöhnung geben.  Ich gehe nicht als Bittsteller!

Darüber hinaus weißt du, dass ich dich viel lieber auch in Zukunft bei mir in Senalosch wüsste. Zudem sehe ich immer noch keinen unüberwindliches Argument, das dagegen sprechen würde. Du bist eine freie Frau, keine Leibeigene. Selbst wenn er in der Hierarchie der Kirche über dir stehen mag. Womit sollte er oder der Rabe von Punin höchstselbst dir drohen, mit Ausschluss aus der Kirche? Dein Leben und das von Mirla sind wichtiger." Wütend schüttelte der Oberst seinen Kopf. "Überhaupt, wer trägt eigentlich die Verantwortung für diesen Irrsinn, wenn dir oder Mirla etwas zustößt, wenn sie dir davonläuft oder sonst was, eure Kirche, oder der alte Sturkopp selbst? Klarer Menschenverstand, damit kann sich in dieser Sache wahrlich niemand rühmen. Nein, denn der klare Menschenverstand sollte dir und dem Rabensteiner sagen, dass du nicht alleine einen Tempel hüten kannst, wenn du blind bist und schon gar nicht als Mutter eines Kleinkindes! Der Gedanke ist so  abwegig, dass er nur einem Menschen kommen kann." Beschwichtigend strich Marbolieb mit ihren Fingerspitzen über Dwaroschs Unterarm - sachte nur, mehr wagte sie nicht unter dem gestrengen Blick des Traviahochgeweihten - der indes gerade, die Füße auf einen dicken Holzklotz gelegt und einen ordentlichen Humpen frischgezapften Bieres in der Hand, sehr kontemplativ über den silbern in der sinkenden Sonne glitzernden See blickte.

“Er hat doch gestattet, dass ich bis auf Weiteres bei Dir bleiben darf. Auch wenn ich meinen Tempel dann alleine lasse - das bedrückt mich.” Sie seufzte. Zu gerne hätte sie ihren Kopf an die Wange ihres Oberst gelehnt, aber das schickte sich überhaupt nicht in der Anwesenheit Fremder. “Vermutlich würdest Du ähnlich fühlen, wenn du dein Regiment zurücklassen müsstest.” versuchte sie es mit einer Analogie, die ihr Liebster vermutlich nachzufühlen vermochte. "Räblein", senkte Dwarosch beschwichtigend die Stimme. "Wenn ich das Augenlicht verlieren oder aus einem anderen Grund dienstunfähig würde, dann müsste ich mein Amt niederlegen. Der Rogmarog würde es nicht akzeptieren, wenn ich weitermachen würde. Ich würde es aber auch nicht mehr ausüben wollen, denn ich wäre dann nicht mehr der Richtige. Und weil ich weiß, dass jener Tag irgendwann aus irgendeinem Grund kommen wird, bilde ich Antharax aus, lehre ich ihm alles was ich von meinem Lehrmeister gelernt habe, von meinem Hochkönig.

Ich weiß, dass es Priester gibt, die ein Dunkelheitsgelübde oder gar ein Schweigegelübde ablegen, um eurem Herrn Boron näher zu kommen und ich weiß, dass du willens und fähig bist, den Dienst an deiner Gemeinde weiter zu verrichten. Vielleicht mag dich die Blindheit deinem Gott auch nähergebracht haben, aber Räblein, kannst du auf dich alleingestellt auf dich und Mirla achtgeben, so dass euch nichts geschieht? Dies ist die vordergründige Frage, die anderen sind zweitrangig." Marbolieb atmete tief ein, wandte den Kopf ab und richtete ihn gen Boden. Dwarosch hatte recht, wie oft - nicht nur sie hatte ihn gut kennengelernt im vergangenen Winter, auch er wusste sie manchmal entlarvend gut zu lesen - auch wenn es ihm selbst nicht immer bewusst war. Und er manches - viel - übersah. Aber dennoch - hier fand sie keinerlei Fehl an seinem Schluss. Sie schluckte. Doch gegen den Kloß in ihrem Hals half das wenig genug.  War der Tempel doch ihre große, eine Aufgabe - Pflicht und großes Privileg gleichermaßen. Sollte sie sich anmaßen, durch ihre persönlichen Unzulänglichkeiten davor zurückzustecken? Und ihr Kind vor ihre Pflicht stellen? Was ebensowenig rechtens war.  Sie biss sich auf die Unterlippe, nicht in der Lage, eine Antwort darauf zu geben, mit hängenden Schultern, die mehr als deutlich von ihrer Ratlosigkeit erzählten.

Den weiteren Verlauf des Abends schwieg die Borongeweihte, mit einer sehr in sich gekehrten, bedrückten Miene und tief in sichtlich wenig erbaulichen Gedanken versunken.

In Calmir

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Früh am nächsten Morgen brach die kleine Gruppe zum letzten Wegstück gen Calmir auf. Der Weg führte einmal rund um den Gingelbacher See, auf einem Pfad teils direkt am Ufer, teils einige Schritt darüber, an die Hänge der umliegenden Berge geschmiegt, und gab eine atemberaubende Sicht auf die himmelanstrebenden Gipfel aus schroffem Granit frei, die auch jetzt im Sommer ihre weiße Kappe nicht verloren. Marbolieb hielt sich am Arm Dwaroschs auf dem unebenen Weg und die Füße wurden ihr mit jedem Schritt schwerer. Viel zu schnell nach ihrem Ermessen kam und ging die Mittagsstunde, und sie betraten den gepflasterten Dorfplatz von Calmir, auf dem der Dorfbrunnen und eine uralte, gebeugte Travienlinde vom Herz des Dorfes kündeten. Mitten am Dorfplatz lag auch der prachtvolle Zweiseithof, neben dem Haus der Dorfschulzin das prächtigste Gebäude, ein schmuckes Fachwerkhaus auf einem soliden Steinsockel, umfriedet von einem frisch gestrichenen Scherenzaun. Hochwürden Vieskar war der erste, der den Tempel betrat, freudig begrüßt von der Gänseschar, die hinzulief, um den fremden Geweihten im Haus der gütigen Mutter zu begrüßen, erpicht auf ein freundliches Wort und eine streichelnde Hand, die der Hohepriester nur zu gerne gewährte - zusammen mit einigen Brotkrumen, die er sich vom Frühstück für genau diesen Zeitpunkt aufgespart hatte. Als aber der Oberst zusammen mit Marbolieb an seiner Seite und der kleinen Mirla auf dem Arm das Tor des Tempels betrat, verstummte das fröhliche Geschnatter der Gänse mit einem Mal. Die Tiere ließen von Vieskar ab und wandten sich, mit einer einzigen, fließenden Bewegung, den Neuankömmlingen zu und musterten diese mit wachen, kalten Vogelaugen. Rechts und links des Weges standen die Gänse, reglos wie Statuen, und nur ihre Köpfe bewegten sich, folgten jeder Bewegung der Eindringlinge, und ließen sie keinen Atemzug lang aus ihren Augen. Als sie sich anschickten, das Tor des Tempels zu durchschreiten, folgten sie im Gänsemarsch, eine nach der anderen, eine stumme Prozession, bar jeden Geräusches.

Nach einer darauf folgenden eher frostigen Begrüßung durch das Geweihten-Paar des Tempels der heiligen Gans in Calmir, der größten Siedlung Rabensteins, waren beschwichtigenden Worte und derer zur Erklärung des Grundes des ungebetenen Besuchs durch Vieskars vonnöten. Ohne sie wären Marbolieb und Dwarosch wohl niemals ins Allerheiligste des gemütlichen Bauernhauses vorgedrungen, indem das Herdfeuer brannte, um ihr Anliegen vorzutragen. Immerhin war ihr letzter Aufenthalt dort von  einem handfesten Streit geprägt gewesen und hatte für einigen Unfrieden gesorgt. 

Dank der Vermittlung Vieskars aber war es sogar möglich, dass sich alle fünf, oder nein vielmehr sechs, denn Mirla war auch dabei, an den großen Tisch im Tempelraum setzten, um  miteinander zu reden, denn Marbolieb und Dwarosch waren nicht ohne Grund zum Traviatempel gekommen.  Der Zwerg war dann der erste, der in das entstehende Schweigen hinein versuchte, sein Herz auszuschütten.  "Ich bin hier, um euch", Dwarosch sah beide Geweihte des Calmirer Tempels nacheinander an, "aufrichtig um Entschuldigung zu bitten.  Dafür, dass ich voller Ungeduld, ja Unrast war und nicht die richtigen Worte suchte, um euch von meinen hehren Absichten zu überzeugen, sondern zur Tat schritt und damit den Frieden des Tempels störte."

Dwarosch ließ eine kurze Pause entstehen, um seine Rede wirken zu lassen. Dann jedoch, noch bevor jemand anderer am Tisch das Wort ergreifen konnte, fuhr er fort.  Mutter Ganslind, die soeben Luft geholt hatte, verstummte, als sie die Hand ihres Gemahls auf ihrem Arm fühlte. In ihrem eigenen Haus derart den Mund verboten zu bekommen, erachtete sie als eine Dreistigkeit sondergleichen, was ohne jede Mühe an ihren mit einemmal wütend aufflackernden Augen zu sehen war. “Warte ab, mein Gänslein.” flüsterte ihr Gemahl, doch auch dessen Miene war ein Stück weiter gen Frost geglitten. Vieskar hatte sich eines Kommentars enthalten, sein Blick erfassten das hell und warm und willkommen lodernde Herdfeuer, dessen Flammen sich als goldenes Licht in seinen Augen spiegelten.

"Heute komme ich als ein reicher Mann zu euch. Ich habe Marbolieb und ich habe Mirla, die mir eine Tochter ist und gemeinsam sind wir das, was in meinen Augen eine Familie ausmacht. Wir geben uns Liebe, Wärme, Verständnis und Vertrauen. Wir bauen aufeinander und halten einander fest, stehen zueinander und wenn notwendig für den jeweils anderen ein.  Ja, es ist wahr. Niemand gab unserer Verbindung seinen Segen, doch benötigen wir ihn, wenn wir Travias Gebote auf diese Weise ehren?" Dwarosch blickte liebevoll zu Marbolieb und griff ihre Hand, dann küsste er Mirla, die er auf dem Schoß sitzen hatte, den Scheitel.  "Sie geben mir innere Ruhe und Kraft, wo vorher nur ein unstetes Leben und innere Unruhe war."  Der Zwerg seufzte. "Ich verlange keinen Segen von euch, nein. Ich möchte lediglich, dass ihr versteht, dass ich für das, was ich jetzt habe, weswegen ich mich selbst als Reich bezeichne, gekämpft habe und stets werde, wenn es dies erfordert.  Ich bitte euch, nehmt meine Entschuldigung an und ich versichere euch, dass die kleine Familie, die vor euch sitzt, eure Göttin ehrt." Die hektische Röte in den Wangen Mutter Ganslinds verblasste bei diesen Worten, und sie tauschte einen langen, sehr langen, von großer Wärme und Zuneigung erfüllten Blick mit ihrem Mann. Vertrauen, bedingungsloses Vertrauen, war, was dem Oberst bei diesem Blick ungebeten in den Sinn kam.

Sie musterte den Zwergen, die zerrupfte und zerraufte Boroni und das Kind auf seinem Schoß, und ihre Züge erfüllten sich mit tiefem, ehrlichen Mitleid. “Ihr seid arm, Herr Zwerg. Ärmer als der geringste Bettler, und dafür habt ihr unser Mitgefühl.” Das Geweihtenpaar betrachtete die kleine Gruppe einen Atemzug lange mit mitleidigem Blick. Mutter Ganslind fing die Augen des Zwergen und hob einen Finger, um deutlich zu machen, dass nun sie es war, die das Wort führte.

“Unsere Verzeihung für euren Einbruch sollt ihr erhalten, so ihr dies aufrichtig und aus ganzem Herzen bereut. Denn wisset, die Mutter Travia ist gütig. Sie bestellt und behütet ein jedes Heim, in dem sie in Ehren und Achtung gehalten wird.” Wieder tauschte das Priesterpaar einen stillen, liebevollen Blick, in dem sich dieses Mal auch Vieskar mit einbezogen fand. Laut knackte im Kamin das brennende Holz, und die goldenen Flammen schimmerten warm auf dem alten, polierten Holz, mit dem die Stube ausgekleidet war.  Die Gänse, die sich als graue, stille Schar im Eingang zur guten Stube aufgebaut hatten, beäugten die Gäste weiterhin still aus runden, unleserlichen Vogelaugen.

“Bedenkt aber auch, Herr Zwerg, dass ihr Segen es ist, der in einer Gemeinschaft Friede und Ordnung schafft, und Harmonie und Einheit zwischen Mann und Weib als Bollwerk gegen Einsamkeit und eine Ewigkeit ohne seine Liebsten um sich herum. Ein Bollwerk, innerhalb dem euch stets offene Arme, tröstende Worte und ein Dach über dem Kopf erwarten. Ein Bollwerk auch gegen den einsamen Tod.”  Sie verstummte, griff nach der Hand ihres Gemahls und drückte sie. Der gealterte Geweihte erwiderte den Griff einer Frau und musterte den Zwerg, das Kind und die Menschenfrau. Etwas Vergleichbares hatte er noch niemals gesehen - geschweige denn davon gehört, dass sich ein Angehöriger der Erzzwerge, kalt und hart wie Stein und ebenso kauzig und kantig, mit einem Menschen verbunden hätte. Und doch standen zwei davon jetzt und heute vor ihnen. Die Wege der Götter waren fürwahr unergründlich. “Ohne den Segen der Gütigen gibt es zwischen Mann und Weib keine Beständigkeit, keine Ordnung, keine Dauer. Nichts von alledem, was eine Familie ausmacht.”

Vater Ganslieb hielt inne, musterte die beiden vor ihm. Räusperte sich. Fixierte erst die blinde Borongeweihte. Die es hätte wissen sollen. Dann das Kind, das glücklich und keiner Schuld mächtig auf den Schenkeln des Zwergen saß. Und dann den bärtigen Kriegsgesellen, der heute für seine Verhältnisse so gut wie ohne Waffen erschienen war. Was für ein bemitleidenswerter Mann! Sein Ton war warm, als er fortfuhr. “Ihr habt diesen Segen nicht. Wie könnte ich anders, als euch zu bedauern?” Der Travienpriester betrachtete das Kind, das begonnen hatte, nach dem Schmuck im Bart des Zwergen zu haschen, ein altbekanntes und beliebtes Spiel, nach seinem Jubeln zu schließen. “Ihr sprecht, das Kind sei euch eine Tochter. Und doch kann das nicht sein.” Er betrachtete die blinde Boroni mit gestrengem Blick. “Und ihr wisst warum, Euer Gnaden, nicht wahr?” Seine Stimme hatte mit einem Mal die Schärfe eines Messers erhalten. Dwarosch seufzte, die beiden waren schon wieder auf Streit aus. Diesem galt es auszuweichen. Er wollte die Sache nicht ein zweites Mal eskalieren lassen. Dennoch musste einiges klargestellt werden.  "Ich bin gekommen, um meine Verfehlungen einzugestehen, nicht um über irgendetwas zu diskutieren. Mir ist wohl bewusst, dass unsere Bindung in euren Augen keinen Wert besitzt, für mich tut sie es und nur das hat Bedeutung für mich. Deswegen werde ich auch dazu keine weiteren Worte verlieren. Ihr habt eure Meinung, ich eine andere. Bitte akzeptiert das.  Ich erbitte nicht euren Segen, alles was ich wollte ist, dass ihr meine aufrichtige Entschuldigung annehmt. Dies allein ist Sinn und Zweck dieses Besuchs.  Nun aber", Dwarosch nickte in Richtung Vieskars, "gilt es noch einen anderen Sachverhalt ins rechte Licht zu rücken."

Vater Ganslieb betrachtete den Zwergen, dann seinen Bruder im Glauben, dann räusperte er sich. “Herr Zwerg, das hier ist mein Haus. Ihr seid als Bittsteller um Verzeihung gekommen. Das ist löblich. Doch auch bei Eurem Volk wird es die Gastfreundschaft geben - die verheißt, dass man dem Gastgeber und Herrn des Hauses nicht das Wort entzieht - oder irre ich mich?” Auf der Stirn des Geweihten zeichneten sich einige verwirrte Runzeln ab, die aber sofort zu einer steilen Linie zwischen seinen Brauen wurden, als er erneut die Borongeweihte fixierte. “Und Ihr, Euer Gnaden, werdet mir Rede und Antwort stehen.” Die senkte bei den harschen Worten ihres Bruders im Glauben den Kopf bis fast auf die Brust, und ihre ineinandergeknoteten Hände und zusammengezogenen Schultern erzählten sehr genau, dass  sie sehr wohl wusste, worauf der Traviageweihte hinauswollte. “Dies war nicht meine Absicht”, entgegnete der Zwerg im nüchternem Ton, der verriet, dass ihm die Richtung, in der die Konversation lief, missfiel. Er hatte sich inzwischen mehrfach entschuldigt und damit klar herausgestellt, dass er willens war einen Streit aus dem Weg zu gehen. Die Worte des Priesters jedoch provozierten nun von neuem.

“Hochwürdiges Paar, da ist noch eine Sache.” ergriff schließlich Vieskar das Wort. Ihr habt, nach dem Bericht ihrer Gnaden, ihr nahegelegt, sich zu vermählen und ihr dafür zwei mögliche Ehegesponse vorgestellt. Entspricht das den Tatsachen?” Mutter Ganslind betrachtete ihren Gemahl und den so unvermittelt hereingeschneiten Bruder im Glauben. “Aber freilich. Wir können doch ihre Gnaden und das Kind nicht allein lassen. Ein Kind braucht Familie, die sich um es sorgt und kümmert. Damals dachten wir noch, dass sie vielleicht verwitwet sei, und der arme Wurm gar keinen Vater mehr habe. Aber so als Fremde mit Kind, wer will den so jemanden haben? Da mussten wir schon eine Weile suchen, bis wir zwei Gutherzige gefunden haben.” Energisch verschränkte Mutter Ganslind die Arme, in Erinnerung an die Mühe, die es gekostet hatte, überhaupt jemanden zu überreden. “Und welche Menschen waren das?” Sehr aufmerksam hatte Vieskar ihrer Stimme gelauscht, sich alle Anwesenden angesehen, war einige Zeit lang nachdenklich bei den Gänsen geblieben und wandte sich nun wieder der Hohen Mutter zu. “Das sind der gute Burian, ein verwitweter Bauer, der ganz dringend eine Mutter braucht für seine fünf Kinder, und jemand, der für sie kocht und sorgt. Und der junge Sigred, der Händlersohn, der ebenfalls dringend ein gutes Weib benötigt.”  Bei letzterem Namen war Marbolieb noch etwas mehr in sich zusammengesunken, was aber allenfalls Dwarosch bemerkte, soweit seine Aufmerksamkeit nicht von dem Gespräch der Geweihten gefesselt war.

“Ich bin mir sicher, dass Eure Wahl der allerbesten Absicht entsprang, Schwester. Und auch euch, Bruder.” Vieskar breitete die Arme in einer alles umfassenden Geste aus. “Aber bedenkt, bei beiden mangelt es am Stand, um eine passende Heiratspartie für ihre Gnaden zu sein. Sie ist auserwählt, den Tempel in Calmir zu führen und ihrer Gemeinde vorzustehen. So, wie auch ihr es tut.” Ein heller Funke blitzte in seinen Augen auf, so, wie vielleicht ein gutherziger Vater ein fehlgehendes Kind hätte ermahnen mögen. “Ihre Gnaden Marbolieb benötigt selbst jemanden, der ihr hilft, ihren Tempel zu führen. Sie braucht Unterstützung - und soll sich nicht um die Kinder und das Haus eines Bauern oder die Belange eines Händlersohnes kümmern.” “Aber das sind alle, die wir im Dorf haben.” begehrte Mutter Ganslind auf. “Und wer nimmt denn sonst so eine Fremde, noch dazu die Boroni?” “Meine Schwester, meint ihr nicht, dass es vielleicht schon damit getan gewesen wäre, wenn ihr ihrer Gnaden jemanden geschickt hättet, der ihr mit ihrem Kind und ihren Verrichtungen im Tempel hilft?” Noch immer freundlich, aber nichtsdestotrotz bestimmt klang der Hochgeweihte aus Hlûthars Wacht. Er wartete einige Augenblicke, während das Gesicht der Hausherrin hart wurde, und sich erst langsam erweichte, als ihr Gemahl ihr tröstend den Arm um die Schultern schlang. “Vielleicht habt Ihr recht.” warf Vater Ganslieb ein. “Den Standesunterschied hatten wir bei unserer Sorge um eine Familie für dieses unschuldige Kind nicht bedacht. Doch ihre Gnaden hat sich ja auch ohne weiteres Beschauen den beiden verweigert.”  Nicht freundlich war das, verriet seine Stimme, und keine angemessene Würdigung ihres aufrechten Bemühens. “Nun, wohl nicht ganz zu Unrecht, wie es scheint.” stellte Vieskar fest und verschränkte die Arme. Musterte die beiden - nicht ganz ohne Aufforderung. Vater Ganslieb schnaubte. “Hier auf dem Dorf sind wir nicht so viele in den großen Städten, Hochwürden. Ich bin mir sicher, ihr seid ganz andere Zustände gewohnt.” Er betrachtete die blinde Geweihte, die sich auf der Bank zusammengekauert hatte. “Aber mein lieber Bruder hat nicht unrecht, Euer Gnaden. Ich erbitte Eure Entschuldigung, dass wir euch nicht standesgemäße Gemahle anboten.” Langgezogen atmete Dwarosch mit verschlossenen Augen aus und drückte für alle anderen unmerklich Marboliebs Hand etwas fester. Da war die Einsicht, die Entschuldigung, die er gewollt hatte, wenn die Begründung nicht ganz der Seinen entsprach. Doch es ging hier nicht um Haarspalterei, er wollte vorankommen, vorrangig für Marbolieb, da konnte er es verkraften, seinen Stolz hintenan zu stellen.

“Gut”, verkündete er schließlich in die entstehende Stille hinein, nickte und zwang sich zu einem Lächeln. “Da wir nun die Vergangenheit meiner Meinung nach ausreichend erörtert haben, möchte ich das Gespräch auf die Zukunft lenken. Marbolieb wird dem Tempel hier in Calmir nicht ewig fern bleiben.  Gibt es noch etwas, Marbolieb und ihr Kind betreffend in Bezug auf meine Person, unsere Bindung, das wir konstruktiv erörtern können?”  Ernst blickte Dwarosch alle drei der anwesenden Traviapriester an. “Ihr habt deutlich gemacht, dass ihr uns euren Segen nicht geben wollt oder könnt. Ich akzeptiere das, doch ich frage mich, warum tun solches eure Glaubensschwestern und -brüder aus dem Kosch?  Das zu uns Angroschim gehörende Volk, welches am Angbarer See lebt, ihr nennt sie ‘Hügelzwerge’, steht dem Zwölfgötterglauben näher als mein Volk, ja - dennoch gehören sie zur gleichen Rasse wie ich. Und dort, im Kosch, werden Traviabünde zwischen Menschen und Angroschim geschlossen. Sie sind nicht zahlreich, aber es gibt sie. Was also ist dort anders als hier, oder sind wir es, die anders sind?” Mutter Ganslind rümpfte die Nase, und entrang sich ein Seufzen. Als ob sie dies nicht oft genug gesagt hätte. Sie warf Vieskar einen verzweifelten Blick zu und drückte die Hand ihres Gemahls, offensichtlich resigniert, aber keinesfalls erbaut, dass dessen Argumente heute und hier mehr Gehör fanden denn die ihrigen.

“Hier ist nichts anders, Herr Zwerg. Bis auf das Kind.” Vater Ganslieb stand auf, trat vor das Feuer und strich im Vorbeigehen zwei seiner Gänse sanft über das Haupt. Die Tiere schlossen vor Wonne die Augen und schmiegten sich an die warme Gestalt des Geweihten. “Wenn ihr beide freimütig, ungebunden und unversprochen, aufrichtigen Herzens vor die Gütige trätet, erklärtet, für einander einstehen zu wollen, wahrhaftig zueinander zu sprechen, füreinander zu sorgen und euch treu zu sein als Mann und Weib, ihre Gebote der Treue und Gastfreundschaft zu ehren ein Leben lang, so würde die Gütige Euch ihren Segen gewiss geben. Sie ist es, die Ordnung, Klarheit, Sicherheit und Dauer zwischen den Menschen und in den Familien gebietet.  Warum sollte sie euch dann ihren Segen verwehren? Doch wie sollten wir diesen spenden, wenn doch eure Angelegenheiten noch derart in Unordnung sind?” Wieder trafen die Augen des Geweihten die Gestalt der blinden Boroni, und seine Brauen zogen sich zusammen. Wiederum nickte Dwarosch, auch wenn die Argumentation schwach und wenig greifbar war. Es

war immerhin ein Standpunkt und der ließe sich eventuell ausnutzen. 

“Dann bitte ich euch, helft uns, die Dinge weiter zu ordnen”, brachte der Oberst hervor.  “Der Baron von Rabenstein möchte, dass Marbolieb, blind wie sie ist und mit Mirla zurück nach Rabenstein kommt , damit sie ihre Arbeit wieder aufnimmt.  Für mich ist dieser Gedanke abwegig, birgt er doch für sie und das Kind enorme Risiken für Leib und Leben.

Setzt ein Schreiben auf oder geht meinetwegen persönlich zu seiner Hochgeboren. Er kann eine anderen Geweihten aus Punin rufen lassen. Hier in Rabenstein gibt es derer zwei. In Nilsitz, meiner Heimat keinen. Bei mir in Senalosch wäre Marbolieb und Mirla nie alleine, es gibt ein Heim für uns und eine Gemeinde hätte sie dort auch. Die Bewohner der Bergdörfer beten zum Unergründlichen und sind bislang ohne jeden Beistand.  Zugegeben, einen Tempel gibt es bislang nicht, aber es gibt Platz eine kleine Kapelle zu errichten, oder eine leerstehende Clanhalle umzugestalten. Ich habe in dieser Sache die Unterstützung des Vogts. So meine beiden Lieben bei mir weilen, lade ich euch recht herzlich ein uns zu besuchen.”

Dwarosch hatte die Genugtuung zu sehen, wie sich die drei Geweihten einen kurzen, aber um so fassungsloseren Blick zuwarfen und sich vollkommen gleichzeitig wieder auf den Oberst konzentrierten. “Um Euren Wohnort geht es doch gar nicht, Herr Zwerg.” Nun gönnte sich Vater Ganslieb doch ein verwirrtes Kopfschütteln. Fürwahr, die Angroschim waren eine andere Rasse. Ein jeder Angehörige der Zwölfgöttlichen Kirche hätte ihn verstanden, und zumindest die Boroni tat es auch, bedachte man ihren - vollkommen zu recht - schamvoll gesenkten Kopf. “Die Angelegenheiten ihrer Gnaden und ihres Kindes sind in Unordung. Bevor diese nicht geklärt sind, könnt ihr niemals den Segen der Göttin erhalten.”

“Ich bin wohl zu sehr den praktischen Dingen zugetan, um eure Bemerkung beim ersten Mal zu begreifen”, kommentierte Dwarosch nicht ohne zu schmunzeln.  “Nun, Räblein”, sprach er Richtung Marboliebs. “Dazu sagst am Besten du etwas. Wenn du dies nicht möchtest, können wir aber auch gehen. Du kennst meinen Standpunkt.” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Ihre Hochwürden können das viel besser erklären.” sagte sie leise. Es war wohl auch zu viel zu hoffen gewesen, dass dieser Kelch an ihr vorüberginge.

Mutter Ganslieb holte Luft. “Ihr sagtet, der Kegel ihrer Gnaden sei euch wie ein eigenes Kind.” Sie fixierte den Oberst mit einem Blick, wie es auch ihre Gänseschar tat, die höchst aufmerksam und schweigend im Eingang wartete. “Damit ihr sie wirklich Euer Kind wäre, vor den Menschen und Göttern, müsstet ihr sie sie vor eben diesen an Kindes statt annehmen. Nachdem die Gütige ihren Segen über euch und euer Weib gesprochen hat.” Der Blick, den sie Marbolieb zuwarf, war ebenso finster wie deren Robe. “Damit dies aber geschehen kann, müsst ihr beide zuerst Eure Gedanken durchforschen - wünscht ihr es überhaupt, diesen Bund einzugehen? Wollt ihr die Bürde tragen, euer gesamtes Leben füreinander einzustehen? Denn es ist eine Bürde - wie auch eine Gnade.”

Die Hochgeweihte hob die Hand, als sie sah, dass der Oberst bereits energisch Luft holte, um zu einer Antwort anzusetzen. “Ihr müsst mir darauf nicht hier und jetzt antworten - klärt das und kommt wieder, wenn es geklärt ist - wenn ihr das dann noch wollt. Zum anderen muss Ordnung über das Kind geschaffen werden. Wer ist der richtige Vater? Lebt er noch? Weiß er von seinem Kind? Und wünscht er es vielleicht selbst aufzuziehen? Oder den Bund mit ihrer Gnaden einzugehen?” Die Frau hatte sich in Schwung geredet, so dass sich ihre zuvor hellen Wangen röteten. Ihr Gemahl drückte ihre Hand und wandte sich direkt an den Zwergen. “Ihr versteht, dass ohne Klarheit hierbei es nicht möglich ist, dass ihr das Kind euer eigen nennt. Mich würde interessieren, wie solche Dinge in eurem Volk gehandhabt werden - doch sicherlich wird es auch dort nicht üblich sein, ein Kind seinem Vater zu entziehen, ohne dass dieser sein Einverständnis gab. Habt ihr eigene Kinder, Herr Oberst?” “Nein. Ich habe bis vor wenigen Jahren ein sehr unstetes Leben als Söldner geführt. Erst die Ernennung zum Oberst durch unseren Herzog beendete diese Phase. Es war bisher nie die Zeit für eine Frau oder Kinder, noch die Möglichkeit eines normalen Lebens.  Nun nach einhundertsechzig Lebensjahren sehne ich mich Beständigkeit. Marbolieb lehrte mich den Glauben an Boron, welcher mir viel innere Ruhe schenkt und mir ebenfalls dabei half meine Todessehnsucht zu überwinden. Nach der dritten Dämonenschlacht an der Trollpforte war ich ein gebrochener Mann. Ich habe mehr Leben genommen als ihr euch vorstellen könnt und mehr Tod, Leid und Elend erblickt als ein Mensch je begreifen könnte. Das Leben ist kostbar und äußerst flüchtig, ebenso wie das Glück, das weiß ich besser wie jeder andere, der hier am Tisch sitzt, eben deswegen kümmert es mich nicht, ob Marbolieb ein Mensch ist und ein ein Angroscho. Ich liebe sie ebenso wie ihre Tochter.  Und sollte mein Leben morgen enden, so hätte ich keine Zeit verschenkt, eben weil ich geliebt habe. Daran ändert kein Segen etwas, noch wer ich bin oder sie.” Mit kratziger Kehle beendete Dwarosch seine Rede, die mehr berichtete als eine bloße Antwort. Es fiel ihm sichtlich schwer auszudrücken was er empfand, aber nun war er dem Kern der Sache seiner Meinung nach etwas näher gekommen, zumindest in der Hinsicht, dass er hoffte, dass die Geweihten seine Motive nun besser verstehen konnten.

“Das ist aufrichtig, Herr Zwerg.” Vater Ganslieb fuhr sich durch sein schütter werdendes Haar. “Aber das beantwortet nicht meine Frage. Was ist mit dem Kind?” Er schüttelte den Kopf. “Es muss Ordnung sein, wer Anspruch darauf hat. Es hat einen Vater - und das könnt so lange nicht ihr sein, bis dies geklärt ist. Versteht ihr das?” Dieser nickte daraufhin bestätigend und ein wenig nachdenklich. “Also?” Mutter Ganslind nahm erneut den Faden auf. Männer! Da nahm sie ihren eigenen Gemahl nicht aus. Die mussten immer viermal mit dem Tempel ums Dorf gehen, bevor sie endlich zum Punkt kamen. Diese Südländerin, die ihnen hier mit dem Bankert ins Dorf gesetzt wurde, spielte doch nur mit allen - und die Männer (und auch da, befürchtete sie, machte ihr teurer Gemahl gleichfalls keine Ausnahme) sahen nur die hübsche, arme, bedauernswerte Frau und zerflossen in Hilfsbereitschaft. Was sie an Streit und Hader in die Familien hier getragen hatte, hatte sie vermutlich nicht einmal bemerkt - oder es war ihr gleich gewesen.

“Wer ist der Vater eures Kegels, euer Gnaden?” Marbolieb wurde einige Schattierungen bleicher unter den direkten Worten der Hochgeweihten. Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. “Wünscht ihr also nicht, dass Ordnung geschaffen wird - oder wünscht ihr nicht, dass euer Begleiter die Möglichkeit erhält, euer Kind Tochter nennen zu dürfen?” Hakte sie unerbittlich nach. Die Boroni knete ihre Hände und ließ den Kopf hängen, als diese - durchaus berechtigten - Fragen auf sie niedergingen.  “Oder wisst ihr es nicht?” setzte Mutter Ganslind nach.

“Ich denke, für heute ist es genug”, sprach Dwarosch statt Marbolieb und warf ihr dabei einen leicht besorgten Blick zu. Dann wandte er sich wieder an die Geweihten. “Ich danke euch für das Gespräch und darf sagen, dass ich froh bin, dass wir nach Calmir, zu euch gekommen sind. Nun, da wir geklärt haben, welche Dinge es noch zu klären bzw. auszuräumen gibt, sehe ich bedeutend positiver in die Zukunft.” “Ihr seid uns hier gerne wieder willkommen, Herr Zwerg.” Vater Ganslieb betrachtet den Angroscho mit einem freundlichen Blick, in den sich indes etwas mischte, das ein guter Menschenkenner als Mitleid hätte werten können. “Und ihr, euer Gnaden, überlegt euch, ob ihr es als wirklich rechtens und gut seht, was ihr mit diesem Manne treibt.” fügte Mutter Ganslind hinzu. Mit einer liebevollen Umarmung verabschiedete sich das hochwürdige Paar von ihrem Bruder im Glauben, während der Zwerg ein achtungsvolles Kopfnicken und eine ausgestreckte Hand vom Vater dieses heimeligen Hauses erhielt. Die Gänse, die bislang den Ausgang belagert hatten, teilten sich, um die Gäste wieder hinauszugeleiten - mit einem ebenso schweigenden, seltsam starren Spalier, wie sie bereits den Eintritt gestattet hatten.

Im Haus des Raben

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Nachdem die vier Reisenden wussten, dass sie an die Strecke bis nach Gingelbach nicht mehr im Hellen bewältigen würden, blieb nur das Wirtshaus und dessen Schlafraum oder der verlassene Borontempel als Alternative. Die Gruppe entschied sich schließlich für letzteres und erstand etwas Essbares im Wirtshaus, bevor man zum Sakralbau am Rande des Marktfleckens aufbrach. Diesen hatte offensichtlich seit dem vergangenen Winter niemand mehr betreten. Eine dicke Staubschicht lag auf dem Fußboden, und in den Ecken wanderten größere Staubmäuse. Sehr reale Mäuse hatten in der Küche, dem einzigen Raum mit einer Feuerstelle, ihr Königreich errichtet - Köttel und intensiver Geruch nach Maus kündeten ebenso von ihrer Anwesenheit wie kleine, hastige Trippelschritte, als die Zweibeiner in ihre Paradies eindrangen und es mit Beschlag belegten.  Nach einem eher kargen Abendbrot im Tempel hatte Dwarosch schon früh das Bedürfnis sich hinzulegen, um zur Ruhe zu kommen. Marbolieb und Mirla folgten ihm und so verabschiedeten sie sich von Vieskar und vereinbarten einen Aufbruch zur Phexensstunde am Morgen. In der kleinen Kammer, die Marbolieb für gewöhnlich für ihre persönlichen Zwecke und Schlafraum genutzt hatte war für die drei kaum genug Platz, doch daran hatte man sich fast schon gewöhnt.

Nachdem Mirla auf Dwaroschs Arm eingeschlafen war und in ihrer kleinen Krippe lag, dem einzigen Ort, aus dem nicht eine entsetzte Maus geschossen kam, als man sie anrührte, setzte sich der Zwerg auf das Bett und griff nach Marboliebs Hand, die sich bereits hingelegt hatte, aber keine Ruhe fand. “Es gibt da etwas, was du mir bisher verheimlicht hast, Räblein. Wer ist der leibliche Vater?” Marbolieb umschloss die Hand Dwaroschs mit einem erstaunlich kräftigen Griff. Dem Zwergen drängte sich dabei kurz der verzweifelte Griff eines Ertrinkenden auf. “Ist diese Frage so wichtig, Dwarosch?” flüsterte sie mit niedergeschlagener Stimme. “Nun Räblein, du warst es die zu mir sprach und sagte, dass wir niemals den Segen zu einem Traviabund erhalten würden. Und so wie du es sagtest bin ich davon ausgegangen, dass dich dieser Umstand schmerzt. Nun haben uns die Geweihten einen Weg aufgezeigt, wie wir diese zuvor unverrückbare Tatsache ändern können. Alles was dazu notwendig ist, ist die Klärung wer ihr Vater ist und ob er Anspruch auf Mirla hat. Die Frage ist nun, was ist dir wichtiger?” Dwarosch lief offen was er konkret meinte, weil es offensichtlich war. Marbolieb wusste was er meinte.

Marbolieb seufzte unglücklich, drehte sich zu dem Zwergen und tastete nach seiner Schulter, und schlang ihren Arm um seinen Nacken. Sie schmiegte ihre Wange an die seine und der Zwerg bemerkte, dass ihre Augen sehr feucht schimmerten. “Es geht hier nicht um mich, Dwarosch. Das ist nebensächlich. Was ist es, das du willst?” Der Zwerg wusste, dass es ein schwieriges Thema war und die Tränen überraschten ihn wenig, aber in diesem Falle ließen sie sich nicht vermeiden. “Du weißt, dass mir der Segen dieser Götterdiener wenig bedeutet”, begann er sanft. “Wir müssen dies nicht tun. Meine Frage im Tempel stellte ich nur, um zu klären was nötig sei, weil ich glaubte, dass es dein inniger Wunsch ist.  Was mir wichtig ist, ist zu wissen was Mirlas Vater für ein Mann ist. Ich kann und ich will nicht mit der Gefahr leben, dass er eines Tages kommt und Anspruch auf Mirla erhebt.” “Der ist es auch.” flüsterte die kleine Priesterin beschämt. “Aber ich kann es nicht.”

“Was kannst du nicht, den Segen annehmen, oder über den Vater sprechen, seinen Namen nennen?” Dwarosch wollte es jetzt genau wissen. “Ich habe ihm versprochen, dass ich darüber schweige”, klang es sehr verzweifelt. “Hast du einen Eid geschworen?” hakte der Zwerg weiter nach. Er hatte das Gefühl, der Wahrheit ein wenig näher zu kommen.  “Ist er ein so bedeutender Mann, dass ihn das Kind in Schwierigkeiten bringen würde, oder ist er bereits mit einer anderen Frau den Bund eingegangen?”  Marbolieb schüttelte ablehnend den Kopf. “Ich habe ihm mein Wort gegeben. Mehr kann ich Dir zu ihm nicht sagen.” Sie schwieg einen Augenblick, ehe sie hinzusetzte. “Es tut mir so leid, Dwarosch.”

Dieser schloss die Augen und atmete lang gezogen aus.  “Du weißt, dass ich für dich und Mirla töten würde. Und ich gebe dir das Versprechen, dass ich es tun werde, wenn dieser Mann kommt, um sie zu holen.  Kannst du mit dieser Gewissheit leben?” Die Geweihte schniefte. Der Zwerg spürte, wie sich sich an ihn klammerte. “Er wird sie ziemlich sicher nicht wollen.” “Ja oder nein?” beharrte Dwarosch. “Das weiß ich nicht.” Nicht mehr als ein hoffnungsloses Flüstern war die Antwort Marboliebs. Schiere Verzweiflung stand in ihrem Gesicht geschrieben und ihre Anspannung verriet, dass sie gerade sehr um ihre Selbstbeherrschung rang.

“Dann haben wir an diesem Punkt ein Problem Räblein”, stellte Dwarosch schweren Herzens fest. “Ich kann mit dieser Bedrohung, denn das ist sie für mich, nicht leben und ich will es auch nicht.  Ergründe für dich, was dir wichtiger ist - dass ich dein Mann und für Mirlaxa ein Vater bin, oder das Versprechen, dass du gegeben hast. Ich fürchte beides geht nicht.” “Warum können wir nicht einfach so weitermachen wie bisher?” fragte die Geweihte fast tonlos. “Wir waren doch glücklich. Dir war der Segen der Gütigen doch gar nicht wichtig.” Auch wenn das nur eine Verbindung auf begrenzte Dauer wäre - aber was währte schon ewig im Leben? Es selbst  ganz sicher nicht.

Dwarosch seufzte. “Bisher habe ich gedacht, dass dir jener Mann nichts bedeutet, dass es eine flüchtige Bekanntschaft war, die in Rahjafreuden mündete, aber keine emotionale Bindung für dich bedeutet. Dieser Überzeugung bin ich nun nicht mehr. Nimm dir Zeit darüber nachzudenken, doch bevor du und Mirla aus Senalosch fortgehst, muss ich eine Antwort von dir haben auf diese Frage.” Marbolieb biss in ihre Unterlippe. Sie seufzte, und kurz nur, wie die sanfte Berührung einer Feder, glitten ihre eiskalten Lippen über die Wange des Zwergen. “Danke, mein Liebster.”  Sie atmete tief durch. “Er bedeutet mir wirklich nichts, das kannst Du mir glauben. Doch mein Wort bedeutet mir etwas. Kannst Du das nachvollziehen?”

“Das kann ich, deswegen sollst du gut darüber nachdenken in der Zeit, die uns dreien noch gemeinsam in Senalosch gegeben ist.” Dwaroschs Stimme war ruhig, ließ aber ebenfalls keinen Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit. “Ich werde jeden Moment davon genießen, doch der Gedanke, irgendwann nach Calmir zu kommen und Mirlaxa dort nicht mehr vorzufinden … nein, damit werde ich nicht einfach so leben können.” “Wieso sollte ihr Vater Mirla haben wollen? Dwarosch, die meisten Menschen haben viele Kinder, meist mehr als genug. Ich glaube nicht, dass jemand sie mir wegnehmen will - und wenn ihr Vater das wollte, dann hätte er es längstens getan.” Sie biss sich abermals ihre Unterlippe und ordnete ihre Gedanken. “Und du würdest tatsächlich den Travienbund mit mir eingehen wollen?” “Was an meinen bisherigen Worten oder Taten lässt dich daran zweifeln”, entgegnete der Zwerg nun fast ein bisschen trotzig mit einer Gegenfrage und Marbolieb erkannte, das jener Moment nah war, an dem Dwarosch die ‘Freude’ an derlei Gespräch verlor, ja ihm langsam überdrüssig wurde. Dies hatten alle Männer gemeinsam, egal, welcher Rasse sie angehörten. “Du hast das noch nie gesagt.” Ganz kurz huschte ein warmes, liebevolles Lächeln über die an diesem Tag sehr blassen Lippen der Boroni. “Es klingt wunderschön.” Sanft strich sie ihm mit den Fingerspitzen die Wange und seinen dichten Bart - auch wenn er nicht ganz genau hätte sagen können, ob sie auf genau diese Stelle gezielt hatte. “Ich gehe sehr gerne mit dir zurück nach Senalosch, Dwarosch. Und ich freue mich über die Zeit, die ich dort habe.” “Dann lass uns nun versuchen zu schlafen, damit wir morgen ausgeruht möglichst viel der Strecke schaffen, Räblein”, sprach Dwarosch und legte sich nun auch behutsam neben Marbolieb, um sie in den Arm zu nehmen. “Wir haben Mirlaxa und wir konnten den Frevel der Störung des Tempelfriedens bereinigen”, resümierte er mit leiser Stimme. “Das ist im Grunde kein schlechtes Ergebnis und alles Weitere bringt die Zeit. Ich weiß, dass man am meisten erreicht, wenn man geduldig ist.”  Und jene Geduld würde er beweisen müssen, denn die eine Frage beschäftigte ihn noch ziemlich lange an diesem Abend, bevor der traumlose Schlaf ihn übermannte.

Und so dauerte es eine Weile, bis der Herr des Schlafes und Gebieter des Todes seinen Mantel ausbreitete über die Menschen, die nach so langer Zeit - die doch nicht mehr als ein Wimpernschlag gewesen war - wieder sein Haus betreten hatten, den Staub aufwirbelten und Leben mitbrachten. 

Mit der Stille der Nacht aber kamen die tatsächlichen Bewohner des Tempels des Schweigsamen zurück, die Träume für seine Besucher, die gnädig nur zu dem Priester der Gütigen waren, der zufrieden ruhte, gewiss, ein verlorenes Schaf, kein Schwarzes, auf den Weg zurück zu seiner Herde gebracht zu haben. Und die Mäuse, die ihr Königreich zurückeroberten, von den Opfergaben der Schlafenden kosteten und sich, in Gestalt ihres Herrschers, ein Bild von den gefährlichen, behaarten Zweibeinern machten, die unvermittelt in ihr Schlafgemach eingebrochen waren, die Baue niederdrückten und sich brummend und röchelnd darauf breitmachten. Die Schnurrhaare des Mäuserichs bebten, als er die drei beschnupperte und aus schwarzen, kugelrunden Mäuseaugen musterte - ehe er mit einem geschmeidigen, schnellen Sprung, einem grauen Schatten gleich, von den wohlschmeckenden Leintüchern huschte  (und ein so weiches Bett boten sie in seinem Nest!) und in einer dunklen Ritze unter der Tür der Schlafkammer entwich.

Endgültig kehrte Stille ein.  Doch was der Herrscher des Hauses dachte über dessen Bewohner, das würde unbekannt bleiben.

-- Main.IseWeine - 07 Jan 2020