Reich des Widders (Schatten über Rabenstein III)

Im Reich des Widders

Ort: Senalosch in den Vogteien Nilsitz - und darunter.

Zeit:: Boron 1041 BF.

Beteiligte: Oberst Dwarosch, Vogt Borindarax von Nilsitz, Ihre Gnaden Marbolieb, die beiden Golgariten Richild von Moorbrück und Amalvin und einige andere.

Autoren: RekkiThorkarson und IseWeine

Inhalt: Das große Aufräumen nach dem Vereiteln der Pläne der Paktiererin in Rabenstein und einige Entdeckungen in und unter Nilsitz - und die Antwort auf die Fragen: Wie bändige ich aufsässige Geister und Reste alter Kulte - und gehe mit Zwergen um? Teil III (und Ende) von 'Schatten über Rabenstein'

Teil I findet sich unter Still wie win Stein, Teil II unter Saat des Grauens

Gesamtdokument hängt an

Ankunft in Senalosch

Die Reise der für Außenstehende vermutlich merkwürdig anmutenden Gruppe war weitestgehend ereignislos geblieben. Den beiden Kriegern vom Orden des heiligen Golgari, dem zwergischen Obristen des Isenhager Garderegiment, dem almadanischen Jungen Ramiro und der Borongeweihten, war unterwegs niemand begegnet und das Wetter hatte sich merklich aufgeklart. Kein Schnee war gefallen und die meiste Zeit hatte die Sonne geschienen, so dass fast unmerklich Tauwetter eingesetzt hatte. Dies war sicherlich noch kein Ende des Winters im Hochgebirge, sondern nur ein kurzes Intermezzo, ausgelöst durch warme Luft aus dem Süden, Almada oder dem Lieblichen Feld. Seit Calmir, wo sie das Kind der Dienerin Borons aus dem Tempel der Travia abgeholt, nein vielmehr befreit hatten, waren sie zu Pferd unterwegs und strebten nun der größten Siedlung der gräflichen Vogtei Nilsitz entgegen, der Stadt des Widders: Senalosch. Marbolieb ging es schleichend schlechter und die Landmeisterin war inzwischen mehr als nur geneigt, der Vermutung Dwaroschs Glauben zu schenken, dass die Geweihte des Herrn Boron vergiftet worden war. Ramiro hingegen hatte sich vollständig erholt und zeigte mehr und mehr kindliche Neugier und überschwängliche Vorfreude auf seine vom Oberst angedachte Aufgabe. Er würde Botenjunge des Isenhager Regimentes werden. Mit dem Anbruch des neuen Tages hatten sie die Rauchfahnen sehen können, die sich bis in den strahlend blauen Himmel erstreckten. ‘Die niemals erlöschenden Feuer der Hochöfen von Isnatosch’, hatte der Oberst schlicht verkündet, als die Landmeisterin ihn fragend angesehen hatte. Sie hatten ihr Ziel fast erreicht. Senalosch, die Hauptstadt des Bergkönigreiches Eisenwald und zugleich Sitz des Vogtes von Nilsitz, war in greifbarer Nähe gekommen. Die hoch aufragenden Tortürme Senaloschs waren schon von weitem zu erkennen. Der zwischen ihnen befindliche Durchgang stand offen. Stolz wehten die Banner des Bergkönigs vom Eisenwald und der Vogtei Nilsitz mit dem goldenen, steigenden Gebirgsbock auf grün über den mit rot gebrannten Ziegeln gedeckten Wehrbauten im Wind. Rechts und links der Türme schloss sich die massiv gebaute Stadtmauer bis zu den begrenzenden Berghängen des Eisenwaldmassivs in einem Halbkreis an. Laut drang der Ton mächtiger Blashörner vom oberen Ende der Stadt, welche sich ein gutes Stück weit den Berg hinauf erstreckte. Dort, an einem Ort über dem in der Ebene liegenden Stadtteilen, musste die Quelle des Geräusches liegen, welche bis zu den begrenzenden Bergen trug und aus der Richtung der Ingrakuppen im Firun beantworte wurde. Die Nilsitzer Berghörner sprachen.

Als die kleine Gruppe schließlich gegen Mittag das Tor erreicht hatte, wurden sie zwischen den Türmen von zwei Angroschim in Kettenrüstungen, Helmen und schweren, langstieligen Kriegshämmern argwöhnisch beäugt. Diese nahmen jedoch sofort Haltung an und grüßten zackig, als sie den Oberst erkannten. ‘Gebirgsjäger’ raunte Dwarosch zu den anderen und schritt durch das Tor, dessen Flügel aus massiver Steineiche über eine Hängekonstruktion und Schienen seitlich in die Mauer verschoben wurden und bei Bedarf abgesenkt und mit Sperrriegeln gesichert werden konnten. Danach ging es über eine riesige Metallplatte weiter, welche man zwangsweise überqueren musste, wenn man nach Senalosch hineinwollte. Nach den hallenden Geräuschen zu urteilen, die die Gefährten verursachten, als ihre Pferde drüber hinwegschritten, lag unter ihr eine geräumige Fallgrube. Rechts und links des sich anschließenden, gepflasterten Weges waren dicke Schienen in den Boden eingelassen, auf denen die metallische Abdeckung mit Hilfe von Ketten und Flaschenzügen gezogen werden konnte. Allein Anschein nach legten die Zwerge großen Wert auf ihre Sicherheit. Die Häuser entlang des Weges waren ausnahmslos aus Stein, zumeist zweigeschossig gebaut. Holz sah man nur an den Enden der Pfetten, Sparren und Balken der Dächer und dann und wann bei höheren Gebäuden, deren oberste Stockwerke ganz aus Holz gebaut worden waren. Ein schwarzer, leicht rutschiger Film lag über dem Pflaster der Straße und auf den umliegenden Häusern. “Das hier ist Dunkelweg, benannt nach dem Kohlenstaub, der nahezu dauerhaft über diesem Teil der Stadt liegt”, erklärte Dwarosch. “Hier befinden sich die Waren- und Lagerhallen der Stadt, unter anderem auch riesige Vorräte an Kohle, natürlich gut gesichert und abseits anderer Gebäude. Das Erz, welches aus Isnatosch über die Via Ferra transportiert wird, beginnt seine Reise auch in Dunkelweg. Dieser Teil der Stadt erstreckt sich zur Rechten bis hin zum angrenzenden Bergkamm des Eisenwaldes. Zur Linken liegt Felsenruh, indem sich die meisten Wohnhäuser der Stadt befinden, benannt nach einem großen Menhir, welcher im Zentrum steht. Von uns aus gesehen Richtung Berg befindet sich das Viertel der Handwerker und Sitz der Zunfthäuser, Simiaheim genannt. Dort ist auch der große Marktplatz und der Tempel der heiligen Schätze des Allvaters, welcher sowohl Angrosch als auch Ingerimm geweiht ist. Isarnon nicht zu vergessen, nennt man den letzten Stadtteil, der sich auf der ansteigenden Flanke des Berges bis hin zum Widdertor befindet. Dies ist unser Ziel, denn dort oben, nahe dem Eingang nach Isnatosch liegt das Haus des Vogtes, meines Verwandten und Freundes.” Damit schloss der Oberst seine kurze Beschreibung der Stadt. Richilds Augenbrauen hatten sich angesichts der massiven Verteidigungsanlagen gehoben und sie pfiff anerkennend durch die Zähne. „Ihr wollt diese Stadt unter allen Umständen halten, nicht wahr?“ Wenn ein Zwerg etwas anging, dann tat er dies gründlich. Diese Gedanken waren ihr aus ihrer koscher Heimat nicht fern, aber die Erzzwerge waren diesbezüglich eine Klasse für sich. Sie rückte die magere Priesterin zurecht, die mit geschlossenen Augen vor ihr im Sattel saß und wohl wieder einmal eingeschlafen war, und nahm die Zügel ihres Pferdes auf, damit das Tier auf dem glatten, schmierigen Pflaster nicht ausglitt. „Das wollen wir“, bestätigte der Oberst kopfnickend und mit deutlichem Stolz. „Bedenkt, dass wir nicht viele Städte besitzen. Unsere Zahl ist gering im Vergleich zu der der Menschen und der anderen kurzlebigen Rassen. Das war immer so. Unsere Jahrtausende zurückreichende Geschichte hat bewiesen, dass unsere Bauweise das Überleben der Angroschim sicherstellen kann. Die Drachenkriege waren die dafür denkbar härteste Probe. Seht, Koschim besteht und wird wiederaufgebaut, auch wenn der Alagrimm schwere Verwüstungen angerichtet hat. Nichtsdestotrotz haben wir gesiegt gegen den verfluchten Feuervogel. Der Untergang von Lorgolosch war hingegen eine Zäsur und hat das Selbstverständnis aller unserer Völker schwer getroffen. Umso stolzer sind wir über die Neugründung von Angralosch im Raschtulswall.“ Amalvin nickte schweigend, doch allein der Einzug in die Stadt hatte einen begeisterten Funken in seinen Augen aufleuchten lassen. Er hatte Ramiro hinter sich auf den Sattel gepackt und sein Pferd trug darüberhinaus noch den Tragekorb mit Mirla, was dem Krieger in den ersten Tagen mehr als suspekt gewesen war und ihm jetzt noch regelmäßige unbehagliche Seitenblicke entlockte. Die Kälte und mehrtägige Reise hatten dem Kind zugesetzt, so dass es mit erstaunlicher Energie seinem Unmut Luft verlieh und bei jeder noch so geringen Änderung der Umstände zu nörgeln begann. Seine Erleichterung, dass sie ihr Ziel erreicht hatten, war dem Krieger ins Gesicht geschrieben. „Wieviele Einwohner hat Senalosch?“ wandte sich die Landmeisterin wieder an den Oberst. „In etwa tausendvierhundert an der Oberfläche, anwachsend. Dazu kommen noch einmal etwa siebenhundert in den unterirdischen Stadtteilen“, erklärte Dwarosch. „Der Rogmarok ruft nach einiger Zeit dazu auf, sich wieder im Zentrum von Isnatosch anzusiedeln und das Reich wieder zu alter Größe zurückzuführen. Aus diesem Grund und weil die Tendenz diesem Wunsch entspricht ist alles etwas überdimensioniert angelegt.“ „Beeindruckend.“ Die Landmeisterin nickte und blickte sich neugierig um. „Ich war noch nie in einer erzzwergischen Stadt. Die Hügelzwerge bauen deutlich anders. Stimmt es eigentlich, dass das Eisenwalder Zwergenbier für Menschen ungenießbar ist?“ Gegen ein süffiges Ferdoker oder Alt-Angbarer würde es nicht ankommen – doch behaupteten im Kosch selbst die Angroschim, dass das Eisenwalder das schlechteste aller Zwergenbiere sei. Mit Abstand. Wie lange war ihr letztes Ferdoker jetzt her? Das musste bei einem Besuch in Garrensand gewesen sein – schon etliche Götterläufe in der Vergangenheit. Aus der Brust der Golgaritin erklang ein wehmütiger Seufzer. Die Frage brachte den Oberst kurz zum Lachen. „Es wäre äußerst langweilig, euch eine Antwort auf diese Frage zu geben, zumal sich die Geschmäcker ja bekanntlich deutlich unterscheiden“, entgegnete er nicht ohne Schalk in der Stimme. „Nein, wir werden euch entscheiden lassen was besser ist. In Senalosch bekommt ihr so ziemlich jedes Bier, auch aus Ferdok und Angbar.“ Das wiederum entlockte der Golgaritin ein kurzes, durchaus zufriedenes Lächeln. „Ich mag Eure Stadt, Herr Oberst.“ Die Mittagsstunde weckte indes auch anderweitig Appetit. Aus dem Tragekorb an Amalvins Sattel erklang ein ungnädiges Weinen, was wiederum dazu führte, dass sich die Borongeweihte in Richilds Armen regte und aus dem Sattel zu rutschen drohte. „Nicht so hastig, Schwester.“ brummte die Landmeisterin und verstärkte ihren Griff, bevor sie ihre halb schlafende Schwester im Glauben wieder sicher verwahrt hatte. Ein „Wie weit ist es denn noch.“ verkniff sie sich – sie hatte die letzten Tage mit ihrer Sattelgenossin überstanden, da würde es auf das eine oder andere Wassermaß nicht mehr ankommen. Ihr dunkler Elenviner senkte den Kopf und schnaufte prustend aus, als er die Resignation seiner Reiterin bemerkte. Dwarosch wusste jedoch sehr gut um die Bedürfnisse Mirlas und auch die unausgesprochene Frage erahnte er mit entsprechender Empathie. „Wir haben es nicht mehr weit“, versuchte er vor allem Marbolieb zu beruhigen, auf die er einen leicht besorgten Blick warf. „Bis zum Haus des Vogts ist es kein volles Stundenglas mehr. Borindarax oder besser gesagt seine Haushälterin werden schon etwas für unsere leeren Bäuche vorbereitet haben, seid dessen gewiss.“ Richild warf einen kurzen Blick auf die Boroni, die mit bleichem Gesicht und grauen Lippen ohne jede Körperspannung vor ihr im Sattel hing, und nickte erleichtert. Sie einfach wie einen Sack hinter sich auf den Sattel zu legen, wie sie es mit einem leblosen Kameraden getan hatte, verbot sich angesichts des besorgten Stirnrunzeln des Oberst. Aber sie war froh, ihre Hände – irgendwann – wieder freizubekommen. Sie klopfte mit ihrer freien Hand den Hals ihres Elenviner Wallachs und trieb das müde Tier mit den Schenkeln vorwärts. Er hatte sich seine volle Futterkrippe wohl verdient.

In der Stadt

Die Stimmung in Senalosch war geprägt vom strebsamen Fleiß des Handwerks. Das Gehämmer der diversen Schmieden drang wie selbstverständlich stetig durch die Stadt und die Annahme sie würden selbst in tiefster Nacht nicht völlig abreißen, schien wenig abwegig auf die Besucher. Jeder zweite Bewohner, der ihnen begegnete, war ein Angroscho und ausnahmslos jeder grüßte freundlich in der Muttersprache der Zwerge. Es schien ihnen wie selbstverständlich. Die Unterhaltungen, die sie unterwegs zwangsläufig mit anhörten, wurden teilweise in einem Kauderwelsch geführt, das Anteile beider Sprachen aufwies. Scheinbar hatte sich hier in diesem Schmelztiegel der Rassen eine ganz eigene Mundart entwickelt. Man verstand sich, soviel war klar. Das Kauderwelsch rief ein Lächeln auf die Züge der Landmeisterin – zu sehr erinnerte sie das an das heimische Dorf, und auch im nicht weit entfernten Ferdok – die, verglichen mit den Angbarern, noch immer das besser Bräu ihr Eigen nannten – war eine krude Mischung aus beiden Zungen häufig zu hören. Amalvin und Ramiro hingegen lauschten dem Durcheinander mit gerunzelter Stirn und, was den Jungen betraf, offenem Mund. Ganz offensichtlich konnten sie in dem Durcheinander wenig Bekanntes ausmachen und fischten nach verständlichen Brocken. Dwarosch führte die Gruppe entlang der scheinbar größten Straße der Stadt und nach einer Weile kamen sie zu dem bereits vom Oberst erwähnten Marktplatz, auf dem reger Betrieb herrschte. Allerlei Stände mit den unterschiedlichsten Waren warteten darauf, begutachtet zu werden und Händler wie auch Einheimische schlenderten durch die penibel gezogenen Gänge zwischen den Auslagetischen. Rings um den Platz waren Geschäfte angeordnet, deren Türen ebenfalls offenstanden. Der auffälligste Bau am Platz war jedoch zweifelsohne der kolossale Tempel des Gottes des Handwerks. Halb in den von hier an ansteigenden Berghang gebaut, beziehungsweise gehauen, glich er einem beeindruckenden Monument aus Stein. Das eiserne, doppelflüglige Portal, welches zum Markt hin lag, stand offen und mehrere in klassische Trachten der Kulte des Schmiedegottes angetane Angroschim und Menschen standen sich angeregt unterhaltend oberhalb der Stufen, die hinab zum tiefer gelegenen Marktplatz führten. Rechts und links des Baus stieg die Straße nach Isarnon an und vereinigte sich hinter dem Sakralbau zu einem breit angelegten, geraden Weg in die Höhe, wobei zu beiden Seiten zusätzlich breite Stufen in den Fels gehauen worden waren. Dies erschien sinnvoll, denn bei Eis und Schnee war das steile Kopfsteinpflaster sicher nicht ungefährlich. Ebenfalls gab es auf beiden Seiten zwei zu den Stufen leicht erhöht sitzende Schienen. Scheinbar wurden auf diese Weise Lasten hinauf und hinab transportiert. Eine Patrouille aus zwei gerüsteten Soldaten mit dem Wappenrock von Ingerimms Hammer kamen den Weg hinab, als die Gefährten gerade dabei waren, abzusteigen. Ein bulliger und noch recht junger Zwerg mit kurzem, kupferroten Bart und bernsteinfarbenen Augen trat vor. “Angrosch sei Dank. Oberst, ihr seid unbeschadet zurück. Wir haben euch bereits erwartet. Hauptmann Antharax hat Meldung gemacht und uns abgestellt, euch von hier aus zum Vogt zu geleiten. Der Sohn des Barbaxosch hat bereits nach dem Gebirgsbock rufen lassen, wie ihr sicher vernommen habt. Benötigt ihr eine Lore für den Transport der Kranken? Wir können Pferde und Pony unterstellen lassen. Der Weg hinauf ist für sie zu gefährlich”, sprach der Soldat das Offensichtliche aus. “Angrosch zum Gruße, Andragrimm. Es ist schön wieder daheim zu sein”, begrüßte der Oberst den Angroscho und hieb ihm freundschaftlich auf die Schulter. “Ja, lass zwei Loren herablassen. Wir haben reichlich Gepäck dabei”, antwortete Dwarosch. Der Soldat sah einmal nach oben und winkte mit dem Arm in der Luft. Kurz darauf ertönte das Geräusch von sich drehenden Seilwinden und die erste Lore wurde an einem langen Seil zu ihnen heruntergelassen. Der Oberst wandte sich an Richhild und Amalvin. “Einer meiner Männer führt eure Pferde in die Stallungen des Regiments in Dunkelweg unweit des Stadttores. Wir haben nur die robusten Ponys und davon auch nicht viele, aber für zwei Pferde findet sich ganz sicher noch ein Platz. Wenn ihr einverstanden seid natürlich.” „Versorgt sie uns gut.“ Richild zweifelte nicht am guten Willen der Zwerge – aber ob sie wussten, wie mit einem Vollblut richtig umzugehen war. „Oder soll eher Amalvin das übernehmen? Er kann dann später zu uns stoßen.“ Dwarosch winkte ab. „Das wird nicht nötig sein. Zugegeben, meine Soldaten und ich mögen nicht viel von Pferden verstehen“, gestand er. „Unser Stallmeister jedoch geht stramm auf die dreihundert zu und hat mehr Pferde zur Welt gebracht als ihr euch in euren kühnsten Träumen vorstellen könnt. Ihr könnt eure Pferde ohne Sorge in seine Obhut geben, glaubt mir.“ Die Landmeisterin lachte kurz und trocken auf. „Der Expertise kann ich nicht widersprechen. Ich bin froh, wenn ich meine Leute schnell unter ein Dach bekomme.“ Auch wenn die heutige Etappe nur kurz gewesen war- es war die letzte in einer ganzen Reihe davon, und Reisen fast ohne Weg im Tiefschnee waren keine angenehme Sache. Nachdem der Oberst dem zweiten der Soldaten zugenickt hatte, nahm dieser die Zügel in die Hand und zog mit den beiden Pferden gemütlichen Schrittes ab. Das gutmütige Zwergenpony erhielt vom Oberst nur einen Klapps auf den Hinterlauf, dann trottete es hinterher. Es wusste selbst, wo es warm war und vor allem, wo es Futter gab.

Das Haus des Vogts

Kurz darauf rumpelte eine große, rechteckige Lore mit hoher Ladekante zu ihnen und kam neben Amalvin zum Halten. Der zweite der Soldaten trat daraufhin zum Graumantel. “Gebt mir euer Gepäck bitte. Ich lade es auf.” Sein Garethi war holprig, doch konnte der Golgarit den Sinn hinter seinen Worten nachvollziehen. Auf der anderen Seite der Treppe war die Lore von gänzlich anderer Gestalt. Eine schlichte, längliche Form aus Holz, eingefasst in metallische Klammern unter denen die Achsen montiert waren trug zwei hintereinander angeordnete, breite Sitzbänke. “Bitte einsteigen”, sagte Andragrimm in Richtung Marboliebs mit einem Lächeln. Der kräftige Zwerg hatte die gequält gekrümmte Haltung der Priesterin auf dem Pferd offenbar richtig gedeutet. Sein Garethi war einwandfrei, jedoch hatte er einen starken Akzent, welcher sich durch seine tiefe Stimme nur noch mehr hervortat. Während die Dienerin Marbos, der Junge und Richild, die mit einem leichten Stirnrunzeln ihr Los, als Stütze der kleinen Geweihten zu dienen, zur Kenntnis nahm, in der Lore Platz nahmen und hochgezogen wurden, stapften Amalvin und Dwarosch die Stufen hinterher, als sie das Gefährt wenig später mit einem leichten Knarren in Bewegung setzte. Andragrimm ging unterdessen auf der Seite der Gepäcklore Dem Graumantel fiel auf, dass etwa alle fünf Schritt ein Sperrbolzen durch die Aufwärtsbewegung in Fahrtrichtung hinabgedrückt wurde und wieder hochschnappte, nachdem die Lore ihn passiert hatte. Es war eine Art mechanische Absturzsicherung. So ging es stetig und mit konstanter Steigung bergan. Bald brannten Amalvin die Muskeln in Oberschenkeln und Waden und Dwarosch grinste mit geröteten Wangen, als er ihm einen Seitenblick zuwarf. Es dauerte eine geraume Zeit, bis am Ziel ihres Aufstiegs waren. Bis dahin hatten sie sicher einhundert Höhenmeter überwunden. Oben angekommen erkannten die Gäste die großen, in einem Stück gegossenen Umlenkrollen auf denen die unterarmdicken Seile geführt wurden. Die mechanischen Konstrukte lagen unter einem schützenden Steinbau mit Ziegeldach verborgen, welches derzeit zum Hang hin offenstand. Seine Tore würden aber wahrscheinlich sogleich geschlossen werden, wenn die Loren abgekoppelt waren. “Die Schächte mit den Kontergewichten sind mit den Entlüftungskanälen von Isnatosch verbunden. Die aufsteigende, warme Luft aus den Tiefen des Berges schützt die Seile davor, spröde zu werden durch die kalte Witterung und der stetige Luftzug hindert sie daran, Feuchtigkeit über die Oberfläche aufzunehmen”, erklärte Dwarosch. Von ihrem Standort aus konnten sie die ganze Stadt und auch das umliegende Hochplateau des Isenhag gut sehen. Das diesige, graue Wetter verhinderte jedoch, dass ihr Blick über den Großen Fluß bis hin zu den Ingrakuppen reichte. Nichtsdestotrotz war es ein erhabener Anblick, an dem man sich berauschen konnte. Das Widdertor war von hier aus nur noch wenige Schritte den Hang hinauf entfernt und nun als klaffender, dunkler Abgrund in den Berg zu erkennen. Die Torpfeiler an seinen Seiten waren nicht aus Stein errichtet, sondern aus dem Fels herausgehauen worden. Vier Soldaten standen im Durchgang nach Isnatosch und sahen neugierig zu ihnen hinab. Große Löcher zu beiden Seiten des Tores erweckten das Interesse der Golgariten. “Dort im Berg liegen die Kammern der Torsionsgeschütze”, sagte Andragrimm nicht ohne Stolz zum Graumantel. “Unten in den Türmen des Isenhager Tores befinden sich nur zwei leichte Rotzen, doch durch die hohe Position hier ist es uns möglich, jedes Ziel vor den Mauern zu erreichen, ohne die Gefahr einzugehen, die Stellungen selbst einer Gefahr auszusetzen”, erläuterte der Krieger. Dwarosch wies derweil auf ein Gebäude rechts des Tores. “Das ist das Haus des Vogtes, Sitz der Verwaltung und gleichzeitig seine Residenz.” Es sah von außen recht unscheinbar aus, nichts war außergewöhnlich daran, es glich vielen anderen der Häuser Senaloschs. Wie als habe der Oberst die Gedanken der anderen gelesen fügte er hinzu. “Lasst euch vom äußeren Eindruck nicht täuschen. Es ist groß, nur eben nicht das, was ihr sehen könnt. Mehrere Kellergeschosse reichen tief in den Berg hinein. Kommt”, sagte er mit einer einladenden Geste und hob Marbolieb aus ihrem Sitz in der Lore, um sie den Rest des Weges zu tragen. “Borindarax wird uns bereits erwarten.” Die Geweihte murmelte etwas Unverständliches, als der Oberst sie auf seine Arme hob. Kraftlos sackte ihr Kopf auf seine Schulter und er spürte ihren schnellen, flachen Atem an seinem Hals. Die Landmeisterin reckte sich und dehnte ihren Rücken, bis ihre Schultergelenke knackten, ihrer Last endlich ledig. Verheißungsvoll war das Haus nach der bitteren Kälte der letzten Tage, denn trotz des kurzfristigen Tauwetters war der Winter erst dabei, Atem zu holen für den wirklich bitteren Frost, der das Land gefrieren, die Rinde der Bäume aufsprengen und selbst massive Steinriesen platzen lassen würde. Der klare Himmel verhieß klirrende Kälte, und keinen Tag zu früh waren sie in dem warmen, umtriebigen und heimelige Wärme verheißenden Senalosch angelangt. Viel länger hätten, trotz der Mühen der Priesterin, ihre Glaubensschwester und deren Kleinkind die Reise auch nicht mehr durchgehalten. Zufrieden streckte sich die Golgaritin und folgte dem Oberst, insgeheim darüber grübelnd, ob das Haus des Vogtes es überhaupt zuließe, dass sie mit erhobenem Kopf unter seinen Zimmerdecken einherginge – eine Überlegung, die dem deutlich größeren Amalvin durch mangelnde Erfahrung – noch – fremd war. Ein kleines Grinsen huschte über die Augenwinkel der Landmeisterin, als sie sich zu ihren beiden Gefolgsleuten umwandte, dem Almadaner Burschen und dem großgewachsenen Krieger, der mit resigniertem Blick das kleine Menschenbündel wieder in den Armen trug. Seiner Miene nach zu urteilen war das verdächtig ruhige Kind dabei, seinen dicken Wollmantel von einem leidlich trockenen in einen nassen Zustand zu überführen. „Kommt, Jungs, es geht ins Warme.“

Der Oberst sollte recht behalten. Kurz bevor sie das Haus erreichten, öffnete sich die hölzerne Eingangstür mit dem springenden Bock aus Messing mit einem wahrnehmbaren Knarren und ein junger Angroscho trat in den Durchgang ins Innere. In einen moosgrünen Gehrock, ein sandfarbenes Leinenhemd und eine dunkelbraune, weite Wildlederhose gekleidet machte er einen ansehnlichen Eindruck. Seine wenig adretten, in diesem Moment eher ungezähmt liegenden Haare und die im deutlichen Kontrast stehenden, giftgrünen Augen irritierten jedoch im Gesamtbild. “Willkommen, werte Gäste”, empfing der Angroscho die Ankömmlinge mit einem ehrlich wirkenden Lächeln und einem nahezu perfektem Garethi. Mit einer kurzen Vorstellung seinerseits, “ich bin Borindarax, der Sohn des Barbaxosch. So kommt herein und wärmt euch auf”, trat er auf Seite, um seine Gäste hereinzulassen. Im Inneren des Stadthauses herrschte gedämpftes Licht und es roch leicht muffig. Dominierend waren dabei nicht nur das allgegenwärtige Holz der Vertäfelungen der Wände und Decken, sondern auch Spuren oder vielmehr Überreste würziger Kräuter, die als Bestandteil eines Pfeifenkrauts gedient haben mussten. Borindarax führte seine Gäste durch einen kurzen Flur, in dem sie Gelegenheit hatten, ihre dicken Wintersachen abzulegen. Das Haus war angenehm warm. Danach fand man sich in einem geräumigen Salon ein. Auffallend waren die kunstvollen Schnitzereien der Vertäfelungen, welche Jagdszenen darstellten. An einer der Seitenwände war so etwas wie ein gemauerter Kamin, nur das in ihm kein Feuer brannte, sondern lediglich warme Luft durch das Loch in seiner Mitte heraufströmte. Ein großer, sehr robust wirkender Tisch stand in der Mitte des Raumes, umringt von gemütlich aussehenden Sesseln. Nachdem der Oberst Marbolieb auf einer der Sitzgelegenheiten abgesetzt hatte, deren Polster leicht abgewetzt wirkten, wandte er sich ihrem Gastgeber zu. Dwarosch und der Vogt begrüßten sich mit einer innigen Umarmung, eine Geste, die von einem vertrauten Umgang zeugte. Danach drehten sie sich beide zu den anderen um und Borindarax ergriff erneut das Wort. “Es wird bald etwas zu Essen serviert werden. Wenn euch danach nach Ruhe ist, werde ich euch eure Zimmer zeigen. Zögert nicht zu fragen, wenn es euch an etwas mangelt. Eure Gnaden.” Der Vogt hatte sich Marbolieb zugewandt. “Der Gebirgsbock ist bereits auf dem Weg hierher. Vor etwa vier Kerzenlängen erreichte uns sein … Bote.” Der Zwerg stockte kurz, als suche er das passende Wort. “Er wird spätestens übermorgen eintreffen. Wir hoffen, er wird euch helfen können.” Marbolieb, durch die direkte Ansprache aus ihrem Dämmern geweckt, fuhr auf und blickte verwirrt in Richtung des Vogtes. Sie nickte kurz, nur der Hauch einer Bewegung. „Habt Dank.“ Müde lehnte sie sich wieder in die Kissen zurück und schloss die Augen, merklich erschöpft von dem langen Tag. Auf dem Gesicht der Landmeisterin hingegen zeichnete sich angesichts der Worte des Vogtes Erleichterung ab. Sie suchte den Blick Dwaroschs, neigte den Kopf in Richtung Marboliebs und runzelte die Stirn. Dieser wirkte erneut von Sorge erfüllt, seufzte und setzte sich neben die Geweihte. „Wir werden etwas essen und uns dann schlafen legen. Marbolieb braucht Ruhe.“, befand er. Der Vogt nahm die Worte zur Kenntnis, was er mit einem knappen Nicken andeutete. Stille kehrte ein. Kurz darauf schritt eine Angroschna in den Salon. Sie hielt eine große, polierte Platte in Händen und stellte ein warmherziges Lächeln, aber auch unverhohlene Neugier zur Schau. “Ah”, kam es erfreut vom Vogt. “Dies ist die gute Seele des Hauses, wie es bei euch so schön heißt. Topaxandrina ist jedoch mehr als das. Ohne sie würde ich vermutlich selbst Essen und Schlafen vergessen.” Die so umschmeichelte Zwergin ging amüsiert kopfschüttelnd zielstrebig zum Tisch herüber, um die Last abzustellen. Mit ihren felsgrauen Haaren, dem am Rücken geschnürten Wollkleid mit Ledereinsatz, das weder Oberweite noch Hüfte zu bändigen vermochte, war ihr Alter schwer abzuschätzen. Ihre hellgrauen Augen und das weiche, runde Gesicht machten es nicht einfacher. Das Tablett indes war mit einer passenden Anzahl dampfender Schalen bedeckt, in denen bereits Löffel steckten. Es roch verlockend nach süßen Kartoffeln, saftigen Pilzen und frischem Lauch. Ein weiterer Zwerg trat durch die selbige Tür wie zuvor Topaxandrina. Es musste der Durchgang zur Küche sein, so mutmaßten die Gäste. Der erkennbar noch junge Angroscho trug lediglich eine weite Leinenhose und einen schulterfreien Überwurf, der den Blick auf seine tätowierten Oberarme ermöglichte. Zwergische, scharfkantig gestochene Ornamentik, welche sich teilweise überlagerte beziehungsweise ineinander lief zeugte von großer Kunstfertigkeit. “Dies ist Boindil, Sohn des Borintosch”, erklärte der Vogt. “Mein starker Arm im Notfall. Er begleitet mich stets, wenn ich das Haus verlasse.” Eine Aussage, die die beiden kurzstieligen Äxte unterstrichen, welche in Metallringen im eher nachlässig gegürtetem Waffenrock hingen. Auch der weißblonde Angroschim mit dem ausladenden Backenbart trug ein Tablett, seines jedoch trug offensichtlich Getränke. Es befand sich eine dampfende Kanne aus Keramik darauf, ebenso wie eine große Kanne, deren Inhalt leicht zu schäumen schien. Der Vogt trat an ein Regal an der Wand, während die Angroschna bereits wieder den Salon verließ und holte nacheinander einige hölzerne Humpen und kleinere Tassen aus Keramik, die er auf den Tisch neben die Tabletts stellte. Zum Schluss klappte er noch einen kleinen Sekretär in einer Ecke des Raumes auf und holte ein wie ein kleines Karussell anmutendes Holzgestänge hervor, an dem kleine Zinnbecher kopfüber aufgehängt waren. Seine andere Hand griff nach einer irdenen Flasche, die sich ebenfalls in dem Möbelstück befunden hatte. “Gebrannter Tannenbrucher Beerenschnaps, eine lokale Spezialität aus Nilsitz”, frohlockte Borindarax. “Mit dem Segen der Schrate”, fügte er noch augenzwinkernd hinzu. „Wunderbar.“ Die Landmeisterin war nicht abgeneigt, Wissen in vielerlei Hinsicht auf ihrer Reise zu erwerben. „Wenn Du einmal die Möglichkeit bekommst, einen echten Zwergenschnaps zu probieren, solltest Du das tun.“ Bemerkte sie zu Amalvin gewandt. „Lehrreich ist das stets – und bei Beerenschnaps ist das auch nahezu immer sehr, sehr lecker.“ „Ihr verwöhnt uns, Euer Hochgeboren.“ fügte sie in Richtung des Vogtes an. Dieser lächelte bei dem gehörten Kompliment. „Gastfreundschaft ist uns Angroschim zwar nicht heilig und wir haben keine Göttin, die sie uns lehrt, aber deswegen ist sie uns nicht fremd. Vielmehr gehört sie für uns, die wir an der Oberfläche leben, ganz einfach zum Leben hinzu, ist selbstverständlich.“ Dwarosch, der weiterhin neben Marbolieb saß, fütterte die Geweihte. Es brauchte einiges an Geduld, denn sie konnte nur sehr langsam essen, doch die schien der Angroscho aufzubringen. Viel Hunger hatte die Geweihte indes nicht– bald war es genug, und sie lehnte ihren Kopf kurzerhand an die Schulter des Oberst, schloss die Augen und döste wieder ein, ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht. Topaxandrina, die inzwischen warmen Getreidebrei in der Küche bereitet hatte, hielt Mirla auf dem Arm, nah an ihrem fülligen Busen und führte Löffel für Löffel in den gierigen immer wieder aufklappenden Mund der Kleinen. Mirla schien gewillt, die fremde Frau zugunsten des warmen Essens zu tolerieren, griff nach ihren Haaren und schien über irgendetwas daran deutlich irritiert. Sie sah sich mit großen Augen um, ein Händchen fest um den Löffel gegriffen, fixierte ihre Mutter und Dwarosch und streckte den Löffel mit einem entschlossenen ‚Da!’ nach beiden aus. Die Zwergin lachte. „Ja, da sitzt deine Mutter“, sprach sie amüsiert. „Bis sie wieder gesund ist, werde ich für dich sorgen. Wir werden also miteinander auskommen müssen, Mirlaxa.“ Der dem Kind gegebene Namen brachte wiederum den Oberst zum Lachen. „Fast“, brachte er prustend hinzu und die gelöste Stimmung des Momentes schien allen gut zu tun. „Mirla ist ihr Name.“ Topaxandrina schaute Dwarosch mit erhobener Augenbraue und skeptischen Blick an. „Namen waren noch nie meine Stärke“, gab sie leichthin zu. „Ich finde Mirlaxa aber trotzdem schön.“ Die einzige, der diese Lösung überhaupt nicht behagte, war Mirla. Deutlich energischer streckte sie ihre Hände nach ihrem Ziel aus, zerknautschte ihr Gesicht und erklärte mit erheblich mehr Nachdruck denn zuvor und Unternehmungslust gerunzelter Stirn „Da!!!“, während sie sich in besagte Richtung lehnte. „Ja ja, ich habe dich verstanden. Du hast gewonnen“, lenkte Zwergin wiederum lachend ein und stand kurzerhand auf. Sie schritt zu Marbolieb und Dwarosch herüber und legte Mirla der Geweihten behutsam in den Schoss, um im Anschluss deren Hände um ihr Kind zu falten. Borax rückte sogleich einen Stuhl weiter, so dass sich Topaxandrina zu den beiden setzen und Mirla weiter füttern konnte. Aufmerksam wie ein Raubvogel auf der Jagd achtete die Zwergin darauf, dass Mirla nicht herunterfiel, da Marbolieb in einem halbwachem Zustand dämmerte. Marboliebs Hände um die Kleine hielten sie eisern – sie würde vermutlich eher selbst vom Stuhl fallen, als wissentlich ihr Kind aus den Händen gleiten zu lassen. Mirla dagegen futterte glücklich einen weiteren Löffel des Breis, wand sich wie eine Schlange im Griff ihrer Mutter und schaffte es schließlich, mit einem triumphierenden „Da!!!!“ das Ziel ihrer Mühen in die Hände zu bekommen: den prächtigen Bart des Oberst mit seinen schimmernden, klirrenden Perlen. „Dadada!“ verkündete sie und präsentierte voller Begeisterung ihren Fang, über das gesamte Gesicht strahlend. Der Angroscho schüttelte schmunzelnd den Kopf und knuffte Mirla zärtlich. „Ich habe es doch geahnt. Topaxa“, wählte Dwarosch die Kurzform des Namens der Haushälterin und sah zu ihr auf. „Du wirst deine dicken Zöpfe in naher Zukunft wohl vor der Brust tragen müssen, wenn du dich um sie kümmerst. Vielleicht hilft das.“ „Dado!“ erklärte Mirla triumphierend, hielt mit einer Hand weiterhin Dwaroschs Zopf umklammert und fischte mit der anderen nach dem Breilöffel in Topaxandrinas Hand. Die lächelte und fütterte das Kind weiterhin, auch wenn es einige Verrenkungen von ihrer Seite aus erforderte. „Aber Bartperlen werde ich mir nicht hineinflechten!“ erklärte sie energisch. „Mirlaxa weiß jedenfalls schon ganz genau, was sie will. Du hast einen richtigen Dickschädel, meine Kleine.“ „Den hat sie, ganz ohne Zweifel“, brachte der Oberst mit vor Lachen bebenden Brustkorb hervor. „In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich wohl kaum von Kindern unserer Rasse.“ Mirla hingegen verspeiste den Rest des Breies mit ganz offensichtlichem Gefallen, eine Hand wohlweislich weiterhin in Dwaroschs Bart vergraben. Ein freudiges, breiverschmiertes Strahlen zog sich über ihr Gesichtchen und zeigte ein Kind am absoluten Ziel seiner Wünsche.

Zwergische Weisen

Nachdem sie alle gegessen hatten erhob sich der Vogt. “Ich denke es ist nun an der Zeit euch in eure Zimmer zu entlassen. Boindil”, er blickte zum Krieger hinüber, welcher abseits auf einem bequemen Sessel gewartet hatte. “Geleite du bitte die Landmeisterin und ihren Ritter nach unten. Die Räume zunächst meines Arbeitszimmers sind bereits hergerichtet. Topaxandrina war bereits sehr fleißig, seitdem uns die Nachricht eurer baldigen Ankunft erreichte. Wartet bitte vor dem Lastenaufzug. Wir werden ihre Gnaden herunterlassen zu euch und dann nachkommen.” Die beiden Golgariten betrachteten die Ankündigung mit stoischen Mienen, die wenig über die Erleichterung darüber aussagten, dass ihnen der Punkt ‚Aufzug’ entgehen würde. Während sich also Dwarosch mit Marbolieb auf den Armen, Borindarax, dessen Haushälterin, welche sich Mirlas angenommen hatte und Ramiro in Richtung Küche in Bewegung setzten, führte Boindil Richhild und Amalvin zu einer Wendeltreppe hinter einer versteckten Tür in der Vertäfelung des Salons. Es ging tief hinab. Boindil schritt die Wendeltreppe hinab, deren Verlauf in den Fels getrieben worden war. Während die Wände alle nur grob behauen waren, schienen die Stufen nahezu perfekt eben geschliffen. Eine einzelne Fackel in der Hand des Zwergenkriegers leuchtete ihnen den Weg. Abseits des Lichtkegels lag absolute und fast körperliche Schwärze. Die Golgariten erkannten an mehreren Stellen sich abzweigende Kellerebenen, doch Boindil schritt traumwandlerisch sicher immer weiter nach unten. Eine leichte Beklommenheit ergriff von den Menschen besitz, die sich kaum vorstellen konnten wie viele Schritt Gestein sie nun umfangen mochte und vor allem welches unfassbare Gewicht. Schließlich, sie mochten bestimmt die fünfte Ebene erreicht haben, hielt Boindil inne. “Hier ist es.” Er leuchtete in einen Gang hinein. “Zu eurem Glück hat bereits der alte Kalman hier seine Gäste untergebracht, deswegen ist alles für eure Körpermaße ausgebaut, auch die Treppe. Dies war nicht immer so. Diese Gewölbe sind älter als Senalosch selbst und sie reichen weit hinab, auch wenn sie sich nirgends mit den Stollen Isnatoschs kreuzen. Sie stammen aus der Gründerzeit unseres Volkes.“ Der Zwerg schritt weiter und die Menschen folgten, ständig darauf bedacht, im Schein der Fackel zu bleiben. Nach nur wenigen Schritten blieb Boindil vor einem Loch in der Wand stehen, einem Schacht, das war nur unschwer zu erkennen. Seile verliefen darin von oben nach unten. Rechts und links der Öffnung im Gang waren kleinere Seile, fast schon Fäden befestigt, an deren Enden teilweise Glöckchen hingen. Der Zwerg grinste und zupfte an einem der Fäden. “Dann signalisieren wir ihnen Mal, dass wir angekommen sind.” Richild betrachtete die Fädenkonstruktion neugierig. „Wohin führen diese Leinen?“ „Nach oben und unten“, antwortete Boindil ohne in seinem Tun innezuhalten. „In jedem Stockwerk befinden sich Glöckchen für ‚Auf‘ und für ‚Ab‘. Ich läute gerade letztere, indem ich am entsprechenden Signalfaden ziehe. Dwarosch weiß nun, dass er die Kanzel herablassen kann.“ „Das funktioniert aber nur, wenn ihr an jeder Station einen Wächter positioniert, nicht wahr?“ Eigentlich, doch das sprach die Landmeisterin wohlweislich nicht aus, lohnte sich das System nur für mehrfache Fahrten. Sei es drum – es musste für die Angroschim funktionieren, die hier lebten. Und hoffentlich ihre Glaubensschwester wohlbehalten abliefern. “Mitnichten”, verneinte der Zwerg mit einem leichten Kopfschütteln. “Seht”, Boindil deutete auf eines der Glöckchen. “Sie sind direkt auf den aufeinander verschraubten Metallplatten angebracht, welche als Verbindungsstücke der Fäden der einzelnen Etagen dienen. Dank der filigranen Umlenkrollen ist es möglich das quasi ein Seil alle Etagen durchläuft und es so überall gleichzeitig schellt.”

In einem großen Lagerraum neben der Küche erscholl im selben Moment der hohe Ton einer kleinen, identischen Glocke über dem Schacht, welcher von diesem Punkt, seinem Ursprung, in die Tiefe führte. Sie befanden sich unzweifelhaft in dem Teil des Hauses, welcher im Berg lag. Die Wände waren nicht aus Steinen errichtet, sondern waren Teil des Berges. Es war so weit. Borindarax bat Ramiro sich in die nur zu ihrer Seite offenen Holzkasten zu setzen, welcher im senkrecht nach unten führenden Schacht hing. Der Junge kam der Aufforderung mit leichtem Zögern nach, sah dabei aber wenig glücklich aus. Offenbar war ihm mulmig bei der Sache. Der Vogt erkannte die Bedenken des Almadaners und fand beschwichtigende Worte. „Der Aufzug ist er kürzlich gewartet worden. Beide Flaschenzüge, der zur Führung und der zur Sicherung und alle Tragseile sind in bestem Zustand. Keine Sorge, euch wird nichts geschehen. Der Aufzug ist zwar eigentlich nicht für den Personentransport gedacht, aber wir befördern auch Unmengen an geschlagenem Feuerholz auf diesem Wege nach unten. Glaub mir, das ist bedeutend schwerer als ihr beiden.“ Dwarosch, welcher Marbolieb vor sich auf den Armen trug, setzte sie zum Jungen in die Kanzel, so dass sie mit dem Rücken gegen seine schmale Brust lag. „Halt sie schön fest. Am besten du legst die Arme von hinten um sie herum“, sagte der Oberst. „Wir schließen die Kanzel, bevor wir euch runterlassen. Sie kann also ohnehin nicht herausfallen.“ Ramiro nickte nur, seine Miene war blass, dennoch wirkte er gefasst. Er wollte nicht kneifen, sondern einen tapferen Eindruck machen. Trotzdem schien ihm die Sache nicht geheuer. Marbolieb regte sich, als sie abgesetzt wurde, und murmelte etwas Unverständliches, tastete nach der Begrenzung des Aufzugs und riss die Augen auf, ehe sie den Kopf wieder sinken ließ, zu müde für einen wie auch immer gearteten Protest. „Aber, Dom Dwarosch, muss das sein?“ Ramiro war merklich bleich um die Nase und sah aus, als benötige er selbst einen sicheren Halt. “Du bist jetzt einer von uns”, entgegnete der Oberst im einfühlsamen Tonfall. “Gewöhne dich daran, unseren Gerätschaften zu vertrauen. Ohne sie ist das Leben im und am Berg kaum möglich.” Er lächelte den Jungen an, seine Miene zeigte einen fast väterlichen Ausdruck. „Es dauert nicht lange. Glaub mir, es ist ein tolles Erlebnis und irgendwann wirst du diese Art der Fortbewegung dem Treppensteigen vorziehen. “Nach diesen aufmunternden Worten nahm Ramiro seinen Mut zusammen und schwieg. Sogleich wurden letzte Vorbereitungen getroffen. Borindarax legte die Klappe in die dafür vorgesehenen Aussparungen im Holz und schloss somit die Kanzel. Dann sicherte er die Tür, indem er mehrere Metallriegel umlegte. Als er fertig war, zupfte er an einem der dünnen Seile, so dass die Boindil unten wusste, dass es losging. Dwarosch selbst zog infolge die Zugseile des Flaschenzuges und bewegte somit den Holzverschlag mitsamt seinen Insassen nach unten. Topaxandrina, die die kleine Mirla inzwischen in einem Tragetuch vor ihrer Brust positioniert hatte, stand daneben und drehte ihren Oberkörper sachte hin und her, um das Kind in den Schlaf zu wiegen.

Ohne an die Wände des Schachts zu stoßen erreichte die Kanzel mit langsamer Fahrt ihren Zielpunkt und Boindil signalisierte wiederum durch Läuten einer Glocke, dass die Fracht angekommen war. Mit nur wenigen, scheinbar geübten Handgriffen nahm der Krieger die Tür ab und stellte sie beiseite. Ramiro seufzte erleichtert und lächelte, offenbar froh, heil unten angekommen zu sein. Marbolieb, welche vor ihm und an ihn gelehnt saß, schien wieder die Müdigkeit überwältigt zu haben. Sie schien zu schlafen. Nur sehr sachte bewegte sich ihr Brustkorb auf und ab. Boindil blickte nach hinten zu den Golgariten. „Würdet ihr ihre Gnaden bitte in ihr Zimmer tragen? Ich führe euch hin. Es sind nur wenige Schritte. Seine Hochgeboren und der Oberst werden eine Weile brachen, bis sie bei uns sind.“ Die Landmeisterin trat mit einem resignierten Blick zu dem Aufzug, nahm die schlafende Geweihte entgegen und warf sie sich mit einem wenig damenhaften Grunzen über die Schulter. „Wo geht’s lang?“ erkundigte sie sich bei Boindil. Der Zwerg entnahm die Fackel seiner Halterung, in der sie gehangen hatte, solange er mit seiner Tätigkeit am Aufzug beschäftigt gewesen war und schritt wieder voran. Nach guten vier Dutzend Schritt gingen mehrere Türen von dem Gang ab dem sie folgten. Bis hierhin waren sie einmal abgebogen und hatten mehre, weitere Abzweige passiert. An seinem Ende existierte ebenfalls eine Tür. Diese jedoch war nicht einfach aus Holz wie die anderen, sondern aus Metall. „Hier herein“, wies Boindil auf den ersten Raum zur Linken und stieß die Tür mit der Hand auf, die nur angelehnt gewesen war. „Dieses Schlafgemach ist für die Geweihte und ihre Tochter zurechtgemacht.“ Er seufzte. „Die Krippe war gar nicht einfach aufzutreiben auf die Schnelle. Gegenüber liegt Topaxandrinas Zimmer. Wir dachten, diese Anordnung wäre ratsam, falls das Kind gefüttert oder gewickelt werden muss. Die letzte Tür zur Rechten, zunächst der Räumlichkeiten des Vogts, ist meine. Die anderen Räume könnt ihr nach eurem Belieben belegen. Sie sind alle möbliert, aber ungenutzt.“ Die Zimmer erwiesen sich als relativ karg, aber dennoch gemütlich. Sie waren vier auf vier Schritt in der Grundfläche und es waren etwas mehr als zwei Schritt bis zur Decke. Nahezu eben war auch hier nur der Boden. Wände und Decke waren nur grob behauen. Gleich linker Hand, wenn man den Raum durch eine dicke Holztür mit quietschenden Eisenscharnieren betrat, stand ein auf menschliche Bedürfnisse ausgelegtes Bett aus ineinander gefügten Gussteilen. Darauf lag ein Gestell aus Holz, welches mit einer Polsterung aus Schafswolle bezogen war. Eine Vielzahl von Decken und ein Kissen, ebenfalls mit Schafwolle gefüllt lagen bereit und komplettierten die Schlafstatt. Auf der der Tür abgewandten Seite stand eine große Kleidertruhe und daneben ein einfacher Tisch mit einem Lehnenstuhl. Die Möblierung war einfach, schlicht, schien aber äußerst robust und dafür geschaffen zu sein, Jahrzehnte zu überdauern. Eine Eigenschaft, die dem Wesen der Zwerge entsprach. Soweit unter der Erdoberfläche im Berg war es zwar nicht warm, aber auch nicht unangenehm kalt. Außerdem stand hinter jedem Bett ein gusseisernes Dreibein mit einer Schale darauf, in der einige leicht glimmende Kohlen lagen. „Die Türen haben unten einen breiten Spalt, so dass Licht aus dem Flur hereinfällt, solltet ihr in der Nacht erwachen. Mehr Fackeln wären schlicht Verschwendung”, Boindil zuckte mit den Schultern. Als Zwerg benötigte er ohnehin weniger Licht, um sich zurechtzufinden. “Der Abort ist am Ende des Ganges”, fuhr er fort. “Nehmt einfach die Fackel aus ihrer Halterung an der Wand, wenn ihr dorthin müsst und hängt sie hinterher wieder ein. Wenn der Morgen graut, werde ich euch wecken kommen und nach oben zum Frühstück geleiten.” Er sah die Gäste des Vogts der Reihe nach an, dann wurde seine Stimme eindringlich. “Bitte verlasst diese Ebene nicht ohne mich oder den Vogt und vor allem geht nicht weiter nach unten.“ Unausgesprochen ließ er jedoch, warum er diese Warnung aussprach. Die Landmeisterin ließ Marbolieb mit einem zufriedenen Schnaufen auf ihre Lagerstatt gleiten und rieb sich den Nacken. „Die Kleine bringt der Oberst?“ erkundigte sie sich und ließ ihre Schultern kreisen. Der Zwerg nickte bestätigend. „Er oder Topaxa.“ Die Zimmer waren einem Verlies ähnlicher, als es Richhild lieb war – wenn auch einem besonders gut eingerichteten, nichtsdestotrotz aber einem, aus dem nur schwer zu entrinnen war. „Ich möchte den Oberst nachher gerne noch einmal sprechen.“ Sie musterte Boindil nachdenklich, ehe sie die Frage stellte, die er ihr quasi in den Mund gelegt hatte. „Sagt, was ist weiter unten?“ „Ich werde es Dwarosch ausrichten und ihn zu euch schicken“, bestätigte der Krieger. Dann zuckte er mit den Schultern. „Weiter unten“, wiederholte er lakonisch und mit einem leicht zerknirschten Gesichtsausdruck die Frage der Landmeisterin. „Um ehrlich zu sein weiß ich es nicht genau. Borindarax erzählte mir lediglich etwas von weiteren Ebenen und von einem riesigen Felsendom, welcher so aussehen würde, als sei er nicht von unserer Rasse geschaffen worden. Doch bis dahin gelangt man nicht mehr, zwei Ebenen tiefer ist die Treppe zugemauert, versiegelt worden. Die Warnung hat damit aber nichts zu tun. Sie bezog sich lediglich darauf, dass man sich leicht verirren kann in der Dunkelheit.“ „In Ordnung.“ Die Kriegerin nickt, zufrieden mit der Auskunft. Sie wandte sich zu Amalvin, der mit nachdenklichem Blick die Wände gemustert hatte. „Ich nehme das Zimmer rechts von Marbolieb, Du und Ramiro verteilt euch auf die nächsten beiden. Boindil, zum einen, wie soll ich Euch anreden, zum anderen, kommt unser Gepäck ebenfalls mit dem Aufzug?“ Der Zwerg schien kurz irritiert bei der ersten Frage. „Boindil“, war alles was er dazu zu sagen hatte. Schließlich hatten ihm seine Eltern ihm diesen Namen gegeben, damit man ihm damit anrufen konnte. „Ich kümmere mich gleich um das Gepäck. Auf den Flaschenzugseilen sind Markierungen. Wenn ich ihn von oben herablasse weiß ich daher, wann ich aufhören muss zu kurbeln und das Seil sichern kann. Es dauert keine halbe Kerze, dann habt ihr eure Sachen“, erklärte er weiter.

Grundlagen und Fakten

Ein wenig später, die Gäste hatten gerade jeder einen der Kellerräume bezogen und ihr Reisegepäck erhalten, klopfte der Oberst an die offenstehende Tür der Landmeisterin. „Ihr wolltet mich sprechen.“ Die Landmeisterin war, bequem auf ihrem Bett sitzend, dabei, ihren Rabenschnabel und ihren Dolch zu putzen und zu ölen. Die Teile ihrer Rüstung lagen fein säuberlich auf dem Boden ausgebreitet, in einer Ecke ihre Ausrüstung, die mittlerweile nach unten gebracht worden war. „Nehmt Platz, Herr Oberst.“ Sie legte Waffenöl, Lappen und Rabenschnabel beiseite, stützte ihre Ellbogen auf ihre Knie und betrachtete den muskulösen, stiernackigen Angroscho, der nun schon so geraume Meilen an ihrer Seite marschiert war. „Nächtigt Ihr heute bei Ihrer Gnaden?“ Dwarosch wirkte kurz überrascht ob der Frage und schalt sich im selben Moment noch dafür. Natürlich hatte er mit ihr rechnen müssen. Kurz schien der Oberst darüber nachzudenken, ob und wie er antworten solle, dann räusperte er sich schließlich und wählte einen möglichst sachten Tonfall. „Nein. Doch ich habe Topaxa angewiesen, mehrfach nach ihr und Mirla zu sehen heute Nacht. Wenn sich ihr Zustand bedenkenswert entwickelt, wird sie mich und euch wecken.“ Erst nachdem er dies gesagt hatte ging der Zwerg zu dem einzigen Stuhl herüber, welcher im Raum zu finden war, zog ihn unter dem Tisch hervor und setzte sich. Die Landmeisterin nickte unverbindlich auf die Aussage Dwaroschs. „Glaubt Ihr, Marbolieb hat vom heutigen Tag viel mitbekommen?“ Sie ließ ihrer Frage einige Atemzüge Zeit. Eilig hatte sie zumindest es heute nicht mehr. Die letzte Tagesetappe war eine kurze gewesen, und mit der lebendigen Ablieferung der Priesterin hatte zumindest sie ihr Versprechen erfüllt. Der Oberst seufzte schwer und Richhild sah, wie Resignation kurzzeitig von seiner Miene Besitz ergriff. Zu Boden blickend schüttelte er den Kopf. „Nein, das hat sie wohl nicht.“ Erneut entrann Dwaroschs Kehle ein Seufzer. „Wir sind zum Warten verdammt. Untätig warten. Etwas was ich mein ganzes Leben lang gehasst habe.“ Richild ließ die – berechtigte – Beschwerde des Angroscho erst einmal in der Luft stehen. Geduld war offensichtlich nicht die stärkste Seite des Oberst. Und auch nicht unbedingt in jeder Beziehung das Erinnerungsvermögen, bedachte sie ihr gemeinsames Gespräch, das noch keine Woche zurücklag. „Was wird Marbolieb vermutlich tun, wenn sie in dem fremden Raum allein aufwacht? Er liegt unter der Erde – wie ihre Zelle im Magierturm, an die sich ganz sicher erinnern wird.“ Gab sie zu bedenken. Mit kraus gezogener Stirn und skeptischem Gesichtsausdruck lauschte der Zwerg der Landmeisterin. Mehr als ein Schnauben brachte er jedoch nicht hervor, er wirkte nicht überzeugt, noch nicht. Die Golgaritin strich sich durch ihre Haarstoppeln und legte dann wieder die Arme auf ihren Knien ab, den Oberst weiterhin mit ruhigen Augen musternd. „Ihr könnt nur hoffen, dass sie in einer Ecke landet, bevor sie auf der Suche nach einem Ausgang Bekanntschaft mit der Feuerschale schließt. Ob der Schrecken, in einer Zelle aufzuwachen, jedoch sein muss ... .“ Sie neigte den Kopf. Dwarosch blähte die Wangen und stieß im Folgenden hörbar die Luft aus. „Ihr habt recht, auch wenn ich davon ausgehe, dass Marbolieb weiß, wo sie ist.“ Er lachte trocken auf. „Auf eine Nacht mehr oder weniger auf hartem Boden kommt es auch nicht mehr an.“ Es gab Gründe, warum sie, die Deuterin Bisdariels, irgendwann mit einem Rabenschnabel in der Hand auf dem Schlachtfeld gestanden hatte. „Du bist zu unsensibel. Und zu direkt. Feingefühl fehlt dir ebenso.“ Die Worte ihrer Ordensoberen hallten ihr noch immer in den Ohren. Und woher hätte sich der Zwerg auch mit Seelenheilkunde auch nur ansatzweise auskennen sollen? Geduld war eine der Tugenden, die der Schweigsame überreichlich lehrte. Vielleicht würde sie irgendwann sogar auf den Oberst abfärben. „Ihr werdet hier Eure Verpflichtungen haben, Herr Oberst.“ Und ein warmes Bett nach dieser Reise ganz gewiss ebenso schätzen wie sie. Mit leicht wehmütigem Blick betrachtete sie ihre Lagerstatt, auf der sich mittlerweile in bequemer Entfernung ihre Rüstungsteile gruppierten. „Ich glaube Euch auch gerne, dass es für einen Angehörigen des Kleinen Volkes angenehmere Mitschläfer gibt als eine Menschenfrau – insbesondere in ihrem Zustand.“ Womit wieder diese mit ‚eigenwillig’ noch freundlich beschriebene Verbindung zwischen den beiden im Raum stand. Sie beschloss, diese Frage mit dem gegebenen Fatalismus zu ignorieren. „Wenn Euer Magiewirker ihr nicht zu helfen vermag, dann wird sie sowieso keine fünf Tage mehr durchhalten. Und wenn doch, nehme ich sie gerne mit nach Isenbrück, sobald sie reisefähig ist. Eine Magd für die Kleine findet sich auch dort.“ Es war aller Ehren wert, was der Oberst schon an Selbstaufopferung in die Geweihte gesteckt hatte. Das Bild, wie er ihre Kleine versorgte, würde sie lange nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Mehr konnte – und würde – sie von ihm keinesfalls verlangen. Vermutlich war er auch erleichtert, dass in seiner gewohnten Umgebung wieder der tägliche Dienst erwartete. Das wäre sie in Isenbrück auch gewesen. Sie unterdrückte ein resigniertes Seufzen, dass sich nichtsdestotrotz deutlich auf ihrer Miene abzeichnete. „Lasst mir einen Strohsack in ihr Zimmer legen – ich kümmere mich heute Nacht um sie. Doch wenn das Kind schreit, wecke ich Topaxandrina!“ Letzteres kam entschlossen. Auch Richilds Gutmütigkeit besaß Grenzen. „Nein“, entgegnete der Oberst entschieden. „Eurer Argumentation zur Folge benötigte sie einen Vertrauten, wenn sie aufwacht und das seid mit Verlaub nicht ihr. Über alles Weitere entscheiden wir, wenn es soweit ist. Ich für meinen Teil hoffe auf den Geoden, vertraue seiner starken Bindung zu Sumu.“ Dwarosch wählte einen formellen Ton und auch eine dazu passende Anrede, auch wenn sie beide über diesen Punkt eigentlich schon hinaus waren. „Auf eure anderen Anspielungen werde ich nicht weiter eingehen, Landmeisterin.“ Auch darauf, dass sie ‚Volk‘ gesagt hatte, was falsch war, wollte er nichts erwidern, da es zu nichts führte. „Ich hoffe ihr könnt dies verstehen.“ Dwarosch grunzte widerwillig, selbst unzufrieden mit seinem eher ablehnenden Tonfall. Er wollte Richild nicht vor den Kopf stoßen, dafür hatten sie sich bis hierhin zu gut verstanden und sie wollten am Ende ja beide das gleiche, dass es Marbolieb besserging. Streitigkeiten brachten niemanden etwas. Einmal mehr musste er dies erkennen. Er versuchte einen neuen, erklärenden Ansatz. „Die Götter haben die Existenzen von Marbolieb und mir auf eine Art und Weise miteinander verwoben, die ich nicht verstehe, gegen die ich aber auch nicht aufbegehren kann.“ Der Zwerg sah auf und blickte Richhild nun wieder fest in die Augen. „Anders vermag ich es nicht auszudrücken.“ Richild schüttelte den Kopf. „Ich will Euch nicht als Krankenwächter abstellen, Herr Oberst, wenn Eure Pläne andere sind. Doch sollte Marbolieb nicht allein bleiben – also sagt es mir, wenn Ihr keine Zeit habt.“ Womit das Wichtige ausgesprochen war. Der Rest war Angelegenheit der beiden – wenn ihre Glaubensschwester jemals wieder in die Lage kommen würde, sich derlei anzunehmen. Sie hielt den Blick des Zwergen mühelos stand, mit einer ruhigen, unaufgeregten Überzeugung in ihren Aussagen. „Was auch immer euch beide verbindet – es betrifft sie ebenso wie euch. Habt ihr bemerkt, wie zufrieden und glücklich sie ist, wenn ihr in ihrer Nähe seid? Ihr habt Macht über sie – geht achtsam damit um.“ “Macht?” Dwarosch zog die Stirn kraus ob dieser Wortwahl. Dennoch ließ er es bis auf eine Anmerkung auf sich beruhen. “Wortklauberei ist nicht meine Stärke. Ich weiß um ihre Bindung zu mir, seid dessen versichert. Was ich bereit bin zu tun, um Unheil von ihr und Mirla abzuwenden, habt ihr ja erleben können.” Bei der Erinnerung an die waghalsige Aktion im, auf und am Traviatempel zuckten seine Mundwinkel kurz nach oben. Klarstellen musste er einen anderen Punkt. “Auf Marbolieb acht zu geben verdonnert mich zu keinem Krankendienst. Es ist nur eine Situation, in die es mir schwerfällt, mich hineinzudenken.” Die Lippen des Oberst wurden schmal, als er sie aufeinander presste. “Ich war mein ganzes Leben nur für mich und meine Soldaten verantwortlich. Das ändert sich jetzt. Zumindest so lange, bis Marbolieb wieder gesund ist und ihr Augenlicht wiedererlangt hat. Ihr werdet dennoch schon bald die Gelegenheit haben, an ihrem Bett zu wachen, dann nämlich, wenn ich mit meinen Männern ausziehen werde, die Toten zu bergen.” Dwarosch rang sich zu einem schmalen Lächeln durch. “Ihr seht also, dass wir uns diese Aufgabe teilen können, es ist nicht notwendig, dass wir deswegen streiten.” Leicht zweifelnd strich sich Richild über ihre Stoppelfrisur. „Ich habe nicht vor, mit Euch zu streiten, Dwarosch.“ Sie atmete tief ein und aus. „Es ist eine andere Art Verantwortung, die ihr jetzt tragt – was haltet ihr davon?“ Eine spannende Sache – doch dafür, dass der Kriegsmann noch niemals für ein Kleinkind gesorgt hatte, schlug er sich wacker. „Ich möchte Euch helfen, dass Ihr den beiden helfen könnt. Auch wenn Euch meine Anmerkungen wohl manchesmal nicht schmecken.“ Ein Grinsen huschte über die Züge der Ordenskriegerin, warm und offen und rasch wieder verschwunden. „Wir sollten uns besser zusammenraufen, ehe Marbolieb wieder in der Lage ist, uns den Kopf zu waschen.“ Deutlich klarte die Miene des Zwergen auf, während die Landmeisterin sprach. Am Ende musste er sogar kurz Husten, als ihm die Anspielung zum Lachen animierte. “Das möchte ich möglichst vermeiden”, antwortete er darauf mit einem amüsierten Schmunzeln. “Gut”, befand Dwarosch nach kurzem Nachdenken. “Ich werde versuchen, nicht jede Bemerkung auf die Goldwaage zu legen, beziehungsweise sie als Kritik aufzufassen. Ich weiß ja, dass ich gewisse Defizite in menschlichen Verhaltensweisen besitze. Euch möchte ich bitten, die Dinge direkt beim Namen zu nennen, ohne sie so zu verpacken, dass es mir schwerfällt, den Sinn dahinter zu ergründen. Wäre das ein Konsens in eurem Sinne?” „Das machen wir so.“ stimmte die Landmeisterin zu. Dass sie jemand um mehr Deutlichkeit bat, war in den letzten zwanzig Jahren auch nicht mehr vorgekommen. „Dann mal im Klartext: bleibt an ihrer Seite – vor allem auch nachts. Und damit meine ich: berührt sie. Sie sieht euch nicht. So lange, bis sie sagt, dass es ihr genug ist. Und wenn ich sehe, dass Ihr Marbolieb aus Unbedachtsamkeit das Herz brecht, dann werde ich Euch das rechtzeitig klarmachen, damit ich euch nicht hinterher fordern muss. Einverstanden?“ Das Grinsen hatte sich in ihren Augenwinkeln versteckt. „Einverstanden“, antwortete der Oberst nun wieder mit klarem, energischem Bass, welcher ein auch ein wenig von Erleichterung kündete. Dann schlug sich Dwarosch mit den Händen klatschend auf die Oberschenkel und erhob sich. „Nun, dann werde ich mich mal häuslich einrichten bei den beiden.“ Der bullige Zwerg schritt zur Tür, blieb dann aber noch einmal im offenen Durchgang stehen und drehte sich um. „Ich hoffe das der Berg euch Ruhe gewährt. Manche Menschen verstört seine Präsenz, wenn sie ihm so ausgesetzt sind. Er weckt Urängste in euch, behaupten einige. Uns ist er Hort der Sicherheit, Heimat und ein unbestreitbarer Teil unserer Existenz. Möge Bishdariel über eure Träume wachen.“ Richild nickte und erhob sich höflich. „Über die Euren ebenso.“ Noch immer waren ihr diese Worte aus dem Mund eines Angroscho ungewohnt – aber es war eine durchaus angenehme Erfahrung. Unrecht hatte er mit seiner Bemerkung über den Berg jedenfalls nicht. „Warten wir ab, wie die Nacht wird.“ Erklärte sie mit etwas fatalistischer Stimme. So ungeheuer wohl war ihr angesichts dieser Menge von Stein über ihrem Kopf nicht – doch die hielten nun wohl schon seit Dutzenden Götterläufen, also würden sie auch noch eine Nacht mehr aushalten.

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<a name='Naechtliche_Traeume'></a> Nächtliche Träume

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Eng umschlossen Marbolieb die kalten, feuchten Wände. Modrig und schwer drang der Geruch des unterirdischen Verlieses in ihre Nase und erzählte von qualvoller Enge, Durst, Angst und stinkendem Stroh, während die Wände immer enger rückten, sich in ihre Glieder drückten und langsam, Zoll um Zoll, begannen, sie zu zerquetschen. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen die auf sie einrückende Wand, wohl wissend, dass dies niemals ausreichend würde, sie aufzuhalten, während ihr der Schweiß aus allen Poren rann.

Dwarosch erwachte. Er hatte nur sehr leicht geschlafen, wie als ob er draußen an der Oberfläche unter freiem Himmel geruht hätte. Die antrainierte und durch das Unterbewusstsein umgesetzte stetige Alarmbereitschaft registrierte die Unruhe Marboliebs nur einen Schritt neben ihm schnell. Der Oberst stand auf und beobachtete sie im für ihn ausreichenden Schein der immer noch glimmenden Kohlen unweit ihrer Schlafstatt. Die namenlose und dämonisch verunreinigte Substanz, die ihr gewaltsam eingeflößt worden war, hatte die Geweihte fest in ihrem erbarmungslosen Griff. Ihr Körper litt Qualen. Marboliebs Augenlider flatterten immer wieder unstet, während ihr Körper sich hin und her wälzte. Behutsam trat Dwarosch ans Bett und setzte sich auf dessen hölzerne Kante, streckte die Hand aus uns fühlte ihre Stirn. Die Haut der Geweihten war eisig kalt und trotzdem stand Schweiß darauf. Nachdem er die Decke zurechtgerückt hatte, die Marbolieb teilweise von sich gewälzt hatte, legte Dwarosch sich neben sie und drehte ihren Körper langsam zu sich, immer darauf bedacht. sie nicht zu erschrecken. Er bettete ihren Kopf auf seinen linken Arm, dicht an seiner Brust, während er den anderen um sie legte, um ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln. Marbolieb seufzte im Schlaf, tastete über Dwaroschs Brust und Bart und atmete tief und erleichtert aus. Der vertraute Geruch des Zwergen drang in ihre Nase und sorgte dafür, dass sich ihr Atem und Herzschlag beruhigten. Sicherheit verhieß er, keine kalten, klammen Mauern mehr, sondern ein warmer, lebendiger Leib an ihrer Seite. Sachte strich ihr Atem über seinen Hals, als sie sich an ihn schmiegte und, ruhiger nun, wieder tiefer in den Schlaf glitt. Ihre Hand, mager mit papierdünner Haut über den deutlich hervortretenden Knochen, lag auf seiner Brust, leicht wie ein Schmetterling, ebenso zerbrechlich und ein unmissverständliches Zeichen, wie sehr sie diese Geborgenheit genoss – und brauchte. Dwarosch spürte, das Marbolieb sich entspannte und mit ihr tat er es auch. Er war besorgt und angespannt, doch letzteres wich, als sie sich an ihn schmiegte.

Es fühlte sich seltsam an, immer noch. Ihre Berührungen verwirrten ihn, wühlten etwas in ihm auf, zerrten es hervor, was er lange Zeit tief in sich weggesperrt hatte. Doch trotz schwelender Angst vor dem Unbekannten war es richtig, was sie taten.

Sumus Diener

Am Mittag des nächsten Tages erklang ein langgezogener Hornstoß vom Ausguck des Stadttores. Kurz darauf trat Boindil zu den anderen, welche sich gemeinschaftlich im Salon eingefunden hatten um zu essen. Während Topaxandrina die kleine Mirla fütterte, die Zwergin und Marboliebs Tochter hatten sich offenbar bereits angefreundet, half Dwarosch der Geweihten bei der Einnahme der Mahlzeit. Diese kämpfte mit der Müdigkeit, und zwischen den einzelnen Bissen fielen ihr immer wieder die Augen zu. Auf die fragenden Blicke von Oberst und Vogt erklärte der Krieger knapp: “Der Gebirgsbock ist gesichtet worden. Gegen Einbruch der Nacht wird er hier sein.” An Dwarosch gewandt ergänzte er. “Ich soll euch von Antharax ausrichten, dass das Ehrenbanner fertig zum Auszug ist.” Der Oberst nickte. “Sag ihm, dass sie sich bereithalten sollen. Wir brechen auf, wenn die das Praiosmal seinen höchsten Stand erreicht hat.“ Marbolieb rollte sich auf ihrem Sessel zusammen und schlief wieder ein, obgleich sie den gesamten Vormittag wenig anderes getan hatte. Richild betrachtete die beiden, grinste und streckte die Beine aus. „Ich bin gespannt auf euren ‚Gebirgsbock’.“ Solange sie einen gewissen Abstand zu ihm einhalten konnte, denn so vertrauensselig würde sie gegenüber dem Zauberervolk niemals werden.

Es war bereits dunkel geworden, als ein weiterer Hornstoß vom Isenhager Tor aus erscholl. Auf eben jenen Moment hatten der Vogt und seine Gäste gewartet, hatten den Tag gemeinschaftlich im oberirdischen Teil des Stadthauses des Vogts verbracht. Dieser sah sogleich in Richtung des Oberst, als er das Geräusch vernahm und nickte diesem knapp zu. “Es ist Zeit. Lasst uns runter zum Menhir nach Felsenruh gehen. Dort wird der Gebirgsbock uns erwarten. Um den Stein herum gibt es eine freie Fläche Erde, die ihm die Verbindung zur Erdgöttin erleichtert”, erklärte Borindarax und Dwarosch nickte wissend. Nachdem man sich der Witterung entsprechend gekleidet hatte, ging es los. Der Oberst trug die Geweihte vor sich, welche zwar inzwischen wach war, aber dennoch kaum ein Wort herausbringen konnte, so geschwächt war sie. Auf dem Weg nach unten, den Marbolieb diesmal mit Dwarosch in einer Lore zurücklegte, sahen sie eine kleine, durch Fackeln eingerahmte Prozession, welche sich vom Stadttor gesehen in Richtung Osten bewegte, also in den Stadtteil, welcher zumeist aus Wohnhäusern bestand. Ein wenig später kamen sie am sicher fünf Schritt hohen, wuchtigen Menhir von Felsenruh an. Dieser stand auf einem nahezu kreisrunden Platz, umringt von robusten Steinhäusern – und einem kleinen Zwergenauflauf. Es waren sicher drei Dutzend ausnahmslos Angroschim, welche offensichtlich vom Kommen des Geoden gehört und ihn bis hierher begleitet hatten. Anscheinend gab es Zwerge, die der elementar geprägtem Magie ihrer Brüder nicht rundheraus ablehnend gegenüberstanden. Die Zwerge hatten einen weiten Kreis um den Menhir gebildet, dessen eingehauenen Runen im unbeständig flackernden Licht der Fackeln eine bizarre Wirkung auf den Betrachter ausübten. Ein Kenner der altzwergischen Schriftrunen, des Angram, hätte Zahlen und einzelne Silben darin erkennen, aber keinen sinnvollen Zusammenhang bilden können. Darüber hinaus befanden sich auch vollkommen fremde Runen auf dem Stein. In der Mitte, gleich neben dem Menhir, stand ein kleiner, fast ein wenig gebrechlich wirkender Zwerg in einem weiten, groben und ungefärbtem Wollmantel. Sein langer, weißer Bart war ein wenig struppig und naturbelassen, nicht gebunden, wie bei den meisten anderen Vertretern des kleinen Volkes, welche die Menschen bisher in Senalosch gesehen hatten. Lediglich einige kleine, das Licht reflektierende Kügelchen waren eingebunden. Dies musste Gargamil Gebirgsbock sein. Dies bestätigte auch die Kappe, die er trug, denn daran waren die Hörner des Tieres angebracht, welche ihm seinen Beinamen gaben. Auffällig an dem zumindest alt wirkenden Angroscho waren seine smaragdgrünen Augen und der eiserne Ring um seinen Hals, das Zeichen, das ihn für alle Zwerge als einen Geoden auswies. Die Menge teilte sich, als sie der Fremden, angeführt von ihrem Vogt, ansichtig wurde und ließ die Gruppe hindurchtreten, hin zum Gebirgsbock. Borindarax lächelte und begrüßte den alten Zwergen mit einer warmherzigen Umarmung. “Gargamil, schön dass du so schnell kommen konntest.” Er drehte sich zur Seite und ließ den Geoden auf die anderen blicken. “Dies sind meine Gäste”, erklärte der junge Angroscho und erhob dabei die Stimme, so dass alle Umstehenden ihn verstehen konnten. “Sie haben drüben in Rabenstein eine Dämonenbeschwörung vereitelt, bei der die hier anwesende Geweihte des Raben den Gegenspielern der Götter geopfert werden sollte. Leider wurde sie durch eine Substanz, die sie im Verlauf des Rituals trinken musste, vergiftet, jedenfalls vermuten wir dies als Ursache ihrer abnormalen Schwäche.” Alle sollten wissen was geschehen war. Gerüchte konnten schnell zu einem Problem werden. “Beteiligt waren Mitglieder von Ingerimms Hammers und die beiden Angehörigen des Ordens des heiligen Golgari, die ihr vor euch seht. Leider kamen dabei drei unserer Brüder und auch eine unserer Schwestern ums Leben. Der Oberst wird morgen noch vor Anbruch des Tages mit einem Banner ausziehen, um ihre Körper heimzuholen, auf dass wir sie verbrennen und betrauern können, wie es seit jeher Brauch ist.” Nachdem der Vogt nun auf diese Weise eine offizielle Verlautbarung kundgetan hatte, wandte er sich an Dwarosch und gab ihm ein Zeichen, dass er nähertreten sollten. Dies schloss auch die Golgariten mit ein.

“Ich grüße dich, Gargamil Gebirgsbock”, eröffnete Dwarosch feierlich. “Ich hoffe du kannst Marbolieb, so ist ihr Name, helfen.” Der Oberst schritt weiter bis unmittelbar vor den Geoden und ging mit der Geweihten auf den Armen in die Knie. Dies war das Zeichen, auf das Ramiro gewartet hatte. Er eilte mit gesenktem Kopf vom Kreis der Umstehenden herbei und breitete eine Decke auf dem unebenen und gefrorenen Boden des Platzes aus, so dass Dwarosch Marbolieb darauf ablegen konnte. Ramiro warf dem Oberst und dem Geoden einen vorsichtigen Blick zu und duckte sich zur Seite, darauf bedacht, den seltsamen Zwergen auf keinen Fall zu berühren. Rückwärts und mit kleinen Schritten entfernte er sich in Richtung der beiden Golgariten, bemüht, möglichst wenig aufzufallen. Die ruhigen Augen Gargamils streiften ihn, ließen ihn dann aber in Frieden ziehen. “Sohn des Barbax, Sohn des Dwalin, auch ich freue mich euch zu sehen, auch wenn ich mir einen weitaus schöneren Grund vorstellen könnte, hier zu sein”, eröffnete der Geode in stark akzentuiertem Garethi, so dass die menschlichen Gäste ihn auch verstehen konnten. “Auch ihr seid mir gegrüßt, Ritter des Rabengottes”, blickte er darauf zu den Golgariten. „Ihr ebenso, ehrwürdiges Väterchen.“ Richild neigte den Kopf, und Amalvin tat es ihr gleich. „Ich danke euch, dass ihr euch unserer Schwester annehmen wollt.“ Wohlwollend und die Frage bejahend lächelte der alte Geode, was seine wettergegerbte und durch die Höhensonne gefurchte Haut zu strapazieren schien. “Bringt Feuerholz und bildet damit einen Ring um den heiligen Stein”, gab er darauf mit fester Stimme Anweisung, als wenn es ganz natürlich wäre, dass er es war, der den Ton angab. “Und bringt mir die getrocknete Rinde der Bäume in einem Korb”, vollendete er was er zu sagen hatte. Ein Teil der umstehenden Zwerge eilte davon, darauf bedacht, den Willen des Geoden zu erfüllen. „Feuerholz?“ Amalvin wisperte in die Ohren seiner Landmeisterin. „Will er sie verbrennen?“ Richild zuckte die Achseln. „Feuer reinigt. Schau’ dir den Oberst an – der vertraut ihm.“ Die beiden verfielen wieder in Schweigen, neugierig dem Schauspiel folgend, das sich vor ihren Augen entspann – und das die letzte Möglichkeit ihrer Glaubensschwester darstellte, sich von dem Gift zu lösen, ehe der letzte und größte Heiler sich ihrer annehmen würde.

Nur eine halbe Kerzenlänge später brannte ein weiter Ring aus aufgestellten Holzscheiten um den Menhir. Gargamil, welcher inzwischen Marboliebs Kopf auf seinem Schoß gebettet hatte, griff immer wieder in die ihm gereichten Flechtkörbe und bedeckte die Geweihte nach und nach immer weiter mit großen und kleinen Rindenstücken unterschiedlichster Bäume, bis schließlich nur noch ihr Kopf herausragte. Als dies geschehen war schien er zufrieden mit seinem Werk, denn er lächelte und schloss die Augen. “Verlasst den Kreis”, bat er die Gefährten noch, dann versenkte er sich ins Gebet an die Erdmutter Sumu. Ohne einen wahrnehmbaren Laut bewegten sich die Lippen des Geoden beständig, ohne Unterlass. Zunächst war nichts zu sehen oder zu spüren, keine Auswirkung der vermeintlich gewirkten Magie vernehmbar, doch dann geschah es von einem auf den anderen Moment. Die Veränderung zeigte sich zunächst durch einen rapiden Schmelzprozess innerhalb des Kreises, vom Ring des Feuers, bis hin zum Menhir selbst. Das Eis des Bodens schmolz jedoch nicht nur und wurde vom Boden aufgenommen, sondern schien zum Teil zu verdampfen, denn leichter Nebel stieg auf. Doch dies war nur der Anfang. Als der dünne, weiße Schleier sich verzogen hatte sprossen unzählige Triebe aus dem Boden. Ihre Zahl nahm mit Nähe zum Steinriesen zu, so dass in seiner Nähe bald kein brauner Boden zu sehen war. Marbolieb, welche immer noch unbeweglich unmittelbar neben dem Menhir lag, wurde von Pflanzenranken eingeschlossen und es war nur den bestimmenden Handbewegungen des Geoden zu verdanken, dass ihr Kopf ausgespart wurde, denn wenn immer eine Ranke diesen Weg wählen wollte, lenkte er sie traumwandlerisch in eine andere Richtung. Auf das Wachstum folgte die Blüte, ein wahres Farbenmeer inmitten der weißen Kälte und der steinernen Bauten der Stadt. Der Höhepunkt des Rituals schien erreicht und Marbolieb sog mit einem Aufbäumen ihres Körpers die von Blütenduft schwangere Luft in ihre Lungen ein, als würde sie ertrinken. Ein Moment der Klarheit ergriff von ihr Besitz und ließ sie das wahre, unverfälschte, reine Leben spüren, etwas was keinem auf Dere wandelnden Wesen auf normalem Wege zuteilwerden konnte, denn die Zeiten der elementaren Reinheit waren seit Zeitaltern vergangen. Die Zwerge, die dem wundersamen Naturschauspiel ungläubig zugesehen und ein Stück in Richtung der begrenzenden Häuser zurückgewichen waren, immerhin wirkte Magie, das war jedem anwesenden klar, fingen an in ihrer Muttersprache zu beten, als es vorbei war. Unzweifelhaft konnte man immer wieder den Namen der Erdmutter Sumu heraushören, die offensichtlich eine kleine Anhängerschaft in Senalosch besaß. Marbolieb spürte, wie die Kraft der Erdmutter ihren Körper durchdrang, jede Zelle ausfüllte und sie mit derart machtvollem Leben erfüllte, das es bis in ihre Finger- und Zehenspitzen drang und ihren gesamten Leib vibrieren ließ. Tief sog sie die Luft in ihre Lungen, spannte ihre Muskeln und schloss ihre Finger um das dichte Grün. Die Ranken fielen von ihre ab, während sie verwirrt durch die warmen, blühenden Pflanzen tastete. Eine kleine, weiße Ackerwinde wand sich um ihren Finger, als sie die Hand an ihr Gesicht führte und den flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Duft der zarten Blüte einsog. So viel Leben. Und doch so viel Stille. Ein Schweigen, durchsetzt von dem Atem und Rascheln dutzender Wesen, fast zu spüren die vielen Blicke. Warm und lebendig durchströmte sie die Kraft der Erdmutter, heilte, was verwundet und bloß war und füllte ihre Glieder mit Wärme und Leben. Warm war der Schoß des alten Geoden unter ihrem Kopf, eine Verbindung zwischen ihr und der alten, machtvollen, ungebremsten Kraft, die aus dem Leib Sumus floss, gelenkt und gerichtet durch die Kraft des weisen Zwergen. Tief atmete sie ein, raffte sich zusammen und versuchte, sich aufzusetzen, noch immer erfüllt von der Kraft der Erdmutter. Abseits des Geschehens registrierte Dwarosch, der dem ganzen Schauspiel aufmerksam, aber mit angeborener Scheu beigewohnt hatte, die Regung Marboliebs. Mit eiligen Schritten durchmaß er sogleich den Kreis des aufgeblühten Erdbodens und ließ sich neben Marbolieb auf die Knie fallen. Behutsam griff er unter Kopf und Schultern und half ihr sich aufzusetzen. Die Geweihte schlug die Augen auf, doch es blieb dunkel. Sie lehnte ihren Kopf auf den muskelbepackten Arm des Oberst, atmete tief seinen vertrauten Geruch ein und tastete nach den Händen Dwaroschs und des alten Druiden. Einige Atemzüge lang schwieg sie und genoss die Kraft, die ihre Glieder durchströmte – und das erste Mal seit Tagen, dass sie keine Schmerzen verspürte. „Ich danke euch.“ Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum bis zu den Ohren der beiden Zwerge trug. Dwarosch indes begriff sofort, dass Marboliebs Augen die seinen nicht festhalten konnten. „Sie kann noch nicht wieder sehen“, entrann es ihm erschrocken, als er den Kopf wandte, um den Gebirgsbock fragend anzusehen. Der alte Angroscho schaute bekümmert drein, seine Stimme jedoch kündete von Hoffnung. „Gib ihrem Körper Zeit, sich zu erholen. Sie wird leben. Kein Gift ist mehr in ihr, das versichere ich dir. Darüber hinaus, so stark wie in diesem Moment, pulsierte die Kraft der Erdmutter nur unmittelbar nach ihrer Geburt in ihrem Leib. Wenn sie, ihr Geist, wieder dazu bereit ist, wird sie auch wieder sehen können. Hab’ etwas Geduld.“ De Oberst seufzte, wieder diese leidige Tugend, die ihm so fremd war. Er zwang sich dennoch zu einem Lächeln. „Danke, Gebirgsbock. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich hätte tun sollen.“ „Ich habe nur das getilgt, was nicht hierher gehört, Sohn des Dwalin. Auch wir bekämpfen die Widernatürlichen, wo wir können“, erwiderte Gargamil. „Ich sehe die kommenden Tage noch einmal nach ihr. Nun sieh zu, dass sie viel trinkt und isst, sie muss etwas zusetzen. Lass ihr Essen salzen, dann kann ihr Körper Wasser binden, und versuch’ es mit reichlich Hülsenfrüchten und halbgarem, dunklem Fleisch, das ist ebenfalls in ihrem Sinne.“ Nickend quittierte der Oberst die Worte des Geoden, als dieser sich ächzend erhob und Dwarosch die Hände zum Abschied auf die Schultern legte. Marbolieb versuchte verwirrt, die jähen Bewegungen hinter ihr zu verstehen, als der Geode auf die Beine kam, entsann sich dann aber eines Besseren und schlang ihre Arme fest um den Hals des Oberst, legte ihren Kopf an seine Schulter und hoffte einfach, dabei nicht zu straucheln.

Ohne Mühe hob Dwarosch die zarte Gestalt hoch, die sich an ihn klammerte und schritt aus dem Kreis heraus. Sogleich drängten andere Zwerge zu dem Geoden, manche nur um ihn zu begrüßen, einige aber auch, weil sie ein eigenes Anliegen vorbringen wollten. Der Oberst nickte den Golgariten und Borindarax zu, als er sie passierte. „Gehen wir“, sagte er knapp und schlug schweigsam den Weg zurück Richtung Isarnon ein. Marbolieb hielt sich fest, grub ihr Gesicht in die Kleidung des Zwergen und genoss die Wärme und Kraft, die er ausstrahlte, ihr ganzes Wesen erfüllt von der ursprünglichen Lebenskraft, die wie ein Frühlingsbach durch sie hindurchgeströmt war und noch immer vibrierend und voller Energie in ihren Gliedern verharrte. Und schwieg, den langen Weg über, ebenso wie ihr Begleiter, erleichtert, verwirrt und zunehmend besorgt, während mit der hereinbrechenden Nacht der eisige Firunswind auffrischte, an ihrer Kleidung zog und von einer froststarren Eisnacht erzählte, die Land und Volk gnadenlos der Macht des Grimmen Jägers aussetzen würde. Richild nahm am Rande wahr, dass Dwaroschs Lippen sich stetig bewegten, ohne jedoch ein hörbares Wort zu formen. Dennoch war sie davon überzeugt, dass er betete. Sein Blick war stur geradeaus gerichtet, in Richtung ihres Weges. Zurück im Haus des Vogtes am Hang des Berges trug Dwarosch der Haushälterin auf, reichhaltige Suppe und viel Tee zu kochen, bevor er Marbolieb zurück auf ihr Zimmer trug und sie ins Bett legte. Er füllte die Feuerschale mit neuen Kohlen auf und holte einen brennenden Holzscheit aus dem Kamin im Gemach des Vogtes, um sie zu entfachen. Marbolieb drehte sich zu der Geschäftigkeit des Oberst, lauschte in seine Richtung und versuchte auszumachen, was er denn tat. Die sorgenvollen Falten auf ihrer Stirn verhehlten ihre Gedanken nicht, als sie auf eine Pause in dem Tun wartete, die schließlich, trotz den besten Bemühungen des Angroscho, irgendwann eintrat. „Dwarosch, was ist?“ fragte sie mit leiser Stimme, die rau war von Besorgnis, den Erlebnissen des Tages und vom langen Schweigen. Mühsam stützte sie sich auf einen Ellbogen und versuchte der Dunkelheit irgendeine Antwort zu entlocken. Das erste was sie vernahm war ein tiefes, schwermütiges Seufzen, zu dem sie sich die Miene nur allzu gut vorstellen konnte. Marbolieb kannte ihn mittlerweile ziemlich gut und bei solchen Regungen war seine Mimik stets ehrlich. Es dauerte, bis Dwarosch mit einer rauen, für ihn ungewöhnlich leisen Stimme antwortete. „Dein Augenlicht“, er vollendete den angefangenen Satz nicht, sondern setzte nach erneuter, kurzer Zeit der Stille neu an. „Ich bete, dass es in Ordnung kommt. Du sollst doch deine Tochter groß werden sehen.“ „Dwarosch.“ Nicht ganz so ruhig wie sonst war die Stimme der Priesterin – Erleichterung lag darin und etwas anderes, dass Verwirrung hätte sein mögen – oder Unverständnis. Sie streckte eine Hand in die Richtung, in der sie den Oberst vermutete. „Komm zu mir“, bat sie. Mit leicht zögerlichen Schritten überbrückte der Zwerg die kurze Distanz zum Bett und setzte sich darauf. „Ich weiß, ich sollte dankbar sein, dass du von den Auswirkungen des Giftes geheilt bist, dass du lebst, doch mag ich nicht daran denken, was geschieht, sollte sich Gargamil irren, solltest du dein Sehvermögen nicht zurückerlangen.“ „Ach, Dwarosch ...“ Marbolieb tastet nach seinem Gesicht und legte ihre Hand vorsichtig auf seine Wange. „Ohne dich würde ich nicht erleben, wie Mirla aufwächst.“ Sie lächelte versonnen. „Ich bin so froh, dich an meiner Seite zu wissen. Wie sollte ich da über etwas Unwichtiges wie Augenlicht klagen?“ Sanft strichen ihre Fingerspitzen einige vorwitzige Haare von der Schläfe des Zwergen. „Es wird sich alles finden.“ Sie schwieg einige Atemzüge lang, ihre ruhige Hand eine leichte, warme Liebkosung auf seiner Haut. „Ich könnte in ein Kloster gehen. Auch wenn ich Mirla dort nicht mitnehmen kann.“ Die Priesterin verstummte und Betrübnis glitt über ihre Züge, als sie den Kopf senkte. „Ich möchte dir nicht zur Last fallen, Dwarosch.“ Ihre Stimme wurde leise und traurig. „Und doch bin ich dir unendlich dankbar, dass du uns aufgenommen hast.“

Behutsam legte der Zwerg der zerbrechlichen Gestalt seine schwielige Hand in den Nacken und zog sie vorsichtig an sich heran, so dass ihr Kopf an seiner breiten Schulter lag. „Weder du noch Mirla seid eine Last für mich“, sagte Dwarosch entschieden, nur um dann einen sanfteren Ton anzunehmen. „Hier habt ihr so lange ein Zuhause, wie du es willst, Marbolieb. Lass ab von dem Gedanken, dass Distanz einen von uns vor irgendetwas bewahren könnte. Die Götter haben unsere Lebenswege miteinander verwoben. Großes haben wir gemeinsam durchgestanden und erreicht, seitdem du mir das erste Mal begegnet bist. Ich erkenne dies für mich als Wahrheit an und werde es nicht länger anzweifeln oder hinterfragen. Denke darüber nach, dir in Senalosch eine Existenz aufzubauen. Du wirst auch hier eine Gemeinde finden, wenn die Zeit reif ist. Ein Schrein existiert schon und die Menschen aus den Bergen knien bei jedem Besuch in der Stadt vor ihm nieder. Senalosch wächst und wird auch Platz für einen Tempel des Schweigsamen bieten.“ Marbolieb schloss die Augen, atmete tief aus und legte ihre Arme um den massigen Nacken des Zwergen. Er meinte das großherzige Angebot wirklich ernst. Entspannt lehnte sie ihre Wange an seine muskelbepackte Schulter und schmiegte sich an seinen kräftigen, warmen Leib. „Ich werde nicht weglaufen.“ Ein glückliches und argloses Lächeln spielte um ihre Lippen und ihr Gesichtsausdruck war offen und bar jeder Maske. „Irgendjemand muss schließlich auf dich aufpassen, Herr Oberst.“ Notgedrungen lachte Dwarosch kurz auf und musste auch unweigerlich schmunzeln. Das, „oh ja, das musst du“, kam dann auch in einem eher humorvollen, aber dennoch nicht weniger warmen Ton. Längere Zeit saßen die beiden eng aneinandergeschmiegt und genossen die Nähe des Anderen und den Frieden des Momentes, feierten, dass sie überlebt hatten, auf ihre stille Art und Weise.

Gestört wurden sie nur noch einmal, als Topaxandrina das Essen brachte. Marbolieb merkte erst jetzt, wie hungrig sie war, da sie die bereiteten Speisen roch. Ihr Appetit jedenfalls war groß und so aßen sie, Mirla und Dwarosch, bevor sie sich endgültig zur Ruhe begaben. Die Nacht nach ihrer so wundersamen Genesung sollte für Marbolieb eine weitaus angenehmere werden, als es die erste gewesen war. Absolut war die Stille im Inneren des Berges. Dies war die Konsequenz der Abwesenheit jeglicher Geräuschquelle. Die drohende, ebenso vollumfängliche Dunkelheit, sollte die Fackel auf dem Flur erlöschen und sie somit weit von der rettenden Oberfläche entfernt hilflos zurücklassen, lag wie ein beständig drohendes Raubtier auf der Lauer. Doch für Marbolieb war all dies tröstend. Stille und Dunkelheit waren ihr willkommen. Sie wusste um die Anwesenheit der anderen, auch um die ihrer Tochter, sie spürte sie fast körperlich. Sie tastete neben sich, von wo ein tiefes, regelmäßiges, beruhigendes Brummen erklang. Ihre Fingerspitzen fanden den kunstvoll geflochtenen Bart des Zwergen, seine Wange und seine Schulter. Marbolieb seufzte im Halbschlaf erleichtert auf, drehte sich zu ihm und legte ihre Hand auf seine Brust, ehe sie wieder tiefer in die Arme des Schlafes glitt.

Der Berg behütet seine Kinder, das hatte Dwarosch einst zu ihr gesagt und in diesem Moment wusste sie, was er gemeint hatte, fühlte sich als eines von ihnen und schlief tief, fest und wohlbehütet.

Abschied und Aufbruch

Der Abschied stand bevor und auch wenn es nicht für lange sein würde, so war der Zeitpunkt kein günstiger. Gerne wäre Dwarosch bei Marbolieb geblieben, um sie weiter zu umsorgen und ihre Genesung zu verfolgen, doch galt es die Gefallenen nun endlich heimzuholen, um ihren Angehörigen eine würdige Bestattung zu ermöglichen. So forderte es der Brauch. Stolz hatten sich alle in Senalosch stationierten Banner von Ingerimms Hammer vor dem Isenhager Tor aufgebaut, als die Nilsitzer Berghörner erschollen und Antharax die Reihen abschritt, um die Soldaten zu begutachten. All das sah der Oberst nur aus der Ferne, von einem Aussichtspunkt in unmittelbarer Nähe zum Haus des Vogts, weit oberhalb der sich ihm bietenden Szenerie. Er stand neben Marbolieb, die er untergehakt hatte, um sie bis hierhin zu führen. Dwarosch trug bereits seine Rüstung und einen dicken Fellüberwurf. Die Landmeisterin und Amalvin waren ebenfalls mitgekommen, hielten aber nun etwas Abstand. Andragrimm, der bei den beiden Golgariten stand, hielt derweil Rucksack, Schild und Spieß des Oberst parat für den bevorstehenden Aufbruch. „Es dauert mich, dass ich dich nun für einige Tage verlassen muss“, begann Dwarosch mit warmer Stimme. „Borindarax und die anderen werden sich um alles kümmern, bis ich wieder da bin. Tu mir den Gefallen und versuche gut zu essen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst.“ Marbolieb nickte schweigend und stützte sich schwer auf die Schulter des Oberst. Dwarosch spürte, wie ihre Knie zitterten – vermutlich war der Weg für sie doch so einige Schritte zu weit gewesen. „Ich werde auf Dich warten.“ Sie neigte den Kopf, so dass ihr Atem über seine Schläfe kitzelte. „Wie lange wirst Du fort sein?“ „Das ist leider schwer zu sagen. Du weißt ja selbst wie sehr einem das Wetter in den Bergen zusetzen kann. Allerdings sind wir entsprechend vorbereitet und wissen in etwa wo wir suchen müssen. Dennoch wird es nicht einfach werden. Suchhunde werden uns ebenso begleiten wie Lastentiere und Schlitten.“ Dwarosch griff nach Marboliebs Hand und drückte sie sanft. „Wenn ich heim komme, möchte ich von dir eine feste Umarmung zur Begrüßung.“ Er wandte sich der Geweihten zu und nahm sie zum Abschied in den Arm. Marbolieb seufzte und legte für einen Atemzug lang ihre Wange auf seinen Scheitel. „Pass auf dich auf, Dwarosch.“ Ihr Atem strich durch sein Haar, während sie ihre Arme um ihn schlang, bis sie schließlich widerstrebend die leise Berührung wieder löste. Sie strauchelte und hielt sich mit beiden Händen an den kräftigen Schultern des Zwergenkriegers fest. Die Geweihte rang um ihre Fassung, legte dem Oberst tastend eine Hand auf den Scheitel, schloss die Augen und atmete tief durch. „Mögen die Zwölfe Dich auf Deinem Weg behüten und Dich wohlbehalten wieder zurückführen.“ Mehr als ein von rauer Stimme gekennzeichnetes „Danke“, brachte Dwarosch nicht mehr hervor. Dann sah er auffordernd und wiederum voller Sorge in Richtung der anderen. Dies war wie ein Zeichen für die Golgariten. Richhild und Amalvin traten näher. „Ich möchte mich noch einmal für eure Hilfe bedanken“, setzte Dwarosch etwas zunächst steif an. „Wenn ich mit meinen Männern zurückkomme und die Gefallenen verbrannt sind, wird diese Schreckensgeschichte ihren Abschluss finden. Ich lade euch ganz herzlich ein auf uns zu warten und die Trauerzeremonie mit uns zu begehen. Genießt die Gastfreundschaft meines Freundes. Ich wette, in Eisenbrück erwartet euch dieser Tage keine außergewöhnliche Aufgabe.“ Der Zwerg lächelte. „Der Ewig Schweigsame mit Euch, Landmeisterin und auch mit dir Amalvin.“ Die beiden Ritter nickten. „Wir werden warten.“ Ein kurzes, ironisches Lächeln flackerte über die Augen der Landmeisterin, als sie neben den Zwergen trat, und mit einem „Ich bin es, Schwester, alles gut.“ Marbolieb umfasste und sich einen Arm der zierlichen Priesterin über die Schultern legte. „Ein gutes Gelingen Euch, Herr Oberst.“ Nachdem sich der Zwerg vergewissert hatte, dass die Geweihte in die Obhut der beiden Rabenritter übergegangen war, nickte er Andragrimm knapp zu. Der breitschultrige Krieger, der auf eben eine solche Regung gewartet hatte, trat näher und reichte Dwarosch seine Ausrüstung. Nachdem der Oberst diese angelegt hatte, hieß es nun endgültig Aufbruch.

Widerhall vergessener Zeiten

Vier kurze, dunkle Tage waren ins Land gezogen, seitdem das Banner Soldaten unter Dwarosch und Antharax die Stadt verlassen hatten, um die Toten des Regimentes zu bergen. Firun hatte, zumindest was Senalosch betraf, seiner milden Tochter Ifirn Platz gemacht. Die Schneeschmelze hielt an, zumindest tagsüber. Was nicht ausschloss, dass es des Nachts Neuschnee gab. Das allgegenwärtige Weiß jedenfalls war nicht gewichen. Und dennoch war das Klima des Boronmondes mild für den Isenhag. Es war wie ein tiefes Atemholen, als wartete der frostige Grimm des Winters auf den rechten Zeitpunkt, mit all seiner Macht loszuschlagen, um alles Leben mit seiner Kälte zum Erliegen zu bringen. Marboliebs Körper hatte die verstrichene Zeit genutzt. Die Geweihte hatte viel geschlafen, reichlich dem guten Essen Topaxandrinas zugesprochen und auch an die Ziegenmilch hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Ihre im Breialter befindliche Tochter, die kleine Mirla, kam mit der zwergischen Haushälterin immer besser zurecht, was das Zusammenleben deutlich vereinfachte, denn das Augenlicht der Geweihten war noch immer nicht zurückgekehrt.

Die beiden Golgariten, die Landmeisterin Richhild von Moorbrück und der Rabenritter Amalvin, hatten die freie Zeit in der durch zwergisches Leben geprägte Stadt verwendet, um sich die Besonderheiten, das außergewöhnliche Senaloschs, anzusehen. Darunter fiel nicht nur der kolossale, gemeinsame Angrosch- und Ingerimmtempel mit dem Schrein Simias am Fuße des Berges, den sie bereits am ersten Tag passiert hatten, sondern auch das große Viertel der Handwerker mit den Eisengießereien, den Hochöfen und Hämmerwerken, der große Warenmarkt, die Baustelle des unterirdischen Kortempels, aber auch nicht zu vergessen die Wirtshäuser - Obaloschs Bierstübchen, Bobaldurs Krug und der 'betrunkene Schrat', in denen sie eingekehrt waren.

So war es am frühen Morgen des fünften Tages, als die Gäste des Vogts gemeinsam mit diesem beim gemütlichen Frühstück beisammensaßen, als Boindil in die gute Stube platzte und von seinem Temperament anscheinend selbst etwas überrascht innehielt und sich entschuldigte. “Verzeiht, Hochgeboren. Ich wollte nicht unhöflich sein und euch stören.” Borindarax jedoch lächelte den Krieger, den er mehr als Freund denn als Untergebenen betrachtete, an. “Ich sehe ja das es wichtig ist. Nur heraus damit”, forderte der Vogt. “Eine Brieftaube erreichte die Stadt im ersten Licht des Tages. Die Soldaten, die ihr nach Sturzenstein geschickt habt, haben eine Kaverne am Steilweg gefunden, welcher hinab zum Anleger führt. Doch leider nicht nur das.” Boindil machte eine Pause, was Borax dazu bewegte, eine wedelnde Handbewegung zur vollführen, so dass Boindil fortfuhr. “Es existiert ein verschütteter Durchgang in ein altes Heiligtum oder gar Mausoleum, so genau weiß man dies bisher nicht. Jedenfalls sind die Männer eigenmächtig in die Kellergewölbe vorgedrungen und haben eine Vielzahl von Skeletten gefunden.” Er schnaubte verächtlich. “Erst dies hat sie dazu bewegt, von ihrem Handeln abzulassen und Nachricht zu schicken.”

Der Vogt schüttelte seufzend den Kopf über diesen Übereifer. Dann erklärte er seinen Gästen kurz das Gehörte, damit sie es in einen größeren Kontext bringen konnten. “Wir erhielten im letzten Mond einen Bericht aus Sturzenstein. Einige der Dorfbewohner wollen gesehen haben, dass wiederholt kleine Boote im Altarm des Großen Flusses angelegt haben. Wir vermuten, dass es sich dabei um Piraten handelt. Gab es bestätigte Sichtungen von Flusspiraten, oder haben die Männer andere Anhaltspunkte gefunden?”, hakte der Vogt nun wieder bei Boindil nach. Dieser, so an den ursprünglichen Grund der Mission der Soldaten erinnert, sah kurz betreten drein. “Das hatte ich fast vergessen“, sagte er etwas kleinlaut. „In der Kaverne befindet sich eine Unzahl an Kisten und diverse Stoffballen, Diebesgut. Es muss so sein.” „Unschön.“ Die Landmeisterin streckte ihre Beine aus und genoss die Ruhe der Guten Stube. „Und ihr meint, dieses Kroppzeug treibt sich selbst im Winter hier herum?“ Bei Eisgang war der Große Fluss doppelt gefahrvoll, und die Lastkähne der Händler lagen im Winter üblicherweise wohlvertäut in ihren Heimathäfen – normalerweise ein guter Grund für einen Piraten, sich nicht allein am Fluss die Finger abzufrieren. „Waren es menschliche Gebeine?“ Sprang sie zum nächsten Gedankengang. Der Vogt war es, der zunächst antwortete. „Ob sie jetzt noch aktiv sind möchte ich ebenfalls bezweifeln. Das Eis macht die Flussschifffahrt sicher zu einem riskanten Unterfangen. Jedoch möchte ich meinen, dass diese Verbrecher zu allem imstande sind und man sie ganz sicher nicht unterschätzen sollte. Immerhin wird man ihrer seit langer Zeit nicht Herr und sie befahren den Großen Fluss noch immer, obwohl jeder weiß, dass sie da sind. Das liegt sicher nicht daran, dass sie schlechte Segler sind.“

Nach seiner Ausführung, die durchaus als Kritik an der Arbeit der Flussgarde angesehen werden konnte, sah Borax fragend und auffordernd zugleich zu Boindil herüber, der inzwischen wieder die Ruhe selbst schien. Der Krieger nickte bestätigend und kam mit dieser Geste auf die Frage der Landmeisterin zurück. „Ja, menschliche Skelette und altertümliche Rüstungsteile, sowie Waffen. Zudem gibt es wohl überall Ornamentik, die Meeresgetier abbildet, aber auch seltsam verschlungene Runen, die jedoch ihren Ursprung weder im Angram noch im Rogolan haben. Mehr stand nicht in der Nachricht“, führte Boindil die Detaila aus, die er erfahren hatte. Dass ihr das plötzliche und unzeitgemäße Tauwetter alles andere als gefiel verschwieg Richhild. Sie wusste, wie einsam ihre Glaubensschwester in der ungewohnten Umgebung war und wie sehr sie noch damit kämpfte, mit ihrer eigenen dauerhaften Dunkelheit auszukommen. Den Gedanken, dass diese Wärmeperiode im Gebirge Lawinen und Muren bedeuten würde, musste sie der Almadanerin nicht eingeben. Eine Wanderung in den Bergen hätte die Landmeisterin lieber auf eine nähere Zukunft verschoben, wenn der Frost wieder sicher war und das Land im Griff hatte. „Wie weit ist es nach Sturzenstein?“ „Wir können heute Abend dort sein, wenn wir uns beeilen und das Wetter uns gewogen ist. Es geht fast ausschließlich gen Firun, durch tiefe Wälder bis zur Opferschlucht. Doch es gibt Wege, welche die Holzfäller und Köhler mit ihren Wagen nehmen, wenn sie nach Senalosch kommen. Wir werden sehen, ob sie passierbar sind. Die Natur ist ungezähmt zwischen Eisenwald und Ingrakuppen. Allen voran das Wachstum von Pflanzen, Sträuchern und Bäumen ist ungeheuerlich. Die Landbevölkerung behauptet, es habe etwas mit den Waldschraten zu tun, die in Nilsitz und Wedengraben hausen. Aber auch Steinschrate, Trolle, gibt es hier.“ Am Ende seiner kurzen Ausführung angekommen wandte sich Borindarax abrupt wieder an Boindil. „Lass’ die Kutsche herrichten und die Kufen montieren. Wir brechen in einer Stunde auf.” Er sah auffordernd in die Runde seiner Gäste. “Ich hoffe doch sehr ihr begleitet mich”, fragte er voller Begeisterung. “Wenn es eine Grabstätte sein sollte, dann brauche ich ohnehin fachkundigen Beistand.”

„Gern, Euer Hochgeboren.“ Das unternehmungslustige Blitzen in den Augen der Landmeisterin sprach Bände, als sie sich an Amalvin wandte. „Pack’ alles Nötige zusammen.“ Der schaffte es mit der Übung langer Jahre, einen aufkommenden Seufzer zu unterdrücken, erhob sich mit einem höflichen Nicken zu Borindarax und machte sich daran, die vielen – zu vielen. Er mochte Bauwerke, auch große. Aber dies hier definierte ‚Keller’ neu. – Stufen zu ihren Gemächern hinabzugehen. Richild wandte sich zur Marbolieb, die ihre begeistert mit einem Löffel auf dem Tisch trommelende Tochter auf den Knien hielt. Der Platz vor ihr sah aus wie ein Schlachtfeld. Ein fröhliches. „Du bleibst am besten hier, Schwester. Mit etwas Glück sind wir morgen oder übermorgen wieder zurück. Traust Du Dir zu, alleine zu bleiben? Ansonsten lasse ich Amalvin hier.“ „Geht nur.“ Marbolieb strich über den Kopf ihres Kindes, das sich an ihrem Ärmel festhielt und begann, sich dessen Saum in den Mund zu stopfen, während es über beide Backen strahlte. „Den armen Amalvin muss ich nicht mehr als nötig plagen – und ich habe Topaxandrina zur Gesellschaft.“ Dass sie die bedauernswerte Haushälterin längst über Gebühr in Atem hielt – über ihre eigentlichen Aufgaben hinaus – das war eine ganz andere Sache. Borindarax klatschte enthusiastisch in die Hände. „Prima! Boindil, wir nehmen Andragrimm mit und sag Atosch und Roglamox ebenfalls Bescheid. Auch sie werden und als unsere Bedeckung begleiten.“ Der Angesprochene nickte nur knapp zur Antwort und enteilte dann dienstbeflissen. Nicht viel später war die Gruppe war bereit zum Aufbruch. Höflich hatte Marbolieb ihre beiden Geschwister im Glauben verabschiedet und zugehört, wie sie polternd und energisch und voller Tatendrang verschwanden. Etwas verloren wartete sie, bis Topaxandrina den Tisch – und genau genommen auch sie – abräumte. Sie folgte ihr samt Kind in die Küche, entschieden der wärmste und auch der gemütlichste Platz im gesamten Haus. Der im Augenblick nach frischem Nusskuchen duftete, der gerade aus dem Ofen kam. „Habt Ihr irgendetwas, mit dem ich euch helfen kann, Topaxandrina?“ Untätig herumzusitzen, während um sie herum die Haushälterin eine gewaltige Menge Mehrarbeit hatte, wollte Marbolieb nicht behagen. „Auch wenn die Herrschaften“, die alte Zwergin betonte das letzte Wort etwas hochtrabend und leicht überspitzt, „nun ausfliegen, müssen wir dennoch dafür sorgen, dass der Ofen nicht kalt wird. Und da die Wachen des Widdertores nach ihrer Wache hierher zum Essen kommen, haben wir eigentlich immer etwas zu tun.“ Eine kurze Pause entstand, in der die Geweihte hörte, wie Scharniere quietschten und Schüsseln bewegt wurden. „Weißt du eigentlich, wie ein deftiger Bierbrotzopf bereitet wird? Bei dem Teig könnte ich deine Hilfe gebrauchen.“ „Ich kann Geschirr spülen, Wäsche waschen und den Boden schrubben.“ Die zierliche Priesterin wandte sich in die Richtung, in der sie die Stimme der Zwergin hörte. „Ansonsten sagt mir, was ich tun soll.“ Sie schmunzelte vorsichtig. Hier in der Küche war es endlich angenehm warm. Sie trug ihre beiden Roben übereinander, und dazu noch zwei Paar Strümpfe. Ihre Winterrobe aus einem tiefschwarzen, weichen und dicken Wollstoff hatte ihre Entführung nicht überstanden, aber das war ein geringer Preis, diese Sache überlebt zu haben. Der Bierbrotzopfteig war verglichen damit eine zu bewältigende Sache ... glaubte sie jetzt noch. Einige Zeit später, bis zu den Ellbogen in dem klebrigen, zähen und festen Teig, wuchs ihre Achtung vor diesem Gegner beträchtlich.

Gen Sturzenstein

Nahe des Isenhager Tores, vor den größten sich in der Stadt befindenden Stallungen, wurde kurz darauf besagte Kusche mit einem Lastkran angehoben und auf ein stabiles Gestell mit langen Kufen montiert, so dass die Räder frei in der Luft hingen. Vier kräftige Eisenwalder Erzpferde wurden gerade an der länglichen Deichsel angespannt, als Richhild und Amalvin in Begleitung des Vogts eintrafen. Boindil und Andragrimm waren bereits dabei, Ausrüstung am hinteren Ende der Kusche in eine fest angebrachte Transportkiste zu platzieren. Beide waren in dicke Fellmäntel gehüllt, trugen jedoch Kettenrüstungen darunter, ebenso wie Borindarax. Zwei den Golgariten unbekannte Angroschim saßen auf dem Kutschbock und diskutierten angeregt in der Muttersprache der Zwerge. Der erste, ein kleinerer mit wallendem, silbergrauem Haar und einem eher kurzen, aber enorm breitem Bart hielt die Zügel in der Hand. Der Zweite war etwas größer von Wuchs, trug sein braunes Haar kurz und seinen Bart zu einem einzelnen, dicken Zopf geflochten. Auffällig an ihm jedoch waren die großflächigen Gesichtstätowierungen und ein enorm breiter Halsring aus blankem Eisen, welcher über und über mit Runen verziert war. Beide hatten die doppelten Schneidblätter ihrer Felsspalter auf dem hölzernen Boden unterhalb des etwas angehobenen Kuschbockes platziert, so dass die Griffstücke zwischen ihren Beinen aufragten. Die Kutsche selbst war offen und bot zwei lange Sitzreihen, welche so angebracht waren, des die Insassen einander gegenübersaßen. Richild und Amalvin hatten in schweigender Übereinstimmung ihre Rüstungen angelegt. Die Landmeisterin hievte ihren Schild auf den Wagen und warf ein Bündel hinterher, das hauptsächlich aus einer Zeltplane, einer dicken Decke und etwas Wildnisausrüstung und Proviant bestand. Richild betrachtete die Kutschenkonstruktion, pfiff anerkennend durch die Zähne und kletterte hinauf. Amalvin schien eher zu zweifeln, runzelte die Stirn und tat es seiner Vorgesetzten schließlich gleich. Besser, als durch den Schnee zu stapfen. Er beugte sich zu Boindil und nahm schweigend einige der Packen entgegen, die dieser an Bord hievte. „Ihr habt einen Ortskundigen dabei?“ Erkundigte er sich mit einem zweifelnden Blick in den Winterhimmel, der am Abend neuen Schnee versprach. Vermutlich. Boindil hielt kurz inne und nickte in Richtung seiner Brüder auf dem Kutschbock. Seine Stimme war gesenkt, als er die Frage der Landmeisterin beantwortete. “Diese Rolle wird Roglamox übernehmen. Er ist der Sohn eines Geoden und wuchs in den Wäldern auf. Seine Drachenmacht ließ sich jedoch nicht in kontrollierbare Bahnen lenken. Sein Talent sei begrenzt, so heißt es. Sein Vater nahm sich einen anderen Schüler und er kam nach Senalosch. Doch er ist trotzdem kein gewöhnlicher Angroscho. Er riecht Drachenwerk Meilen gegen den Wind und steht deswegen oft am Stadttor Wache. Die Tätowierungen und der Halsring sind ihm von der Geweihtenschaft des Allvaters verpasst worden. Sie kennzeichnen ihn als von der Macht des Drachen erfüllt. Ohne dies offen getragenen Zeichen dürfte er Isnatosch nicht betreten. Der andere ist Atosch. Die beiden sind wie Brüder, benehmen sich aber wie ein Paar, dass vor ewigen Zeiten den Bund von Feuer und Erz geschlossen hat.“ Boindil grinste kurz und klappte dann die Transportbox zu, um sie zu verriegeln. „Fertig,“ „Hmja.“ Richild warf Roglamox einen zweifelnden Blick zu. Zauberkraft bei Zwergen war ihr äußerst suspekt, was sie nicht ganz aus ihrer Gestik und Mimik heraushalten konnte. „Brechen wir auf.“ Je schneller sie die Sache hinter sich hatten, desto besser. So ganz überzeugt war sie auch nicht davon, dass es eine so gute Idee gewesen war, Marbolieb nur in der Obhut der Haushälterin zurückzulassen. Doch das würde sich zeigen. Amalvin dagegen teilte die Vorbehalte der Ordensfrau nicht. Er warf Roglamox einen mehr als neugierigen Blick zu und verbiss sich seine Frage, die ihm offensichtlich auf der Zunge lag. Die folgende Fahrt durch die Wälder Nilsitz’ war kaum anders als malerisch zu bezeichnen. Die Landschaft lag unter einem weißen Pelz und mit dem voranschreitenden Aufstieg des Praiosmales brachen dessen Strahlen immer mehr durch die aufbrechende Wolkendecke. Keiner Menschen- oder Zwergenseele begegneten sie unterwegs. Tiere hingegen sahen sie zuhauf. Vornehmlich konnten die Reisenden immer wieder Schulen von Rot- und Damwild oder gar Gruppen von Wildschweinen zwischen den Bäumen ausmachen, aber auch Greifvögel sahen sie wiederholt. Drei Mal musste sie die holprige Fahrt über den zumeist unebenen Waldboden beenden, als ihr Weg entweder zugewuchert oder von umgestürzten Bäumen blockiert war und die Angroschim mit Äxten daran gehen mussten, ihn wieder frei zu machen. Jedes Mal war es den Menschen fast eine Wohltat, für einen Moment nicht durchgeruckelt zu werden. Die langen Kufen mochten einiges ausgleichen, doch bequem war die Reise bei weitem nicht. Mit Rädern musste der Weg einer Tortur gleichkommen. Gegen Abend fiel die Temperatur rapide, als es sich scheinbar ruckartig zuzog, wie es nur im Gebirge üblich war und dichter werdender Schneefall einsetzte. Zwei Sturmlaternen wurden entzündet und in Halterungen auf Höhe des Kutschbocks eingehängt, doch wohl nur die Zwerge vermochten in der dräuenden Dunkelheit ausreichend zu sehen, um den Weg fortzusetzen. Weitere zwei volle Kerzenlängen brauchten sie nach dem Untergang des Praiosmales, erst dann erreichten die Kutsche ein kleines, in einem Tal liegendes Dorf, welches durch einen Palisadenwall umfriedet war. Durch Dunkelheit und Schnee zeichnete sich die Silhouette eines großen Gebäudes ab, welches von unten durch flackerndes Licht beschienen wurde. Sie hielten vor dem Tor und Borindarax stand von seiner Sitzbank auf, als ein Mann auf einem der hölzernen Wachtürme erschien, die das Tor einrahmten. “Borindarax, der Sohn des Barbaxosch, euer Vogt, verlangt um Einlass”, rief er hinauf und der Mann eilte, dieser Bitte nachzukommen. Nur wenige Momente später wurden die Flügel geöffnet und die Kutsche setzte sich wieder im Bewegung, um ins Dorf einzufahren. Das, was hinter der Palisade lag, war bescheiden. Einzig sechs große Bauernkaten, allesamt jedoch in einem hervorragenden Zustand, gruppierten sich um einen geräumigen Platz in der Mitte des Dorfes. Die Burg selbst lag auf einem aufgeschütteten Hügel über dem Dorf und war mit in den vier Schritt hohen Palisadenwall integriert, welcher an der Innenseite einen umlaufenden, überdachten Wehrgang besaß. Vom Platz in der Mitte des Dorfes führte eine Rampe, breit genug für einen Karren, zur Burg hinauf und endet dort vier Schritt über dem Niveau der restlichen Gebäude an einem robust wirkendem Holztor, welches ins Innere der Burg führte. Fensteröffnungen gab es keine im Gestein. Auf Höhe des Tores existierten lediglich Schießscharten im Mauerwerk. Erst das aus Fachwerk aufgesetzte und mit Holzmalereien verzierte Stockwerk besaß Fenster und einen großzügigen, umlaufenden Balkon. Das hohe und aus massivem Mauerwerk gefügte Fundament der Burg ließ den Betrachter fragend zurück, denn es würde von der Höhe selbst ein ganzes Stockwerk beherbergen können. An das Hauptgebäude angebaut erhob sich der Bergfried noch deutlich über das Hauptgebäude und besaß zudem eine zinnenbewehrte und überdachte Plattform, welche über das Blätterdach hinausragte. Auf dem gepflasterten Dorfplatz, welcher ebenso wie die Burg von einigen wenigen Pechfackeln beleuchtet wurde, hielt Atosch die Kutsche an. Amalvin sah sich um, grinste und sprang aus der Kutsche. Er streckte sich und wirkte überaus zufrieden, endlich wieder genug Platz für seine Beine zu haben. „Gut in Schuss.“ bemerkte die Landmeisterin nach einem ersten Rundblick. Ihr hatte die Fahrt in dem für zwergische Maße ausgerichteten Schlitten weniger zugesetzt als ihrem hochgewachsenen Begleiter – und dennoch war sie ordentlich erleichtert, dass es kein geschlossener Schlitten gewesen war. Sie sog die kalte Luft ein und richtete den Kopf in den dunklen Winterhimmel, aus dem winzige, eiskalte Flocken segelten, jede ein winziger, beißender Punkt auf ihrer Haut. Die Aussicht auf einen warmen Platz am Feuer machte diesen Abend gut. Sie wandte sich zum Schlitten um und schulterte ihr Gepäck. “Klein aber fein”, stimmte Borindarax der Landmeisterin zu, als auch er als letzte die Kutsche verließ. “Doch leider ist die Linie des Hauses Sturzenstein bereits vor geraumer Zeit erloschen und mir fehlt hier jemand, der gewissenhaft nach dem Rechten sieht, langfristig versteht sich. Für den Augenblick habe ich einen langjährigen Freund damit betraut. Er sieht dies jedoch eher als Ärgernis, wie mir scheint.”

Gemeinsam gingen sie die Rampe empor. Boindil eilte eifrig einige Schritte voraus, um ans Tor zu klopfen. Alle einte sie der Wunsch ins Warme zu gelangen. Just in diesem Moment klapperte eine hölzerne Tür zum Balkon des Haupthauses oberhalb ihrer Köpfe, wurde aufgestoßen und ein rundlicher Zwerg in einem altertümlich wirkenden Schuppenpanzer und einem Pelzmantel, der an den breiten Schulterplatten der Rüstung befestigt war trat hinaus. Sein Bart lag lang und wallend über seinem Bauch, bemerkenswert war jedoch der Schnauzer, welche weit über die Mundwinkel hinausragte. Die Farbe seiner Haare schien dabei perfekt zur Jahreszeit zu passen, sie waren allesamt schneeweiß. „Borax, bist du das? Na endlich. Kommt herein“, brüllte der Angroscho in einem kratzigen, leicht dünnen Tonfall herab. „Wir wärmen euch das Wildschwein einfach wieder auf. Die Männer waren doch tatsächlich so frei, noch etwas übrig zu lassen. Verfressenes Volk!“ Damit endete der Redeschwall vom Balkon und der Angroscho trat dann ohne eine Antwort abzuwarten wieder durch die Tür ins Innere der Burg. Der Vogt lachte daraufhin herzhaft. „Darf ich vorstellen. Das war beziehungsweise ist Athimarex, Sohn des Aschtoglom. Mein Burgvogt.“ Borax schüttelte lächeln den Kopf. „Verzeiht sein Auftreten, ihn kümmern nur noch wenige Dinge und am wenigsten was irgendjemand, das schließt unseren Rogmarog mit ein, über ihn denkt. Einzig und allein wie Angrosch ihn in seiner ewigen Esse aufnehmen wird ist noch von Belang.“ Borindarax hielt kurz inne und hob damit die nächsten Worte heraus. „Athimarex ist fast vierhundert Jahre und war einer meiner Lehrmeister am Hofe des Rogmarog. Uns verbindet eine tiefe Freundschaft, auch wenn er dies niemals so zugeben würde.“

Am Herdfeuer

Nur wenig später saßen die beiden Golgariten nebst Boindil, Andragrimm und dem Vogt an einer langen Tafel im Hauptgebäude. Atosch kümmerte sich um die Ponys und sorgte dafür, dass die Kutsche untergestellt wurde, um sie vor der Witterung zu schützen. Das Innere von Burg Sturzenstein war rustikal und hatte einen ganz eigenen Charme. Ein loderndes Feuer in einem großen Kamin brannte und erfüllte den Rittersaal mit einer angenehmen Wärme, was bei einer Deckenhöhe von nahezu vier Schritt sicher Zeit und Holz in Anspruch nahm. Die vier Schießscharten des Raumes waren mit großen, keilförmigen Holzklötzen und Leinen abgedichtet worden. An der Tafel saß nur der alte Angroscho, der sie sie vom Balkon herab begrüßt hatte. Er stand nicht auf, als der Vogt zu ihm eilte um ihn zu begrüßen. Borax beugte sich einfach herab und umarmte ihn. Zwei Mägde wuselten umher und trugen Teller und Besteck auf. Als erstes jedoch stellten sie zinnerne Becher mit dampfendem Würzwein auf die Tafel, damit jeder der Gäste zunächst etwas Warmes in den Bauch bekam. „Ich habe die Männer bereits zu Bett geschickt“, erklärte Athimarex, als seine Gäste sich vor dem Kamin versammelt hatten, um die Steifheit aus den Gliedern zu verscheuchen. „Ihr eigenmächtiges Handeln erzürnte mich, auch wenn es nicht an mir ist, sie dafür zu bestrafen. Sie waren jedoch willens, sich meiner Autorität zu beugen. Die beiden Rädelsführer halten Wache in der Kaverne und frieren sich hoffentlich den Arsch ab.“ Er lachte kurz auf bei dieser Bemerkung. „Ihr könnt morgen dorthin aufbrechen. Es führt ein Trampelpfad hinab, aber es sind einige Kerzen Fußmarsch.“

„Wenn das Wetter hält, sollten wir das schaffen.“ Richild streckte sich die Beine aus und nippte an dem heißen Würzwein, eine Wohltat an diesem Tag. Sie wandte sich an den Vogt. „Ich bin gespannt, was uns morgen erwartet. Wie viele Leute werdet ihr mitnehmen?“ „Hm“, Borindarax wog den Kopf nachdenklich hin und her. „Sie sind zu acht losgezogen. Eine Untereinheit der acht mal acht in Senalosch stationierten Tunneljäger. Da zwei noch dort sind würde ich meinen, dass einer als Führer reicht. Wir sind ja allein zu siebt. Ich bin dankbar, dass ich in diesem Fall auf die Kräfte des Rogmarog zurückgreifen kann, aber man muss es ja nicht übertreiben. Darüber hinaus benötigen wir ja für die Auskundschaftung eines Mausoleums keine Soldaten, sondern eher Fingerspitzengefühl, um die Ruhe der Toten nicht unnötig zu stören.“ Borax trank einen Schluck Bier und kramte dann seine beinerne Pfeife und den Tabakbeutel hervor. „Sagt Landmeisterin, könnt ihr die Grabstätte wieder weihen, sollte es sich bei den Kellern wirklich um ein Mausoleum handeln?“ „Gewiss.“ Die Landmeisterin streckte ihre Schultern in einer unbewussten Geste. „Wenn es wirklich notwendig ist, werde ich das tun. Vorher sollten wir in Erfahrung bringen, wer dort begraben liegt, seit wann – und ob es sich wirklich um einen Begräbnisplatz handelt.“ Und mit etwas, nur etwas Glück würde es sich wirklich nur um eine profane Grablege handeln. Ohne Untote. Ohne Magie. Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Becher und seufzte zufrieden. Von Bier – und von Alkoholika allgemein – verstand niemand so viel wie die Angroschim, gleich, was die Weinbauern um Elenvina glaubten. Das Bier jedenfalls war fast wie zuhause. „Ich habe auf die Schnelle nichts in den Archiven von Nilsitz finden können über eine derartige Grabstätte. Lediglich eine Andeutung habe ich mehr per Zufall entdeckt. In der Zeit der Bosparaner hat es irgendwo am Großen Fluss einen Platz oder Ort gegeben, zu dem viele Menschen gepilgert sind. Dies war die Zeit, in der die Nordmarken noch ein Königreich waren. Nilsitz war damals noch abgeschiedener als es das heute ist. Jener Ort muss also eine gewisse Bedeutung gehabt haben.“ Der Vogt steckte sich seine während seiner Rede gestopfte Pfeife an und lehnte sich mit leicht grüblerischer Miene zurück. „Ich werde wohl kaum Schlaf finden heute Nacht. Ich gebe zu, ein bisschen aufgeregt zu sein.“ „Wir werden morgen sehen, was uns erwartet.“ Die Landmeisterin schien sich nicht über Gebühr zu sorgen – oder war vielmehr nicht gewillt, sich von Erwartungen den Schlaf rauben zu lassen. So schlimm wie beim letzten Mal, als sie sich der Paktiererin entgegenstellten, würde es nicht werden. Hoffentlich. „Seid ihr sicher, nicht schlafen zu können – benötigt Ihr Hilfe?“ „Hilfe?“ Borax winkte ab. „Nein nein. Dies ist schon mehr ein Dauerzustand, denn besorgniserregend. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Kalman von Nilsitz hat mir grauenvolle Haushaltsbücher hinterlassen. Ich habe unzählige Nächte über den Zahlen gehockt, doch es hat sich gelohnt.“ Zufrieden stieß er würzigen Rauch aus seiner Pfeife aus. „Die Männer meines Klans benötigen nicht sonderlich viel Schlaf.“ Der Zwerg zwinkerte der Landmeisterin zu. „Jetzt weiß ich, wieso.“ „Hm.“ Richild wirkte nicht zur Gänze überzeugt. „Mit dem Schlafbedürfnis von Zwergen überfordert Ihr mich, Hochgeboren. Mein Angebot steht.“ Sie grinste und hob ihren Humpen. „Doch bis dahin – Baroschem!“

Alsbald stiegen Menschen und Zwerge die steile und zudem knarrende Holztreppe zu den Wohnräumen der Burg nach oben. Hier war alles aus dem natürlichen Baumaterial gefügt, denn man befand sich nun im Obergeschoss, welches aus Fachwerk errichtet war, wie man bereits von außen hatte sehen können. Da die acht Tunneljäger gemeinschaftlich die beiden großen Schlafräume belegt hatten, blieben noch genug kleinere Räumlichkeiten, um die Gäste zu beherbergen. Das Gesinde hatte zum Teil hierfür Platz gemacht, aber das war bei größerem Besuch nichts Außergewöhnliches. Die Zimmer selbst waren einfach gehalten, ebenso das Mobiliar. Das oberste Stockwerk war bedeutend kühler als der steinerne Teil der Burg, auch wenn das Holz der Außenwände dick und sauber gefügt war. Große Eisenschalen mit im Feuer des Kamins erhitzten Steinen lagen unter den Decken in den Betten, um zusätzliche Wärme zu spenden. Richild inspizierte ihr Bett, seufzte zufrieden und machte sich daran, die Abendandacht für sich und Amalvin zu halten, ehe die beiden Golgariten sich in ihren Zimmern zur Ruhe legten, vor sich eine Nacht ohne Störungen in der eisigen Kälte des Isenhager Firunswinters, der sich draußen vor den dichten Läden abspielte und Land und Fluss mit seiner klirrenden Froststarre überzog.

Hinunter zum Fluss

Am kommenden Tag war es folglich bedeutend kühler. Der Schnee war von einer leichten Eisschicht überzogen und blendete den Betrachter, als das Praiosschild unaufhaltsam seine Himmelsbahn antrat. Eine Magd klopfte an den Türen der Golgariten und bat die Gäste, zum Frühstück zu kommen. Die zwölf Angroschim saßen bereits an der großen Tafel des Rittersaals, als Richild und Amalvin hinunterkamen. Gerade wurde von einer weiteren Bediensteten aufgetragen. Es gab warme Ziegenmilch, dampfendes, salzhaltiges Brot, allerlei Käse und dazu Reste des Wildschweines vom Vortag. Die sechs den Golgariten unbekannten Tunneljäger saßen an einer Seite des Tisches. Atosch und Andragrimm hatten sich zu ihnen gesellt. Die Zwerge waren offenbar guter Laune und scherzten laut auf Rogolan miteinander. Auf der anderen Seite hatte Borindarax neben Athimarex Platz genommen. Roglamox, welcher neben Boindil zur rechten des Vogtes saß, wurde von den bergköniglichen Soldaten hin und wieder argwöhnisch beäugt. Richhild erkannte Misstrauen in den Blicken der Angroschim, Ablehnung für einen der ihren. Als Borax sich der beiden Golgariten gewahr wurde erhob er sich. „Guten Morgen. Kommt, setzt euch zu uns.“ Er wies auf die freien Plätze auf der anderen Seite des Tisches, gegenüber seinem eigenen Platz. „Ich hoffe ihr hattet eine angenehme Nachtruhe. Entgegen meiner Erwartung habe ich tatsächlich recht schnell in …“ er musste kurz überlegen, „Bishdariels Arme gefunden.“ „Das freut mich.“ Richild betrachtete die neuen Zwerge mit prüfendem Blick. Sie und Amalvin setzten sich, und die Krieger sprachen nach einem kurzen Gebet dem Frühstück zu. „Und das Frühstück, das ihr serviert, ist die beste Grundlage für einen guten Spaziergang.“ Langsam wurde das lästig mit den Winterwanderungen in diesem Jahr. Richild grinste. Damit kam auf eine mehr auch nicht mehr an. „Ich bin gespannt, was uns Eure Kaverne lehren wird.“ “Das empfinde ich ebenso”, bekräftigte Borax die Überzeugung der Landmeisterin, dass der junge Angroscho aufgeregt war. Manche Dinge sah man Menschen wie auch Zwergen leicht an, wenn man die nötige Menschenkenntnis besaß, was in Richilds Fall zutraf. Der Vogt war nicht hitzköpfig oder gar stur, wie so mancher Zwerg, den die Golgaritin in ihrem Leben kennengelernt hatte. Nein, vielmehr war er voller Tatendrang und fast schon verstörend offen für Fremdes und Neues. Eigenschaften, die ‚normalen‘ Zwergen nicht zu eigen waren.

“Ich empfehle euch Fobosch mitzunehmen”, ergriff Athimarex nun das Wort. “Das ist der schlaksige mit dem kahlen Schädel und dem kurzen Bart. Er kann euch zur Kaverne führen. Er war es, der sie gefunden hat“, erklärte der Burgvogt. Besagter Zwerg sah auf, da er vernommen hatte, dass sein Name gefallen war. Der Bart reichte dem Angroscho bis auf die Brust. Kurz, so überlegte Richhild war keine objektive Kategorisierung. Insbesondere, wenn diese von einem Zwergen für die Bartlängen eines anderen Zwergen getätigt wurde, denn da keiner der anderen Tunneljäger eine Glatze besaß, konnte nur er gemeint sein, Verwechslung ausgeschlossen. Borax nickte dem tatsächlich eher drahtigen Vertreter seiner Rasse zu. „Fobosch, du zeigst uns, wo du deine Entdeckung gemacht hast.“ Eine Feststellung mehr denn ein Befehl. Der Angesprochene nickte nur mit ernster Miene zur Bestätigung zurück und widmete sich daraufhin wieder seinem Frühstück. „Gut“, resümierte der Burgvogt. „Proviant für zwei Tage habe ich bereits zusammenpacken lassen, es steht alles unten. Laternen und Öl findet ihr ebenfalls im Torraum. „Was braucht ihr sonst noch?“ Bei diesen Worten ließ der weißhaarige Angroscho seinen Blick von seinem Lehnsherrn bis hin zu den beiden Golgariten schweifen, um anzudeuten, dass auch sie gefragt waren. „Seile, einige Rechtschritt stabiles Leinen, Spitzhacken und Schaufeln.“ Kam es prompt von Richild. „Ein Fässchen – oder eine große Flasche – mit hochprozentigem Schnaps.“ fügte Amalvin hinzu, bedachte die Sache und erweiterte es dann. „Statt dessen reicht auch ein leicht brennbares Öl.“ Er war erpicht darauf, die Erkundung möglichst rasch hinter sich zu bringen. Der Gleichmut der Landmeisterin fehlte ihm, was ausstehende Unternehmungen anbelangte. Je früher das erledigt war, um so eher würde er wieder ins Warme kommen. „Ansonsten sollten wir alles haben.“ Athimarex erhob sich schwerfällig und mit einem wahrnehmbaren Ächzen. “Ich sehe nach was noch fehlt”, kommentierte er knapp und entfernte sich dann im altersbedingt langsamen Tempo. Kurz darauf, der Vogt hatte sein Frühstück hastig zu sich genommen, erhob sich auch Borax, um das Wort an alle zu richten. “Bitte versammelt euch binnen dem Verstreichen der nächsten Kerze im Torraum. Wir brechen umgehend auf, wenn sich alle dort eingefunden haben.” Darauf entfernte sich der Sohn des Barbaxosch ebenfalls.

Eine Stundenkerze später standen die Golgariten abmarschbereit im Torraum – und neben ihnen eine ganz erkleckliche Anzahl Angroschim. Aufbruch! Richilds Augen blitzten – einem Abenteuer zu widerstehen fiel ihr noch immer schwer. In dicke Mäntel gehüllt, welche aus den unterschiedlichsten Fellen gefertigt waren, standen die Zwerge weitgehend schweigend beisammen und verteilten Verpflegung sowie notwendige Ausrüstung untereinander. Auch der Bitte der Rabenritter war nachgekommen worden, wie sie zufrieden feststellten. Fobosch, der Tunneljäger, der sie führen würde, stand mehr oder minder unbeteiligt unmittelbar vor dem bereits offenem Tor. Die Miene des kahlköpfigen Angroschos verriet, dass er die ihm auferlegte Aufgabe möglichst rasch hinter sich bringen wollte. Die Gewissheit, noch länger offenen Himmel über sich zu haben, behagte keinem Angroscho, der sein ganzes Leben unter dem Berg verbracht hatte. Etwas verkrampft hielt er daher seinen Spieß in Händen, während der achteckige Schild an den Rucksack gebunden war. Atosch und Roglamox hatten ihre Felsspalter geschultert. Sie würden kaum weitere Dinge, nur jeweils einen Wasserschlauch, wenige Nahrungsmittel, sowie eigene Wechselkleidung auf dem Rücken tragen müssen, um möglichst beweglich zu bleiben für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Gruppe attackiert wurde. Sie würden den ersten Feindkontakt aufhalten, damit alle anderen sich wappnen konnten. Mit schweren Rucksäcken kämpfte es sich schlecht. Ein beträchtlicher Teil der restlichen, mitzunehmenden Last wurde von Andragrimm auf einen einzelnen, länglichen Schlitten geladen, der bereits mittels Bergsteigerhaken und Seil an seinem schweren Ledergürtel befestigt war. Der Soldaten aus den Reihen von Ingerimms Hammer war von seiner Statur her der stärkste und würde daher mehr oder minder freiwillig das Lastentier mimen.

Borindarax und Boindil waren die letzten die zur Gruppe stießen. Der Vogt wies sogleich die Rampe hinab zum Dorfplatz, als er sich vergewissert hatte, dass sie vollzählig waren. “Aves mit uns”, verkündete er das Zeichen zum Aufbruch. Gemächlichen Schrittes ging es dann die Rampe zum gepflasterten Platz vor der Burg hinab und kurz darauf hinaus aus dem Tor im Palisadenwall, von wo sie sich sogleich gen Firun wandten. Das Wetter blieb klar und sehr kalt, die Temperaturen lagen stets deutlich unter dem Punkt, da Wasser zu Eis gefror. Das Glück dabei war, dass an jenem Tag keine Wolke am Himmel war, die hätte Schnee fallen lassen können. Der Marsch war dennoch hart, denn sie konnten sich nur stapfend vorwärts bewegen. Auf bedeutenden Streckenanteilen sanken ihre Füße bis zu zwei Hände tief in die von Eis verkrustete Decke aus kaltem Weiß ein. Nach gut einer Kerze kreuzte sie in einiger Entfernung eine große Gruppe Rotwild. Vereinzelt konnte sie die Tiere zwischen den Bäumen ausmachen, die schleunigst das Weite suchten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie der tiefe, winterliche Wald bereits gänzlich verschlungen. Einen breiten Weg, wie aus Senalosch zu Burg Sturzenstein gab es hier nicht. Allein einen Trampelpfad mochte es geben, doch dieser war im Labyrinth der eng beisammen stehenden Bäume und dank des Schnees auf dem Boden nur sehr schwer anhand von Lücken im Unterholz auszumachen. Ihr Glück war das dichte Dach des Waldes, dank dem immer wieder Spuren der letzten Begehung des Weges auszumachen waren. Die Schneeflocken erreichten den Waldboden nur stark dezimiert. Dies kam auch Fobosch zugute, welcher dann und wann erleichtert dreinschaute, wenn er noch nicht ganz zugeschneite Fußabdrücke ausmachen konnte. Sie liefen wegen den äußeren Umständen des schmalen Pfades wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Allein Atosch und Roglamox versuchten beharrlich an den Flanken zu sichern, blieben aber stets in Sichtweite. Vorne lief Fobosch, dahinter Borax an der Seite Andragrimms und des Schlittens. Am Ende schritt Boindil. Die Golgariten hatten sich in der Mitte eingereiht und musterten die Umgebung aufmerksam, aber nicht mit übertriebener Sorge. Es war nicht der erste Winterwald, durch den sie sich arbeiteten – und würde schwerlich der letzte sein. Die gute Ausrüstung und ortskundige Begleitung ließen den Weg zwar unangenehm, aber nicht übertrieben schwierig werden. Schon recht bald mussten sie die erste Pause einlegen, um zu verschnaufen und den gepeinigten Beinen ein wenig Ruhe zu gönnen. Dies sollte in den kommenden Stunden immer wieder geschehen. Zeiten des Marsches und der Rast wechselten sich ab. Gesprochen wurde mit vereinzelten Ausnahmen nur dann, wenn sie zur Ruhe kamen. Unterwegs begegneten sie keiner Menschenseele, dafür konnte sie immer wieder Tierspuren ausmachen. Schwarz- und Rotwild dominierten, aber auch Abdrücke eines kleinen Wolfsrudels fanden sie.

Als das Praiosschild bereits seinen höchsten Stand überschritten hatte, riss der Wald auf und der Boden wurde schroff und felsig. “Noch etwa zwei Kerzen”, rief Fobosch mit von Kälte kratziger Stimme von vorne und man beschloss ein letztes Mal zu Rasten. Als sie nur wenig Zeit darauf auf einer losen Ansammlung großer Steine beisammensaßen und aßen, hörten sie Atoschs erregten Ruf aus dem Unterholz, “Kooooontakt!” Sofort sprangen die Angroschim los, griffen nach ihren Waffen und liefen los. Der schnellste war Boindil. Mit seinen kurzstieligen Skrajas in Händen eilte er den anderen behende voraus. Als sie Atosch erreichten sahen sie den verdattert dreinschauenden Zwergen gerade seinen Gürtel schließen und seine Hose zurechtrücken. Er hatte seine Notdurft verrichtet. Das Bedeutende erkannten die herbeigeeilten erst auf den zweiten Blick, als der Zwerg den Kopf senkte und auf seine Füße herabblickte. Sein rechter Stiefel steckte in einem tiefen und vor allem riesigen Fußabdruck. Bedeutungsschwer war Atoschs Miene, als er wieder zu den anderen aufsah. „Was ist DAS?“ Amalvin klappte der Mund auf, als er den riesigen Abdruck betrachtete. „Zu welchem Biest gehört das?“ Die Miene der Landmeisterin war ähnlich verdattert wie die ihres Graumantels – sie hatte noch nie so ein Ding gesehen. „Für einen Bären deutlich zu groß.“ befand sie schließlich, was ihr die Lösung indes keinen Schritt näherbrachte. „Dann stimmen die Gerüchte also“, der Vogt stieß die Luft aus und kniete sich hin, um die Spur genauer in Augenschein zu nehmen. „Ich habe es dir ja gesagt“, setzte Andragrimm hinzu, packte seinen Zwergenschlägel fester und wies Atosch und Roglamox in knappen Worten an, mit ihm auszuschwärmen. Die beiden folgten bereitwillig und mit äußerst ernsten Mienen, ihre Doppeläxte in Händen. „Bleibt in Rufweite“, gab Borindarax den dreien noch mit auf den Weg, erst dann wandte er sich an Richhild und Amalvin. „Es sind die Spuren eines Steinschrats. Da bin ich mir ziemlich sicher.“ Boindil an seiner Seite nickte zustimmend und präsentierte dabei einen äußerst grimmigen Gesichtsausdruck. „Holzfäller und Bewohner der Dörfer von Nilsitz vermelden in letzter Zeit recht häufig solche Spuren gesehen zu haben“, fuhr der Vogt fort. „Einige wollen ihm oder ihnen sogar selbst begegnet sein. Naja, zumindest aus der Ferne. Wenn, dann gab es diese Sichtungen unmittelbar an der Opferschlucht.“ Borax seufzte. „Bei Angroschs Esse, ich hoffe das verheißt uns nichts Böses. Wir wissen, dass es in den Landen zwischen Ingrakuppen und Eisenwald eine bedeutende Festung der Steinschrate gegeben hat, die inzwischen dem Haus Trollpforz als Residenz dient. Brüder haben sie schon vor sehr langer Zeit zu einer auf menschliche Bedürfnisse angepasste Burg umgebaut, teilweise mehrere Zwischenebenen in Gewölben gebaut, die zyklopische Ausmaße besitzen. Ihr habt vielleicht bereits von ihr vernommen. Es gibt dort einen bemerkenswerten Altar, welcher vom heiligen Quanion selbst geweiht worden sein soll. Viele Pilger kommen nach Burg und Dorf Trollpforz, um ihn zu sehen und an ihm niederzuknien.“ „Offensichtlich sind sie immer noch hier. Meint ihr, sie wollen sich ihre Festung zurückholen?“ Richild neigte bedächtig den Kopf. Der Graumantel schwieg einen Augenblick länger, ehe er sich ebenfalls zu Wort meldete. „Was sind Steinschrate, Euer Hochgeboren?“ Seine Miene zeigte, dass er sich schwer tat mit der Idee, dass eine Burg von einem Schrat erbaut worden sein mochte – oder auch von mehreren. „Trolle“, entgegnete der Angroscho knapp, nur um sich darauf wieder zu erheben. „Es gab sie vermutlich immer in Nilsitz und auch drüben in Wedengraben, nur haben sie sich ausreichend bedeckt gehalten. Diese Zurückhaltung hat offenbar ein Ende.“ Borindarax sah den Graumantel nachdenklich an. „Die Steinschrate besaßen einst eine Hochkultur, viele trutzige Burgen auf dem gesamten Kontinent, vornehmlich in Gebirgen, magische Portale, die sie in kurzer Zeit große Distanzen überbrücken ließen und angeblich sogar fliegende Schiffe aus Stein. Was davon in das Reich der Mythen gehört und was der Wahrheit entspricht kann heute wohl niemand sagen, aber ihre Burgen existieren noch. Es sind Monumente aus Stein. Okdragosch, die Schwarzdrachenwacht, ist wohl die bekannteste von ihnen. Burg Trollpforz ist aber unzweifelhaft aber auch ihr Werk.“

Richild pfiff durch die Zähne. „Nicht schlecht. Ich habe noch nie einen zu Gesicht bekommen. Eine nicht ungefährliche Sache, wenn sie wieder aktiver werden.“ Grimmig nickte Borax. Ein Gesichtsausdruck, der ungewöhnlich schien für den jungen Angroscho, passte es doch nicht zu seinem Wesen. Andragrimm und seine Begleiter kamen bereits wieder zurück zu ihnen gelaufen. “Nichts zu sehen”, rief der stämmige Krieger bereits, als sie in Sichtweite waren und fuhr dann fort, nachdem sie alle wieder beisammen waren. “Die Spur verläuft parallel zur Opferschlucht, stromabwärts, also grob in unsere Richtung, auch wenn wir den Steilweg bald erreicht haben werden und dann zum Fluss hinabsteigen.” Borindarax nickte. “Gut. Halten wir die Augen offen. Ich will IHM gewiss nicht zu nah kommen.” Die Angroschim stimmten ihrem Vogt allesamt zu und begaben sich wieder zu dem Lager wenige Schritte weiter, um ihre Ausrüstung aufzunehmen. Das letzte Stück ihres Weges wartete. Die Landmeisterin betrachtete nochmals grübelnd die Spur, als die Zwerge sich wieder aufmachten, ihrem eigentlichen Ziel entgegen.

Schon bald darauf konnten sie im Firun die tief eingeschnittene Schlucht des Großen Flusses erblicken und wandten sich gen Rahja. Keine ganze Meile später öffnete sich eine steil abfallende Klamm in Richtung der. Der Weg fiel nun rasch ab und die Felswände rückten beständig näher, bis die Klamm nur noch knapp zwei Schritt Breite besaß. Fobosch führte sie zielstrebig an allerlei kleineren Abzweigungen und Felsgraten vorbei, ob diese weiterführten oder bald im Nichts endeten, dies wußte von ihnen niemand zu sagen. Dank des Schnees und dem Gefälle rutschten immer wieder einzelne Mitglieder des Zuges aus und landeten mehr oder minder unsanft auf dem Hosenboden. Hin und wieder schlitterten sie sogar einige Schritt, bis die Topologie des Untergrunds die Rutschpartie beendete. Mehr als einige kleine blaue Flecke musste jedoch niemand erleiden.

Etwa eine halbe Kerze waren sie bereits auf dem Steilweg unterwegs, als sie die Wellen des Großen Fluss rauschen hören konnten. Fobosch blieb stehen und wartete bis alle zu ihm aufgeschlossen hatten. „Wir sind am Ziel“, verkündete der Tunneljäger und wandte sich dann nicht in Richtung des Tosens, sondern in einen schmalen Abzweig vom Steilweg. Keine zehn Schritt weiter gähnte ein Loch in der Wand der Klamm. Allerlei trockenes Geäst, welches einmal ein karges Gebüsch dargestellt haben mochte, lag neben dem, dass wohl der Eingang zur Kaverne sein musste. Richild hielt inne, als die Stimme des Flusses so laut erklang, und linste wachsam in Richtung des Abhanges, unter dem, verborgen im Dunst, sich die Fluten des Großen Flusses gen Elenvina bewegten. Ein tiefer Fall – und ein endgültiger. Sie rückte den Schild auf ihrem Rücken zurecht und beäugte den Tunneleingang. „Wie weit über dem Ufer stehen wir hier?“ erkundigte sie sich bei Fobosch. “Innerhalb der Kaverne sind wir noch oberhalb der Fluten. In der Krypta oder was auch immer es ist, wohl auf gleicher Höhe oder bereits leicht unterhalb der Wasseroberfläche. Jedenfalls kann man in der großen Halle mit dem Altar nasse Füße bekommen”, antwortete der Tunneljäger ausführlicher, als es Richild vermutlich von ihm erwartet hätte. Die Landmeisterin entzündete eine Sturmlaterne und drückte sie Amalvin in die Hand, inspizierte den Boden vor dem Eingang – steinig, und vermutlich war hier nicht vor kurzem eine Wildschweinherde hindurchgekommen – und zuckte die Schultern. „Gehen wir.“ Die schnellste Möglichkeit, etwas in Erfahrung zu bringen, war der Schritt nach vorn. Sie fasste um den wohlvertrauten Griff ihres Rabenschnabels. „Schauen wir, ob die Vögel ausgeflogen sind.“

Unter Tage

“Wartet”, bat Borax höflich, während Andragrimm sich bereits daran machte, das auf dem Schlitten vertäute Bündel zu öffnen und zwei weitere, während des Transportes durch Leinen gepolsterte Sturmlaternen zu Tage zu fördern. “Eine Laterne ist ungenügend. Uns erwartet Dunkelheit, da geht Sicherheit vor. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass eine Laterne den Dienst versagt oder gar schlimmeres geschieht, denn selbst unsere Augen vermögen nicht in vollkommener Finsternis zu sehen.” Er lächelte. „Bergmänner gehen immer auf Nummer Sicher. Und eigentlich sind alle Angroschim Bergmänner.“ Noch in dem Moment, da auch Amalvin neben Richhild stehend die humorvollen Worte des Vogts vernahm, stutzte der Graumantel. Er hörte eine langgezogene, dumpf wirkende und in sich verzerrte Tonfolge, die zweifelsohne in der Kaverne ihren Ursprung hatte. Keiner der anderen hatte offenbar etwas vernommen, da es sehr leise gewesen war. Alle waren sie damit beschäftigt, sich auf das Vordringen in den Höhlenkomplex vorzubereiten. Es dauerte einige, zähe Momente bis das Unterbewusstsein des Golgariten die Laute zu einem einzelnen Wort zusammengesetzt hatte, er den Sinn dahinter greifen konnte …‘HIIIIIILFEEE!’ Nahezu gleichzeitig registrierte die Landmeisterin wie Roglamoxs Augen gehetzt hin und her ruckten und seine ganze Körperhaltung plötzlich von Anspannung kündete. Ein geflüstertes, “Drax-Brodrom”, war alles, was über seine vor Kälte spröden Lippen kam, jedoch alle umstehenden Angroschim in sofortige und höchste Alarmbereitschaft versetzte. Richild runzelte die Stirn, während Amalvin die offensichtliche Frage auf die Lippen kam. „Was ist? Erwartet ihr eine Falle?“ Ein gesundes Misstrauen wie in dieser Situation stellte sich mit einigen Jahren Dienst von alleine ein. Die Landmeisterin hingegen musterte einige Atemzüge lang mit leerem Blick die Felswand und legte sich die Hände vor die Augen. Ihre Lippen bewegten sich tonlos, ehe sie ihre Hände vom Gesicht nahm und nach dem Oberarm ihres Waffengefährten griff. „Gehen wir.“ Sie schloss die Lider, als wäre sie vom fahlen Licht des trüben Wintertages geblendet. „Schlimmeres“, entgegnete der Vogt in alarmiertem Ton. „Hier ist Magie am Werke.“ Auch er nahm jetzt einen Zwergenschlägel zur Hand, den ihm Andragrimm vom Schlitten reichte. Der bullige Krieger trug ebenfalls eine solche, langstielige Waffe mit Hammerkopf. Den Vortritt nahmen dann aber Atosch und Roglamox mit ihren Felsspaltern in Anspruch, als es hineinging in die Kaverne. Beide besaßen zwischen den Axtblättern einen Sporn. Die Angroschim hielten die Waffen gesenkt, bereit damit wie ein Speer zuzustoßen. Hinter ihnen liefen Borindarax und Andragrimm, jeweils mit einer Sturmlaterne in der linken, die sie bei unmittelbarer Gefahr absetzen würden, um sich zur Wehr setzen zu können. Die Golgariten folgten, die Hand am Rabenschnabel und – in Richilds Fall – am Schild. Den Abschluss bildete wiederum Boindil mit seinen Skrajas. Der schmale Durchgang, bei dem Amalvin und Richhild sich ducken mussten, um hindurch zu gelangen, fiel leicht ab und öffnete sich erst nach guten zehn Schritt zur beschriebenen Höhle. Die Ausmaße waren nicht zur Gänze zu erfassen, Wände, Boden und Decken waren komplett natürlichen Ursprungs, wahrscheinlich von einem zu Urzeiten deutlich höherem Flussbett ausgewaschen. Im vorderen Bereich, den sie nun vorsichtig und nacheinander betraten, lagen die Wände gute fünf Schritt voneinander entfernt und zogen sich, je tiefer sie blicken konnten, immer weiter auseinander. Die Decke war im Durchschnitt wohl drei bis vier Schritt hoch, reichte aber auch in bestimmten Teilen der Kaverne bis auf deutlich unter zwei Schritt herunter, so dass die Menschen achtgeben mussten, sich nicht den Kopf zu stoßen. Nur wenige Momente, nachdem sie ihren Weg durch die Kaverne angetreten hatten, wies Atosch mit ausgestrecktem Arm zur rechten Höhlenwand. „Seht, das muss das Lager der Flusspiraten sein.“ Und tatsächlich, an den schroffen Fels positioniert, lagen allerlei Seekisten und Ballen, die mit Wachstuch eingeschlagen und vertäut waren. Während Borax hinüberging, um die Güter zu begutachten, wurde Roglamox immer nervöser. „Wo sind unsere Brüder? Sie hätten bereits am Eingang der Kaverne Wache halten müssen. Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht“, brachte er an die anderen gerichtet hervor und sah sich beständig um. Dann ertönte auf einmal, wie zur Bestätigung Roglamox’, wiederum ein langgezogener, diesmal mit einem starken Wiederhall versehener und für alle deutlich vernehmbarer Hilferuf. Der Ruf indes klang auf Garethi an Richilds und Amalvins Ohren, jedoch deutlich kehliger und rauer, als es für einen Menschen üblich gewesen wäre. Dies mussten die gesuchten Zwerge sein. Sie wollten ihre offenbar missliche Lage nicht nur ihren Brüdern mitteilen, sondern ein jedem, der sie würde hören können. Bordindarax bestätigte die Vermutung. „Das sind sie und sie sind in Schwierigkeiten.“ Auf Richilds Armen richteten sich die Härchen auf. „Wieso Magie – und welche?“ Sie mochte keine Höhlen, vor allem keine unter der Wasserlinie. Nicht mehr jedenfalls als die Zauberkraft der Magiewirker. Roglamox, zu dem die Landmeisterin blickte, als sie die Frage stellte, schüttelte den Kopf. „Sie ist hier, um uns.“ Nochmals fasste er den Griff seiner Doppelaxt fester, jedoch unschlüssig, was zu tun sei. Andragrimm, der Veteran unter ihnen, der zuletzt vor den Mauern Mendenas seinen Mut bewiesen hatte, übernahm nun die Führung. „Formation. Roglamox zu mir nach vorn. Boindil, Borax, ihr bildet die Nachhut und deckt unseren Rücken. Atosch, Fobosch- linke Flanke. Landmeisterin, würdet ihr mit eurem Bruder folgen und die rechte Seite übernehmen?“ Ruhig und höflich stellte er die Frage, sich dabei beständig nach Gefahren umsehend. Richild nickte nur und gab Amalvin mit einem Kopfnicken zu verstehen, seine Position einzunehmen. Vorsichtig folgten die beiden den Zwergen. Sie setzten sich in Bewegung, tiefer in die Kaverne hinein. Andragrimm, der mittlerweile den Felsspalter auf der Schulter abgelegt hatte und nur mit der linken Hand festhielt, hatte eine Wurfaxt in der Hand, ebenso Atosch. Der flackernde Schein der Laternen warf unruhiges Licht und grotesk wirkende, riesige Schatten. Dumpf hallten ihre eigenen Schritte bis tief in die sie umgebende Finsternis. Kein anderes Geräusch war auszumachen, nur ein weiterer Hilferuf erfolgte, mit dem sie ihre Richtung korrigieren konnten. Es war die Landmeisterin, die sich des Eindruckes nicht erwehren konnte beobachtet zu werden. Genau zu jenem Zeitpunkt, da dieses Gefühl einsetzte und rasant an bedrohlicher Intensität zunahm, vernahm sie eine Art Klackern, wie wenn Holzstäbe in kurzen Abständen auf den Boden schlugen, nur sacht und leise, aber in einem doch wiederkehrenden Rhythmus. Die Richtung, aus der das Geräusch erklang, war durch die Beschaffenheit der Kaverne und den Hall nicht auszumachen, es schien ihr vielmehr, als sei es um sie herum. Die Haare im Nacken der Landmeisterin richteten sich auf. „Da ist etwas.“ Sie blickte sich um, die Umgebung nur ein Schattenspiel in Grautönen unter der Wirkung der Liturgie ‚Bishdariels Zwielicht’, die sie am Eingang gewirkt hatte, fast weiß, wo das Licht der Fackeln sie blendete, deutlicher dort, wohin das Licht nicht reichte. Das Klappern klang wie ein über den Fels kriechendes Skelett – was eine vergleichsweise harmlose Quelle gewesen wäre. Unwillkürlich richtete sie den Blick nach oben, auf der Suche nach dem Ursprung der Geräusche. Und dann sah sie ‚es‘. Für den Moment unfähig sich zu bewegen, musste sie den scheinbar aus einem Alptraum geborenen, grotesk-riesigen Leib einer Spinne anstarren und war nicht in der Lage den Blick abzuwenden. Eisiger Schrecken, aus Urängsten geboren, durchfuhr ihre Glieder und fraß sich in ihren Verstand. Fünf Schritt seitlich von ihnen, kroch das achtbeinige Monstrum an der Höhlendecke entlang. Mit weit ausgestreckt Tastfühlern und arbeitenden Beißwerkzeugen kam es ihnen entgegen und würde bald über ihnen sein. Richhild schätzte den länglichen Leib auf gute drei Schritt, ohne die langen Beine gerechnet. „Hui!“ Entfuhr es ihr, während sie unwillkürlich den Schild zur Deckung hob und mit „Spinne – fünf Schritt vor uns.“ die anderen alarmierte. „Bleib’ hinter mir.“ Dies galt Amalvin, der die gewaltige Spinne mit geweiteten Augen musterte, während sich Schweißtropfen auf seinen Schläfen sammelten. „Verdammt.“ presste sie zwischen ihren Zähnen hervor. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was dies für ein fehlgewachsenes Monster war – doch schlimmer als der Krakenmolch – zugegeben ein Kleiner – vor fünf oder sechs Götterläufen war es vermutlich nicht. Der hochgewachsene Amalvin, bei dem dieses Monster nichtsdestrotz einen wirklich empfindlichen Nerv traf, hielt sich nicht mit Worten auf. Er umfasste Lampe und Rabenschnabel und war in diesem Moment dankbar um seine dicken Handschuhe, die verhinderten, dass der Griff des Rabenschnabels schweißnass werden konnte.

Als ob die Riesenspinne wüsste, dass sich die beiden großen Zweibeiner auf ihren Angriff vorbereitet hatten, schwenkte sie im letzten Moment von dem Weg an der Decke in Richtung der Golgariten und gelangte so zu der Spitze der kleinen Formation am Boden. Die Angroschim hatten den Warnruf Richilds vernommen, doch bevor sie begriffen hatten, von wo die benannte Gefahr drohte, war es schon fast zu spät. Andragrimm und Roglamox konnten gerade noch rechtzeitig auseinanderspringen, als der massige, achtbeinige Leib von der Kavernendecke sprang, sich im Fallen drehte und mitten zwischen ihnen landete. Sofort schnellte die Spinne in Richtung ihrer Beute - Roglamox - vor und in dem Moment, da der Angroscho seinen Felsspalter mehr reflexartig, denn gezielt auf den Körper der Spinne niedersausen ließ, bissen die Zangen des Monstrums in seine Hüften. Der Zwerg schrie schmerzerfüllt auf, während die Doppelaxt schmatzend durch das Chitin des Panzers des Untiers fuhr und dort stecken blieb. Die schnellen, ruckartigen Bewegungen des Arachnoiden rissen Roglamox den Griff aus der Hand. Alle anderen Zwerge fächerten ziemlich unkoordiniert auf und versuchten eine neue Formation zu finden, doch waren sie für den Moment von der Art des Gegners und dessen Angriffstaktik überfordert. Einzig Fobosch blieb besonnen und trachtete sofort danach, die Spinne zu umlaufen, um ihren Hinterleib anzugehen. Andragrimm brüllte vor Zorn und ging seinerseits auf die Spinne los, schlug seinen wuchtigen Hammer auf die Beißwerkzeuge, um seinen Kameraden zu befreien. Die Landmeisterin und Amalvin nutzten die Richtungsänderung des Viehs, das sie in seine Flanke gebracht hatte. Die Landmeisterin hieb auf eines der übermannslangen, schwarzen, über zwei Spann dicken und haarigen Beine des Monstrums ein, so dass die stumpfe Seite des Kriegshammers das Gelenk mit einem hässlichen Knacken zu Brei verwandelte. Amalvin schluckte, widerstand nur mit Mühe dem Drang, sich von den spritzenden Chitinresten wegzuducken, und tat es Richild gleich, was dazu führte, dass das Untier auf einer Seite einbrach und der massige Unterleib auf den Boden schlug. Schrill zischend ließ die Spinne von ihrem ersten Gegner ab und versuchte, sich zu den beiden Großen zuzudrehen, was aufgrund der erlittenen Behinderung jedoch kein leichtes Unterfangen war. Roglamox entfuhr ein Stöhnen, welches jedoch im Chaos unterging, als das Untier von ihm abließ und die Zangen ihn freigaben. Sofort brach der Zwerg zusammen und blieb röchelnd liegen. Fobosch war derweil in den Rücken der Spinne gelangt und rammte den Wurmspieß mit Anlauf in ihren Hinterleib. Er wusste, dass dies der wirkungsvollste Weg war, die Achtbeiner zu töten, auch wenn die Tiere, welchen die Tunneljäger zumeist begegneten, bedeutend kleiner waren. Mit einer fremdartigen und zugleich schrillen Kakophonie wurden die Bewegungen des sterbenden Tieres panisch. Wild und unkoordiniert zuckte sein Leib hin und her und traf dabei mit seinen Beißzangen den Schild Amalvins, welcher nach hinten geschleudert wurde und hart auf dem Rücken landete. Gerade als die Angroschim der Spinne endgültig den Rest gegeben hatten, legte sich die kurzzeitige Benommenheit des Graumantels, geboren aus einer pochenden Platzwunde an seinem Hinterkopf, und sein Bewusstsein nahm das war, was seine offenen Augen bereits einen längeren Moment zu sehen imstande waren. Zwei weitere Monstrositäten kamen aus der Richtung, aus der sie die Hilferufe der Zwerge vernommen, hatten auf sie zu. Amalvin strich sich mit seinen behandschuhten Händen über den Hinterkopf, betrachtete seinen blutverschmierten Fingerspitzen und kniff die Augen zusammen, ehe er seinen Rabenschnabel fasste, die wie durch ein Wunder immer noch brennende Sturmlaterne vom Boden hob und aufstellte und sich den beiden neuen Bedrohungen zuwandte. Den kurzen Blick der Landmeisterin quittierte er mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken, woraufhin sich seine Brauen zusammenzogen, als die kleine Bewegung mit stechendem Kopfschmerz quittiert wurde. Damit waren die beiden neuen Spinnen auch schon heran, und die Golgariten wandten sich, mit der unabgesprochenen Einheit vieler gemeinsamer Übungskämpfe der nächsten Spinne zu, duckten sich unter den zuschnappenden Kiefern hinweg, so dass der Angriff flach am Schild abglitt, und hieben ihre Streithämmer auf die verletzlichen Stellen des Monsters, die Gelenke, welche die Beine mit dem Vorderkörper verbanden. Mit einem lauten Schrei stürzte sich Andragrimm auf den anderen, herannahenden Achtbeiner. Die Taktik war klar. Während der erfahrende Soldat die Aufmerksamkeit der Spinne auf sich zog und somit an sich band, attackierten die anderen Zwerge die Beine des Untiers und gaben Fobosch, der als Einziger mit einer Stangenwaffe ausgestattet war, die Möglichkeit, das gigantische Tier zu umrunden, um es aufzuspießen. Die monströsen Viecher leisteten erbitterten Wiederstand und kämpften mit einem rein instinktiven Verstand, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten, beziehungsweise ihr Leben schlicht aushauchten, so etwas wie Flucht kannten sie scheinbar nicht. Schwer atmend und aus einer Wunde am Bein blutend ging Andragrimm neben Roglamox in die Knie, als die Monstren endlich tot waren. Borindarax kam eiligst zu ihnen gelaufen, nachdem er und die anderen Angroschim sich versichert hatten, dass keine weitere, unmittelbare Gefahr drohte. Boindil, der unverletzt geblieben war, blieb in ständiger Alarmbereitschaft. Roglamox lag bleich auf dem Höhlenboden und atmete flach. Die Scheren der Spinne hatten unterhalb seines stählernen Brustpanzers angesetzt, doch zumindest hatte das lange Kettenhemd, welches darunter lag und ihm bis zu den Knien reichte, einiges der fatalen Kraft des Arachnoiden abgehalten. Leider waren einige der fein verzahnten Glieder aufgesprengt worden und so hatte er nicht nur Quetschungen, sondern auch eine Fleischwunde erlitten. Blut sickerte unter der Rüstung hervor. Während der Vogt sich mit der Hilfe von Atosch daran machte, den Brustpanzer abzunehmen und die Kette soweit hochzuschieben, dass sie an die Blutung kamen, griff Andragrimm nach der Hand seines Kameraden. “Ohne deine Warnung vorhin, wären wir unbedarft hier herein marschiert und hätten ein Massaker erlebt“, redete er dem Verletzten zu. „Halte durch. Du bekommst einen Druckverband und dann helfen wir dir auf die Beine. In wenigen Tagen sitzen wir wieder hinter den Mauerns Senaloschs und wir gönnen uns ein Ferdoker.” Der am Boden liegende hob kurz den Kopf und grunzte seine Zustimmung, beließ es aber dabei und sparte sich seine Kräfte.

Amalvin und Richhild, die während ihrem Vorgehen gegen den zweiten Gegner Verstärkung von Borindarax erhalten hatte, waren glimpflich davongekommen. Einzig eine große Beule in dem Schild der Landmeisterin kündete von der Kraft der erschlagenen Untiere. Amalvin hingegen würde noch einige Stunden Schädeldröhnen haben, dessen war er sich bewusst. „Puh. Meint Ihr, da sind noch mehr?“ Richild fuhr sich durch die schweißbedeckten Haare und öffnete und schloss ihre Hände, noch immer bemüht, nicht in das Licht der Fackeln zu blicken. Gegen solch einen Gegner hatte sie noch nie gekämpft. „Sind die häufig in Euren Tunneln?“ Interessante Biester allemal ... . Sie kniete sich zu ihrem Graumantel und blickte diesem in die Augen. „Schau mich an. Wieviel Finger halte ich hoch?“ Nach einigen Wortwechseln, offenbar zufrieden mit der Antwort, blickte sie in die Runde der Angroschim. „Benötigt von Euch jemand noch Hilfe?“ Borax schüttelte den Kopf, ohne jedoch aufzublicken, oder in seinem Tun innezuhalten. „Die Wunden sind nur oberflächlich. Schlimmer sind die Quetschungen. Die werden ihn sicher eine Weile lang ärgern, aber nicht umbringen“, kommentierte der Vogt. „Das waren keine normalen Höhlenspinnen“, setzte schließlich Andragrimm an, die andere Frage der Landmeisterin zu beantworten und erntete von seinen Brüdern zustimmendes Gemurmel für diese Behauptung. „Höhlenspinnen können zwar groß werden, aber nicht so riesig“, erklärte Fobosch. „Mit ihnen haben wir Angroschim tatsächlich relativ häufig zu tun, das heißt hauptsächlich wir Tunneljäger.“ Andragrimm nickte und sah bei den Worten anerkennend in Foboschs Richtung. „Deswegen wusstest du gleich wie ihnen beizukommen ist und hast gehandelt“, lobte der bullige Krieger den Tunneljäger, was dieser mit einem grimmigen Nicken quittierte. „Was diese Spinnen letztlich waren oder sind weiß ich nicht“, fuhr Fobosch fort. „Roglamox aber behauptet, dass Drachenmacht im Spiel ist. Wahrscheinlich sind sie deswegen so groß geworden.“

„Lasst uns Eure verschwundenen Leute suchen“, schlug Richhild nach einiger Zeit vor. Atosch und Fobosch waren zu jenem Moment bereits dabei die nähere Umgebung der Kaverne zu erforschen. Die Rast hatte alle ausreichend Kraft schöpfen und vor allem den Schrecken, der mit dem Kampf gegen die Riesenpinnen einhergegangen war, verdauen lassen. Ihre Wunden konnten die Krieger auch noch später lecken, die Erstversorgung war weitestgehend beendet, das war das wichtigste– eine weitere Verzögerung konnte gut und gerne bedeuten, dass es einige Leute mehr zu bestatten gab. Immerhin waren die Gesuchten noch nicht gefunden. „Fertig“, vermeldete Borax fast zeitgleich zur Äußerung der Landmeisterin, drehte sich zu ihr um und nickte zustimmend. Mit einem leichten Stöhnen kam Andragrimm hoch. Er hatte sich seine Wunde am Bein selbst verbunden und half nun mit Borax Roglamox auf die Beine. Dieser verzog das Gesicht, hielt sich aber aufrecht, nachdem die Anderen ihn losließen. Staksend versuchte ging er die ersten Schritte, bis klar war, dass er alleine würde laufen können. Dann ging es gemeinsam weiter, noch tiefer in die Kaverne hinein. Noch gut weitere einhundert Schritt legten sie zurück, bis sie einen schwachen Lichtschein vor sich erkennen konnten. Dank der wiedereinsetzenden, wenn auch unregelmäßig ertönenden Hilferufe, hatten sie ihre Richtung immer wieder entsprechend korrigieren können. Ein riesiger Felsvorsprung, in dessen Schatten sie gerastet hatten und welcher erst beim Passieren als ein solcher zu erkennen war, hatte die Rufe der Gesuchten offensichtlich zeitweilig abgeschirmt. Zuerst erkannten sie nur einen schwachen Umriss, welcher sich im Näherkommen dann immer mehr zu einem steinernen Tor aus der Dunkelheit herausbildete. Hinter dem Portal lag die Lichtquelle und von dort drangen auch die Hilferufe zu ihnen. Das Tor, welches die Abmaße einer leicht überdimensionierten Tür besaß, aber aus massiven Stein bestand, stand einen Spalt breit offen in Richtung der Kaverne. Die aufgetürmten Steinhaufen rechts und links des Portals waren wohl vor kurzem der Schutthaufen gewesen, welcher den Eingang verborgen und verschlossen gehalten hatten.

Zwerge auf Abwegen

Als sie bereits unter zehn Schritt entfernt waren, erscholl ein weiterer Ruf. Fobosch konnte nun nicht länger Ruhe bewahren, denn er erkannte einen seiner Kameraden. Der Tunneljäger trat an den anderen vorbei und machte einige schnelle Schritte auf das Portal zu. „Thogax, Ubrim, ich bin es, Fobosch und ich habe Verstärkung mitgebracht. Könnt ihr uns das Tor öffnen?“ Kurze Zeit herrschte Stille, dann begann sich das Portal mit einem fast schrillen Ächzen langsam zu bewegen. Als der Spalt groß genug war, griff Fobosch hinein und half das gut zehn Finger dicke Türblatt zu aufzuziehen. Auch Andragrimm trat hinzu und packte mit an, als er erkannte, was der Tunneljäger vorhatte. Doch selbst mit Hilfe ihrer vereinten Muskelkraft dauerte es nervenzehrend lange Momente, bis das Tor schließlich offenstand. Der Zwerg, der den Gefährten von der anderen Seite entgegenstolperte, konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sein Brustpanzer sah arg ramponiert aus und der linker Arm hing unbrauchbar am Körper hinab. Noch schlimmer jedoch sah der Angroscho aus, welcher hinter ihm im Durchgang lag. Er war nicht bei Bewusstsein und hatte wohl stark geblutet, jedenfalls war der Verband, welcher seinen ganzen Unterleib bedeckte durchtränkt, seine Haut leichenblass. „Ubrim“, stieß Fobosch erschrocken hervor und ließ sich neben seinem Kameraden auf die Knie fallen. Andragrimm stützte derweil denjenigen, der Thograx heißen musste. Die beiden Angroschim begann sogleich ein hastig geführtes Gespräch in ihrer Muttersprache. Offenbar wollte der Krieger genauestens wissen, was vor sich gegangen war und was sie nach dem Portal erwartete. Der Gang, der sich hinter dem Tor geöffnet hatte, fiel leicht ab und war perfekt quadratisch angelegt, zwei auf zwei Schritt hoch und breit. Besonders jedoch war die Beschaffenheit der Oberfläche des Bodens und aller Wände. Sie glänzten und schienen so perfekt eben, als seien sie poliert. Die Landmeisterin schenkte diesem Detail jedoch wenig Aufmerksamkeit. Sie vernahm ein Wispern, das weit entfernt schien, dies jedoch nicht war, dass wusste die Golgaritin sofort, denn es war nicht natürlichen Ursprungs. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf und sie wusste aus leidvoller Erfahrung, dass sie dieser körperlichen Reaktion vertrauen konnte. Roglamox, der schwer atmend und mit angestrengter Miene neben sie trat, schien ebenfalls etwas zu spüren. Er streckte den Arm aus und wies auf verblichene Symbole, welche im Rahmen des Portales angebracht worden waren. Richhild verband sie mit arkanen Zeichen auf den Roben verschiedener Gildenmagier, die sie schon gesehen hatte. „Noch mehr Drachenwerk“, presste der Angroscho zwischen den Zähnen hindurch. Die Landmeisterin ließ ihre Schultern kreisen, schloss die Augen und versuchte, sich mehr auf das Wispern zu konzentrieren, das am Rand ihrer Aufmerksamkeit kratzte. Sie verabscheute unkontrollierbare Magie – eine Tatsache, die Amalvin deutlich bewusst war. Er hob die Laterne, so dass ihr Schein über die fahlen Symbole glitt, und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn, suchend, ob ihm vielleicht eine Erleuchtung über Sinn und Zweck der Schrift verschaffte – nicht, dass er sich mit so etwas auskannte. Doch das einzige, was der Graumantel den fremdartigen Glyphen entreißen konnte, war die Tatsache, dass sie zwar verblichen waren und unter einer leichten Staubschicht lagen, jedoch wohl mit einstmals roter Farbe gemalt worden waren. An ihren unteren Rändern fand er darüber hinaus auch bei mancher eine Stelle, an der sie Verlaufen schien und die Farbe eine Nase gebildet hatte. Während Amalvin und Roglamox die Zauberzeichen untersuchten, wobei der Zwerg seine Hände beständig an der Doppelaxt beließ, um ja nicht in Versuchung zu kommen, mit der Magie die er verspürte noch näher in Kontakt zu geraten, verharrte die Landmeisterin in angespanntem Lauschen. Es waren Fetzen, Bruchstücke, Silben, keine vollständigen Wörter und sie waren fremd. Nein, sie waren nicht fremd, sie waren alt. Es musste ein frühes Bosparano sein, welches Richhild als schwacher Widerhall aus dem Kellerkomplex zu sich heraufdringen hörte. “Shi… euch. Mein … ist… Aquitan… Garc…“, war alles, was sie dank ihrer Sprachkenntnisse des moderneren Bosparano erahnen und ableiten konnte. Die Landmeisterin zuckte die Schultern und lauschte weiter, im vergeblichen Versuch, den Wortfetzen Bedeutung beizuordnen. Das Geflüster war um sie herum, kam von überall und nirgends und sträubte sämtliche Haare an ihrem Körper. Amalvin hielt währenddessen seinen Rabenschnabel und drehte sich zu den Zwergen. „Ihr habt doch einen Magiewirker unter Euch, erzähltet ihr – was könnt ihr herausfinden?“ „Was haben wir“, kam die Gegenfrage, schnell wie von der Armbrustsehne deutlich erbost von Roglamox. „Ich bin kein Zauberer“, unterstrich der Zwerg mit Nachdruck und musste dann doch das Offenkundige etwas kleinlauter eingestehen. „Das Drachenwerk in mir lässt sich nicht beherrschen. Einzig die Wahrnehmung von magischen Wirken scheint ein dauerhafter Effekt zu sein. Anderes geschieht spontan und ist vermutlich an meinen Gemütszustand gekoppelt. Ich lebe bereits seit über fünf Jahrzehnten damit, aber noch einmal, ich bin kein Zauberer.“ Andragrimm trat hinzu und legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Amalvin meint es nicht böse“, versuchte der Krieger Roglamox ein wenig zu beschwichtigen. „Lasst uns nicht streiten und lieber sehen, was tiefer in der Anlage verborgen liegt. Wie geht es deinem Bein, du humpelst nicht mehr“, versuchte er vom Thema abzulenken. Roglamox verzog die Mundwinkel. Er erkannte die Absicht des Kriegers, antwortete aber dennoch ruhig. „Der Drache in mir hat die Wunde längst geschlossen“, erwiderte Roglamox ohne Stolz, aber auch ohne erkennbare Verbitterung in der Stimme. Er hatte sich mit seinem Fluch längst abgefunden und versuchte nichts mehr zu verheimlichen.

Andragrimm nickte, sichtlich darum bemüht, sein Unbehagen zu verbergen. Schnell wechselte er erneut das Thema. „Thograx sagt, dass Ubrim und er sich hier vor den Spinnen in der Kaverne verschanzt gehalten haben. Die Viecher seien auf einmal aufgetaucht und haben sie attackiert. Die beiden mussten sich in die Grabstätte zurückziehen, da Ubrim schwer verletzt wurde und sie einer Übermacht zu unterliegen drohten. Drinnen ist es sicher, dort gibt es nur zerfallene Skelette, sagt er.“ Amalvin verkniff sich ein „Das ist nicht wirklich sicherer.“ und nickte dem seltsamen Zwergenmagier, der kein Magier war, zu. „Nichts für ungut.“ Wie auch immer– der konnte zaubern, im Gegensatz zu den beiden Golgariten– wie auch immer. Nachdem sich die Landmeisterin überzeugt hatte, dass die verletzten Zwerge versorgt waren, ging sie gemeinsam mit ihrem Ordensbruder, Andragrimm und Borindarax weiter, den Gang entlang, während Fobosch und Atosch bei den Verletzten blieben. „Als erstes erreichen wir eine Art Vorraum“, erklärte der Zwergenkrieger, was er zuvor von Ubrim erfahren hatte. „In ihm befinden sich die Skelette. Von dort kommt man auch in einen weiteren, bedeutend größeren Raum, welcher von einem großen Leuchtstein erleuchtet wird. In dem steht jedoch Wasser. Die Tunneljäger haben nur einen Blick hineingeworfen, sich dann aber zurückgezogen, um keine kalten Füße zu bekommen. Bei dem eisigen Wasser ist das wohl auch das Beste gewesen. Fünfzehn Finger hoch soll es gestanden haben und merkwürdigerweise sogar einen geringen Wellengang aufgewiesen haben.“ Andragrimm schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist sehr ungewöhnlich“, dies betonte er. „Wasser unter Tage ist normal so glatt wie ein Spiegel, wenn es nicht fließt und daran möchte ich zweifeln.“ Nach nur wenigen Augenblicken erreichten sie den besagten Raum. Er war kubisch, mit einer Seitenlänge von vier Schritt und bis auf die sechs Skelette vollkommen leer. Die Gerippe mussten schon lange hier liegen, vollkommen blank und sogar bar jedes Stofffetzens. Einzig metallische Glieder alter Kettenrüstungen waren zu finden, zum Teil sogar noch zusammenhängend. Die Toten waren allesamt Menschen, das war anhand des Knochenbaus zu erkennen. Richhild lief es kalt über den Rücken, als sie erkannte, dass alle Skelette die Überreste eines Kurzschwertes in Händen hielten, welches ihnen noch zwischen den Rippen steckte. Das gespenstische Wispern war hier für die Landmeisterin deutlich intensiver zu vernehmen, jedoch schien es nicht hier, bei diesen Toten, ihren Ursprung zu haben. Borindarax hielt im Eingang des Raumes inne und machte eine unschlüssige Miene, während Andragrimm mit fest gepacktem Hammer den Raum durchquerte, um den Durchgang zum nächsten zu sichern, hinter dem man ein leises Plätschern vernehmen konnte. „Hier gehen Stufen hinab“, raunte der Krieger nach hinten zu den anderen. „Keine Gefahr auf den ersten Blick.“

Richilds Augenbrauen schossen angesichts der vermutlichen Selbstopferung der sechs in die Höhe. Unwillkürlich suchte sie Boden, Wände und Decke nach Spuren magischer Einwirkung ab, als sie versuchte, die Lage der einzelnen Skelette in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Doch sie fand keine, nirgends. Die Machart von Kettenhemden und Kurzschwertern war alt, sehr alt. „Was habt ihr hier gewollt?“ Die halblaute Frage der Landmeisterin an die Sechs formulierte, was zumindest Amalvin ebenfalls durch den Kopf ging. Richild musterte die Umgebung, mit zusammengekniffenen Augen da, wo das Fackellicht sie blendete. Unvermittelt drehte sie sich zu Andragrimm um. „Wir wissen nicht, was im Wasser ist ... doch wenn es sich bewegt, hat es entweder Verbindung mit dem Fluss, oder etwas lauert darin.“ Kurz und deutlich trat ihr die fünf Götterläufe zurückliegende Episode mit dem Krakenmolch im Albernischen vor Augen. Und es war nur ein kleiner gewesen. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Ich habe nicht vor, ins Wasser zu gehen“, antwortete der Zwergenkrieger mit einem leicht ironischen Grinsen. „Ihr wisst sicher, dass wir uns mit Efferds Element etwas schwertun.“ „Die Frage ist nicht, ob ihr ins Wasser geht, sondern ob das, was darin ist, herauskommt“, gab Richild zu bedenken. Die Landmeisterin trat an die Seite Andragrimms, kniff die Augen zusammen und spähte die Treppe hinab. Das Licht jedoch drang nur in ungenügender Intensität den Gang entlang. Dieser Tatsache zum Trotze schien waberndes, ja diffuses, Licht in grünlichen und bläulichen Tönen zu ihnen hinauf zu dringen, so dass sie zumindest eine Ahnung der Wasseroberfläche erhaschen konnte. Mehr jedoch nicht ... langsam ließ die Wirkung der Liturgie offensichtlich nach. Nun ja – nichts war von Dauer. Borindarax hatte sich in der Zwischenzeit gefasst und trat nur seinerseits näher. Neben dem ersten der Skelette ging er in die Knie und betrachtete es von nahem. „Was meint ihr, wie lange sie tot sind“, fragte der Vogt schließlich an die Landmeisterin gerichtet. „Die Skelette hier liegen schon lange – mehrere hundert Jahre, vermutlich noch länger. Das lässt sich auf einen Blick schwer sagen.“ Die Landmeisterin wandte sich wieder den Gerippen zu und kniete sich ebenfalls nieder, um eines von ihnen genauer zu untersuchen. Was ihr dank ihrer umfassenden Erfahrung in solchen Dingen auffiel war, dass es wohl große Menschen gewesen seien mussten, allesamt über einem Maß von einem Schritt und siebzig Halbfingern. Dazu zeugten die Knochen von einer guten Ernährung. Das waren keine Bauern oder Tagelöhner gewesen, da war sie sich ziemlich sicher. Als sie mit den Fingern die Dicke und Robustheit eines Oberschenkelknochens ertastete, vernahm sie wieder ganz deutlich das Wispern und diesmal war es noch deutlicher. „…Legio… V. Shi… Kohor…. Brüder… Freitod… eingeschlo…. Zwerge….“, drang es zu ihnen herauf, doch weiterhin schien es außer ihr niemand wahrzunehmen. Richild sank auf beide Knie, die Hand noch immer auf dem dicken, wuchtigen Knochen, mürbe geworden unter der Last der Jahre. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. „Ich bringe euch hier raus.“ versprach sie.

Die stillen Worte der Landmeisterin irritieren Borax. “Ihr meint sie gehören nicht hierher?” Der Zwerg wirkte unschlüssig, was er glauben sollte. “Könnte dies nicht das Ende eines verschrobenen Totenkults sein? Ich habe von etwas Vergleichbarem am Berg Visra gelesen. Vielleicht waren es aber auch einfache Fanatiker und opferten sich im Namen ihres Herren, welcher möglicherweise in den tiefen Gewölben seine letzte Ruhestätte gefunden hat”, mutmaßte er. Andragrimm warf dem Vogt einen vorwurfsvollen Blick zu und begann leise zu knurren, weil Borindarax in seiner begeisterten Erzählung die Stimme erhoben hatte. Ertappt verzog er auf die Ermahnung des Kriegers hin das Gesicht und nickte ihm zu, um ihn anzuzeigen, dass die Mahnung verstanden hatte. “Gehen wir weiter”, fragte der Vogt daraufhin, nun wieder mit gesenkter Stimme. “Lasst es uns herausfinden.” „Ich denke, sie wurden hier eingeschlossen.“ Richild hatte die Stimme ebenfalls gesenkt, so dass sie gerade noch bis zu Borindarax und Andragrimm drang. „Wir werden sie später angemessen bestatten.“ Für weitere Erklärungen war später noch Zeit – das war hier nichts für die unmittelbare Anwesenheit der Gerippe. Schweigend und in Gedanken versunken warf sie einen letzten Blick auf die Unglücklichen, ehe sie ihren Schild wieder schulterte und hinter den Zwergen herschritt. Der Vogt machte eine bestürzte Miene, als er die Theorie der Landmeisterin vernahm, ersparte sich aber einen weiteren Kommentar. Anstelle dessen trat an Andragrimms Seite und folgte dem Krieger stumm die Treppe hinunter.

Der Gang hatte die gleichen Abmessungen wie derjenige, welcher sie bereits vom Portal in den Vorraum geführt hatte, nur dass er steiler hinabführte. Sechzehn Stufen reichte er in die Tiefe, dann öffnete sich eine große, quadratische Halle vor ihnen. Richilds Augen hatten sie vorhin nicht getäuscht. Der grünlich- bläuliche Schein erfüllte das gesamte Ausmaß des Raumes, welcher sicher sechzehn Schritt lang sein mochte, acht Schritt in die Breite reichte und ebenso hoch war. Die Quelle des Lichts war ein kindskopfgroßer Gwen- Petryl Sein in der Decke der Halle. Er war genau über einem ovalen Altar am anderen Ende des Raums angebracht, auf dem ein weiteres Skelett lag. Die Gebeine waren jedoch nicht das einzige, was sich auf dem abgeflachten Stein befand. Der Schädel schien von einer glänzenden Maske bedeckt und neben dem Gerippe lag ein langer Stab. Leicht kräuselte sich das Wasser zu ihren Füßen, wogte hin und her. Bedrohlich wirkte es jedoch keinesfalls, denn bereits wenige Fingerbreit unter der Oberfläche erkannte man den Boden der Halle. Wenn die Aussage der Zwerge richtig gewesen war, musste der Wasserstand gefallen sein. Andragrimm war dieser Umstand offenbar auch sofort aufgefallen, denn er schüttelte nachdenklich den Kopf und prüfte dann mit dem Hammerstiel was er sah, um auf Nummer sicher zu gehen. Richhild erkannte, dass an den beiden langen Seitenwänden jeweils vier Gänge abgingen. Sie trat die Seite des Zwergenkriegers. Offenbar gab es hier unten noch weitere Gewölbe. Zudem waren Wände und Decke hier nicht glattgeschliffen, sondern über und über mit kunstvollen Reliefs bedeckt. Sie zeigten eine merkwürdige Flora und allerlei Meeresgetier, aber auch Lebewesen, die Menschen ähnelten, ihren Lebensraum aber wohl im Wasser besaßen. Amalvin hatte unterdessen noch etwas anderes entdeckt und hob den Arm, um auf eine steinerne Statue zu deuten, welche im letzten Durchgang auf der rechten Seite stand. Die Landmeisterin wusste sofort, dass dies der Ursprung des Wisperns sein musste. Dies war keine einfache Skulptur aus Stein. Richhild konnte den Blick nicht abwenden, war wie gebannt.

Das wabernde Licht des Efferdsteins erzeugte ein beunruhigendes Spiel der Schatten auf dem Gesicht der Statue. Doch trotz dieser Tatsache und ungeachtet der Entfernung konnte Richild die zum entsetzten Schrei geformte Fratze im Stein erkennen. Es fuhr ihr durch Mark und Bein. „Nereton… Gruße.“ Erstarrt blieb die Landmeisterin stehen und visierte mit stierem Blick die Statue, ihre Umgebung für einige Atemzüge lang vollkommen vergessen. „Landmeisterin?“ Amalvins Stimme klang alarmiert. „Was ist?“ Wachsam blickte er sich um, die Hand am Griff seines Rabenschnabels, bereit zuzuschlagen – und doch ohne eine genauere Ahnung, was seine Ordensobere derart bannte. Er versuchte erneut sein Glück, ergriff sie an der Schulter und schüttelte sie vorsichtig, bereit, bei einer seltsamen Bewegung außer Reichweite zu springen. Mit einem Zischen riss die Frau sich los und wirbelte zu ihren Begleitern herum. „Die Statue!“ War alles, was sie herausbrachte. „Zerstört sie!“ Der Graumantel stapfte gehorsam los, nahm die letzte Stufe und trat ins eiskalte Wasser, welches daraufhin seine Stiefel umspülte. Andragrimm, der die Worte Richilds ebenfalls vernommen hatte folgte, während der Vogt unsicher zurückblieb und die Landmeisterin anstarrte. Amalvin durchmaß den Großteil der Halle, ohne dass etwas geschah. Er schritt an den Durchgängen in den Seitenwänden vorbei und erkannte, dass aus ihnen ebenfalls Licht drang, welches von der gleichen Natur war wie das in der großen Halle in der sie sich befanden. Das Wasser schien in den abgehenden Gängen jedoch tiefer zu werden, da der Boden bald nicht mehr zu sehen war. Auf Höhe des großen, ovalen Altares riskierten er und Andragrimm einen Blick auf das Skelett. Es war ebenfalls unzweifelhaft ein Mensch, der hier seine vermeintlich letzte Ruhestätte gefunden hatte. Auffällig jedoch war die Maske, die er trug. Sie war aus einem fast durchsichtigem, leicht milchigem Material geformt und sparte die Mundpartie aus. Mittig auf der Stirn hatte es ein Loch, um das verschiedenfarbige Edelsteine eingelassen waren. Der lange Stecken neben dem Gerippe musste ein Zauberstab sein, daran konnte kaum ein Zweifel bestehen. Warum auch sonst sollte das Holz noch nicht verrottet sein? Er war schlicht gearbeitet, hatte eine Länge von ungefähr einem Schritt und dreißig Fingern und war aus dunklem, kerzengeraden Holz gefertigt. Keine Runen, Zauberzeichen oder sonstige Verzierungen schmückten seine Oberfläche, lediglich eine kleine, pechschwarze Kugel war an seinem oberen Ende aufgesetzt. Deutlich registrierte der Ordensritter die Abscheu Andragrimms, welcher einen Bogen um das Skelett machte.

Im Vorbeigehen erhaschte Amalvin auch einen Blick auf die Darstellungen auf dem Altar, die ihn unweigerlich an Kindergeschichten, wie sie die Eisenbrücker manchmal erzählten, erinnerten. An die märchenhaften Erzählungen, welche sich um den Hof des Flussvaters rankten. Dann standen sie vor der Statue im letzten Durchgang. Es war die perfekte Darstellung eines Mannes, welcher nach altertümlicher Rüstung und dem aufgesetzten Helm offenbar einen Soldat darstellen sollte. In der Bewegung war er aus dem Stein gehauen worden, mit erhobenem Kurzschwert, mit vor Entsetzen geweiteten Augen und einem Schrei auf den Lippen, der den Betrachter zu erschüttern vermochte. War diese Statue aus dem Stein geschaffen, oder war hier vielmehr jemand in Stein gebannt worden? Amalvin schauderte bei dem Anblick und auch der Zwergenkrieger neben ihm murmelte Anrufungen an den Allvater. Er dachte offenbar das gleiche. Überzeugt wurde Amalvin dann bei genauerer Betrachtung des Rosshaarkamms der ausladenden Helmzier. Einzelne Haare waren versteinert, das vermochte kein Steinmetz zu vollbringen. Amalvin blieb unvermittelt stehen. Keine Götterstatue, wie er zuerst gedacht hatte. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Was auch immer diese Statue erzeugt hatte – sie war einmal ein Mensch gewesen. Er verharrte wie angegossen, bis zu den Knöcheln im Wasser, und schüttelte irritiert den Kopf. Seine Ordensobere hatte manchesmal geniale Geistesblitze und war üblicherweise durchaus hell im Kopf – aber hin und wieder .... . Das hier war weder ein Untoter noch schien es eine direkte Gefahr. Er hob pflichtbewusst den Rabenschnabel, holte aus – und stoppte den Schlag. „Ehrwürden – sicher?“ Eine Frage, die er im Eifer des Gefechtes niemals gestellt hätte. Aber das hier – der arme Graumantel fühlte das Götterwirken schon fast auf seiner Haut und die Umgebung reichte aus, um ihn wirklich und ernstlich ins Grübeln zu bringen. Er hob unglücklich die Schultern, zuckte, als die Bewegung einen Stich durch seine jüngsten Blessuren jagte und sah sich mit gerunzelter Stirn um. Das Wispern in Richilds Kopf gewann an Intensität – an Drängen. An Präsenz. Sie brach auf die Knie und schlug sich die Hände vor die Augen, ohne das Flüstern aussperren zu können. Der geweihte Rabenschnabel glitt aus ihren gefühllosen Fingern und fiel ins Wasser, so dass die Wellen über ihm zusammenschlugen. Borindarax keuchte erschrocken auf und ließ sich neben Richild auf die Knie sinken. Im gleichen Moment ruckte Andragrimms Kopf zur Landmeisterin herum. Unwillkürlich stieß er einen lauten und derben Fluch aus, als er deren Zusammenbrechen erkannte. Der Zwergenkrieger zögerte nun nicht mehr und holte aus. Einen weiten Bogen über die rechte Schulter beschreibend, fuhr der beidhändig geführte Zwergenschlägel auf die Statue nieder und traf sie mitten ins Gesicht. Der durch den Aufprall verursachte Knall dröhnte wiederhallend durch die unterirdische Anlage. Doch trotz der enormen Wucht, wider aller Logik, geschah nichts, außer dass Andragrimm zurücktaumelte, da ihm die Waffe fast aus den Händen geprellt wurde. Erneut fluchte der Krieger und versuchte währenddessen die Betäubung in seinen Armen auszuschütteln. „Erst wenn, … Segnung … verflucht … Erlösung.“ Die auf die aggressive Handlung des Zwergen laut durch den Saal dringenden Wortfetzen waren diesmal für alle hörbar und verursachten ein großes Unbehagen bei den beiden Angroschim, welche unweigerlich alarmierte Blicke austauschten.

Indes konnte wiederum nur die Landmeisterin übersetzen, was sie vernommen hatte. Alle Willenskraft musste sie aufbringen, um daraufhin Wörter mit ihren Lippen zu formen. „Er ist verflucht.“ Es fühlte sich an, als habe sie einen Eiszapfen im Mund. Nur nicht so kalt. Entsprechend undeutlich formte sie die Worte. „Müssen .. . einsegnen.“ Warum wollten ihr ihre Lippen fast nicht gehorchen? Mit Schweißperlen auf der Stirn kämpfte sie gegen ihre widerborstigen Lippen und versuchte es erneut. „Wird ihn ... erlösen.“ Sie ballte die Hand zur Faust. Warum nur kosteten die wenigen Worte Kraft, als wate sie durch Treibsand? Amalvin war zu seiner Ordensoberen zurückgeeilt, vor ihr in die Hocke gegangen und hatte ihr mit gerunzelter Stirn gelauscht. Er fischte nach dem Rabenschnabel und reichte ihr die Hand, um sie auf die Beine zu ziehen. Der Graumantel suchte den Blick Andragrimms. „Geht’s wieder?“ Er keuchte, als das Gewicht der Landmeisterin an seiner Hand hing. Die hatte gerade leidlich andere Sorgen als ein graziöses Aufstehen. „Wir werden das Ding also einsegnen müssen.“ bemerkte er, an die Zwerge und seine Ordensobere. „Also ihr. Jetzt?“ Das Schweigen, das ihm antwortete, reichte ihm. Er seufzte. Natürlich jetzt. Wann auch sonst?

Der Zwergenkrieger sah erst Richhild an, dann den Graumantel. „Ich glaube kaum, dass sie in der Lage sein wird, diesen Ort zu segnen. Zugegeben, ich mag von diesen Dingen nicht viel verstehen, aber die Landmeisterin vermag nicht einmal allein zu stehen.“ Borindarax machte bei den Worten Andragrimms ein betretenes Gesicht. Entschuldigend zuckte er mit den Schultern und rang gleichzeitig mit den Händen in Richtung der Golgariten. Diplomatie gehörte nicht zu den Stärken des Kriegers, doch er sprach die Wahrheit aus. Auch der Vogt glaubte nicht, dass Richhild sich würde ausreichend konzentrieren können. „Das geht schon.“ Die Landmeisterin schüttelte ihren Kopf, als könne sie damit die fremden Gedanken daraus vertreiben. „Ein Grabsegen geht immer. Gebt mir ein bißchen Zeit.“ Sie hielt sich mit einer Hand an Amalvins Schulter fest und öffnete in stummer Forderung ihre zweite. Wortlos reichte ihr der Graumantel ihren Rabenschnabel, den sie an seine Halterung am Gürtel hängte. „Borindarax, wie geht es Euch?“ Der so Angesprochene blinzelte, als er erkannte, dass er gemeint war. „Mir fehlt nichts“, kam es zunächst stockend und zudem wenig überzeugend. „Ich sorge mich lediglich. Immerhin war dieser Ausflug meine Idee. Außerdem verstehe ich nicht, was hier vor sich geht und ich glaube ihr wisst es, zumindest im Groben. Ich bin der Meinung, wir sollten euch in den Vorraum schaffen, besser noch vor das Portal. Das gibt euch vielleicht die Möglichkeit euch zu sammeln und Kraft zu schöpfen. Dies ist kein guter Ort, um die Götter anzurufen. Dort könnten wir uns auch beraten, wie es weitergeht.“ Während der Vogt sprach, verfestigte sich in Richilds Gedanken eine Erkenntnis. Sie würde diese Gewölbe erst dann verlassen können, wenn der Geist erlöst war, er seinen Willen bekommen hatte. Sie war sein Sprachrohr, er würde sie nicht gehen lassen, zu keinem Preis. Wer wusste schon, wie viele endlose Jahrhunderte er gewartet hatte und nur den Wahnsinn hatte, dem er unterdessen anheimfallen konnte. Ein Anflug von Unbehagen durchströmte die wenig leicht zu erschütternde Ordensfrau und ließ eine Gänsehaut auf ihren Armen wachsen. Erneut schüttelte sie sich wie ein nasser Hund, der die Tropfen verscheucht. Gut, im aktuellen Falle mochte das sogar zutreffen – ihre Beinkleider waren von den Knien an abwärts, wo sie im Wasser gekniet hatte, durchweicht. Lässliches Problem. Zumindest verglichen mit dem Rest. „Im Gegenteil, Hochgeboren. Dies ist ein exzellenter Ort, um die Götter anzurufen.“ Widersprach sie schließlich so höflich, wie sie das zustande brachte. Gerade hier wurden sie schließlich benötigt.

Richild schloss die Augen und atmete einigemale tief durch, bis sie ihr überaus pragmatisches Selbst wieder gefunden hatte – unglücklich in einer Ecke kauernd. Mit einem entschlossenen Griff an den Kragen zerrte sie es hervor. „Hier gehen mehrere Geister um – die der sechs Selbstmörder, bosparanische Legionäre wohl, und dessen, der zu dieser Statue wurde, der stärkste von allen. Sie sprechen zu mir – und alle möchten sie gern hier heraus. Der Statuengeist jedoch wird mich hier behalten – oder es versuchen. Zu lange hat er gewartet, jemand zu finden, der ihn versteht.“ Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und dachte nach, ihre freie Hand fest um den Griff ihres Rabenschnabels gelegt, eine Geste, die sie selbst nicht einmal bemerkte. Was für ein Glück, dass sie Marbolieb zu Hause gelassen hatten. Zwar war die kleine Priesterin eine exzellente Seelenheilerin – doch nach dem Erlebnis mit der Paktiererin hätte dieses erneute Eindringen des Geistes ihre sowieso schon gebeuteltes Selbst vermutlich zermalmt wie ein Korn zwischen zwei Mahlsteinen. Sie runzelte die Stirn, was zu einem kleinen, kurzen Grinsen wurde, als ihr ein Gedanke kam. Eher drei. „Wir haben drei Möglichkeiten. Genauer gesagt, vier.“ Aufmerksam betrachtete sie Borindarax und seine Begleiter. Dass Amalvin hinter ihr stehen würde, dessen war sie sich gewiss. „Das erste werden wir tun. Ihr sammelt die sechs Skelette im ersten Raum ein und bringt sie nach draußen. Achtet darauf, dass ihr sie nicht durcheinanderbringt. Später lasst sie auf den nächsten Boronanger bringen und von einem Geweihten einsegnen.“ Sie musterte den dunklen Raum, in dem sie die wache, kalkulierende Anwesenheit noch immer spürte. „Und wenn Du, Geist, ebenfalls Deine Ruhe finden willst, so wirst Du Dich jetzt aus meinem Kopf fernhalten, es sei denn, Du hast etwas wirklich Wichtiges zu sagen. Ich kann nicht nachdenken, wenn Du mich scheuchst.“ Die Landmeisterin wandte ihren Blick zu ihrem Kampfgefährten. „Du begleitest sie und gibst mir Bescheid, wenn die Skelette draußen sind. Ich bleibe hier. Legt sie ab und kommt dann wieder – ich benötige ich euch als Mitbeter.“ Ein zweifelnder Blick traf die Zwerge. „Wenn ihr dies tun wollt.“ Sie holte tief Luft. „Möglichkeit zwei: wir versuchen den Grabsegen. Mit eurer Hilfe. Ich bin überzeugt, er wird klappen. Ansonsten haben wir Möglichkeit drei: ihr holt die Inquisition.“ Mehr Macht. Und notfalls das Ende des renitenten Geistes. „Möglichkeit vier versuchen wir, wenn zwei nicht funktioniert.“ Kurz vollführten ihre Finger die Geste eines Griffels auf einer Tafel. Sie würde sie nicht aussprechen. „Fragen?“ Noch bevor Borindarax oder Andragrimm eine Antwort geben konnten, gab sie ein anderer. Der Geist, welcher zwar die ihm fremden Worten nicht verstanden, wohl aber eine ihm entgegenstrebende Intention erfasst hatte, sah sich nun zum Handeln genötigt. Ein langgezogener, zornerfüllter Schrei erfüllte plötzlich die Halle und Richild meinte, es müsse genau dieser Schrei sein, den die Statue auf den Lippen trug. Alle konnten den Wahnsinn in der sich überschlagenden Stimme hören, doch nur die Landmeisterin spürte, fühlte das dahinterliegende Gefühl, fasste es zur Gänze und brach bewusstlos zusammen, da ihr Körper nicht bereit war, es zu ertragen. Borindarax war geistesgegenwärtig gerade noch in der Lage das Allerschlimmste zu verhindern, so dass zumindest ihr Kopf nicht hart aufschlug. Amalvin knurrte wie ein getretener Hund, und wie von selbst glitt der Griff seines Rabenschnabels in seine Hand. Er wirbelte herum, auf der Suche nach einem Feind, und fand keinen. Mit einem Schnauben steckte er die Waffe wieder weg, beugte sich zu Boden und zog sich mit einem Ächzen seine gerüstete Begleiterin auf die Schultern, warf den Zwergen einen auffordernden Blick zu und wandte sich in Richtung des Ausgangs. Borindarax und Andragrimm folgten dem Graumantel mit verkniffenen Mienen.

Amalvin stoppte jedoch nicht im Vorraum, sondern schritt weiter in Richtung des Eingangsportales. Roglamox war der erste, welcher ihrer gewahr wurde und ihnen entgegenrief. „Was ist geschehen?“ Der Vogt war es, der das Wort ergriff, um seinen Brüdern in knappen Sätzen zu schildern was weiter unten vorgefallen war, während Amalvin Richhild sanft absetzte. Als er damit fertig war, galt es alles Notwendige in die Wege zu leiten. „Atosch, Roglamox, ihr werdet zur Burg Sturtzenstein zurück. Die Tunneljäger werden bereits wieder auf dem Weg zurück nach Senalosch sein, ihr müsst ihnen hinterher. Nehmt euch die schnellsten Ponys. Boindil, du gehst mit ihnen. Wir benötigen Verstärkung, zudem zwei Schlitten, um die Verletzten abzutransportieren. Athimarex weiß, dass du meine rechte Hand bist und wird dir jede Hilfe angedeihen lassen, die ihm zur Verfügung steht. Entsende auch eine Taube mit Instruktionen nach Hause, damit dort alles vorbereitet ist, wenn die anderen dort eintreffen. Fobosch und Andragrimm bleiben derweil bei mir. Wir sorgen für die Verletzten“, führte Borax aus. Boindil wollte bei diesem Befehlen schon aufbegehren, schließlich war er für Boraxs Wohlergehen verantwortlich, doch der Vogt bedeutete ihm mit einer erhobenen Hand und einem deutlichen Blick, dass er keine Wiederrede duldete. Hier ging es nicht nur um seine Gesundheit, sondern um die der ganzen Gemeinschaft. Dann wandte er den Blick unsicher an den Graumantel. „Meint ihr das Marbolieb uns hier helfen kann?“

Der zuckte etwas ratlos die Schultern. „Ihre Ehrwürden war dagegen, sie herzuholen. Marbolieb ist eine Geweihte, und in der Seelenheilkunde sehr bewandert. Also vermutlich ja. Wie klug das ist, weiß ich nicht.“ Er beugte sich über die ohnmächtige Landmeisterin, prüfte ihre Atmung und schüttelte sie probehalber an der Schulter, ohne sie damit aufwecken zu können. „Wir haben sie draußen.“ Was das Wichtigste war. „Lasst uns die Skelette noch einsammeln. Das wollte sie so – und begraben müssen wir sie so oder so.“ Borindarax war unschlüssig. Der Vogt nahm sich die Zeit abzuwägen, was er für richtig hielt, befand aber, dass es ohnehin nicht seine Entscheidung war. „Ihre Gnaden wird selbst am besten wissen, was für sie annehmbar ist und was nicht“, sagte Borax daher respektvoll und beschäftigte sich lieber mit Dingen, die seiner Entscheidung bedurften. „Roglamox, Atosch - berichtet ihrer Gnaden und frage sie, ob sie sich in der Lage sieht, uns zu helfen. Sollte dem nicht so sein, werdet ihr sie bitten eine Nachricht zu verfassen, welche wir in den nächsten Boron-Tempel entsenden können, um Beistand zu erbitten. Auch die Überbringung wird gegebenenfalls eure Aufgabe sein. Wer auch immer uns helfen kann, ihr führt ihn oder sie hierher.“ Die so erhaltene Order mit einem stummen Nicken quittierend, waren Roglamox und Atosch bereits dabei Rüstungen und Rücksäcke anzulegen, um sofort aufbrechen zu können. Kurz darauf verabschiedeten sich die Zwerge mit einer Umarmung und einer gemeinschaftlich ausgesprochenen Bitte um Angroschs Beistand. Danach schritten die beiden Angroschim durch das Portal und waren alsbald vom der riesigen Kaverne verschlungen.

Die Zurückbleibenden gönnten sich zunächst etwas Ruhe, aßen und tranken. Amalvin prüfte mehrfach, dass die Atmung seiner Ordensoberen normal war. Schließlich, nach etwas mehr als einem halben Stundenglas, kam sie zu sich. Die Landmeisterin fühlte sich scheußlich. Ihr Mund war trocken, ihr Kopf dröhnte und eine latente, nicht zu verortende Angst schien knapp außerhalb dessen zu lauern, was sie mit ihrem Verstand zu greifen vermochte. Was war geschehen? Richhild stöhnte, als sie versuchte, sich aus der liegenden Position auf die Seite zu drehen. Als sich alles um sie zu drehen begann, ließ sie die Bewegung sein und schloss die Augen, in der Hoffnung, dass sich die hämmernden Kopfschmerzen langsam auflösten. Sie ließen sich Zeit damit. „Ehrwürden?“ Amalvin hatte die Bewegung bemerkt und kniete sich neben seine Vorgesetzte. ‚Verschwinde’ Allein – der Gedanke reichte nicht aus. Der Graumantel blieb. Richild bewegte die Lippen, bis sie ein unwirsches “Lass’ mich“ hervorbrachte. Die Worte reichten, um dröhnend durch ihren Körper zu wandern, in ihrem Magen widerzuhallen und dafür zu sorgen, dass sie sich jetzt mit Schwung auf die Seite drehte und ihren Mageninhalt energisch den Fischen opferte. Stöhnend ließ sie sich zurücksinken und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Die Szene schien Amalvin indes zuversichtlich gestimmt zu haben. Er erhob sich, strich mit der Hand über seinen Nacken und erklärte. „Holen wir die Gerippe.“ Eines nach dem anderen. Wenn die Landmeisterin wieder ansprechbar war, würde sie ganz sicher kein Verständnis für Saumseligkeiten ihrer Begleiter haben. „Sie kommt wieder in Ordnung.“

Zumindest Andragrimm schien seine positive Meinung zu teilen. Der Krieger stand ebenfalls auf und folgte dem Graumantel. Der Vogt blieb immer noch äußerst besorgt dreinschauend bei Richhild sitzen, während Fobosch keine Anstalten machte, sich zu bewegen. Er war wohl der Ansicht, dass ihn die Sache nicht tangierte. Stoisch machte sich Amalvin daran, wie von Richild gefordert die Leichen der sechs ersten Gestalten zu bergen. Der Gedanke dahinter war zumindest ihm klar – der Geist, der seine Vorgesetzt auf die Bretter geschickt hatte, würde bleiben – und dabei zusehen, wie die anderen ihrer Erlösung entgegengingen. Nicht, dass er auch nur irgendetwas gegen diesen Gedankengang einzuwenden gehabt hätte – verdient war verdient. Zwergen- und Ordenskrieger klaubten die einzelnen Knochen auf und platzierten sie auf dafür bereitgelegte Decken. Derer hatten sie wegen des Winters ausreichend dabei, zudem die Tunneljäger den beiden Wachhabenden in der Kaverne ihre überlassen hatten, bevor sie nach Sturzenstein zurückgekehrt waren. Die Decken würden sie später verschnüren, um die Skelette einzeln transportieren zu können. Während ihrer aus Respekt vor den Toten vornehmlich stumm verrichteten Arbeit ging Andragrimm eine Frage nicht aus dem Kopf, so dass er sie stellen musste, nachdem sie fertig waren. „Für was haltet ihr diese Gewölbe?“ Amalvin legte das Kurzschwert neben die Rippenknochen der letzten Gestalt und schlug die Decke über das traurige Bündel. „Es sieht wie ein sehr alter Kultraum des Launischen aus. Hier in der Gegend könnte es aber auch ein Schrein des Flussvaters sein ... bei diesen uralten Kulten kennt sich ihre Ehrwürden besser aus als ich.“ Merklich besser – Wissen, meist dergestalt erworben, mit gezogenen Rabenschnabel in eine solche Kultstätte hineinzupoltern und dem dort herumpfuschenden Kultisten das Handwerk zu legen. Er machte sich wenig Illusionen über die handfeste Weltsicht seiner Vorgesetzten. Der Graumantel fixierte den kupferhaarigen Zwergenkrieger mit überlegend gerunzelten Brauen. „Was denkt ihr?“ „Diese Keller sind von meiner Rasse angelegt worden. Dies war immer ihr Land“, antwortete der Krieger ohne aufzusehen. Seine Stimme verriet, dass er sich seiner Sache nicht zur Gänze sicher war. „Die Technik, mit der sie die Oberfläche des Gesteins geschliffen haben, ist mir jedoch ein Rätsel. Der Aufwand der hier betrieben wurde ist immens und dann auch noch für Efferd oder einen seiner Alveraniare.“ Andragrimm schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“ Der Zwerg hob den Kopf und sah Amalvin auffordernd an. „Ich würde mich gerne etwas genauer umsehen.“ Eine Frage stand im Raum. Ein Grinsen huschte über die Augen des Ordenskriegers. „Unbedingt.“ stimmte er zu. Er stand auf und reckte die Schultern, was er mit einem unmutigen Zusammenziehen seiner Augenbrauen kommentierte. Der Kratzer, den ihm die Spinne beigebracht hatte, pochte noch immer. Unternehmungslustig hob er die Grubenlaterne an. „Gut“, quittierte der Angroscho mit einem zufriedenen und zugleich entschlossenen Gesichtsausdruck. „Ich hatte gehofft, dass ihr das sagen würdet.“ Auch er beendete nun seine Arbeit, stand auf und legte alle überflüssige Last ab. Dies schloss auch Helm und Rüstung mit ein, lediglich das Unterzeug beließ er am Leib. Als er sich ausgekleidet hatte, nahm er seinen Hammer in die Hände und stapfte die Treppen hinab zur Haupthalle, nachdem er dem Graumantel kurz auffordernd angeblickt hatte. Der tat es ihm nach, entledigte sich der Rüstung, griff nach Rabenschnabel und Laterne und nickte ihm zu. Am unteren Ende der Treppe angekommen prüfte der Zwerg wiederum mit dem Stiel seines Hammers den Wasserstand. „Zwei Finger höher“, kommentierte er das Ergebnis und blickte zur Seite, wo Amalvin stand. „Wenn mich nicht alles täuscht variiert der Stand des Wassers, aber nur minimal. Die Erbauer dieser Anlage“, womit er sich nicht unbedingt auf seine Rasse festlegte, „scheinen sich nur die Füße haben waschen zu wollen“, endete er frech grinsend. „Auf einen Tauchgang wäre ich nicht erpicht.“ gab der Golgarit zurück, hob seine Laterne und beäugte aufmerksam Wand und Decke. Der Zwergenkrieger lachte trocken auf. „Ich ebenfalls nicht. Vielleicht haben wir ja Glück und es steht nicht so tief in den Nebenräumen.“

Unterdessen hatte Richhild es unter Stöhnen geschafft, sich aufrecht an die steinerne Wand zu setzen. Borindarax reichte ihr seine Feldflasche. „Trinkt einen Schluck.“ Vorsichtig nahm die Landmeisterin die Flasche entgegen, setzte sie an die Lippen – und begann herzhaft zu husten, als ihr die wasserklare Flüssigkeit, die kein Wasser war, im Mund brannte. Feuchtigkeit drang ihr in die Augen, als sie sich nach vorn krümmte, mit einem energischen Wedeln die Flasche verteidigte und einen zweiten Schluck hinterherschüttete. Tief holte sie Luft. „Besser. Danke.“ Was auch immer das für ein Gebräu war, dessen Weg zum Magen sie deutlichst spürte. Ihre Lippen waren trocken und rissig und ihr Kopf dröhnte. Sie musste sich einige Augenblicke konzentrieren, ehe sie die ihre Worte zu einem „Was ist passiert?“ formen konnte. Borax lachte kurz auf. „Nun, das wollte ich euch ebenso fragen. Ihr seid zusammengebrochen und wart bewusstlos. Was bei den Göttern geht hier vor, wer stellt sich gegen uns und was ist dies für ein Ort?“ Unverhohlene Neugierde lag in den Augen des jungen Angroschos. Richild rieb sich über den Nacken und kniff die Augen zusammen. „Vermutlich ein Heiligtum aus den Bosparaner Zeiten. Alt jedenfalls.“ Sie massierte sich die Schläfen. „Geister – einer davon beachtlich stark. Die ersten sechs begingen Freitod, nachdem sie von Zwergen eingeschlossen wurden– sagen sie. Nummer sieben ist die versteinerte Statue– der will raus– dringend. Besonders helle ist er nicht mehr – in den letzten Jahrhunderten hat ihm der Wahnsinn zugesetzt.“ Sie schwieg einen Moment und intensivierte die Massage ihres Nackens. Elende Kopfschmerzen! „Ich vermute, dass ihn der Magier, dessen Skelett auf dem Altar liegt, versteinert hat– aber das ist Spekulation.“ Schwer schluckend und mit deutlichem Unbehagen lauschte Borindarax. „Ich hatte es befürchtet“, sagte er nach kurz entstandener Pause. Er hatte die Informationen sacken lassen müssen. „Nun, dann wollen wir hoffen, dass wir bald Hilfe bekommen. Ich wäre dafür, bis dahin nahe dem Ausgang der Kaverne ein Lager aufzuschlagen. Auch wenn es hier nicht sonderlich kalt ist dank dem uns umgebenden Fels, würde ich ein kleines Feuer sehr angenehm finden und Feuerholz ist genug vorhanden dank der Seekisten.“ „Macht das.“ Richild lehnte sich wieder an die Wand, froh um die Festigkeit des Felsens in ihrem Rücken, der wenigstens nicht die Angewohnheit besaß, sich um sich selbst zu drehen. Sie zog die Knie an und stützte ihre Arme darauf. „Habt Ihr noch einen Schluck für mich?“ Der Zwerg reichte der Landmeisterin die Flasche und erhob sich. „Ich sehe nach Amalvin und Andragrimm. Wir sollten gemeinsam gehen“, sagte Borax und schritt dann den Gang hinunter in Richtung Vorraum und Skelette. Richild schwieg dazu, nahm einen tiefen Schluck und verkorkte die Flasche sorgsam, ehe sie sich mühsam an der Wand hochstemmte, einen Augenblick verharrte, nach ihren Waffen griff und dem Vogt hinterherging. Einen saftigen Fluch verkniff sie sich wohlweislich, als ihre Umgebung zu schwanken begann. Das würde sich geben. Allein lassen konnte sie die Männer nicht. Aber sich wieder in den Einflussbereich des Geistes zu begeben war keine gute Idee. Im direkten Anschluss an diesen Gedanken ließ sie sich wieder auf die Knie fallen, schloss die Augen und versenkte sich einige glorreich stille Augenblicke lang in ein schweigendes Zwiegespräch mit ihrem Herrn. ‚Unergründlicher, ich muss da wieder rein. Schenke mir die Geistesstärke, nicht von ihm überrumpelt zu werden, die Weisheit, seine Täuschung zu durchschauen und die Kraft, ihn aus meinem Kopf zu halten.’ Mit ungeschickten Fingern zeichnete sie sich ein Boronsrad aus Salböl auf die Stirn, schloss die Augen und ließ es geschehen, dass tiefe Stille über ihren Geist kam, die letzten huschenden Gedanken fing und erstickte und einige tiefe, schweigende Atemzüge lang sich eine umfassende Ruhe wie eine warme Liebkosung in ihrem gemarterten Kopf ausbreitete. Sie atmete tief ein, gönnte sich einen letzten Schluck aus der Feldflasche und straffte die Schultern, ehe sie erneut hinter dem Vogt her in den Gang schritt.

In diesem Moment hatte Andragrimm bereits seine Stiefel ausgezogen und trat in die große Halle. „Frisch“, betitelte er das Gefühl des Wassers, welches seine Füße zu umspülen begann. Der Krieger stapfte langsam vorwärts, behielt dabei das Skelett auf dem Altar und die versteinerte Figur in einem der hinteren Durchgänge beständig im Auge. Dem stimmte Amalvin aus tiefstem Herzen zu. Mit einem wehmütigen Blick stopfte er seine dicken Wollsocken in die Stiefel und trat in das eiskalte Wasser. Eigentlich hätten die gefetteten Lederstiefel für ein paar Atemzüge das Wasser aushalten sollen – aber eben nur ein paar Atemzüge, und hinterher den gesamten Weg mit nassen Füßen zu bewältigen war alles andere als eine gute Idee. Den Rabenschnabel in der Armbeuge stapfte der Graumantel dem Zwergen hinterher, argwöhnisch den Boden betrachtend, um zu vermeiden, dass sich doch unvermittelt ein tiefes Loch unter seinen Füßen auftat. Der gesamte Boden war von einer feinen Schicht Höhlenlehm überzogen, der den Untergrund in dem wassergefüllten Becken zu einer glitschigen Angelegenheit werden ließ. Andragrimm schritt forsch bis zu dem ersten Durchgang zur Linken. Der Raum, welcher dahinter lag, schien eine eigene Lichtquelle zu besitzen, jedoch lag diese unterhalb der Wasseroberfläche und mochte ebenfalls einer jener Efferdheiligen Steine sein, wie er sich in der Haupthalle befand. Efferds Element schien von sich heraus zu leuchten, wohingegen alles, was über ihm war, im Dunkeln lag. Sein Unbehagen ignorierend tauchte der Krieger den Stiel seiner Waffe vor sich ins Wasser und tastete sich von da an den Boden fortwährend abklopfend vorwärts. „Treppenstufen, jeweils etwa zehn Finger hoch“, gab er seine Einschätzung weiter und verzog das Gesicht, als er die erste von ihnen nahm. Das Wasser reichte ihm jetzt bis zur Mitte seiner massigen Waden. Die nächste und seine Knie lagen unterhalb der Wasseroberfläche. Weit beugte er sich vor, um den Boden vor sich zu prüfen. „Noch drei weitere Stufen, dann haben wir den Boden des Raums erreicht, wie es scheint. Ich werde dort bis über die Hüften im Wasser stehen.“ Der Zwergenkrieger richtete sich wieder auf und streckte seinen freien Arm zu Amalvin aus. „Gebt mir die Laterne, dann habt ihr die Hände frei. Die Treppen sind ebenso glatt wie der Boden in der Halle.“ Der Sohn des Arborax grinste schief. „Gut, dass ich solche Plattfüße habe.“ Amalvin übergab die Laterne an den Waffengefährten und tastete sich vorsichtig die Stufen nach unten. Seine Füße wurden rasch gefühllos in dem eisigen Wasser, was die Sicherheit nicht merklich erhöhte. Die Zwerge mussten wahrlich eine Haut aus Eisen haben. Er hielt inne und krempelte seine Hosenbeine weiter hoch, in der Hoffnung, diese vielleicht doch trocken halten zu können. Mit der gebotenen Vorsicht schritt er die letzten drei Stufen nach unten, eine Hand an der Wand, eine am Griff des Rabenschnabels, und sah sich neugierig in der kleinen Kammer um, die sich am Fuß der Treppe erstreckte. Mit einem Ohr lauschte er auf die Geräusche in der großen Halle. Wo es eine Höhlenspinne gab, mochten auch noch mehr sein – und barfuß auf diesem glitschigen Untergrund zu kämpfen, das war eine ganz andere Sache als ein Waffengang auf festem Boden – mit gutem Schuhwerk. Zunächst registrierte der Graumantel nur das Aufwirbeln von Sand um seine Zehen, keine Bewegung war auszumachen, kein fremdes Geräusch war zu hören, außer jenen, die er durch die Bewegungen im Wasser selbst hervorrief. Der Raum, welcher sich über dem Golgariten nun durch das Licht der Laterne abzeichnete war anscheinend perfekt kubisch, jedenfalls kam er sich vor, als stünde er in einem Würfel, wie bereits in dem Raum nach dem Portal. Die Maße waren ebenfalls identisch. ‚Sich wiederholende, geometrische Formen‘, ging ihm durch den Kopf. Kurz bevor er die Quelle des Lichtes unterhalb der Wasseroberfläche erreicht hatte, trat er auf etwas Hartes. Was immer es war, es gab nach, brach entzwei. Amalvin schätzte das es zwei Finger breit und länglich war, nicht scharfkantig. Unwillkürlich blieb er stehen. „Leuchtet mal hier“, bat er Andragrimm und der Zwerg hob die Laterne am ausgestreckten Arm über seine Schulterhöhe, um dem Graumantel möglichst viel Licht spenden zu können. Der Ordensritter beugte sich nieder und hob den Gegenstand auf, um ihn sich genauer zu besehen. Das was Amalvin aus den unter Wasser aufstiebendem Sand hervorklaubte war ein Knochen, das erkannte der Golgarit auf den ersten Blick. Und schon der zweite verriet ihm, dass es der Oberarmknochen eines erwachsenen Menschen gewesen sein musste. Er war sehr alt und äußerst brüchig. „Wo der herkommt sind bestimmt noch mehr“, knurrte Andragrimm. Auch er hatte begriffen, um was es sich bei dem Fund handelte. Ohne ein weiteres Wort begann Amalvin, den Boden abzutasten. Ein ganzes Skelett wäre ihm deutlich lieber. Knochen machten sich nicht einzeln davon – die wurden von Tieren davongetragen, von Wasser verspült oder von ihren ehemaligen Besitzern verschleppt – und all dies waren Dinge, die er hier nicht erleben wollte. Schnell wurde er fündig. Viele kleine Knochenfragmente bedeckten den Boden des Raumes, lagen verborgen im feinen Sand. Einige zerbrachen schon in dem Moment, da der Graumantel nach ihnen griff, andere waren bereits zur Unkenntlichkeit zersetzt. Er war sich sicher, dass er schon diverse von ihnen mit seinen Füßen zertreten hatte, ohne es zu bemerken, so porös wie sie waren. Diejenigen jedoch, denen er habhaft werden könnte, ließen keine Zweifel daran, dass es die Knochen von mehreren Skeletten sein mussten. Auch hier waren Menschen gestorben, oder aber bestattet worden, nur dass das Wasser den Zersetzungsprozess beschleunigt hatte. Amalvin rümpfte die Nase. Was auch immer das Schicksal der Menschen hier gewesen war – freiwillig landete niemand in so einer Kammer. Er versuchte, ungefähr die Menge der Leute abzuschätzen, die hier ihr Grab gefunden hatten, untersuchte den Raum eingehend und nickte dann Andragrimm auffordernd zu. „Gehen wir.“

Richhild und Borindarax traten derweil die letzten Treppenstufen hinab. Der Zwerg rümpfte die Nase, als sie an deren Ende Stiefel und Rüstungsteile vorfanden, ohne deren Besitzer. Die Landmeisterin war hingegen äußerst angespannt. Die große Halle schien ihr nun bedrohlicher als noch zuvor. Der lauernde, ungreifbare Schrecken war für sie fast körperlich spürbar, die Präsenz des Geistes allgegenwärtig. Jahrhunderte hatte er gegen die Fesseln seiner Existenz angekämpft, ja schien ihnen gar fast entwachsen zu sein. Beide, Landmeisterin und Vogt erkannten den Lichtschein, welcher aus dem Seitengang der Halle drang und beide vernahmen sie die plätschernden Geräusche, die darauf hinwiesen, dass die Krieger, Mensch sowie Zwerg, sich durch das Wasser bewegten. „Was bei Angroschs Amboss treiben die da?“, entfuhr es Borindarax. Richild gab ein ungläubiges Schnauben von sich und äugte in die Richtung, aus der Lichtschein und Geräusche von der emsigen Tätigkeit der beiden kündeten. Sie rieb sich über den Nacken, betrachtete die Halle mit zusammengekniffenen Augen und wartete ab. Ebenfalls ins Wasser musste sie sich nicht stürzen – der Erkenntnisgewinn durch drei Sucher war üblicherweise auch nicht größer als durch zwei. Solange keine Geräusche davon zeugten, dass die beiden in Nöte gerieten, würde sie abwarten. Nicht lange, und sie hörten die platschenden Schritte der beiden, die sich durch das eiskalte Wasser pflügten. Richild schüttelte vorsichtig den Kopf und unterdrückte ein verständnisloses ‚Männer!’ Bald schon kamen Amalvin und Andragrimm aus einem der Gänge, die von der Haupthalle abgingen und traten mit ihrer Laterne in das Sichtfeld der anderen. Borindarax atmete erleichtert aus, als er beide wohlauf sah. Die beiden Krieger bewegten sich gemächlich zur Treppe zurück, auf der sie standen. „Und, was habt ihr gefunden?“ Die Landmeisterin beäugte die nassen Füße der beiden und wartete auf eine Erklärung für den feuchten Ausflug. Jedes bißchen Wissen über diese Höhle würde helfen, des ungehobelten Geistes Herr zu werden. Irgendwann. „Knochen“, kam Andragrimm Amalvin zuvor, bevor dieser, „von mehreren Menschen“, ergänzte. Der Zwerg nickte. „Das werden nicht die letzten sein, die wir finden. Ich möchte wetten, dass in den anderen Nebenräumen noch mehr liegen.“ „Dann sammeln wir sie und bringen sie zum Ausgang. Die sechs in der Vorhalle ebenso.“ Richilds Ton war entschieden. Egal, was mit den ehemaligen Besitzern dieser Knochen passiert war – sie würde die Reste nicht unbestattet herumliegen lassen. Und wenn sich ein gewisser Geist damit nicht zufrieden zeigen würde, so war das ursächlich dessen Problem – ein Schutzkreis an der richtigen Stelle sollte dafür sorgen, in Ruhe arbeiten zu können. Von diesem aufsässigen Geist würde sie sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Als nächstes – sobald diese infernalischen Kopfschmerzen auf ein annehmbares Maß nachgelassen hatten – würde sie die Statue mittels der Salbung der Heiligen Noiona von seiner Präsenz reinigen – und der Seele damit auch den Weg dorthin weisen, wohin sie längstens gehörte. Mit dem Austreiben solch unwillkommener Mitbewohner besaß sie leidige Erfahrung.

Das alte Heiligtum

Einige Zeit verstrich. Sie richteten sich ein kleines Lager am Ausgang der Kaverne ein, so wie der Vogt es vorgeschlagen hatte. Dort entzündeten sie ein Feuer, um sich zu aufzuwärmen, ihre Sachen zu trocknen und auch um zu ruhen. Die Verletzten, auf die Fobosch fortwährend achtgab, schafften sie ebenfalls dorthin. Richhild jedoch vermochte es nicht, den Kellerkomplex zu verlassen. Eine übernatürliche Kraft hinderte sie daran, sich der Schwelle des Portals zu nähern. Wann immer sie es dennoch tat, wurden ihre Glieder schwer, bis sie scheinbar unter ihrer eigenen Last zusammenbrach. Auch alle Versuche, sie durch das Tor hindurchzuziehen scheiterten kläglich, sie schien schlicht zu schwer zu sein und irgendwann resignierte die Landmeisterin, denn das Dröhnen und Tosen in ihrem Kopf nahm in dem Maße zu, in dem sie sich der Schwelle näherte. Sie erkannte ein fruchtloses Tun irgendwann. Mit den gefundenen Gebeinen verhielt es sich ebenso wie mit der Landmeisterin. Sie ließen sich nicht über die Schwelle des Portals hinweg transportieren. Am Ausgang der Kultstätte waren sie so schwer, dass niemand sie mehr anzuheben vermochte. Grimmig betrachtete die Landmeisterin die Entwicklung und ging daran, alles für den Exorzismus der Statue vorzubereiten. Hier war das letzte Wort nicht gesprochen! Zunächst war es jedoch so, als ob der Geist sie verhöhnen würde, auch wenn er nicht mehr versuchte, mit ihr zu kommunizieren. Die Ordensfrau ahnte aber, warum dies so war. Es war alles gesagt und der Geist sich scheinbar gewiss, dass man seinem Willen nachkam. Doch dies war nicht das einzig Nennenswerte. Vor der Kaverne fanden Amalvin und Andragrimm, die sich mittlerweile angefreundet hatten, bei ihrem ersten Kontrollgang zwei weitere der monströsen Spinnen. Sie lagen mit zertrümmerten Leibern mitten auf dem Steilweg, als hätte ein Riese sie mit einem gewaltigen Schlag einer Keule oder eines Hammers getötet. Auch die anderen sechs der zugänglichen Nebenräume der Haupthalle erkundeten die zwei Krieger. In allen, bis auf einem fanden sie menschliche Knochen. Und noch eine Erkenntnis sammelten sie. Die kleineren Kulträume besaßen allesamt unterschiedliche Steinmetzarbeiten an den Wänden. Sie hatten beispielsweise Delfine, Rochen, einen Wal, oder einen Kraken zum zentralen Inhalt. Amalvin, der noch keines dieser Meerestiere mit eigenen Augen gesehen hatte, vertraute auf die Erklärungen des weitgereisten Zwergen, vermerkte den Kultraum ohne Gebeine, summierte die übrigen Knochen zu einem mittelprächtigen, bis zu 25 Opfer umfassenden Massaker auf und trocknete sich nach dem Ausflug wieder sehr zufrieden seine inzwischen längst gefühllos gewordenen Füße. Der Geist meldete sich in der ganzen, verrinnenden Zeit nicht mehr. Er schien zu warten.

Ein Tag mochte verstrichen sein, seitdem Atosch und Roglamox eiligst aufgebrochen waren, da hörten sie von draußen, vom Steilweg her, laute Rufe. „Was ist das?“ Die Landmeisterin, die es sich am Feuer bequem gemacht hatte, blickte auf, eine mehr als deutliche Aufforderung an Amalvin im Blick, der pflichtschuldig aufsprang, um nachzusehen, vorsichtshalber die Hand am Griff seines Rabenschnabels. „Das ist Boindil“, meinte Andragrimm. „Endlich, das wurde auch Zeit. Und keine Sorge wegen dem Lärm. Er kündigt sich nur an, da er jemanden an der Armbrust als Wache erwartet.“ Der bullige Angroscho beendete eiligst sein Mahl, bei dem sie gerade beisammengesessen hatten und stand auf. Mit einem schräg gestellten Kopf und einem wölfischen Grinsen in Richtung Amalvins forderte er den Graumantel auf ihn zu begleiten. Sie mussten nicht lange in der Kälte warten. Draußen herrschten eisige Temperaturen, es war bedeckt und vereinzelt schneite es sogar. Die Kaverne bot ihnen dagegen eine fast angenehme Umgebung. Aus dem Weiß und Grau des ansteigenden Weges durch die Schlucht formten sich fünf kleine Gestalten, unzweifelhaft allesamt Zwerge. An ihrer Spitze lief der Amalvin als rechte Hand des Vogts bekannte Soldat, Andragrimm hatte recht behalten. Ihm folgten weitere Angroschim, bei denen der Golgarit der Meinung war, dass er zwei von ihnen auf Sturzenstein gesehen hatte. Sie führten zwei große Schlitten mit sich. Andragrimm und Boindil begrüßten sich mit einer Umarmung, bei der letzterer sogleich mit einer Entschuldigung zu sprechen ansetzte. „Die Witterung hat uns behindert. Bei Angroschs Hammer, verdammter Schnee! Die Ponys mussten wir oben lassen. Die wären niemals im Ganzen hier angekommen. Die Verletzten müssen wir also wohl oder übel selbst bis nach oben ziehen.“ Andragrimm nickte nur grimmig, er wusste, dass er dem anderen keinen Vorwurf machen konnte. Gemeinsam kamen sie nur wenig später an das Feuer in der Kaverne, um sich aufzuwärmen und ihre Kleidung zu trocknen. Es hatten sich auch einige Flaschen Branntwein unter dem Schmugglergut gefunden. Warum die Zwerge ihn jedoch ausgerechnet aufgewärmt trinken mussten, erschloss sich den Menschen nicht zur Gänze.

Nachdem die Untergebenen des Burgvogts einige Stunden geruht hatten und zu Kräften gekommen waren, machten sie socj an die Arbeit die beiden Verletzten Tunneljäger auf ihren Schlitten zu vertäuen. Dies war notwendig, denn die bevorstehende Strecke den Steilweg hinauf würde eine abenteuerlichen Strapaze werden und sie mussten damit rechnen, dass ein Schlitten im hohen Schnee umkippen konnte. Fobosch würde die Gruppe begleiten. Der Tunneljäger wollte seine Kameraden selbst in Sicherheit bringen und Borindarax konnte und wollte diesem Wunsch nicht wiedersprechen, zumal Boindil so wieder an seiner Seite bleiben konnte, ganz so, wie es nach dessen Meinung zu sein hatte. Der Abschied war knappgehalten. Borax wünschte der Gruppe, die sich nun durch Eis und Schnee würde schlagen müssen Glück und den Beistand der Götter. Fobosch, der sie anführen würde bedankte sich wortkarg und zog ohne weitere Verzögerung ab.

<a name="Im_Schosse_des_Berges"></a> Im Schoße des Berges

„Bewältigt ihr den gesamten Haushalt des Vogtes ganz allein?“ Der Bierbrotzopf buk im Ofen und für eine kurze Zeit hatte sich eine behagliche Ruhe in der Küche breitgemacht, während die beiden Frauen die Verschnaufpause mit einem Tee genossen. Marbolieb hielt ihre Tochter in den Armen, die auf ihrem Schoß eingeschlafen war, und machte sich daran, etwas mehr über ihre Umgebung und die Zwerge darin zu erfahren. Sie war sich gewiss, dass hier einige Dinge gänzlich anders geregelt waren als in einem menschlichen Haushalt – sie hätte zu gerne herausgefunden, was diese waren. “Ich sorge nur dafür, dass alles sauber ist und dass immer Essen auf den Tisch kommt”, begann die Angroschna im Plauderton. “In der Regel braucht der Vogt nur das große Gewölbe, welches gleichermaßen sein Arbeitszimmer, wie auch seine Schlafkammer darstellt und natürlich den Salon hier oben für repräsentative Zwecke. Die anderen Räume und Keller stehen zumeist leer. Gäste die hier übernachten, kommen für gewöhnlich nicht viele. Borindarax reist gern. Wenn er mit jemandem persönlich sprechen muss, dann macht er sich zumeist selbst auf den Weg, was für mich auch weniger Arbeit bedeutet.” Eine kurze Pause entstand. Marbolieb hörte eine Tasse klappern. “Ach, und ich habe Gehilfen, die zum Markt gehen, draußen alles in Schuss halten, in dieser Jahreszeit vor allem Schneeschieben, Holz für den Kamin schlagen, stapeln und bei Bedarf hereintragen und so weiter. Letzteres tut Boindil aber auch gern. Er ist nicht nur der Wachhund, die Rolle, die Dwarosch für ihn zunächst vorgesehen hatte, sondern mittlerweile bedeutend mehr. Er und Bordindarax ergänzen sich.” Die Zwergin seufzte. “Beide bräuchten eine Angroschna an ihrer Seite, doch leider gibt es viel zu wenige von uns. Bedeutend weniger als männliche Angroschim, müsst ihr wissen. Eine solche Männerfreundschaft ist daher nicht selten unter uns.” „Ihr putzt und kocht und wascht für den Vogt – und für wie viele noch?“ Große Achtung schwang in der Stimme der Priesterin mit. Trotz dem Abwiegeln der Zwergin war das alles andere als ein kleiner Packen Arbeit. Den sie mit der Fürsorge für Mirla – und sich selbst - in den letzten Tagen noch um ein gutes Stück vermehrt hatte. Marbolieb beugte sich über das Köpfchen ihrer friedlich schlafenden Tochter und strich mit den Lippen über die weiche Haut des Kinder. Bedingungslose Wärme und Liebe stand auf ihrem Gesicht, ohne dass sie sich dessen bewusst wurde. „Hat der Vogt einen großen Haushalt – oder wohnt er ganz allein ohne Verwandte?“ Schwer vorstellbar war ihr dies bis gerade noch bei einem Zwergen erschienen. „Nur für ihn. Er lebt alleine“, antwortete die Zwergin sanft, fast mütterlich. „Seine Familie ist jedoch nie weit entfernt, Klan und Sippe leben in Isnatosch, also im Berg. Einzig, dass das Haus so groß ist, macht es manchmal nicht einfach. Aber mich hetzt hier niemand.“ Marbolieb grübelte und fasste sich dann ein Herz. „Seid ihr verheiratet, Topaxandrina? Oder ist das eine ungebührliche Frage?“ Die Zwergin lachte, heller als Marbolieb es erwartet hatte. „Ich war es, mein Kind. Mein Ortosch starb zu Beginn des dritten Orkensturms. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, Tokschor und Topalina. Sie leben in Senalosch“, gab Topaxandrina bereitwillig Auskunft. „Ich bin fast einhundertsechszig.“ „Der Tod eures Mannes tut mir leid.“ Nachdenklich senkte Marbolieb den Kopf. „Ich kann mir schwer vorstellen, wie es ist, noch Jahrhunderte vor sich zu wissen – und verwitwet zu sein. 160 Jahre sind doch nicht viel für eine Zwergin, oder? Wie alt werden die Angehörigen eures Volkes üblicherweise?“ „Nun ja, das ist ganz unterschiedlich“, erklärte die Haushälterin. „Manche sterben Mitte ihres dritten Jahrhunderts, manche erst im fünften. Der Burgvogt von Sturzenstein beispielsweise ist fast vierhundert und noch recht rüstig, wie man bei euch sagt.“ Topaxandrina trank einen weiteren Schluck Tee, bevor sie erneut ansetzte. „Ich könnte den Bund von Feuer und Erz durchaus noch einmal eingehen, doch mangelt es an den richtigen Werbern hierfür“, bei den letzten Worten musste die Zwergin lachen. Unwillkürlich legte sich ebenfalls ein Lächeln auf Marboliebs Lippen. „Das verwundert mich. Selbst wenn sie nur mit dem Magen denken würden, müssten sie schon bei euch anstehen und um eure Hand betteln.“ Sie setzte sich bequemer hin und hob Mirla höher auf ihre Arme, so dass sie mit einer Hand nach der Teetasse tasten konnte. Der Duft des inzwischen halb erkalteten Kräuterauszuges erzählte vom längst vergangenen Sommer, während ihr der erste Schluck verriet, dass Topaxandrina das Gebräu großzügig durch kleingeschnittene Apfelstücke gewürzt hatte. „Wie ist das Werben unter den Angroschim eigentlich üblich? Ich weiß leider fast nichts über euer Volk, außer dem, was Dwarosch erzählt hat.“ „Dwarosch weiß nichts von dem wonach ihr mich fragt.“ Die Stimme der Zwergin war auf einmal ein wenig traurig, wehmütig. Er verließ Isnatosch an dem Tag, da er durch die Feuertaufe zum Mann wurde und er kehrte sehr selten hierher zurück, manchmal lagen mehrere Jahre zwischen seinen Besuchen. Er und sein Vater sind zerstritten. Nur seine Brüder halten zu ihm.“ Die Zwergin schluckte auf einmal schwer. „Nach dem, was die Menschen die dritte Dämonenschlacht nennen, kehrte er heim um zu bleiben, doch Dwarosch war nicht mehr er selbst, er war gebrochen, nein, er war innerlich zerstört. Sein Gott verlangt zu viel von ihm. Verflucht sei der Tag, da er der Bestie unter dem Berg begegnete und sie ihre Krallen in ihn schlug! Borax und ich haben ihn aufgenommen und unser Möglichstes getan, doch als er sich irgendwann den Truppen des Herzogs anschloss, um nach Mendena zu ziehen, wusste ich, dass er nicht zurückkehren würde. Er wollte sterben, weil er darin sein Schicksal erkannt haben wollte. Borindarax war zu blind, es zu sehen, oder meinen Worten Glauben zu schenken.“ Sie schüttelte offenbar den Kopf, den ihre dicken Zöpfe schienen über das Leinen ihres Kleides zu reiben. „Ihr habt ihn von seinem Leid befreit. Ich weiß nicht wie, doch das ist auch unbedeutend. Er lächelt, wenn er euch ansieht und er lacht, wenn er Mirlaxa auf seinen Armen hält. Mehr muss ich nicht wissen.“ Marbolieb ließ die Schultern sinken und vergrub ihren Kopf in dem feinen Flaum auf Mirlas Köpfchen. Sie seufzte, ein kleiner Ton, der fast ein Schluchzen war. „Ich will ihm nichts Böses, Topaxandrina, das müsst ihr mir glauben.“ Das freundliche, aufrichtige Lächeln, welches die Angroschna daraufhin zeigte konnte Marbolieb leider nicht sehen, doch vernahm sie ihre warme Stimme. „Davon müsst ihr mich nicht überzeugen. Ich spüre, dass es so ist, Kind.“ Marbolieb schwieg und legte ihre Wange an das warme Köpfchen ihrer Tochter. Sie würde Topaxandrina nicht sagen, dass sie dem Oberst zwingend weh tun würde – wenn nicht jetzt, dann in drei oder vier Dekaden. Doch die herzensgute Zwergin damit zu konfrontieren, brachte sie nicht übers Herz. „Hat Dwarosch eine eigene Wohnung hier ins Senalosch?“ nutzte sie schließlich die Gunst der Stunde – und stupste sanft den Gang des Gesprächs in eine neue Richtung. “Als er von der Trollpforte zurück nach Senalosch kam, hauste er lange in einer kleinen Handwerkerwohnung in einer von Borindarax' Gießereien.” Die Wortwahl der Angroschna verriet mehr, als ihre Worte Inhalt besaßen. Ihr Tonfall deutete ebenfalls in selbige Richtung. “Nachdem er zum Oberst berufen wurde, hat er die Burg Nilsitz zu seiner Heimat auserkoren. Ich nehme zumindest an, dass er dort einen angemessenen Ort besitzt, den er Zuhause nennen kann. Ein jeder braucht so einen Platz. Jedenfalls“, kam sie auf das Thema zurück, „dort ist er die meiste Zeit, wie ich vernommen habe. Das heißt wenn er denn überhaupt in Nilsitz weilt. Die letzten Götternamen war er ja fast ununterbrochen unterwegs, zumindest soweit es mir Borax zugetragen hat.” Die Zwergin trank einen weiteren Schluck Tee. Das Absetzen der Tasse auf dem Tisch verursachte ein dezentes, hohes Klirren, als der Löffel wiederholt gegen die Keramik stieß, bis er zur Ruhe kam. “Aber Dwarosch übernachtet auch manchmal hier”, fuhr die Haushälterin fort. “Borax hat ihm zwei geräumige Keller zugeteilt, die durchgehend zu seiner Verfügung stehen.” Der Stuhl Topaxandrinas knarrte, als sie sich zurücklehnte. “Sie schätzen einander sehr. Beide sind sie in gewisser Weise Sonderlinge, zumindest nach den Maßstäben unseres Volkes. Das scheint sie zu verbinden.” Sie lachte auf. “Und das, obwohl sie verschiedener kaum sein könnten.” „Freundschaft fragt selten nach Ähnlichkeiten.“ Marbolieb schmunzelte, hob ihre Tasse, stellte fest, dass sie leer war und brachte sie vorsichtig wieder zurück auf den Tisch. „Jeder braucht etwas, das er Heimat nennen kann. Das ist nicht immer ein Ort. Und leider findet nicht jeder ihn.“ Ihr Lächeln war einer nachdenklichen Miene gewichen, die sich aber angesichts Topaxandrinas letzter Worte wieder aufhellte. „Es freut mich, dass er solche Freunde hat. Ihr geht viel unaufgeregter miteinander um als die meisten Menschen dies tun würden. Warum haltet ihr den Vogt aber für einen Sonderling?“ “Unaufgeregt trifft es nicht ganz, wenn ich an bestimmte Vertreter meines Volkes denke”, erneut lachte die Angroschna kurz belustigt auf. “Ihr wisst ja gar nicht, über was die alles zu streiten vermögen. Über welch unbedeutende Dinge.” Topaxandrina seufzte leicht. “Aber im Grunde habt ihr Recht. Unser Alter kommt uns zugute in dieser Hinsicht.” Marbolieb hörte wie der Tisch neben ihr ein winziges Stück über den steinigen Boden schrammte. Die Zwergin lehnte sich auf ihrem Stuhl sitzend über die Oberfläche, um an die Teekanne zu gelangen. Ihre ausladende Brust war ihr dabei im Weg. Dennoch brachte sie ihre Hand an den Griff der aus Kupfer gefertigten Kanne und goss ihnen nach. “Borindarax hatte ausgezeichnete Lehrmeister am Hofe des Rogmarog. Barbax, sein Vater, gehört zu den engsten Beratern unseres Bergkönigs. Diese Rolle sollte auch der Sohn irgendwann einnehmen, er sollte in die Politik unseres Volkes. Doch Borax liebt das Unbekannte, zeigte nie Ablehnung oder gar Skepsis vor Veränderungen. Seine Ideen sind den alten Herren in Isnatosch immer etwas zu weitreichend gewesen, beinhalteten Umbruch. Er ist ein ‘Reformer’, wie Borax es selbst nennt. Seine Gegner bezeichnen es als ‘Opportunismus’. Dass Ghambir ausgerechnet ihn zum Vogt machte halten viele für eine wohlgesetzte Provokation. Der Graf ist für seine politischen Spitzen bekannt. Ich glaube hingegen einfach er hält viel von Borax und sieht in ihm den Repräsentanten, den wir in Elenvina brauchen. Jedenfalls bremst er den Vogt in seinen Bestrebungen nicht. Selbst hat Ghambir wenig Interesse an der Politik des Herzogtums, aber er weiß wohl, dass unsere Interessen vertreten werden sollten. Seine Lösung für dieses Problem ist meiner Meinung nicht die schlechteste.” „Wenn ihn seine Untertanen akzeptieren, ist der Vogt gewiss der Richtige an seinem Platz.“ Marbolieb tastete nach der Teetasse, atmete den wohltuenden Duft tief ein und trank einen vorsichtigen Schluck. Heiß. Und gut. “Das ist er”, bekräftigte Topaxa. “Mich hat er längst von seiner Rechtschaffenheit und der Sinnhaftigkeit seiner Pläne überzeugt. Wie mir geht es auch vielen anderen, die in den oberirdischen Stadtteilen leben. Der Widerstand kommt von unten.” Sie stapfte hörbar mit einem Fuß auf den steinernen Boden auf, um ihre Worte mit der Geste zu unterstreichen. “Veränderung braucht Zeit. Dies gilt im speziellen für unser Volk. Gerade deswegen braucht man viel Kraft und Ausdauer, um sie zu bewirken. Borax ist jung und er besitzt die notwendige Leidenschaft, die viele Ältere bereits verloren oder gar nicht erst besessen haben. Ihr solltet einen Abend mit ihm gehen, wenn sich der Eiserne Bund des Isenhag trifft. Dort versammeln sich Mitglieder unseres Volkes, aber auch Menschen, die etwas verändern wollen und bereit sind Borindarax' Bemühungen, seine Politik zu unterstützen.” „Gibt es keine, die ihn ob seiner Andersartigkeit loswerden möchten?“ Ihre Stimme verriet, dass zumindest nicht allein der Vogt der Gegenstand der Frage war. Vielleicht verhielt es sich unter Zwergen anders als unter den Menschen – aber eine kleine, in sich geschlossene und abgeschiedene Gruppe agierte anders als die Menschen in einer Stadt, das hatte sie deutlich genug erfahren. “Dwarosch?” Es war mehr eine Feststellung, denn eine Frage. Topaxandrina hatte erkannt, dass nicht nur Borax Grund ihrer Sorge war. “Nein. Das Söldnertum und auch der Beruf des Kriegers sind nicht gut gelitten in unserem Volk, das gilt insbesondere für Xorlosch und Isnatosch, doch hat man erst einmal einen angesehenen Posten, dann ist man stolz auf seinen Bruder. Das gilt für Turam, den Marschall der Nordmarken, wie auch für Dwarosch.” Sie seufzte. “Er hätte in Waldwacht, unter dem Amboss, geboren werden sollen, dort hat das Kriegshandwerk Tradition und genießt hohes Ansehen. Doch am Ende ist es gut wie es ist, denn auch wir brauchen Männer wie ihn. Bei Borax sieht die Sache hingegen anders aus.” Die Angroschna kam nun auf den Vogt zu sprechen und allein an der Art, wie sie ihre Stimme senkte, erkannt die Geweihten, dass sie sich in seinem Fall tatsächlich sorgte. “Da sind Angroschim die ihn offen anfeinden. Sie sind nicht viele, aber es gibt sie. Das ist unbestreitbar. Manch einer befürchtet, dass Borax Privilegien beschneiden, Gesetze, die das Handwerk betreffen, anpassen will und sieht sich dadurch von ihm in gewisser Weise bedroht, fürchtet um sein Einkommen, um seinen Wohlstand. Boindils Anwesenheit hier war anfangs allein Ausdruck Dwaroschs Befürchtung, jemand könnte Borax einzuschüchtern versuchen. Dinge, die über verbale Pöbeleien und Anfeindungen hinweg gehen, meine ich. Doch nun genug davon!” Etwas unwirsch beendete sie das Thema eigenwillig. Sie schien nicht bereit sich weiter mit solch bedrückenden Themen beschäftigen zu wollen. Topaxandrinas Stuhl bewegte sich, als sich die Zwergin erhob. Die Beine schabten über den Boden. “Wollen doch mal sehen, was unser Teig macht.”

***

Still war die Nacht, kein Geräusch drang durch die Wände des Kellers. Die gleichmäßigen, raschen Atemzüge des kleinen Mädchens waren alles, was die Stille durchbrach. Friedlich schlief das Kind, und alles war gut. Hätte gut sein sollen. Marbolieb drehte sich von einer Seite auf die andere, lauschte ihrem Kind und konnte doch keinen Schlaf finden. Eigenartig. Nicht, dass sie sich über Gebühr wohlfühlte unter diesen Quadern Stein, die über ihr lasteten – weniger noch in der muffigen Luft, die erzählte, dass es schon lange war, dass sie freien Himmel erlebt hatte, gleich wie gut die Belüftung in diesen Zwergenhallen auch ausgetüftelt sein mochte. Die Geweihte kapitulierte vor der Stille, unterstrichen von ihrem in den Ohren dröhnenden Herzschlag, ließ sich aus ihrem Bettkasten gleiten und kniete sich nieder. Langsam nur beruhigte sich ihr rascher Puls und sie fand ihren Frieden in der Zwiesprache mit ihrem Gott, eine geliehene Atempause, während die Nacht voranschritt und weit über der Stadt Senalosch die Sterne ihre Bahn zogen. „Schenke ihm eine sichere Reise.“ Lautlos formten ihre Lippen die Worte. „Und lass’ ihn zurückkehren.“ Irgendwann, ihre Beine waren längst gefühllos geworden und die Kohlen in der Feuerschale verglüht, erhob sich die Priesterin wieder. Ihre Fingerspitzen glitten über die weiche Wange des schlafenden Kindes, als sie sich vorbeugte und mit ihren Lippen seinen Scheitel berührte. Widerstrebend löste sie schließlich die Liebkosung, und wandte sich mit gesenktem Kopf ab. Kalt und leer waren ihre Kissen, die sie an sich drückte – und doch suchte sie vergebens die Arme des Schlafes in dieser Nacht.

***

Die Küche war groß, ideal auf die Bedürfnisse Topaxandrinas eingerichtet – und gemütlich. Sie hatte sich schnell zum hauptsächlichen Aufenthaltsort der beiden Frauen gemausert, und so saßen sie auch an diesem Morgen dort, nachdem die Haushälterin den Gast samt Kind am Morgen aus ihrem Zimmer abgeholt hatte – sich allein in dem Gebilde aus verschachtelten Gänge über Dutzende Stockwerke zurechtzufinden, traute die Priesterin sich nach den ersten Tagen hier noch nicht zu. Ihre Kräfte waren in der vergangenen Woche beständig zurückgekehrt, was zu einem guten Teil den Kochkünsten Topaxandrinas geschuldet war, die wenig unversucht ließ, ihren Gast für die Leckereien aus ihrer Küche zu begeistern – mit dem Ergebnis, dass die hageren Schatten aus den Wangen der Boroni verschwunden waren und sich die Knochen kaum noch unter ihrer Haut abzeichneten. Wichtiger aber waren ihr die Gespräche mit der mütterlichen Zwergin, die ein schier unerschöpfliches Wissen über jedes und jeden im Berg zu besitzen schien. Marbolieb wärmte ihre Hände an einem großen Tonkrug mit heißem Tee, lauschte dem zufriedenen Glucksen Mirlas, die auf Topaxandrinas Schoß kurzen Prozess mit einer Schüssel Getreidebrei machte – und dabei wohl die Hälfte über den Tisch und die gutmütige Haushälterin verteilte – und lächelte. „Ihr habt nicht viele Kinder hier, oder?“ Bislang war sie, bis auf Mirla, in Senalosch noch keinem einzigen begegnet. „Leider nein“, bestätigte die Angroschna. „Wir bekommen nicht so viel Nachwuchs, auch wenn wir es uns wünschen. Eine Geburt ist etwas ganz Besonderes, nicht nur für die Eltern, sondern auch für Klan und Sippe. Der Allvater hat es so eingerichtet, dass wir wenige sind. Vom Berg behütet war es dennoch immer genug, unsere Rasse zu bewahren, selbst als Pyrdrax uns mit Krieg überzog. Wir überdauern. Die Angroschim sind dazu geschaffen worden, um die Schätze der Erde zu bergen und zu behüten. Wir waren nie dafür vorgesehen, den Kontinent zu bevölkern. Jedenfalls ist es das, was die Priester sagen.“ Marbolieb faltete die Hände und überlegte. „Vermutlich ist dies der Preis eurer langen Lebenszeit.“ Sie schwieg einige Atemzüge lang und hing ihren Gedanken nach. „Dadurch könnt ihr euch in vielen Dingen auch ungleich mehr Zeit lassen.“ Sie unterdrückte ein Seufzen. „Sagt, Ihr erzähltet einmal von Männerfreundschaften, die bei euch gebräuchlich sind ... was kann ich mir darunter vorstellen?“ “Nun ja, das erklärt sich im Grunde recht einfach. Wie ich dir ja bereits erzählt habe, sind die Männer den Frauen nach ihrer Anzahl deutlich überlegen. Dies führt dazu, dass viele ihr ganzes, langes Leben unverheiratet bleiben und somit auch keine Familie gründen können”, begann Topaxandrina bereitwillig mit ihrer Erläuterung. “Der innere Wunsch, sein Leben nicht allein verbringen zu müssen, jedoch besteht trotz alledem. Sie ist wohl allen denkenden Wesen gemein. Dies führt bei uns häufig dazu, dass zwei oder manchmal auch mehr männliche Angroschim einen Haushalt gründen und zusammen leben. Um es klarzustellen, diese Freundschaften haben keinerlei körperliche Komponente, jedenfalls ist mir dies nicht bekannt. Es geht vielmehr darum, die Dinge des Lebens einfach mit jemanden zu teilen. Häufig ist es so, dass sich Angroschim, die den gleichen Beruf Seite an Seite ausüben, sich irgendwann so aneinander gewöhnt haben, dass sie einander nie wieder missen möchten. Ich rede hier von Zeiträumen, die durchaus einmal ein Jahrhundert bedeuten können. Ab einem gewissen Alter haben die meisten Männer sich auch ohnehin damit abgefunden und noch dazu arrangiert, keine Angroschna mehr zu finden. Manche behaupten, dass aus solchen Männerfreundschaften unser technischer Vorsprung in mancherlei Handwerk erwachsen ist.” „Das kann ich gut glauben.“ Marbolieb blickte in die Richtung, in der sie Topaxandrina vermutete. „Ich möchte mir nicht ausmalen, was Menschen in einer solchen Situation tun würden – sie wären indes keinesfalls so geduldig und selbstbescheiden wie dein Volk.“ Die Priesterin stützte ihre Hände auf den Tisch. „Darf ich wissen, wie dein Mann dich damals umworben hat?“ Die Eigenarten der Angroschim waren faszinierend, umso mehr, je mehr sie darüber lernte. „Ach, weißt du, Kind“, die Zwergin lächelte sachte und blickte in ihre Teetasse. „Sechs Jahre habe ich seine Avancen genossen, aber ignoriert, ignorieren müssen, auch wenn ich meinen Ortosch immer gemocht habe. Er war ehrlich, stolz, so fleißig und darüber hinaus hatte er einen famosen Humor. Doch meine Eltern hatten zunächst einen anderen für mich vorgesehen.“ Topaxandrina schüttelte abwesend den Kopf. „In diesem Falle lag es nicht an mir, dass er so lange geschmort hat. Ich musste sie überzeugen und daran arbeitete ich irgendwann. Ich denke, dass muss so im vierten Jahr seines Werbens gewesen sein. Letztlich war es wohl schlicht seine Hartnäckigkeit, die meine Eltern überzeugte. Alle anderen Werber, es waren einige über die Jahre hinweg, verloren irgendwann ihr Interesse, einschließlich ihrem Favoriten. Dass mein Vater mit Ortosch so gut über Männersachen sprechen konnte“, die Zwergin verdrehte amüsiert die Augen, „war unserem Bund wohl auch nicht ganz unzuträglich. Jedenfalls gaben meine Eltern uns irgendwann ihr Einverständnis.“ In der Stimme Topaxandrinas hörte man förmlich die Wärme, die ihr diese Erinnerung bescherte. Sechs Jahre Werbung war eine wackere Zeit. Marbolieb lächelte angesichts dieses schönen Bildes, das die Haushälterin mit ihr teilte und genoss es einige Zeit lang. „Was vermisst du eigentlich am meisten?“ Die Geweihte umfasste die heiße Teetasse und schnupperte zufrieden. Die heimelige Küche hüllte sie ein wie ein warmer Mantel und verbreitete Wohlbehagen. „Seine Gegenwart“, erwiderte die Zwergin ohne lange nachzudenken. „Alles andere mag zwar auch wichtig erscheinen, verliert aber seine Bedeutung im Angesicht des Verlustes.“ Sie seufzte schwer, lächelte aber zugleich. „Er selbst lebt in unseren Kindern weiter, unser Sohn ist im nach Wesen und Erscheinung sehr ähnlich und auch sein Name wird weiter bestehen. Das erste Kind, egal ob es aus Tokschors oder Topalinas Bund hervorgeht, wird Ortosch heißen und ich habe die Aufgabe, dem Kind möglichst viel von ihrem verstorbenen Opa zu erzählen. So ist es Brauch.“ Die Priesterin seufzte und hing einige Atemzüge lang wehmütig ihren Gedanken nach, ehe sie sich merklich aufraffte und nach der Hand der Zwergin tastete. „Ein schöner Brauch. Den Göttern sei Dank für Deine Kinder – sie sind am Ende eines Lebens das, was bleibt – und sie sind diejenigen, die unsere Namen in die Zukunft tragen.“ Sie lächelte traurig. „Ich würde sie gerne einmal kennenlernen, wenn Du sie mir vorstellen willst.“ „Die beiden kommen oft zu Besuch. Ich denke also das wird sich früher oder später von alleine ergeben“, erklärte Topaxandrina. Marbolieb hörte, wie der Stuhl Topaxandrinas über den Boden schabte, offenbar stand die Zwergin auf. „So, dann wollen wir mal Frühstück machen.“ Scharniere quietschten, Töpfe und andere Kochutensilien klapperten. „Und dabei kannst du mir ein bisschen was von dir erzählen. Wo bist du geboren, Kind?“ Marbolieb nahm die sich windende Mirla wieder aus den Händen der Zwergin entgegen und versuchte, ihre Tochter einigermaßen bequem auf ihren Knien unterzubringen, was das unternehmungslustige Kind mit energischem Zappeln zu verhindern trachtete. „Ich komme vermutlich aus der Gegend von Punin. Ich wurde als Findelkind vom Tempel aufgezogen.“ Sie entwirrte die Hände Mirlas aus ihren Ärmeln und pustete dem Kind ins Gesicht, was dieses mit glücklichem Quietschen beantwortete. Vorsichtig fasste sie das kleine Mädchen um die Taille, um zu verhindern, dass sie abstürzte – oder sich über den Tisch davonmachte. Mirla entdeckte die Freuden des Krabbelns, sehr zu Marboliebs heimlichen Entsetzen. Nach einer kurzen Pause antwortete die Zwergin mit einer weiteren Frage. Ihre Stimme klang anders als zuvor. Es lag ein wenig Bestürzung in Topaxandrinas Tonfall. „Das heißt, du weißt nicht, wer deine Eltern sind? Kind, das ist ja furchtbar.“ „Es ist, wie es ist.“ Marboliebs Stimme drückte eine ruhige Annahme des Sachverhalts aus, als sie ihr Kind in die Arme schloss und ihren Atem durch seine feinen, federleichten Haare streichen ließ. Sie wandte sich in die Richtung, aus der Topaxandrinas Stimme klang. „Manchmal überlege ich, wie es wäre, eine Familie zu haben.“ Vermehrt in letzter Zeit, doch das sprach sie nicht aus. „Doch das führt zu nichts. Ich hatte Glück, dass mich der Tempel aufgenommen hat. Viele unerwünschte Kinder finden kein Heim.“ Mehr als genug Straßenkinder gab es in Punin – wie in jeder der größeren Städte des Reichs. Und noch mehr Bettelbanden, die versuchten, sich über Land durchzuschlagen. Doch auch das waren nur die, die aus dem Krabbelalter herauskamen – in den Armenvierteln der Städte war die Kindersterblichkeit hoch. „Ich vermisse ich meine Brüder und Schwestern aus dem Tempel.“ Leise war ihre Stimme, als sie das Geständnis über Mirlas Köpfchen flüsterte. Emotionen zu zeigen schickte sich nicht für eine Priesterin des Unergründlichen – aber glücklicherweise befragte auch niemand einen Geweihte nach so persönlichen Dingen. Zumindest fast niemand. „Sie sind für dich vermutlich das, was anderen eine Familie ist“, sprach die Zwergin und Marbolieb erkannte Bedauern darin. „Den Angroschim bedeutet das Zusammenleben in ihren Familien, in den Klans sehr viel. Nur wenige von uns leben außerhalb dieser Gemeinschaften. Meistens sind es Ausgestoßene, wie unsere Geoden oder diejenigen, die das Leben an der Oberfläche freiwillig gewählt haben. Aber auch dort gibt es größere Sippengemeinschaften wie hier in Senalosch, oder bei unseren Brüdern und Schwestern im Kosch, die die schützenden Berge ganz verlassen haben.“ Vorsichtiger diesmal stellte Topaxandrina eine weitere Frage. „Wie viele Geweihte leben im Tempel in Calmir?“ „Nur ich.“ leise klang die Antwort Marboliebs. Sie hielt ihre Tochter fest, die langsam von der erdrückenden Enge genug hatte und begann, sich energisch zu winden.

Geisterstunde

Es war fast drei Tage her, dass Richhild, Amalvin und der Vogt in Begleitung weiterer Angroschim nach Sturzenstein aufgebrochen waren, als Topaxandrina in aller Frühe in Marboliebs Zimmer trat, um sie zu wecken. Sanft rüttelte die Zwergin an den schmalen Schultern der Geweihten. „Kind, wach auf. Es ist wichtig. Wir haben Besuch.“ Die Geweihte hatte ihr Kissen eng an sich gedrückt und ihr Gesicht darin vergraben. Als Topaxandrina sie schüttelte, hob sie den Kopf, und eine ganze Palette von Gefühlen glitt darüber, beginnend mit froher Hoffnung, als sie die Stimme zuordnen konnte weiter zu jäher Enttäuschung und endend mit deutlicher Sorge. „Was ist passiert?“ Erschrocken setzte sie sich auf. „Wer ist gestorben?“ „Niemand“, gab die Zwergin ruhig zur Antwort. „Zwei der Angroschim, die den Vogt und die Golgariten nach Sturzenstein begleitet haben, sind zurück, Roglamox und Atosch. Es hat“, Topaxa stockte kurz. „Es sind unvorhergesehene Dinge geschehen. Keine Sorge, alle sind am Leben“, nahm sie gleich das Wichtigste vorweg. „Aber man benötigt anscheinend deinen Beistand, oder möchte zumindest darum bitten.“

Alles besaß seinen Preis und seine Zeit. Marbolieb zog das dünne Hemd, das sie zum Schlafen trug, enger um ihre Schultern, als die Kühle des Kellerraumes auf ihre Haut drang, und fröstelte unter der kalten Luft. Mirla wachte unter den Stimmen auf und beschwerte sich, allein in ihrer Wiege liegend. Ihre Mutter tastete nach ihr, nahm sie auf die Arme und wiegte das Kind, das, am Ort seiner Wünsche, mit zufriedenem Glucksen seine Händchen um den Hals Marboliebs schlang. Liebevoll küsste die Geweihte die glatte Stirn des Kindes und atmete seinen Kleinkindergeruch nach Brei, Milch und Zufriedenheit (und dem letzten Aufstoßen) ein. Einen Augenblick lang hielt sie die Kleine eng an sich gedrückt und umfassende Liebe stand in ihrem Gesicht geschrieben. Sie atmete tief und entschlossen aus. „Wirst Du auf sie aufpassen?“ Sie reichte Topaxandrina ihre Tochter, und die flehentliche Bitte in ihren Augen fand ihren Widerhall in ihrer Stimme. „Selbstverständlich. Mirlaxa ist bei mir in guten Händen, Kind.“ Es war mehr Feststellung als Antwort. Die Zwergin und der Säugling harmonierten. „Ich bringe dich nach nebenan. Die beiden warten im Arbeitszimmer des Vogts.“ Als Marbolieb sich Schuhe angezogen und ihre Robe übergeworfen hatte, führte die Zwergin die Geweihte am Arm über den Gang bis zum besagten Kellerraum. Atosch, der gerade dabei war, das Feuer im Kamin neu anzufachen, kam aus der Hocke hoch und auch Roglamox erhob sich aus dem Sessel von dem offenen Feuer. „Eure Gnaden, habt dank, dass ihr um diese Uhrzeit mit uns sprecht“, begann der Gardist. „Wir kommen mit einem ernsten Anliegen und einer Bitte des Vogts zu euch.“ Topaxandrina brachte Marbolieb zu einem weiteren Sessel und half ihr, sich zu setzen. Marbolieb neigte lauschend den Kopf. „Berichtet mir. Und bitte erzählt mir, wer ihr seid.“ Die Stimmen sagten ihr nichts – sie war sich nicht sicher, ob sie diese jemals gehört hatte. Sie steckte ihre Hände in die Ärmel ihrer Robe, was aber wenig gegen die Gänsehaut half, die ihr angesichts der kühlen Luft in dem seit Tagen ungenutzten Arbeitszimmer über die Arme kroch. „Selbstverständlich, eure Gnaden. Mein Name ist Roglamox, Sohn des Roxschor und mich begleitet Atosch, der Sohn des Agram. Wir gehören beide zur Stadtwache von Senalosch und unterstehen damit dem Vogt“, erklärte einer der beiden mit tiefer, aber wohlklingender Stimme, die weniger Akzent aufwies, als sie es von manchem der Angroschim gewohnt war. „Wir haben die Kaverne und die sich daran anschließenden Keller gefunden, von dem ihr bereits gehört habt, bevor der Sohn des Barbaxosch in Begleitung einiger Brüder und der beiden Ritter vom Orden des heiligen Golgari dorthin aufbrach.“ Der Zwerg holte Luft und allein an der Art und Weise erkannte Marbolieb sein deutliches Unbehagen. Das, was nun folgen würde, beunruhigte ihn, wenn es ihm nicht sogar Angst machte. „Dunkle Magie wirkt dort. Wir wurden von riesigen Spinnen einer uns unbekannten Art angegriffen und fanden zwei der Tunneljäger, die dort Wache halten sollten, schwer verletzt. Wir vermuten, dass es sich bei dem Kellerkomplex nicht um eine Grabstätte, sondern um eine Kultstätte aus der Zeit handelt, in der die ersten Güldenländer diese Lande beherrschten und die Nordmarken eines ihrer Königreiche waren. Es liegen mehrere Skelette darin, die scheinbar gemeinschaftlichen Selbstmord begangen haben, aber“, Roglamox stockte kurz, „das ist noch nicht das Beängstigende. Ein mächtiger Geist, so die Landmeisterin, geht dort um. Sie konnte ihm nicht Einhalt gebieten und wurde gar einmal bewusstlos, als sie es versuchte. Borindarax bittet euch deshalb, darüber nachzudenken, ob ihr meint in der Lage zu sein zu helfen.“ Die Geweihte lauschte schweigend der Erzählung, aus der sie die Bitte um Hilfe überdeutlich ansprang. Sie nickte, mit mühsam ausdrucksloser Miene. „Ich komme mit.“ Sie senkte den Kopf, ihr Gesicht tief im Schatten. „In einem Wassermaß kann ich aufbrechen.“ Kurz entstand Stille. Die beiden Angroschim hatten anscheinend nicht mit einer solch spontanen Antwort ohne jedwede Rückfragen gerechnet. „Gut. Ich werde auf euch warten und euch in die Stadt hinunterbegleiten“, erklärte der Zwerg schließlich das weitere Vorgehen, hatte er doch für beide möglichen Antworten bereits vorgesorgt. „Atosch wird die Soldaten instruieren und alles vorbereiten lassen, so dass wir unverzögert losziehen können, sobald ihr eintrefft, eure Gnaden.“ Falls der Gardist durch die Blindheit der Geweihten, welche er zweifelsohne erkannt haben musste, irritiert war, so ließ er es sich nicht anmerken. Seine Stimme war fortwährend freundlich gewesen, Skepsis hatte Marbolieb nicht erkennen können. Schon entfernten sich schwere Schritte eines Stiefelpaares, während sich eine Hand sanft auf die Schulter der Geweihten legte. „Meint ihr dies ist eine gute Idee?“, fragte Topaxandrina leicht besorgt. „Ich werde auf Mirlaxa achtgeben und für sie sorgen, doch müsst ihr mir versprechen, nicht töricht zu sein und kein unnötiges Risiko einzugehen.“ Marbolieb wartete, bis die Schritte der Zwerge verklungen waren. Sie schüttelte sacht den Kopf. „Ich möchte hierbleiben. Aber was soll ich tun?“ Die Zwergin seufzte. „Das was du für das Richtige erachtest, Kind.“ Die Geweihte nickte langsam. „Deshalb gehe ich.“ Sie senkte den Kopf. „Bringst Du mich in mein Zimmer?“ „Natürlich“, entgegnete Topaxa und war bereits dabei, Marbolieb von ihrem bequemen Sitzplatz auf zu helfen.

Auf zur Schlittenfahrt

Etwas mehr als ein volles Stundenglas später half Roglamox Marbolieb auf einen großen Schlitten aufzusteigen und verstaute ihr Gepäck. Kurz zuvor hatte sich die Geweihte ausgiebig und auch tränenreich von ihrer Tochter verabschiedet, welche die Reise nicht mit ihr antreten würde. Das Gefährt auf zwei langen Kufen war das zweite seiner Art und hatte eiligst instandgesetzt werden müssen, als es hieß, man müsse einen weiteren Transport organisieren. Solch eine emsige Betriebsamkeit zu Winterzeit hatte es lange nicht mehr gegeben in Senalosch. Acht Tunneljäger auf stämmigen Ponys, sowie zwei große Pferde vor dem Schlitten stießen dampfende Atemwölkchen in die kalte Luft den anbrechenden Morgens. Die Zwerge hatten extra zwei schwere Kaltblüter von den in Senalosch überwinternden Holzfällern akquiriert, die damit über den Rest des Jahres umgefallene Bäume aus den Wäldern zogen. Bei dem mittlerweile hoch liegendem Schnee waren sie den Ponys gegenüber klar im Vorteil. Atosch saß auf dem etwas höher gelegenen Bock des Schlittens, er würde das Gespann lenken, während Roglamox neben Marbolieb auf der vorderen der beiden hintereinander angeordneten Sitzbänke platzgenommen hatte. Die andere war mit Ausrüstung der Soldaten beladen, die dadurch ihre Ponys entlasten konnten, die im Schnee ohnehin schon genug zu leisten hatten. Auch große Schaufeln, Taue, Sägen und Holzfälleräxte gehörten dazu, um auf jedwede Eventualität vorbereitet zu sein. Das Gepäck der Priesterin passte in eine Hand – einige Tiegel und Beutel, die sie in eine von Topaxandrina ausgeliehene Decke eingewickelt hatte, mehr war es nicht. Sie hatte angesichts der Kälte ihre komplette Garderobe – zwei Roben und ein Hemd – übereinander angezogen, und trug unter ihren groben Schnürstiefeln mehrere Paar Socken. Ein dicker, ungefütterter Lodenmantel, der sicher über mehrere Stunden Wasser und Feuchtigkeit ausschließen würde, ein Schal und Handschuhe vervollständigten das Ensemble. Seit sie im vergangenen Jahr den Tempel in Calmir übernommen hatte, hatte sich nie die Notwendigkeit ergeben, über mehrere Stunden im Winter draußen zu sein. Und auch wenn sich in der vergangenen Woche die Gelegenheit für einen Einkauf ergeben hätte, so lag doch ihre vollständige Barschaft in ihrem Tempel in Calmir. Marbolieb zuckte die Schultern. Müßige Gedanken – es war, wie es war, und es würde genügen. Sie zog sich den Mantel enger um die Schultern, steckte ihre Hände in die Ärmel und war bereit für den Aufbruch. Ihre Glaubensschwester benötigte ihre Hilfe, also würde sie diese geben. „Möge der Allvater über euch wachen“, bat Topaxandrina für diejenigen, die nun eine Reise durch Eis und Schnee anbrechen würden, um Beistand. Die Haushälterin des Vogt hatte die blinde Geweihte, mit Mirla in einem gebundenen Tuch vor ihrer Brust und unter ihrem Pelzmantel verborgen, bis zum Platz vorm Isenhager Tor begleitet, von wo aus Schlitten und Reiter aus Senalosch ausziehen würde. Marbolieb fasste nach den Händen der Zwergin, beugte sich dann über ihre Tochter, die sie mit großen Augen ansah, und berührte mit den Lippen liebevoll die Stirn des Kindes. Mit hängenden Schultern wandte sie sich ab und kletterte langsam und unbeholfen mit der Hilfe der fremden Zwerge auf den Schlitten. Bevor sich Topaxa wieder abwandte, um den Weg hinauf zum Widdertor anzutreten, reichte sie Roglamox noch eine Tasche mitsamt daran befestigtem Bündel. „Es sind haltbare Verpflegung und zwei Flaschen Gebrannter“, erklärte die Zwergin. „Außerdem befindet sich in der verschnürten Wachsplane eine große Decke aus Elfenbausch. Vermutlich stammt sie aus dem Nachlass eines der Vorgänger Borindarax'. Ich fand sie in einer der unzähligen Kisten auf dem Dachboden. Sollte ihre Gnaden frieren, so lege sie ihr um.“

***

Knappe drei Tage später erreichte die Gruppe das südliche Ufer des großen Flusses. Die Geweihte hatte während der Fahrt kaum ein Wort verloren, versunken in ihren eigenen Gedanken und des Rogolan, dass sie Zwerge untereinander nutzten, nicht mächtig. Das Elfenbausch hatte ihr wahrlich einen guten Dienst erwiesen. Zwar hatte Marbolieb zwischenzeitlich sämtliches Gefühl in ihrem Gesicht verloren ob der beißenden Kälte, doch der Rest von ihr, welcher die Fahrt über unter der schützenden Decke verborgen gewesen war, war davon verschon geblieben. Einzig während der wenigen Rasten hatte sie frieren müssen, dann nämlich, wenn Roglamox ihr geholfen hatte abseits zu gehen, um ihre Notdurft zu verrichten. „Warum Ihr?“ Marbolieb wandte sich an den Zwergen, der gerade sein Möglichstes tat, sie wieder in den Schlitten zu verfrachten und sie sorgfältig und gründlich in die Decke wickelte, dass gerade noch ihre Nasenspitze heraussah. Verwundertes Schweigen antwortete ihr, während Roglamox versuchte, herauszufinden, was diese seltsame Menschenfrau damit erfahren wollte. Die Geweihte wartete einige Atemzüge lang, und stupste sachte den Zwergen in die gewünschte gedankliche Richtung. „Warum haben sie Euch ausgewählt, sich um mich zu kümmern?“ “Das ist einfach beantwortet, eure Gnaden. Ich stehe normal am Isenhager Tor und kontrolliere Reisende, die um Einlass nach Senalosch bitten. Darunter sind auch sehr viele Menschen, deshalb spreche ich eure Sprache recht passabel und verstehe sogar die meisten Dialekte des Mittelreichs. Mit Nostriern habe ich dafür häufig meine liebe Müh’. Die Tunneljäger hingegen beherrschen das Garethi wenn überhaupt dann holprig, die meisten wohl tatsächlich nur einige Brocken. Atosch hätte sich jedoch ebenfalls um euch kümmern können, zugegeben, doch mein Freund ist recht wortkarg und zumeist ein wenig, nun ja - griesgrämig. Jedoch,“ Roglamox Stimme, die zuvor recht heiter gewirkt hatte, erfreut über die Unterbrechung der fortwährend Stille während der unzähligen Stunden ihrer Reise, wurde nun zögerlich. “Dies ist nur die halbe Wahrheit, wie ich gestehen muss. Meine Brüder und Schwestern aus Isnatosch dulden mich nicht in ihrer Mitte. Auf der Kutsche meinen sie wahrscheinlich bin ich weit genug von ihnen entfernt, um kein Unheil anrichten zu können.” Der Zwerg seufzte. “Ich trage den Fluch des Drachen in mir und würde deswegen auch an die Oberfläche verbannt.” „Sie haben euch aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen?“ Halb Frage, halb Feststellung war dies. „Und dennoch reist ihr mit ihnen.“ Sie schwieg einige Atemzüge lang und lauschte auf die Reaktion des Zwergen. „Mit dem Fluch des Drachen meint ihr die Fähigkeiten, wie sie der Gebirgsbock besitzt, nicht wahr?“ Aufmerksam lauschte sie auf Roglamox' Antwort, begierig darauf, zu verstehen, was die Gemeinschaft der Zwerge, die ihr bislang so eng erschienen war, mit dem vermeintlichen Sonderling, der doch alles geben würde, um zu ihr zu gehören, anzustellen gedachte. „Ja und Nein.“ Ein wenig Bitterkeit lag in der Antwort. „Es ist die Gabe der Erdmutter, wie die Geoden sie betiteln, ja. Aber nein, ich kann sie nicht beherrschen, wie sie es tun. Ihre Ausprägung, sowohl als auch mein Talent reichen dafür nicht aus. Ich war einige Jahre in der Obhut eines Geoden“, Roglamox seufzte, „doch ohne nachhaltigen Erfolg. Das einzige was ich zweifelsohne kann, ist Drachenmacht zu erkennen, in Dingen und Personen.“ Der Zwerg schüttelte den Kopf und zeigte eine Miene voller Selbstironie, welche die Geweihte nicht sehen, aber auf gewisse Weise spüren konnte. „Als ich nach Senalosch heimkehrte“, fuhr der Zwerg fort, „verweigerte man mir den Weg in die Stollen von Isnatosch und wollte mich gar aus der Stadt schmeißen. Ich erspare euch die Einzelheiten, die sind mittlerweile eh’ belanglos. Schlussendlich fand man einen Kompromiss. Ich wurde im Gesicht tätowiert, um jedermann zu zeigen, welcher Fluch auf mir liegt. Die enthaltenen Runen sprechen eine eindeutige Sprache. Damit durfte ich zumindest im oberirdischen Teil Senaloschs bleiben.“ „Und seitdem tragt ihr diese Bürde.“ Weich war die leise Stimme der Geweihten. „Habt Ihr noch Kontakt zu Eurer Familie?“ Was würde schwerer wiegen – die, soviel immerhin hatte sie gelernt, bei den Zwergen äußerst enge Verbindung zwischen Blutsverwandten – oder die Angst vor dem Fremden? Der Angroscho lächelte ob der Frage. Ein wenig Wärme kehrte in seine Stimme zurück. “Natürlich. Einige Mitglieder meines Klans kommen mich an der Oberfläche besuchen. Am häufigsten sind es meine Eltern.” Er seufzte. “Mein Vater brauchte über zehn Jahre, um diesen Schritt zu gehen, so tief saß die Enttäuschung, dass sein einziger Sohn vom Drachen berührt ist. Mittlerweile ist ein viertel Jahrhundert ins Land gezogen und auch bei ihm überwiegt die Freude, dass wir uns nicht vollkommen entfremdet haben, die Gelegenheit haben, einander zu sehen.” Marbolieb lächelte angesichts der versöhnlichen Worte. „Macht es dies leichter – oder erschwert es Eure Bürde?“ Immer wieder zu sehen, was man nie zu erlangen vermochte – auch dies war eine Qual. Oder eine Hand, die sich ergreifen ließ. Die Wahl indes besagte viel über einen Menschen – und wohl auch einen Angroscho. Wenn ihr einerseits dieses Volk immer fremder erschien, je mehr sie über sie erfuhr, so waren es andererseits ebenso lebende, fühlende und atmende Geschöpfe der Zwölfe wie alle Rassen. Und teilten sich mit den Menschen genau die gleiche Sehnsucht nach Geborgenheit, Zugehörigkeit und Sein, wie sie allen Kulturschaffenden zu eigen war. Wiederum seufzte der Angroscho und schien dann überlegen zu müssen, wie er antworten sollte. „Es ist wie alles im Leben, man kann in allem etwas Schlechtes hineindeuten, wenn man es denn will. Ich versuche das Gute zu sehen und mich vorwiegend an die schönen Momente zu erinnern, an die vielen Begegnung mit meiner Familie, die es trotz meines Fluches gab. Aber ich gebe gern zu, dass es auch dunkle Stunden gibt, in denen mich das alles einholt und ich mit meinem Schicksal hadere.“ „Die Götter geben uns Herausforderungen, damit wir an Ihnen wachsen.“ Die Geweihte lächelte. „Ihr beschreitet einen guten Weg. Und wer weiß, was die Zukunft Euch und Eurer Gabe beschert.“ Sie kuschelte sich enger in die warme Decke, die ihr der Angroscho gegeben hatte, dankbar um den Schutz vor dem eisigen Winterwind. „Sie mag Fluch und Segen gleichermaßen sein.“ Nachdenklich nickte Roglamox. “Ja, sowas in der Art hat Borax auch gesagt. Er meinte, es wäre Ironie des Schicksals, dass eine ungewollte, magische Begabung uns dabei hilft, ungewollte Magie aus Senalosch fern zu halten.” „Das ist wohl der Zweck einer Gemeinschaft.“ Die Geweihte wandte ihren Blick dorthin, wo die Stimme Roglamox’ erklang. „Zu tun, was ihr nutzt.“ Sie lauschte einige Atemzüge lang in sich hinein. „Es ist ein Opfer, das ihr allen bringt – so bitter es Euch auch ist, und so wenig sie es schätzen.“ Was immer so war und wohl in jeder Gesellschaft so bleiben würde. Erst wenn es dafür niemandem mehr gab, der diese Tätigkeit vollbrachte, würde auffallen, dass sie getan worden war. Vielleicht. „Findet Stärke darin, dass ihr damit jene schützt, die euch teuer sind. Ihr ermöglicht es ihnen, ihr Leben in Frieden zu leben.“ Diese Entgegnung schien den Zwergen zum Nachdenken animiert zu haben, denn er sagte daraufhin nichts mehr, sondern verfiel in ein stummes Grübeln, dass lange anhalten sollte. Irgendwann schließlich hörte das Geruckel des Schlittens auf und ihr Begleiter berichtete, dass es ab hier nur noch zu Fuß weiterginge– was ein eigenes Abenteuer im tiefen Schnee bedeutete. Nicht, dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte– schon nach den ersten Minuten der Schlittenfahrt war sie auf die Augen und den Orientierungssinn ihrer Begleiter angewiesen gewesen. Ein kleines, selbstironisches Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie den Arm eines der Zwergen ergriff, vom Schlitten kletterte und auf die Trittfestigkeit von Angroschs Kindern vertraute.

Ein feiner und ruhiger Ort

Es war wiederum Roglamox, der sich Marboliebs annahm und die Geweihte den folgenden Weg über führte. Der Zwerg erklärte ihr, dass die Ponies am Schlitten angebunden worden waren und mitsamt zweier Wachen zurückblieben. Der Rest der Gruppe trat nun den beschwerlichen Marsch hinab zur Grotte an, in Richtung des Großen Flusses. Mit Schaufeln bahnten sich die Angroschim den Weg durch den Schnee, wobei sie sich wegen der anstrengenden Arbeit abwechseln mussten. Jeweils vier von ihnen waren zu Seilschaften verbunden, falls einer wegrutschen sollte. Marbolieb trug ebenfalls ein Tau um die Hüften, welches Roglamox an seinem breiten Gürtel befestigt hatte. Die Zwerge gingen auf Nummer sicher. Der Marsch war eine Tortur, welche der Geweihten nahezu alles an Kräften abverlangte, was sie aufbringen konnte. Wie lange sie unterwegs waren, vermochte sie nicht zu sagen, die immerwährende Dunkelheit, die eisige Kälte und das monotone Vorwärtsmarschieren versetzten sie nahezu in Trance und so brauchten die Worte des Zwerges neben ihr einige Zeit, bis sie weit genug zu ihr durchdrangen, dass sie begriff. „Wir sind da!“ Ein Stimmengewirr, wiederum in der Sprache der Zwerge, erhob sich. Den Tonlagen vieler unterschiedlicher Stimmen zufolge waren die Angroschim freudig erregt. Dann packte Marbolieb jemand von hinten und hob sie hoch, so dass sie auf dessen Armen lag. Erschrocken schrie die Geweihte auf und versuchte, sich aus dem Griff zu winden. Es dauerte einige aufgeregte Atemzüge lang, bis die Information, wer sie warum hochgehoben hatte, zu Marbolieb durchdrang. "Ich trage Euch in die Höhle, damit ihr nicht stolpert. Der Weg ist sehr schwierig." erklärte der Amalvin. "Wir haben mehrere Skelette in der Höhle, sechs Geisterstimmen im Vorraum und einen machtvollen siebten, der verhindert, dass Ihre Ehrwürden die Höhle wieder verlässt." An diesem Punkt blieb er stehen. "Sie meinte, ihr solltet vielleicht Eure Widerstandskraft etwas stärken, wenn ihr dies vermögt, damit er sich nicht in Eurem Geist verlustiert." Er betrachtete die halbtote Geweihte auf seinen Armen und schüttelte unglücklich den Kopf. "Sie hat uns fast den Kopf abgerissen, als sie erfahren hat, dass ihr unterwegs seid. Sie hält das nach wie vor für eine 'strohdumme Schnapsidee.' Marbolieb seufzte leise. "Und deshalb tragt ihr mich jetzt in die Höhle des Geistes. Ich danke Euch für die Warnung." Die sie erhielt nachdem die Männer sie bis hierher geschleift hatten. "Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?" fragte sie in die Runde. Marbolieb registrierte noch, dass Amalvin auf ihre Frage hin zu einer Antwort ansetzte, was es jedoch war, dass über seine Lippen kam, konnte sie nicht mehr vernehmen. Die Stimme des Graumantels wurde in dem Maße leiser, wie ein bisher im Hintergrund verborgenes Wispern lauter wurde und mit Beharrlichkeit und ansteigender Intensität unwiderstehlich ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Als die Geweihte nach endlos auf sie wirkenden Augenblicken das „Komm zu mir“, in dem uralten, bosparanischen Dialekt enträtselt hatte, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie wusste, dass Er es war, der sie rief. Er, der die Ordensobere gefangen hielt. Marbolieb spürte seine Macht, fühlte seine tastenden Sinne, die sich nach ihrem Geist ausstreckten. Die Geweihte, durch den Marsch durch den Schnee bereits am Ende ihrer Kräfte, hatte dem kaum noch etwas entgegenzusetzen. Amalvin bemerkte, wie sich ihr Körper mit letzter Kraft aufbäumte, ehe sie in seinen Armen erschlaffte. Den erschrockenen Aufschrei des Mannes bekam sie ebensowenig mehr mit wie die jähe Kampfbereitschaft, welche die sie begleitenden Zwerge an den Tag legten.

„Komm!“ hallte in ihren Ohren, unwiderstehlich und befehlend. Und sie folgte ihm, mit letzter Sinneskraft jedoch noch eine feste Mauer um den innersten Kern ihres Geistes schließend, ein Wall, der eines besagte: bis hierher. Nicht weiter. Es war Marbolieb, als wäre sie plötzlich frei, frei von Hunger, der sie plagte, frei von Durst, frei von dem Gefühl der sie umgebenden Kälte, frei von der Schwäche, die ihren Körper ergriffen hatte. Frei. Sie fand sich wieder, wie sie nackten, felsigen Boden unter ihren Füssen spürend voranschritt. Wohin wusste sie nicht, doch die Richtung kannte sie. Traumwandlerisch setzte sie ihre Füße immer wieder voreinander, folgte dem lockenden Ruf, hindurch durch die alles umschließende Schwärze. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, als der Steinboden auf einmal glatt wurde und sich die Geräusche ihrer Tritte veränderten. Sie kannte diesen Effekt, lernte gerade, ihn zu ergründen, seitdem sie erblindet war. Marbolieb wusste, dass sie einem abfallenden Gang folgte, die Kaverne nun durchquert haben musste, von der die anderen gesprochen hatten. Dann wurde der Boden wieder eben, bearbeitet. Der Hall ihrer Schritte änderte sich erneut, ein Raum, der eine eigene Präsenz besaß, Tod. Hier waren Menschen gestorben, hatten Seelen ihre letzte Reise über das Nirgendmeer angetreten. Doch trotz dieser Erkenntnis, ihrer Neugierde, verharrte sie nicht, der Ruf wurde drängender. Treppenstufen folgten und auch wenn sie nicht gewusst hatte, dass sie dort waren, so strauchelte Marbolieb nicht. Immer tiefer stieg die Geweihte des Unergründlichen die Stiegen hinab, bis sich schließlich eine Änderung einstellte. In ihrem Kopf, wo so lange zuvor nur absolute Dunkelheit geherrscht hatte erschien nun ein kaltes, blaues Licht. Zuerst nur ganz schwach, so dass sie zunächst davon ausging, sie täusche sich - doch die Intensität des Lichtes nahm stetig zu. Dann, mit einem Mal, sah sie es, ihn - und blieb wie angewurzelt stehen. Zunächst erkannte sie nur einen grellen Punkt weit vor sich. Dieser verschwamm jedoch an seiner Peripherie, hatte dadurch nur eine vage Form, keine festen Konturen. Es war Marbolieb, als erhalte sie einen Blick auf eine andere Realitätsebene. Nein, sie erhaschte einen Eindruck von dem, was hinter dieser, ihrer, Realität lag, hinter den Gesetzen der stofflichen Welt. Sie sah durch den Schleier. Die grelle Erscheinung wurde zu dem Umriss eines großen Mannes, stolz aufgerichtet und breitschultrig. Das Licht, das von ihm ausging, kalt und widernatürlich, deckte gleichzeitig die Natur der Umgebung auf. Marbolieb befand sich in einem großen Kellerraum, in dem einige Schritte von ihr entfernt ein mächtiger Altar stand. Die geisterhafte Erscheinung des Soldaten stand hinter dem ovalen Kunstwerk der Steinmetzkunst. Tanzende und in sich verdrehte Linien aus scheinbar lebendigem Nichts wanden sich aus der Gestalt heraus und endeten in etwas, was auf der Oberfläche des Opfersteines liegen musste. Erkennen konnte die Geweihte dies nicht.

Der Geist versuchte beständig, sich vom Altar fortzubewegen, doch die dunklen Fäden vor seiner blendenden Gestalt hielten ihn immer wieder zurück. Sie ketteten ihn an, für Marbolieb gab es keinen anderen Schluss. Wahnsinn stand in dem Gesicht des ehemaligen Soldaten Bosparans, um einen solchen musste es sich zweifelsohne handeln, spiegelte sein Abbild doch das ehemalige Erscheinungsbild des Mannes in markanter Prunkrüstung wieder. Besonders auffällig war der offene Paradehelm mit breitem, querstehendem Rosshaarkamm. Seitlich der gleißenden Gestalt stand ein aus sich heraus matt leuchtendes Abbild der Geistergestallt. Dieses jedoch war unbeweglich - eine Statue? Erfüllt von Wissensdurst und einem dumpfen, alles unterlagernden Pflichtgefühl trat Marbolieb näher, durchmaß die Halle, hob eine Hand und legte sie dorthin, wo die Brust des Kriegers sein musste. Ein eigenartiges Gefühl floss durch ihre Hand und von da aus weiter durch ihren Körper - eisig, prickelnd, und stechend gleichermaßen. Wie ein Summen spürte sie eher als das sie hörte die gesamte aufgestaute, über Jahrhunderte angesammelte Wut des Geistes, seinen Zorn- und vor allem eines: seine Angst. „Fürchte dich nicht.“ Nicht wirklich Worte waren es, die sie nutzte. Zuversicht. Gewissheit. Und ein Versprechen. „Ich bin jetzt hier. Ich helfe Dir.“ Das Ankämpfen gegen die Fesseln endete abrupt. Unmittelbar mit der Berührung stand das leuchtende Abbild aus der Anderswelt, der Geistes, oder was immer es auch genau war, vollkommen still und die vormals unsteten Augen fixierten die Marboliebs. Etwas sehr Machtvolles traf sie, füllte ihr Sein mit Gewalt aus und trachtete danach, ihr Wesen zu ergründen. Doch etwas an, nein, in ihr schien es abzuwehren, denn Marbolieb spürte, wie sich die Präsenz zurückzog, zögerlich und langsam zwar, aber sie tat es. „Wer seid ihr?“ Die Frage schien die große Halle wie ein Flüstern zu erfüllen, doch Marbolieb wusste, dass sie sich in ihrem Geiste manifestierte hatte. Neugierde schwang darin mit, da war sich die Geweihte sicher.

„Ich diene dem Herrn über Vergessen, Traum und Tod.“ Hallend standen die wenigen Worte im Raum, einen Nachklang, der die Stille um so mehr hervorhob, sie aus den Ecken lockte, bis sie sich wie ein dickes, dunkles Tuch um die beiden schlang. Namen allein – nichts als Schall und Rauch. Und nicht das Wesen, nach dem er fragte. Sie ließ zu, dass das Schweigen sie umschloss, alles ausfüllte, eigene Präsenz, Stofflichkeit erlangte. Die letzten Fragen stellte, die sie nicht aussprechen musste. Die den innersten Kern eines jeden Wesens beschrieben. Jenen letzten Mut verlangten, sich selbst gegenüberzutreten – jede Schwäche, jede Begierde, doch auch jede Stärke, hervorzuholen, abzuwägen. Zu betrachten, zu erkennen. Anzunehmen. ‚Wer bist Du?’ ‚Was willst Du?’ Eines nichts ohne das andere. Ein jedes Bedingung seines Gegenstückes, Grund und Ergebnis gleichermaßen. “Endlich ....” Einem gewaltigen Erdrutsch gleich durchströmte ein Gefühl endloser Erleichterung die Geweihte. “Ich danke den alten Göttern, dass ihr gekommen seid und ich euch von dort wo ich existiere zu erreichen vermochte. Alle vor euch waren zu sehr in ihrer- eurer Welt verhaftet. Einzig die Frau, die sich Richhild nennt, konnte zumindest einen Teil meines Wesens erfassen und mich dadurch hören.” Euphorische Hoffnung erreichte Marbolieb, doch gleichzeitig verspürte sie etwas schier Unergründliches, was unter dieser Woge an positiven Emotionen verborgen lag, drohend. “Mein Name ist Aquitano Crassus Garceon”, stellte sich der Geist vor. “Ich bin, nein, ich war Centurio der fünften Legion und hier im Königreich Nordmarken stationiert zur Zeiten Daleks auf dem Horas- Thron. Ich möchte, dass ihr mich erlöst und meine Kameraden ehrenvoll bestattet, damit auch ihre Seelen endlich Frieden finden nach all den Jahrhunderten.” Sie lauschte einige Atemzüge lang, die keine waren, hier, an diesem unwirklichen Ort. Darauf, was gesagt wurde – und was nicht. „Was bindet Dich hier?“ Verwoben waren die Fäden zwischen Opferstein, Statue und Geist – doch was ihn hier angekettet hatte, dies zu ergründen hatte der Arme Zeit übergenug gehabt. „Und wer hat dies getan? Warum?“

„Wir handelten Eisenwaren mit den Zwergen. Sie kamen aus ihren roten Bergen zu uns ins Castell“, erklärte der Geist bereitwillig. „Ihre Preise waren hoch, doch ihr Stahl dafür auch einzigartig. Der mir unterstellte Legionsmagier jedoch war gierig. Auf eigene Faust verfolgte er die Händler des kleinen Volkes in die Wälder und schlachtete sie kaltblütig ab. Er nahm sich all ihr Gold und dachte, er würde damit durchkommen. Doch die Zwerge fanden irgendwie heraus, dass es die Bosparaner, dass es wir gewesen waren, die ihre Brüder und Schwestern getötet hatten. Die Götter wissen wie.“ Die Stimme wurde immer energischer, je länger sie berichtete. Die Geschichte bewegte noch immer etwas in dem, der sie einst erlebt hatte. „Eines Nachts tauchten sie vor dem Castell auf und legten es mit ihren Torsionsgeschützen in Schutt und Asche. Keiner wusste, wie sie unsere Späher überlistet hatten, doch wir vermuteten, dass sie ihre Tunnel verwendeten, um in Schlagdistanz an die Oberfläche zu gelangen. Wir hatten keine Chance, es waren einfach zu viele. Wir flohen, vierzig Mann, einschließlich dem Urheber des Unheils. Verflucht seist du, Nertomyr kha Onachos, verflucht seiest du!“ Schrecken und Zorn sprachen aus seiner Stimme, die sich am Ende überschlug. „Er ist es, der meine Seele fesselte, mich mit seinem Zauber dazu zwang, ewig zu wachen über sein Gold. Hier hat er es gehortet, hierhin sind wir geflohen, weil er mich beherrschte, mir meinen freien Willen nahm. Es wurde unser Grab.“

Bitterkeit schlich sich ein, während die Stimme wieder ruhiger wurde. „Die Zwerge verfolgten uns und verschütteten den Zugang. Ihr müsst wissen, dies ist ein von Haus Charybalis erbautes Heiligtum des Flussvaters. Nunja, jedenfalls war es das zu meiner Zeit, bevor kha Onachos es mit seiner Tat schändete. Während alle Versuche scheiterten, uns zu befreien, gingen uns die Nahrungsmittel aus. Wir hatten nicht viel mitnehmen können, mussten Hals über Kopf fliehen. Bald kam der Hunger und mit ihm der Zwist. Irgendwann, dem Wahnsinn nahe, entschlossen sich die Männer in den Freitod zu gehen, bevor sie sich gegenseitig abschlachten würden um das Fleisch ihrer Kameraden zu essen. Nertomyr war ein Meister der Nekromantie und band alle Seelen an diesem Ort. Er gönnte niemandem die Ruhe, den Frieden. Diese Niederlage konnte er nicht überwinden. Mir nahm er alle Lebenskraft, versteinerte mich und schuf die Wesenheit, die nun zu euch spricht. Er selbst legte sich auf den Altar und transferierte seinen Geist in seine Trioptia, um die Jahrhunderte, die Jahrtausende zu überdauern. Entfernt die Insignien seines Standes, zerstört sie - und ich werde frei endlich sein. Frei nach nahezu zwei Jahrtausenden! Bringt die Überreste meiner Brüder und Schwestern und das Feldzeichen, welches ihr finden werdet, ins Castell Nilsatsch im Westen. Unter der Festung gibt es natürliche Kavernen, in denen Teile der Legion, vornehmlich meine Kohorte dem Schwarmgott eine Opferstätte errichtet hat. Dorthin gehören unsere Gebeine und Hinterlassenschaften. Gebt mir dies Versprechen”, forderte der Geist mit Nachdruck. Die Geweihte schwieg einige Zeit lang. „Ich will und werde Eure Seelen zur Ruhe betten, Centurio Garceon.“ versprach sie schließlich. „Doch zweitausend Jahre sind eine lange Zeit. Ich kann Euch die Dienste angedeihen lassen, auf die ich mich verstehe.“ Sie schwieg abermals und legte sich ihre Worte zurecht. Er musste sie verstehen können – und, wichtiger noch, annehmen. „Für eine friedvolle Grablege werde ich Eure Gebeine in geweihtem Grund in der Erde bestatten. Mit Eurem Feldzeichen, wenn Euch dies Frieden gibt. Erst dann können Eure Seelen den Flug über das Nirgendmeer antreten, den sie so lange herbeisehnten.“ Sie verstummte, dem Geist des Centurio die Zeit einräumend, ihr Angebot zu wägen. Zeit. Nur ein Wort. Bedeutungslos an diesem Ort. Sie verstrich. Waren es Bruchteile einer Kerze, oder waren es viele Ganze - Marbolieb vermochte es nicht zu sagen. Sie verspürte eine Mischung aus verschiedenen- miteinander ringenden Gefühlen, von denen Misstrauen und Hoffnung diejenigen waren, die sie darunter noch am deutlichsten ausmachen konnten. Letztlich obsiegte die Zuversicht - das wusste die Geweihte, noch bevor der Geist ihr antwortete. “Da ich euer Wort habe und daran nicht länger zweifle, will ich euch vertrauen. Tut was ihr für richtig haltet, nur bettet uns an genanntem Ort zur letzten Ruhe!“ Trotz der Einwilligung, trotz den positiven, ihr entgegenstrebenden Emotionen blieb doch der Funke des Zweifels. Würde der Geist seine für ein lebendes Wesen unvorstellbar lange Existenz einfach aufgeben? Würde er sich in sein Schicksal fügen, wenn er von seinen Ketten befreit war? Marbolieb kroch plötzlich Kälte die Beine hinauf. Sie realisierte, dass sie bis zum Ansatz ihrer Waden im eisigen Wasser stand, spürte ihren Körper wieder und der Kultraum um sie verblasste, bis sie Dunkelheit umfing. Doch eines blieb, die gleißend-leuchtende Erscheinung des Geistes, inmitten all der Schwärze. ‚Dein vermeintlich größter Feind hat darin versagt dich zu töten und dir dabei eine ungewollte Gabe verliehen- ein Teil von dir ist hier bei mir.’ Marbolieb spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und Brausen ihre Ohren erfüllte. Eine dunkle Gabe der Widersacherin. Das Rauschen vermischte sich mit jäher Orientierungslosigkeit, und mit dem Streiflicht eines Gedankens‚ ‚die Kavernen unter Nilsitz einsegnen? Das wird anstrengend!’ versagten ihr die Beine und eine gnädige, geisterlose Dunkelheit umfing sie.

Das Nächste, was Marbolieb vernahm, waren sich schnell nähernde und durcheinanderrufende Stimmen. Es waren die Landmeisterin, Amalvin, sowie einige der Zwerge, die in die Halle gestürmt kamen, das hörte sie heraus. Die Golgariten und Vertreter des kleinen Volkes bahnten sich mit platschenden Schritten ihren Weg zu ihr, um sie dann etwas grob dem kalten Wasser zu entreißen. Es war Richhild selbst, die die Geweihte auf der Schulter trug und mit forschem Gang wieder den großen Kultraum verließ. Marbolieb konnte nicht sehen wohin sie schritt, doch irgendwann wurde sie langsamer und sprach überrascht aus: „Die Barriere ist weg. Das Portal ist frei.“ Borindarax, seine Stimme erkannte die blinde Geweihte sofort, interessierte sich derweil für etwas anderes. „Wie bei den Mauern von Okdragosch ist Marbolieb so plötzlich an uns vorbei in die große Halle gelangt.“ Eine Frage, die die Geweihte selbst nicht beantworten konnte, doch es schien ihr, als sei ihr Körper ihrem Geist gefolgt. Doch niemand hatte spontan Interesse daran, diesen Sachverhalt ausgiebig zu erörtern. Sie eilten stattdessen rasch weiter, bis schließlich eine Wärmequelle erreicht war. Es musste das Feuer am Eingang der großen Kaverne sein, denn Marbolieb vernahm das Prasseln von brennendem Holz. Die Landmeisterin sah die Sache pragmatisch. „Sie muss raus aus den nassen Sachen. Was haben wir noch an Wechselkleidung? Mein Unterzeug wird ihr passen – aber das wird nicht reichen.“ Es dauerte einige Zeit, bis die Geweihte wieder trocken und leidlich wach war. „Und? Erzählt!“ fasst die Landmeisterin die Fragen zusammen, die nicht nur ihr durch den Kopf gingen. Marbolieb umschlang ihre Knie mit den Händen, zog die Bauschdecke um sich und versuchte die Kälte zu vertreiben, die bis in ihre Knochen reichte. „Centurio Aquitano Crassus Garceon, das ist der Name dessen, der zu euch sprach, Richild. Ein bosparanischer Legionär, der mit vierzig seiner Leute hier von Zwergen eingemauert wurde, nachdem sein Regimentsmagier, ein Nertomyr kha Onachos, zuvor einige zwergische Händler ermordet hatte. Die Zwerge überfielen und vernichteten ihr Lager und verfolgten die letzten vierzig bis hierher. Die Legionäre wählten den Freitod, als ihnen die Vorräte ausgingen, und der Magus, der sich zwar auf Nekromantie verstand, nicht aber darauf, seine eingeschlossenen Gefährten zu befreien, band ihre Seelen hierher. Den Centurio versteinerte er und verwandelte ihn in eine friedlose Seele. Seinen eigenen Geist aber legte er in seine Trioptia – was auch immer das sein mag. Das Skelett auf dem Altar ist das des Magus. Der Centurio sagte, man müsse die Insignien des Magiers zerstören, um den Fluch zu brechen. Er wünscht, mit seinen Leuten in den Kavernen unter ‚Nilsatsch’ – womit er gewiss Burg Nilsitz meint – bestattet zu werden, mit dem Regimentszeichen, das hier irgendwo sein sollte. Ich habe ihm dies versprochen – unter der Vorgabe, dass ich diesen Grund weihen werde.“ Sie schwieg nach der langen Rede, ihre Arme noch immer fest um die Knie geschlungen, die Augen weit geöffnet, ohne, dass sie etwas in der Finsternis ausmachen konnte.

Borindarax Augen indes quollen bei dem Bericht der Geweihten fast aus ihren Höhlen. Der Vogt wurde ganz unruhig, seine Stimme verriet seine Erregung. “Es gibt alte Geschichten über den Ursprung der Besiedlung von Gut Nilsitz und auch um die dort gelegenen Höhlen. Ich hatte all das bisher nicht ernst genommen. Dass die Bosparaner ausgerechnet hier oben ein Kastell hatten schien mir zu fantastisch, aber vielleicht waren sie selbst an Erzabbau interessiert, oder es war schlicht ein befestigter Handelsposten. Letzteres würde durchaus ins Bild passen. Die Bosperaner dachten ja immer in großen Maßstäben.“ Der Vogt sah durch in die Runde. Sein Blick blieb bei den Augen der Langmeisterin hängen. „Was tun wir jetzt?“ „Der Centurio sagte, dass sie von den Zwergen Eisen erhandelten.“ steuerte Marbolieb bei, der der Blick zwischen Vogt und Golgaritin entgangen war. „Ihre Gnaden hat recht.“ Die Landmeisterin streckte ihr Hände aus und wärmte sie an den knisternden Flammen, den letzten Einwand Marboliebs geflissentlich abhakend. „Wenn wir die Legionäre in den Kavernen bestatten, müssen wir zuerst den Grund als Grabstätte weihen. Das werden wir wohl hinbekommen. Aber vorher müssen wir die Höhlen erst einmal finden – oder wisst ihr, wie man in sie gelangt, Hochgeboren?“ Sie rieb ihre Hände aneinander. „Und ansonsten würde ich gern zusammen mit Roglamox den Altar inspizieren, und das tun, was der Centurio empfohlen hat.“ Je gründlicher unter diesem Magiezeug aufgeräumt wurde, desto besser, beschied ihr entschiedener Tonfall. „Ich selbst kenne diese Höhlen nicht“, antwortete Borindarax wahrheitsgemäß und nun wieder etwas ruhiger. „Dwarosch berichtete mir aber kürzlich davon. Er hat mit einer beträchtlichen Anzahl Soldaten des Regiments in Burg Nilsitz Unterkunft gefunden. Sie gehört zu den Stationierungspunkten von Ingerimms Hammer. Die Sappeure reparieren die Wehranlagen, Mauern und bauen sie zum Teil sogar aus. Dabei haben sie wohl etwas entdeckt. Die Wände des Wedengrabens sind auch dort von natürlichen Kavernen durchdrungen. Der Oberst meinte mir gegenüber diesbezüglich jedoch auch, dass man aus der Burg heraus, die auf einer Felserhöhung über dem Wedengraben liegt, durch ihre Kellergewölbe dorthin kommt- in diese Höhlen. Wir können versuchen diese Verbindungstunnel zu finden. Vielleicht haben wir Glück und Boringarth, sein Adjutant, befindet sich dort. Er begleitet Dwarosch normalerweise auf Schritt und Tritt und ist zumeist bestens informiert. Ich würde diesen Weg einer Suche an der Opferschlucht ohne wirklichen Ausgangspunkt vorziehen. Wer weiß, wie lange wir in der Eiseskälte nach dem richtigen Zugang suchen müssten. Für mich ist dies zu gefährlich und hat nur wenig Aussicht auf Erfolg.“ Fragend blickte der Vogt zu den Golgariten. „Das klingt nach einem Schlachtplan – so machen wir’s.“ Auf’s Geratewohl im Schnee herumstapfen und über die vereisten Ränder der Opferschlucht klettern musste Richild nicht, um ihr Ego zu streicheln. Sie dehnte ihre Schultern und rieb ein letztes Mal ihre Hände. „Zuerst müssen wir hier die Skelette zusammenpacken. Alle. Amalvin, Du wirst Dich darum kümmern. Mit den Räumen in der Haupthalle kennst Du Dich ja aus. Hochgeboren, wenn ihr einige Leute entbehren könnt, die ihm helfen, würde das die Arbeit abkürzen.“ Sie rieb ihre Hände ein letztes Mal, ehe sie sich erhob. „An die Arbeit!“ Der Vogt nickte zustimmend und blickte dann zu Andragrimm, um diesem Anweisung zu geben. „Du und Amalvin versteht euch gut, wie es auf mich den Anschein macht. Nimm dir drei der Tunneljäger und tut, was die Landmeisterin sagt.“ Der breit gebaute Zwergenkrieger sah zum Graumantel und erhob sich. „Beenden wir, was wir angefangen haben.“ „Gehen wir.“ stimmte Amalvin zu, zuckte ergeben die Schultern und suchte sich einige Decken und einen Sack zusammen, um nach Möglichkeit alle Knochen zusammenzubekommen. „Vierzig, sagtet ihr – abzüglich der acht, die noch komplett sind.“ Wandte er sich an Marbolieb, die erschrocken den Kopf hob und nickte. „Noch 32 – dann lass’ uns sammeln.“ Götterergeben und mit einer Laterne machten sich der Graumantel und die Angroschim auf den Weg.

Roglamox, der die Worte der Landmeisterin zuvor vernommen hatte, war ebenfalls aufgestanden und legte sich die Rüstung an. Dabei warf er Richhild einen Seitenblick zu und trat ihr zunächst ans Feuer, während die Anderen noch diskutierten. Die Landmeisterin nickte, legte gleichfalls ihre Rüstung an– solides, dickes Eisen. Nützlich gegen einige Spielarten der Zauberei– und trat mit Roglamox einige Schritt beiseite. Sie nickte ihm zu, mitzukommen, und machte sich, mit einem aufmerksamen Blick in Richtung Roglamox, auf in Richtung der Haupthalle und des Altars. Mit dem Stahl seiner großen Axt in den Händen trat der im Gesicht tätowierte Zwerg vor den Altar. Aufmerksam und mit wachsender Abscheu betrachtete er das Skelett darauf. „Die Maske mit dem dritten stilisierten Auge auf der Stirn. Sie ist bedeutend stärker vom Drachen berührt, als der Stab an der Seite der Gebeine.“ Er wendete den Blick von den Standessymbolen des bosparanischen Magiers ab und blickte zur Landmeisterin. „War es das, was ihr wissen wolltet?“ Richild nickte und runzelte die Stirn. „Ich werde sicherheitshalber einen Schutzkreis um das Ding legen – könnt ihr dann versuchen, es zu zerschlagen?“ Sie löste den Beutel mit geweihter Graberde, den sie griffbereit am Gürtel trug, und machte sich daran, einen großzügigen Kreis um Skelett und Artefakte zu ziehen, während sich ihre Lippen in wortlosem Gebet bewegten. Die geweihte Erde landete auf der Oberfläche des Wassers und sank fast augenblicklich zu Boden. Stille nahm Besitz von der Halle, unterbrochen nur vom dem leisen Plätschern. Sie hatte sowohl sich als auch den Zwergen mitsamt den zu zerstörenden Artefakten in den Kreis eingeschlossen. „Zumindest sollten sich die Probleme dann auf uns beschränken.“ fügte sie tröstlich an. Als die Golgaritin ihr Werk vollbrachte hatte und Roglamox ein entsprechendes Zeichen gab, streckte dieser die Hand aus. „Reicht ihr mir euren Hammer“, bat der Zwerg. „Mit der Schneide meiner Axt auf Stein zu schlagen wäre töricht. Eine stumpfe Waffe ist hierfür besser geeignet.“ „Wo ihr recht habt ... .“ Richild holte aus und ließ den Hammer, die flache Seite voraus, auf die eigenartige Maske niedersausen, den freien Arm schützend vor ihr Gesicht gehalten, für den Fall, dass das Ding splittern würde. Die milchig glänzende Halbmaske mit dem künstlichen dritten Auge zerbarst ebenso wie der Schädel des skelettierten Mannes, der auf dem Altar lag und sie trug. Knochenstaub und Splitter stoben auseinander. Augenblicklich stürmte ‚Etwas‘ gegen Richilds Verstand an. Sie verspürte dessen Zorn und Hass, welcher in Angst und schließlich Panik umschlug, als das Etwas, das freigesetzt worden war, verspürte, dass es nicht die Macht besaß aus dem Schutzkreis zu gelangen, noch Besitz von der Landmeisterin zu ergreifen. Dann fing Roglamox, welcher ebenfalls innerhalb des Ringes aus Graberde gestanden hatte- unvermittelt an markerschütternd zu schreien. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch sah man nicht Pupille und Iris, sondern nur das Weiß. Zur exakt gleichen Zeit vernahm Marbolieb am Feuer in der Kaverne einen tiefen Seufzer, gefolgt von einem schlichten, „Danke … .“ Die Ketten waren gesprengt, der Wächter war frei. Richild, bis zu den Knöcheln im Wasser, wandte sich derweil in der großen Halle zu Roglamox um und seufzte. Den Zwergen aus dem Schutzkreis zu der kompetenteren Seelenheilundlerin zu tragen, verbot sich – damit hätte sie auch den Geist ins Freie geschleppt. Im Wasser konnte sie ihn auch nicht stehen lassen. Sie legte dem Zwergen die Hände auf die Schultern und schüttelte ihn, was wie erwartet erfolglos blieb – ebenso eine beherzte Ohrfeige mit ihrem Handrücken. Der Geist, der ihn gepackt hatte, war mächtig genug, um den sprichwörtlichen Dickschädel eines Zwergen zu überwinden – und vermutlich war Roglamox durch seine latente magische Begabung besonders gefährdet. Der laute Schrei war unterdessen nicht unbemerkt geblieben. Die Zwerge, wie auch Amalvin wollten sich davon überzeugen, dass Richhild keiner Hilfe bedurfte und wollten überzeugt werden, dass sie die Lage im Griff hatte, bevor sie sich wieder ihrer eigenen Arbeit widmeten. Der Landmeisterin zugute kam die Tatsache, dass Roglamox plötzlich aufhörte zu schreien und stattdessen von einem unkontrollierten Muskelzucken ergriffen wurde. Richild schickte die unnützen Zuschauer mit einigen knappen Worten wieder an ihre Arbeit, ehe sie sich ihrer eigenen widmete. „Du solltest schlafen, mein Freund.“ beschied die Golgaritin und entkorkte ihre Flasche mit Salböl. Vergeblich versuchte sie, auf der Stirn des zuckenden Zwergen ein Boronsrad mit dem gesegneten Öl zu zeichnen. Götterergeben stellte sie Flasche und Korken sorgsam auf dem Altar ab, griff zu ihrem Rabenschnabel und versetzte dem Bedauernswerten einen knappen, genau bemessenen Schlag auf den Hinterkopf. Die zusammenbrechende Gestalt fing sie mit beiden Händen auf und lehnte sie sorgsam so an den Altar, dass er nicht umkippen und versehentlich ertrinken konnte, ehe sie, als sei nichts geschehen, das heilige Symbol erneut zeichnete, das Salböl verstaute und sich jetzt, in der herrlichen Stille, endgültig in das Gebet an ihren Herrn versenkte, in dem sie dem Zwergen einen tiefen, traumlosen Schlaf, dem Geist aber ein Verharren an genau dem Ort, an dem er sich zuzeiten befand, schenkte. Erst geraume Zeit später, als die Kälte längst in ihre Zehen und Waden gekrochen war, erwachte sie aus ihrer inneren Einkehr, lud sich die besinnungslose Gestalt Roglamox’ auf die Schultern, überlegte, setzte ihn wieder ab, benetzte auch seine Augen, Nase, Mund und Ohren mit dem geweihten Öl und lud ihn sich erneut auf, ehe sie, keuchend unter dem Gewicht und mit achtsam gerunzelter Stirn, einen Schritt über den Rand des Bannkreises tat. Wie erhofft blieb es vorerst ruhig. Sie setzte ihren Marsch in Richtung des Höhleneinganges fort.

Es war ein vor allem kaltes Werk, dass der Graumantel mit seinen zwergischen Gehilfen derweil verrichtete. Es gab eine klare Aufteilung der Arbeit. Amalvin und Andragrimm bargen die Gebeine aus dem kalten Wasser und verpackten sie, so gut sie es mit den gegebenen Mitteln vermochten. Die Tunneljäger schafften die Säcke und eingerollten Decken hoch in die Kaverne. Immer wieder mussten sie eine Pause einlegen, wann immer dem Graumantel oder seinem zwergischen Begleiter die Kälte so zusetzte, dass die Muskeln ihren Dienst einzustellen drohten. Doch irgendwann erbrachte auch das energischste Suchen im eiskalten Wasser keine neuen Knochensplitter mehr, und durchfroren und pitschnass machten sich die beiden Männer wieder auf ans Feuer, um wenigstens leidlich warm zu werden. Die Landmeisterin war mittlerweile mit Roglamox aus dem einstigen Heiligtum verschwunden. Zurückgelassen hatten sie einen zertrümmerten Schädel nebst einem weitestgehend intakten Skelett, sowie den Stecken des Toten. Andragrimm jedoch hielt inne. „Wartet.“ Er blickte bereits am Aufgang stehend über seine Schulter zurück. „Was geschieht mit den Gebeinen des Magus? Lassen wir sie hier zurück?“ „Auf keinen Fall. Die nehmen wir mit.“ Entschlossen patschte der Graumantel durch das Wasser zurück und sammelte in einen Extrasack die Knochen des Magiers nebst den Resten seiner Zauberutensilien. Die Landmeisterin war gründlich gewesen, wie immer. Er klaubte die Splitter aus dem eiskalten Wasser, stopfte sie mit gefühllosen Fingern in den Leinensack und trat schließlich nicht wesentlich kälter und nasser denn zuvor neben Andragrimm. „Ich denke, wir haben alles.“ Dieser legte den Kopf schief und schien immer noch nicht zur Gänze zufrieden. „Eines noch will ich versuchen.“ Der Zwergenkrieger schritt um den Altar herum und trat vor die Statue des Legionärs. Mit dem Drachenzahn in der Hand klopfte er kräftig mit dessen Griffende gegen die Brust des Wächters. Ein Knirschen war zu vernehmen, was Andragrimm dazu veranlasste, einen schnellen Satz nach hinten zu machen. Ein Riss zeigte sich auf der Oberfläche des bearbeiteten Steins. Er zog sich vertikal durch die Statue, verästelte sich dutzende Male, bis einzelne Teile, erst ein Arm, dann eine ganze Schulterpartie zu Boden brachen und noch im Fallen zu Staub zerfielen. Nach und nach verflüchtigte sich so das gesamte Abbild des Legionärs, bis nur noch Knochen zu erkennen waren. Diese jedoch blieben erhalten und landeten im vom Staub trüben Wasser. Betreten zog der Graumantel die Schultern hoch. Er war auf die Knochen fixiert – hatte die Statue aber geflissentlich übersehen. Ohne weitere Worte straffte er sich und sammelte auch diese Überbleibsel auf. „Das Feldzeichen der Legionäre fehlt noch ... wenn schon, denn schon.“ Kurz hintereinander betraten die beiden Krieger den Durchgang, den die Statue versperrt hatte. Auch dieser besaß einige Treppenstufen, welche hinab führten und wie bei den anderen Seitenräumen zuvor stand auch hier das Wasser höher als in der Halle. Als Amalvin den Boden des kubischen Kellers erreicht hatte, hob Andragrimm, auf der letzten Stufe stehend, die Laterne, um dem Golgariten bessere Lichtverhältnisse zu schaffen. Etwas war hier tatsächlich anders, es gab keinen Gwen- Petryl, der ihnen leuchtete. „Bei Angroschs Schätzen“, entfuhr es dem Angroscho staunend und dann sah es auch der Graumantel. Der Boden des Kellers war über und über mit Münzen bedeckt. Deutlich schimmerten sie durch die Oberfläche des Wassers hindurch und verzückten die Augen des Zwergen - Silber und Gold! Amalvin hingegen entdeckte am Rand des Lichtkegels, in einer Ecke des Raumes stehend, die durch den Geist beschriebene Standarte. Sie war weniger prachtvoll, als er sich diese vorgestellt hatte, doch das mochte daran liegen, dass kein besticktes Banner an der horizontalen Querstange hing. Dieses war wohl längst zu Staub zerfallen. Am oberen Ende jedoch waren zwei goldene Reifen übereinander angebracht. Im unteren, kleineren war die bosparanische Zahl acht dargestellt, im oberen größeren die grobe Abbildung eines fliegenden Insektes. Es war nicht die Standarte einer Legion, es war die einer kleineren Teileinheit, der achten Kohorte, schoss es dem Graumantel durch den Kopf. Ja, dass musste es sein. „Nehmen wir mit.“ Amalvin versuchte, wenigstens grob zu überschlagen. was da lag. Er warf Andragrimm einen Blick zu. „Das Gold wohl auch – kannst Du das noch tragen?“ Geld ließ man nicht liegen. Das hatten ihn seine ersten Jahre auf der Straße deutlich gelehrt. Egal, was die Landmeisterin dazu sagen würde. Der hatte heute sowieso so manches nicht gepasst, das hatte er mehr als deutlich gemerkt. Daher kam es auf diese Kleinigkeit heute nicht mehr an. “Ich schätze, das alles könnten wir nicht mal gemeinsam tragen, Amalvin. Geschweige denn, dass wir ein Behältnis mit uns führen, das stabil genug dafür wäre. Aber lass uns nachsehen, was dort liegt. Reich mir doch mal eine Handvoll.” Als der Graumantel auf Bitten Andragrimms in die Münzen griff, merkte er, dass sie schon kurz nach der Treppe nahezu eine Handbreit aufgeschüttet lagen, während sie zur gegenüberliegenden Wand hin fast durch die Wasseroberfläche brachen. Das, was er dann aus dem Wasser hob, war ein buntes Sammelsurium. Darunter waren Münzen jedweder Form, Material und Beschaffenheit. Am Auffälligsten waren schwere, sechseckige Goldmünzen mit rundem Loch in der Mitte. Sie waren offenkundig zwergischer Herkunft. Dann waren da noch die größeren Horastaler, welche ebenfalls aus dem gleichen Edelmetall waren. Silbertaler existierten in noch bedeutend größerer Vielfalt. Als Kuriosum mussten hingegen wohl die dreieckigen Kupferstücke gelten, welche ebenfalls leicht zu identifizierende, zwergische Runen trugen. Besonderes die bosparanischen Münzen schienen Andragrimm zu interessieren. Diese wendete er mehrfach zwischen den Fingern und rieb prüfend über ihre Oberfläche. “Sowas habe ich ja noch nicht gesehen“, erklärte er. „Keine schlechte Prägequalität. Die Bosparaner müssen eine fortgeschrittene Kultur besessen haben zu ihrer Zeit. Die anderen Münzen sind allesamt in Isnatosch, unserer alten Hauptstadt, geprägt. Sie sind nicht mehr gebräuchlich und weitestgehend aus dem Verkehr, aber es gibt sie noch.” Der Zwerg ballte seine Faust um ein halbes Dutzend der Münzen, den Rest ließ er platschend zurück ins Wasser fallen. „Komm. Davon müssen wir dem Vogt berichten. Er wird entscheiden, was zu tun ist.“ Amalvin zuckte zustimmend mit den Schultern, ergriff das Legionärszeichen und folgte dem Zwergen, nicht ohne einen letzten, grübelnden Blick auf die Münzen. Noch nie hatte er derart viele davon auf einem Ort gesehen – ein Haufen Metall, für den schon vor tausend Götterläufen Menschen und Zwerge gemordet hatten. Mit einem weiteren Achselzucken wandte er sich endgültig ab und hielt die Laterne in Richtung Andragrimms, das Spiel von Licht und Dunkelheit auf dem stillen Wasser fast schon eine eigene Wesenheit, die mit langen, dunklen Fingern nach den beiden Kriegern haschte.

***

Zurück am Feuer ließ die Landmeisterin mit einem Ächzen den bewusstlosen Roglamox von ihren Schultern gleiten. „Keine Sorge – der schläft nur.“ erklärte sie, als sie ihre Schultern dehnte und kreisen ließ. „Allerdings hat sich der Geist des Magiers bei ihm eingenistet. Schwester,“ dies an Marbolieb gewandt.“ Ich benötige dafür Deine Mithilfe.“ Marbolieb lauschte mit schräggelegtem Kopf und nickte. „Selbstverständlich.“ Sie streckte die Hände nach dem bewusstlosen Zwergen aus, zuckte dann aber wieder zurück, als habe sie einen Hieb erhalten. „Ich kann das nicht.“ gab sie kleinlaut zu. Sie senkte den Kopf und faltete betreten ihre Hände. „Richild, es gibt da etwas, das ich mit Dir besprechen muss.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, und sorgenvolle Falten gruben sich in ihre Stirn. „Unter vier Ohren?“ Die Landmeisterin ging vor ihrer Glaubensschwester in die Hocke und legte ihr die Hand auf die Schulter. Auf das zaghafte Nicken der Geweihten wandte sich die Landmeisterin an die Umstehenden. „Lasst ihr uns einen Moment allein?“ Borindarax von Nilsitz wirkte für einen kleinen Moment etwas überrascht und warf der Landmeisterin einen zweifelnden Blick zu, erhob sich dann aber ohne Widerrede und Murren. „Lassen wir die Ordenshauptfrau und ihre Gnaden ungestört miteinander sprechen“, sagte er bestimmt zu den anderen, am Feuer versammelten Zwergen. „Sehen wir zu, dass wir die Schmugglerware sichten und den Bestand aufnehmen. Ich bin sicher, dass der oder die Besitzer ein schönes Fässchen Bier springen lassen. Und wenn niemand Anspruch darauf erhebt, werde ich das Zeug verkaufen lassen und spendiere euch eines.“ Derart motiviert zogen die Angroschim zügig zu dem Teil der Kaverne, an dem sie die Kisten und Stoffballen entdeckt hatten. Borax blickte noch einmal über die Schulter, als er am Ende seiner Männer das Feuer verließ und nickte der Landmeisterin zu.

„Ich habe den Geist gehört – und gesehen.“ Marbolieb legte ihr Gesicht in die Hände und zog die Schultern zusammen. „Es war, als stände er neben mir, als er zu mir sprach, und ich konnte ihn beinahe berühren.“ Sie unterdrückte nur mit Mühe ein Zittern, während die feinen Haare auf ihrer Haut sich aufstellten. „Und ich weiß – frag mich nicht, wie – dass dies erst seit diesem verfluchten Ritual so ist. Es ist, als wäre es nur ein halber Schritt in die Welt der Geister.“ Mehr ein Schluchzen als ein Atemholen quälte sich durch ihre Kehle. „Eher – als stände ich mit einem Fuß dort. Es ruft mich so sehr- und Richild, es ist auf einmal so leicht, sie zu hören – und mit ihnen zu sprechen. Und so schwer, sie abzuweisen. Es ist, als könne er einfach nach Belieben in meine Gedanken spazieren.“ Die Landmeisterin legte ihr schweigend den Arm um die Schultern und drückte sie. „Das fühlt sich so sehr nach den Ränken von Borons Widersacherin an – ich habe Angst, was passiert, wenn der nächste Geist stärker ist als der Centurio – oder bösartiger.“ Sie holte tief Luft und fasste ihren Mut am Schopf. „Ich bin voreingenommen. Was denkst du?“ Richild überlegte eine Weile, die schmale Gestalt der Geweihten noch immer in ihrem Armen. „Ich wäre vorsichtig. Ich werde sicherheitshalber einen Weisheitssegen auf dich wirken – das sollte es dir etwas einfacher machen, unerwünschte Gäste draußen zu halten. Und du bist nur meine Mitbeterin. Nicht mehr. Einverstanden?“ Marbolieb nickte, mit einem schwachen Lächeln, das überdeutlich erzählte, dass sie ihr Möglichstes tat, gute Miene zum zweifelhaften Spiel zu machen. „Sehr gut.“ Richild klopfte ihr aufmunternd auf die Schultern, ehe sie sich, mit einem zweifelnden Blick auf den noch immer bewusstlosen Roglamox, erhob, um die restlichen Gruppenmitglieder wieder einzusammeln.

Ein Ende mit Schrecken

Als die Zwerge das angestrebte Ergebnis ihrer Arbeit erreicht hatten, es dauerte keine halbe Kerze, fanden sie sich nach und nach wieder nahe dem Eingang der Kaverne ein und setzten sich rund ums Feuer. Die Miene des Vogts, zuvor noch sichtlich erfreut über die nun aufgelisteten Kostbarkeiten, wurde erneut sorgenerfüllt, als sein Blick auf Roglamox fiel, der immer noch ohne Besinnung war, aber langsam in einen tiefen Schlaf hinüberzudämmern schien. Die Finger des Zwergen zuckten in unregelmäßigen Abständen und auch seine Augenlieder flattern kurzzeitig. Borax seufzte. „Was gedenkt ihr nun zu tun mit unserem Bruder?“ Richild ging vor Roglamox in die Hocke, während sie verschiedene Dinge – eine Räucherschale, Kohle, einige Phiolen und einen Beutel mit Graberde – aus ihrer Tasche räumte. „Mit ihm gar nichts. Mit dem Geist des Magiers, der sich bei ihm eingenistet hat, so einiges – den werde ich über das Nirgendmeer schicken, auf dass er von Rethon gewogen wird. Ob er will oder nicht.“ Mit grimmiger Zufriedenheit sprach sie diese Worte, während sie ein stabil aussehendes Seil aus ihrem Rucksack holte. „Das wird er jetzt nicht mögen, aber das muss sein.“ Kommentierte sie, als sie den ohnmächtigen Zwergen fachgerecht verschnürte. Grimmig nickte der Vogt zur Antwort. „Dann soll es wohl so sein. Kann ich, oder können wir etwas beitragen“, fragte der Borindarax etwas kleinlaut. Richild spürte das Unbehagen in seiner Stimme. „Ihr könnt mitbeten. Leise. Außerhalb des Schutzkreises. Bittet den Untergründlichen darum, den Geist des Magiers zu sich holen.“ Sie öffnete den Beutel mit der geweihten Graberde und fuhr mit den Fingerspitzen durch die trockene, krümelige Masse. „Habt ein Auge auf Marbolieb. Und noch etwas – das Ritual wird eine Weile dauern.“ Die Landmeisterin nahm eine Handvoll der Masse und zog um sich und den bewusstlosen Roglamox einen Kreis. Dann zeichnete sie ihm mit Öl ein gebrochenes Rad auf die Stirn, entzündete ihre Räucherschale und warf eine kräftige Handvoll schwarzer Mohnsamen darauf. Während sich ein dünner, würziger Rauchfaden aus der Schale entspann, kniete sie sich nieder, legte eine Hand auf den Scheitel des Zwergen, die andere auf seine Brust, und schloss die Augen. Es wurde nach und nach stiller in der Kaverne. Borindarax quittierte die Worte Richilds widerum mit einem Nicken. Er verstand nichts von derlei Dingen, doch er würde sein Möglichstes beitragen, um Roglamox von dem Geist zu befreien. Dennoch verriet seine Miene einen Moment lang Zweifel. In der Muttersprache der Angroschim redete der Vogt dann eindringlich zu den anderen. Diese erhoben sich daraufhin eiligst, als Borax geendet hatte. Entschlossenheit stand in ihren Gesichtern. Einzig Andragrimm, Amalvin und ihre Gehilfen fehlten. Sie waren immer noch dabei, die Gebeine der Toten einzusammeln. Die Anwesenden postierten sich im weiten Kreis um ihren besessenen Bruder und setzten sich wieder. Einer der Tunneljäger brachte unterdessen Fackeln aus der mitgebrachten Ausrüstung, entzündete sie am Feuer und reichte sie nacheinander an seine Brüder. Feuer, neben dem Erz das wohl wichtigste Element im Glauben der Angroschim, durfte nicht fehlen. Und als die Mitglieder des kleines Volkes in Rogolan zu beten begannen, wusste die Landmeisterin, dass sie nicht zu Boron sprachen, sondern zu ihrem Allvater. Diese ließ sich dennoch davon nicht beeindrucken, wenn sie dies überhaupt mitbekam. Sie entzündete fünf weitere Kerzen neben dem Haupt des Zwergen, gerade weit genug entfernt, um nicht unbeabsichtigt sein Haar zu versengen. Die Schwaden aus der Räucherschale legten sich gemächlich um die gesamte Höhle, drangen in die Nasen der Anwesenden und verbreiteten eine schwere, dumpfe Schläfrigkeit. Marbolieb, die außerhalb des Bannkreises kniete, hatte gleichfalls die Augen geschlossen– bis irgendwann ihr Kinn auf ihre Brust sackte und ihr Atem tiefer und regelmäßiger denn zuvor wurde. Ein Flüstern nur war die müde Stimme der Landmeisterin. „In Deinem Namen, mein Herr Boron! Fahre fort, Geist, über das Nirgendmeer, wohin Du gehörst.“ Mit dem Schlaf drang die Finsternis aus den Ecken, tastete nach den Lebenden und hüllte sie ein, bis mit einem Male schlagartig alles Licht schwand und die Flammen still verloschen. Selbst das Leuchten in der großen Halle schwand, und tiefe Finsternis und Stille erfüllte die Höhle.

Dies jedoch waren Gegebenheiten, die allein für die physische Welt zutrafen. Für Marbolieb, die in die Traumwelt - oder noch darüber hinaus abgeglitten war, stellte es sich derweil gänzlich anders dar. Urplötzlich atmete Roglamox tief ein und versuchte sich aufzubäumen, stemmte sich gegen seine Fesseln und riss die Augen weit auf. Sein Kopf ruckte einmal hin und her, bis sein Blick den der Geweihten traf und diesen festhielt. Alle anderen, selbst die Landmeisterin, erschienen der Geweihten nur wie Schemen, als seien sie an einem weit entfernten Ort, als wären nur Roglamox und sie selbst wirklich ‘existent’. Ein abstruser Vergleich, das war auch Marbolieb klar. „Wie konntet ihr meine Spinnen besiegen“, der Zwerg, mit der fremden, krächzenden Stimme und in altbosparanischer Sprache spie ihr die Worte, die Frage, förmlich entgegen. „Und wie an meinem Wächter vorbei? Hörst du, rührt mein Gold nicht an. Es ist für den Horas bestimmt. Er wird euch finden, ganz gleich, wo ihr euch verkriecht!“ „Nur für das Gold?“ Marbolieb betrachtete das Wesen in Roglamox Körper mit einem mitleidsvollen Blick. „Du hast Dir alle diese Mühe gemacht, all diese Kraft genutzt – nur für Gold?“ „Imperien, Reiche werden neu begründet und gehen wieder unter. Alles unterliegt einem steten Wandel. Selbst der Einfluss mancher Götter schwindet, oder sie geraten ganz in Vergessenheit. Sieh, selbst der Tod ist nicht endgültig - sein Wert jedoch hat Bestand“, entgegnete der Geist voller Überzeugung. „Befreie mich! Sonst werde ich es gewaltsam tun und mich an eurer Lebenskraft bereichern.“ Mit dieser Drohung einher ging eine teilweise Herauslösung des Geistes aus dem Körper des Zwergen. Das Abbild eines Mannes mit Halbmaske und dem darauf befindlichen, dritten Stirnauge setzte sich auf, so dass sein Oberkörper zu erkennen war. Er war hager, die Mundpartie wirkte so ausgezehrt, als spanne sich lediglich Haut über den Knochen, als läge kein Fleisch darunter. Seine Nase wirkte sogar skelettiert. Dieser Magus musste dem Tod - oder besser dem Untod - schon im Leben nahegestanden haben. Marbolieb spürte den Freiheitswillen des Geistes, und auch sein Unbehagen über die Hülle des Zwergen, die in so vielerlei Hinsicht unbefriedigend war– und wohl nur durch den Hauch astraler Macht, der Roglamox umgab, gewählt worden war – und aufgrund der Tatsache, dass nichts anderes verfügbar war. Ebenso fühlte sie, mehr als sie es erkennen konnte, den Schutzkreis, der sich zwischen ihr und dem Geist erstreckte und sie noch immer trennte, auch wenn die Kraft des Kreises, den Richild gezogen hatte, vibrierte wie eine straff gespannte Schnur, an der jemand kräftig zog. Noch hielt er ohne große Mühe– doch noch hatte ihn auch niemand zu durchbrechen versucht. Die Salbung der Heiligen Noiona, die sich außerhalb des Schutzkreises zusammenflocht wie eine hohe, schwarze Wand aus tiefster Dunkelheit, hatte er wohl noch nicht bemerkt. „Der Tod, Magus, ist der Sinn des Lebens. Doch hast Du meine Frage nicht beantwortet. Du hütest das Gold für Deinen Horas. Doch der ist nicht mehr hier.“ Voll und kräftig war die ruhige Stimme der Priesterin, hier in dieser Welt. Sicherheit klang in ihr– und Bestimmtheit, ebenso wie die Verheißung von Ruhe und Frieden. Ein äußerst seltsam klingendes Lachen war die Reaktion auf ihre Worte. Es schien, als verliere, nein, als hätte die Person, die der Magus einmal gewesen war, durch die nicht mehr intakte Nase Atemluft verloren. Das Resultat war eine fast amüsante Tonlage, wäre da nicht der grässliche Auslöser. Marbolieb wurde eines jedoch dadurch deutlich. Das was sie hörte, musste wohl eine Art Spiegelung dessen sein, wie der Magus im Leben auf seine Umgebung, seine Mitmenschen gewirkt hatte. “Der Tod ist für viele das Ende ihrer Reise, doch sicher nicht der eigentliche Sinn. Man könnte jedoch sagen, dass er dem Leben durch seine vermeintliche Endlichkeit einen Sinn verleiht - oder dies zumindest den Anschein hat”, philosophierte der Geist amüsiert, nur um dann wieder im auflodernden Zorn den anderen Punkt aufzugreifen, den Marbolieb ihm vorgehalten hatte.

„Es mag jemand anderes sein, der auf dem Thron sitzt. Er mag einen anderen Namen haben, doch es ist ein Horas, der im ewigen Bosparan herrscht, auch über diesen armseligen Landstrich.“ „Bosparan liegt seit tausend Jahren in Trümmern. Nur der Tod ist ewig.“ Sie schwieg einige Atemzüge, ließ zu, dass die Stille Raum und Zeit erfüllte. „Sag mir, wann hast du deine Götter verloren? Wann Dein Leben verschenkt aus Furcht vor dem Tod?“ Keine Anklage stand in ihrer weichen Stimme, nur tiefempfundenes Mitleid mit dem Magus, den die Angst so sehr gepackt hatte, dass er alles unternahm, seinem Ende zu entgehen. Sogar sein Leben dafür opferte. Unglauben, Ablehnung, Verweigerung, Panik - Dies war die Reihenfolge der Emotionen, welche Marbolieb auf der Miene ihres Gegenübers ablesen, aber gleichzeitig auch förmlich spüren konnte. “Das ist eine Lüge”, kreischte der Geist in einer ohrenbetäubenden Lautstärke. Seine Konturen wurden auf einmal schärfer und er leuchtete bedrohlich von innen heraus. “Wer sollte Bosparan besiegt haben, das Sultanat, die kümmerlichen, revoltierenden Provinzen oder gar die Echse? Nein, niemand vermag es”, bildete er sich seine eigene Meinung. „Ich habe den Göttern schon lange entsagt. Sie sind nur stark, weil schwache Menschen wie du an sie glauben. Nichts weißt du. Du verblendete Hure eines .. bedeutungs …” Der Geist stockte und Marbolieb sah, wie seine Projektion wieder an Schärfe verlor. Er musste es auch bemerkt haben, denn sein nunmehr wiederum angsterfülltes Gesicht suchte nach dem Auslöser dieser Veränderung.

“Was treibt diese jämmerliche Kriegerin da? Du bist von IHM berührt, aber … WIE VERMAG … DAS KANN … DAS DARF NICHT … NEEEIN!” Die krächzende Stimme überschlug sich in einer langgezogenen Kakophonie. Abgrundtiefer Hass und panische Hilflosigkeit vermengen sich darin miteinander. Es bestand kein Zweifel. Der Geist verlor an Substanz in der Ebene in der er zu existieren und in die Marbolieb zu sehen vermochte. Damit einher ging ein Verblassen aller widernatürlichen Sinneseindrücke Marboliebs. Das Gefühl der Kälte auf ihrer Haut kehrte langsam zurück. Ihr Körper rückte wieder in den Fokus, auch wenn sie damit jegliche visuelle Wahrnehmung aufs Neue verlor. „Ich habe keinen Grund zu lügen.“ Traurig waren ihre Worte und voll Mitleid. Zu schnell war Richild, zu früh der Exorzismus, als dass sie dem bedauernswerten Wesen des Magus noch Trost hätte mitgeben können– ob dieser sie angenommen hätte, war eine offene Frage. „Der Tod siegt stets. Deine Gabe ist es, Dein Leben zu leben, so lange es währt– und es nicht aus der Furcht, was danach sein mag, durch Deine Finger rinnen zu lassen.“ Doch genau das hatte der Magus getan– und sich selbst seiner eigenen Angst geopfert. Nicht nur seine Nase. Zu einem Flüstern war Marboliebs Stimme herabgesunken, mit einem Mal wieder allein in der Dunkelheit.

Marboliebs akustische Wahrnehmung war im Gegensatz zu ihrer visuellen intakt und seit ihrer Erblindung scheinbar noch ausgeprägter. Dadurch realisierte sie sofort die Geräusche, die darauf hindeuteten, dass sich der Zwerg gegen seine Fesseln stemmte. Schreien konnte der Besessene anscheinend nicht mehr, aber die seltsamen Laute interpretierte Marbolieb so, dass er einen Knebel im Mund hatte. Richild unterdessen rezitierte emotionslos wie der Tod selbst die liturgischen Formeln für den Exorzismus. Die Landmeisterin hatte Roglamox, oder besser gesagt seinen ‚Insassen‘, mundtot machen müssen, da dessen blasphemischen Beschimpfungen es tatsächlich fast geschafft hätten, ihre innere Ruhe zu stören, die sie unbedingt für die Durchführung der Liturgie benötigte. Marbolieb atmete tief ein, hielt den Atem an und konzentrierte sich auf das Gefühl, wie die Luft ihre Lungen verließ. Atmete erneut ein, und tat ihr Bestes, die Geräusche auszublenden. Unwichtig das Geraschel des Zwergen. Unwichtig Richilds ruhige, entschiedene Stimme. Unwichtig insbesondere alle wandernden Gedanken. Unerwünscht und gefährlich, vermochten sie es doch, den Geist auf Abwege zu locken, anstatt ihn auf Golgaris Rücken über das Nirgendmeer zu führen, wohin er gehörte. Nirgendwohin sonst. Mochte der arme Kerl dort den Frieden finden, der ihm im Jenseits versagt gewesen war– während seines kurzen, gehetzten Lebens in einem schalen und leeren Traum von Macht, während der langen Zeit als Geist, gefesselt, gebunden an eine Welt, deren Bestandteil er nicht mehr war, deren Luft er nicht mehr atmen, deren Regen er nicht mehr fühlen konnte. Armer Kerl. Stur. Unbelehrbar. Geschlagen.

Atem. Ein und aus, ein gleichförmiger Fluss. Hier. Und jetzt. ‚Nimm ihn mit, Rabe, auf deinem Flug. Er findet den Weg nicht allein.’ Eine Bitte, inständig, reitend auf den Wogen, die die Worte der Landmeisterin riefen, gewaltig, nachschwarz, machtvoll, die Gegenwart zu erschüttern und zu tilgen, was nicht hierhergehörte. Richilds Kraft ein vielfach gehärteter Stahl, klar und gerade und ohne Zaudern. Bereitwillig gab Marbolieb ihre Kraft und Entschlossenheit, unterstütze die Zielstrebigkeit der Kriegerin und folgte der Richtung, die sie ihr hier und jetzt wies. Sie spürte, wie die Macht ihres Gottes sie durchflutete, ganz erfüllte und aufnahm in sein dunkles Reich ohne jede Zeit, Schmerz und Leid.

Lange noch währte der Widerstand des Geistes und doch war sein Schicksal längst unausweichlich. Gemeinsam führten die Landmeisterin und die Geweihte die rastlose Seele an die letzte Pforte. Beide spürten sie den Flügelschlag des Todesboten, fühlten die unergründliche Ewigkeit hinter der Schwelle - nie endende Ruhe und Frieden verheißend. Mit einem letzten, tiefen und verzerrt klingenden Seufzer sank Roglamox zurück und blieb ruhig liegen. Der Geist war gegangen. Auch er war IHM nicht entronnen, war aufgegangen in SEIN Reich. Eine Verheißung, deren Vorgeschmack sich durch den Leib der beiden Frauen ergoss und sie erfüllte, eine verharrendes Versprechen, nur ein Hauch des Unergründlichen.

Die Landmeisterin richtete sich nach einer Zeit, die nur Minuten gedauert haben mochte oder mehrere Wassermaße, auf. Draußen war längst schon der Tag der Nacht gewichen. Ihr Gesicht lag im Schatten, und dennoch stand eine Ruhe in ihren Zügen, die nicht ganz von dieser Welt war. Marbolieb verharrte auf ihren Knien, fern von allen Schmerzen, Hunger und plagender Einsamkeit. Sie befand sich an einem ruhigen, feinen, ganz eigenen Ort. Zu viel des Guten, entschied ihr Körper, der sich im Gegensatz zu ihr noch sehr genau an den Gewaltmarsch zu der Höhle, mindestens zwei ausgefallene Mahlzeigen, das Zwiegespräch mit dem Geist und das Bad im eisigen Wasser erinnerte. Ohne eine weitere Silbe fiel sie zur Seite, in einen Schlaf, der so tief war, dass er sich in nichts von einer Ohnmacht unterschied.

Sauber und rein

Erst lange nachdem sein Roglamox aufgegeben hatte, gegen seine Fesseln aufzubegehren, wich die Anspannung nach und nach aus Borindarax. Die irre klingenden Beschimpfungen aus dem Mund seines Freundes, noch dazu in einer fremden Sprache, die aber wohl doch nicht von ihm selbst hinausgeschrien worden waren, hatten den Vogt tief erschüttert. Erleichterung wollte sich daher nicht einstellen. Der junge Angroscho konnte nicht begreifen, was geschehen war, sein Verstand schien sich zu weigern, das Gesehene zu verarbeiten. Borax hatte der Austreibung mit banger Miene beigewohnt und inbrünstig zu dem Weltenschmied gebetet, Roglamox zu befreien und ihn zu verschonen. Auch seine zwergischen Brüder hatten dies so gehalten. Nur zögerlich erhob sich Borax nun und trat an die Landmeisterin heran, die neben der schlafenden Geweihten kniete. Die Ordensfrau hatte Marbolieb inzwischen in eine angenehmere Lage gebettet. Roglamox ruhte noch immer dort, wo man ihn gefesselt hatte, schlief nun aber ebenfalls ruhig. „Ist es vollbracht? Wird er wieder ganz der Alte werden“, fragte Borax leise und mit einem immer noch leicht befremdlichen Unterton. Er wollte es aus dem Mund der Golgaritin hören, sich vergewissern, nicht im Irrtum zu sein. Die Landmeisterin hatte den Kopf ihrer Glaubensschwester auf ihre Knie gebettet und strich dieser mit geistesabwesenden Bewegungen durch die nicht einmal halbfingerlangen Haare. Sie hatte die Augen halb geschlossen und schien zu dösen. Auf Borax Worte reagierte sie erst beim dritten Anlauf des Zwergen. „Der Geist ist weg.“ Sie gähnte herzhaft. „Warten wir, bis er aufwacht.“ Sie dachte einige Minuten nach, ehe sie leicht zusammenhanglos die nächste Angelegenheit formulierte. „Bindet ihn los – das wird er nicht mögen.“ Wieder gähnte sie, als wolle sie einen Ochsen am Stück verspeisen. „Müde.“ fügte sie noch hinzu, ehe sie sich von dem Vogt abwandte, und wieder zu ihrer bisherigen Tätigkeit zurückkehrte. Mit kaum merklich entspannterer Miene nickte der Vogt auf die Worte Richilds hin und wandte sich ab. Er schritt zu dem Gefesselten und machte sich daran ihn zu befreien. Unvermittelt erklangen schwere Schritte aus Richtung des alten Heiligtums, so dass sich alle dorthin umdrehten, auch die anderen Zwerge, die sich ans Feuer verkrochen hatten. Der Exorzismus hatte auch sie beunruhigt und innerlich aufgewühlt, wie es schien. Lediglich die Landmeisterin schien der jähe Tumult nicht im Geringsten zu interessieren. Amalvin, Andragrimm und die Tunneljäger, beladen mit einem Teil der geborgenen Gebeine näherten sich innerhalb eines von getragenen Laternen geschaffenem Lichtkugel dem Lager innerhalb der großen Kaverne. Lange hatten sie für ihre Suche benötigt– mehr jedenfalls als zwei Stundenkerzen. „Und wie geht es euch?“ Amalvin legte das Bündel, das er getragen hatte, mit einem kräftigen Ausatmen auf den Boden und streckte seinen Rücken. Nass, kalt und schlammig war er und die Vorfreude auf das Feuer war seinen Zügen deutlich anzusehen. Er betrachtete die niedergebrannten Flammen, den inzwischen verwischten Schutzkreis und die beiden Geweihten, eine davon fast, eine ganz sicher in tiefem Schlaf. „Ihr wart also erfolgreich?“ Borindarax lächelte verhalten. „Ja“, sagte er ohne viel Überzeugung in der Stimme und der Graumantel meinte, er hätte, ‚das hoffe ich‘, ergänzen wollen. Doch anstatt dessen fuhr der Angroscho anders fort. „Die Landmeisterin trug mir auf Roglamox loszubinden, also gehe ich davon aus, dass sie sich ihrer Sache sicher ist. Entschuldigt, wenn ich etwas verhalten bin in meiner Freude, ich stehe noch unter dem Eindruck der Ereignisse. Es war …“, der Zwerg brach ab und schüttelte nur den Kopf. „Wichtig ist, dass der Geist gebannt ist.“ Amalvin schaffte es, seine Stimme beruhigend klingen zu lassen. Er schüttelte sich Wasser und Schmutz aus seinem Wams und legte dem Vogt die Hand auf die Schulter. „Die Salbung der Heiligen Noiona ist nicht schön. Aber notwendig.“ Er wandte sich ab und beäugte einige der zerschlagenen Bretter neben dem fast erloschenen Feuer. Empfindlich kalt war es in der Höhle, trotz der kleinen Feuerstelle, die die Luft inzwischen stickig werden ließ. Andragrimm, der inzwischen seine Last aus zusammengebundenen Decken und Säcken abgelegt hatte, trat nun seinerseits an Borax heran. „Danken wir Angrosch, dass Roglamox lebt“, versuchte er den Vogt im kameradschaftlichen Ton aufzumuntern. Dann schmunzelte er verschlagen. „Ich habe auch eine gute Nachricht. Sieh“, der Krieger nickte in Richtung Amalvin, der daraufhin das bosparanische Feldzeichen von der Schulter nahm und so auf dem Boden abstellte, dass ihr oberes Ende an der Felswand ruhte und es nicht umfiel. „Und das ist noch nicht alles.“ Andragrimm kramte einen kleinen Lederbeutel hervor, normalerweise sicher für die Aufbewahrung von Tabak gedacht, und griff hinein. Was er hervorholte und in seiner groben, offenen Hand präsentierte fesselte Borindarax Aufmerksamkeit, so dass er alles andere vergaß. Der Vogt machte einen hastigen Schritt auf den Krieger zu, griff mit der Linken unter die Hand Andragrimms und klaubte mit der anderen das halbe Dutzend Münzen so auseinander, dass er sie besser betrachten konnte. „Ich wusste, dass dich das auf andere Gedanken bringt Borax.“ Andragrimm grinste nun noch breiter. „Amalvin und ich haben in dem Raum hinter dem versteinerten Soldaten eine große Menge dieser Münzen gefunden. Sie bedecken den ganzen Boden unterhalb der Wasseroberfläche. Wir werden sie bergen müssen.“ Abwesend nickte Borax nur schwach zur Antwort. Er schien zutiefst fasziniert von dem Fund. „Ich helfe beim Einsammeln, wenn ihr wünscht. Aber wir sollten uns hier nicht mehr so lange aufhalten.“ Amalvin legte neues Holz auf das Feuer und rieb sich seine klammen Hände.

„Was meintet ihr…“, der Vogt schien weiterhin abgelenkt und musste sich erst vom Anblick des geprägten Edelmetalls in Andragrimms Hand losreißen, bevor er wirklich realisierte, dass der Golgarit ihn angesprochen hatte. Er blickte auf und sah sich nach Amalvin um. „Ach so, ja, natürlich. Das sehe ich ähnlich. Ich würde vorschlagen, wir bereiten alles für den baldigen Aufbruch vor und gönnen uns dann noch ein paar Kerzen Ruhe. Sobald die Landmeisterin, Ihre Gnaden und Roglamox erwacht sind, können wir aufbrechen. Das nächste Ziel ist Burg Nilsitz.“ Borax sprach abwesend, seine Gedanken kreisten noch um die blinkenden Münzen. „Wir werden vier der Tunneljäger zurücklassen, um das Heiligtum und die Schätze zu bewachen. Da wir eh am Gut Sturzenstein vorbeimüssen, werden wir dort einen Boten entsenden, der den Rogmarog von unserem Fund informiert. Mein Großvater muss wissen, was hier geschehen ist und was wir gefunden haben.“ Borindarax nickte, wie um sich selbst beizupflichten, eine Geste, die für ihn charakteristisch war, wie Amalvin feststellen konnte. „Eines noch.“ Der Vogt wirkte auf einmal wieder ganz bei der Sache und schlug mit gesenkter Stimme einen ernsten Ton an. „Ich möchte euer Wort, dass ihr kein Wort über die Schätze verliert, wenn ihr Nilsitz wieder verlasst. Einen Gesandten des Horasreiches in Isnatosch ist das letzte, was ich Fargol zumuten möchte. Und auch ich selbst will mir derlei Scherereien ersparen.“ „Wieso Horasreich?“ Jetzt war es an Amalvin, verdutzt zu schauen. „Das ist Sache des Grafen – das ist sein Lehen.“ Er zuckte die Schultern. „Was er damit tut, ist seine Angelegenheit. Allerdings werde ich Euch nicht hindern, wenn ihr ein Teil davon den Göttern spenden wollt. Gleichwohl – ich verspreche Euch, mit niemandem außer meiner Vorgesetzten davon zu sprechen. Reicht euch das?“ Besagte Ordensobere war in manchen Dingen unpraktisch veranlagt, und der Pferdestall hätte schon längst ein neues Dach gebraucht. „Ich geh’ dann mal packen.“ “Wartet und lasst mich erklären“, bat der Vogt, nur gleich zu einer Erklärung anzusetzen. „Ich will lediglich vermeiden, dass die Sache die große Runde macht”, sachlich war sein Tonfall. “Der Horas könnte Interesse an dem Gold zeigen, immerhin waren es bosparanische Legionäre, bei denen es gefunden wurde. In meinen Augen hat er keinerlei Anspruch darauf, dass steht für mich außer Frage, nur bin ich mir unsicher, ob horasische Diplomaten das nicht zumindest ausdiskutieren wollen würden. Deswegen meine Vorsicht. Was das andere betrifft, so werde ich mit der Landmeisterin sprechen. Wir werden eine Lösung finden, mit der auch ihr zufrieden seid”, versicherte der Borindarax, nur um sich dann ruckartig umzudrehen.

Unbemerkt von Amalvin und den Zwergen, kam Roglamox wieder zu sich und versuchte mit zuerst erstaunten, dann zunehmend grimmigeren Anstrengungen, sich des Knebels und der Fesseln zu entledigen, trat wütend auf den Boden und fluchte unverständlich zwar, doch aus tiefstem Grunde seines Herzens. „Er ist wach“, rief Borax erfreut aus und eilte zu dem ehemals Besessenen. „Verzeih, mir mein Freund, ich befreie dich sofort.“ Gesagt, getan. Der Vogt schnitt die Seile kurzerhand mit seinem Drachenzahn durch und zog das Tuch aus dessen Mund. Danach half er Roglamox dabei sich aufzusetzen. Das Stöhnen, was dieser dabei von sich gab, verdeutlichte wie er sich in diesem Moment fühlte. Aschfahl und mit blutunterlaufenen Augen blickte er die anderen gehetzt an. Doch war das alles? Amalvin war verunsichert. Hatte sich die Augenfarbe des Zwergen verändert? Der Graumantel beugte sich vor, um genauer zu sehen, darauf bedacht, sich nicht zu nah an die Zwerge zu drängen. In diesem Zwielicht konnte er fast nichts erkennen. Ärgerlich kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ist alles in Ordnung mit Euch, Roglamox?“ Fragte er schließlich, die Hand wie unbeabsichtigt auf dem Griff seines Rabenschnabels. Langsam wurden seine Finger durch die Kälte gefühllos. Höchste Zeit, aus dieser elendiglichen Höhle herauszukommen! Der so Angesprochene drückte den Rücken durch und stellte dabei einen gequälten Gesichtsausdruck zur Schau. „Naja, sieht man von den Schmerzen im ganzen Körper ab und ignoriert, dass sich mein Kopf anfühlt, als hätte ich mit den Thorwalern gesoffen, ja. Ich denke es wird gehen.“ Roglamox schob sein Kettenhemd hoch und wund gescheuerte Hautpartien an den Handgelenken, wo die Hände zusammengebunden gewesen waren, kamen zum Vorschein. „Bei Angroschs Hammer, gab es einen Kampf? Warum habt ihr mich gefesselt? Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Was ist geschehen“, stieß er sichtlich aufgebracht und fragend hervor. Borindarax nickte betreten. „Ja Bruder. Der Geist des Magus hatte zwischenzeitlich von deinem Körper Besitz ergriffen. Die Landmeisterin musste dich fixieren, sonst hättest du uns angefallen.“ Der Vogt versuchte einen einfühlsamen Ton anzuschlagen. „Sorge dich nicht. Er ist fort und wird auch nicht wiederkommen. Ich werde dir alles in Ruhe erklären. Jetzt aber musst du dich stärken. Wir werden bald von hier aufbrechen.“ Roglamox schüttelte ungläubig den Kopf und Amalvin erhaschte erneut einen Blick auf seine Augen. Das Gefühl, das etwas nicht stimmte, blieb. Hatten sie gar unterschiedliche Farben? Der Vogt führte den verwirrten Roglamox abseits und sorgte dafür, dass er sich hinsetzte. Danach eilte er ihm etwas zu trinken und zu essen zu bringen und gesellte sich zu seiner Stadtwache. Amalvin warf den beiden einen letzten stirnrunzelnden Blick zu, und vermerkte sich diesen Punkt, um ihn mit der Landmeisterin zu besprechen, wenn diese wieder aufnahmefähig sein würde – vermutlich irgendwann morgen. Oder übermorgen. Er zuckte ergeben die Schultern und machte sich nun endgültig daran, alles zusammenzupacken – seine beiden Schwestern im Glauben eingeschlossen.

Durch die weiße Pracht

Der Aufstieg war noch härter als erwartet. Die Gefährten, eingerahmt von dem Rest der Gebirgsjäger, wurden aber für die erlittenen Strapazen entschädigt, als sie den oberen Rand der Schlucht schließlich erreicht hatten. Amalvin indes hatte keinen Blick für die Pracht um ihn herum. Er hatte sich die noch immer schlafende Marbolieb über die Schultern geworfen und dirigierte seine Ordensobere dezent aber bestimmt vor sich her – was sich als unerwartet schwierig erwies, da diese dazu neigte, immer wieder in Gedanken versunken stehen zu bleiben. Das Hochplateau breitete sich in einem perfekten Weiß vor ihnen aus. Die Luft war klar. Keine Wolke bis hin zum Horizont verdeckte das Blau des Himmels, so dass Menschen und Zwerge die Gipfel des Eisenwaldes im Praios und der Ingrakuppen in Firun erblicken konnten. So abgelegen der Isenhag auch sein mochte, seine Landschaft konnte atemberaubend sein. Tief atmend hielt der Graumantel inne und strich sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Den Lagerplatz erreichte die Gruppe nur wenig später und ohne weitere Mühen. Dort legten sie eine ausgedehnte Rast ein. Alle hatten Ruhe nötig und waren hungrig.

Wenig später teilten sie isch in zwei Gruppen. Die verbleibenden Gebirgsjäger brachen auf ihren Ponies gen Senalosch auf. Sie würden einen Halt auf Burg Sturzenstein einlegen, um nach den Verwundeten zu sehen und beim Burgvogt Meldung machen. Danach hatten sie Order, beim Rogmarog vorstellig zu werden. Der andere Teil der Gruppe um die beiden Golgariten und den Vogt von Nilsitz nahm die beiden großen Schlitten, um die geborgenen Gebeine transportieren zu können und brachen gen Burg Nilsitz auf. Bei ihnen war Borindarax’ Leibwächter Boindil, die beiden zwergischen Krieger Andragrimm und Atosch, sowie Roglamox. Bis zum Dorf Sturzenstein reisten sie noch gemeinsam, dann wandten sich die Schlitten sowie die beiden Ritter des Ordens des heiligen Golgari auf ihren Rappen gen Efferd, parallel zur Opferschlucht. Eisig kalt war die Luft und die unberührte, neue Schneedecke, die den Ponies und Pferden das Fortkommen sauer werden ließ, verwandelte die Landschaft in ein Gebilde aus funkelndem Kristall, sobald die Sonne sich durch die Wolken gekämpft hatte und blass aus dem fahlen Winterhimmel schien.

Marbolieb saß still in einer Ecke des Schlittens, bis zur Nasenspitze in Topaxandrinas Bauschdecke eingehüllt. Sie genoss die Wärme des weichen, kostbaren Stoffes und lauschte auf das Schleifen der Kufen über den festgebackenen Schnee. Dieser Ausflug war das erste Mal, dass sie bewusst mit einem Schlitten reiste. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie wohl die verschneite Umgebung aussehen mochte, und lächelte. Richild lenkte ihr Pferd neben den Schlitten und beugte sich zu ihrer Schwester im Glauben. „Alles in Ordnung bei dir?“ Die Geweihte blickte auf und das Lächeln, das noch immer auf ihren Lippen lag, kündete von Unsicherheit. „Gewiss.“ Schweigen wurde ihre Antwort– und wurde Marbolieb zu lang. „Warum fragst du?“ „Du bist stiller als sonst.“ Die Golgaritin war eine wache Beobachterin– mitunter zumindest. „Seit der Sache mit dem Geist. Was ist? Ist dir nochmals einer begegnet?“ Marbolieb schüttelte den Kopf, doch das Lächeln hatte ihre Lippen verlassen. „Aber ich weiß, dass es wieder passieren wird. Und dann wirst Du nicht dabei sein.“ Sie grub ihre Zähne in die Unterlippe. „Das macht mir Angst.“ Ihr Kinn sackte auf die Brust. „Ich weiß– Angst ist dazu da, überwunden zu werden. Sie tut nichts, außer uns zu lähmen und unsere Urteilskraft zu trüben. Gerade ich sollte das wissen.“ Sie fröstelte und schlang die Decke enger um sich. Richild beugte sich vor und drückte die Schulter der schmalen Priesterin, ehe sie ihren Schwarzen wieder hinter den Schlitten zurückfallen ließ. Unterwegs konnte sie nichts für die junge Geweihte tun. „Hast du ihn in deinem Kopf gehört?“ Roglamox wartete eine Weile, nachdem die Landmeisterin ihre Worte an Marbolieb gerichtet hatte, bevor er der Geweihten vorsichtig diese Frage stellte. Der Zwerg saß ihr wieder gegenüber, wie auf der Fahrt aus Senalosch, während Atosch erneut auf dem Bock des Schlittens platzgenommen hatte, gemeinsam mit Andragrimm, mit dem sich schon fast die ganze Fahrt unterhielt. Die anderen Angroschim saßen allesamt im zweiten Schlitten, der ihnen folgte. Borindarax selbst versuchte sich in dessen Steuerung, was nicht immer ohne Probleme abging. Ab und an waren laute Stimmen und manchmal gar Gejohle von hinten zu vernehmen. „Nicht ganz.“ Suchend wandte sich die Geweihte in seine Richtung. „Auch. Es war, als würde er vor mir stehen, fassbar und körperlich.“ Sie suchte nach Worten, die der Zwerg – vielleicht – verstehen konnte. „Ich habe ihn gesehen.“ Sie zog die Decke etwas enger um ihre Schultern, als sei ihr kalt. „Wie hast Du ihn erlebt?“ „Gar nicht.“ Der Zwerg schien verunsichert. Marbolieb erkannte es anhand der Stimme. „Das ist es ja. Ich kann mich an nichts erinnern. Wir, die Landmeisterin und ich standen vor diesem Altar im Heiligtum. Dann plötzlich reißen meine Erinnerungen abrupt ab und beginnen erst dann wieder, als ich gefesselt und mit riesigen Brummschädel in der Kaverne aufgewacht bin.“ Roglamox stieß die Luft aus. „Und doch trage ich die Bilder eines ganzen, mir fremden Lebens in mir.“ „Es ist möglich, dass einige Erinnerungensfetzen des Magiers noch in deinem Geist nachhallen. Während er von dir Besitz ergriff, hat er dein eigenes Bewusstsein überlagert, so dass du keine eigenen Erinnerungen an seine Anwesenheit hast. Magst du mir davon erzählen, was er dir hinterlassen hat?“ Die Geweihte beugte sich in Richtung ihres Gegenübers, aufmerksam und wach, aber ohne jede Hast und Besorgnis in ihrer Stimme und ihren Gesten. “Es sind nicht nur einzelne Bilder, sondern auch damit verbundene Emotionen. Es scheinen viele Stationen seines Lebens zu sein, die auf mich einwirken. Darunter sind auch Eindrücke von Schlachten, von Tod und Zerstörung. Doch all dies überlagert sich, so dass ich sie kaum greifen kann. Eines jedoch sehe ich recht deutlich. Es muss eine sehr dominante Erinnerung sein. Nur so kann ich mir ihre Klarheit erklären. In ihrem Mittelpunkt steht eine kolossale Stadt, mit einer unüberschaubaren Zahl an Türmen und zum Teil zyklopischer Architektur. Bosparan. Sie war Mittelpunkt all meines … ich meine seines Strebens.” „Er sprach davon, dem Kaiser unbedingt zu dienen.“ Marbolieb schüttelte den Kopf, als wolle sie eine Erinnerung loswerden. „Er war gewiss kein angenehmer Mensch. Es ist gut, dass er den Weg über das Nirgendmeer gefunden hat. Deine Erinnerungen sollten mit der Zeit verblassen – wenn sie dies in den nächsten beiden Wochen nicht tun, sprich bitte nochmals mit mir.“ Kurz kehrte Ruhe ein. Roglamox schien nachzudenken. „Ich glaube wir reden von unterschiedlichen… Geistern“, sagte er vorsichtig. „Du hast mit dem Anführer der Soldaten gesprochen, richtig?“ „Wie kommst Du darauf?“ Gab sie eine Gegenfrage zur Antwort, interessiert an den Gedankengängen des Zwergen, die ihn zu diesem Schluss geführt hatten. Gesehen hatte sie beide – was im Fall des Magiers wahrlich kein Vergnügen gewesen war. Doch vielleicht verbarg sich deutlich mehr in Roglamox Erinnerungen, als ihm selbst im ersten Anschein gewahr wurde. „Nun ja, wenn ich es richtig verstanden habe habt ihr eine Einigung mit dem Versteinerten erwirken können, woraufhin er die Landmeisterin freigegeben hat“, erklärte Roglamox seine Vermutung. „Deswegen sind wir jetzt auch auf dem Weg die Gebeine der Soldaten würdig zu bestatten, um seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Zudem“, der Zwerg setzte nach kurzer Pause erneut zu sprechen an. Diesmal jedoch weniger von seinen Worten überzeugt. „Der Magus war meiner Meinung nach ein grausamer, skrupelloser Mensch, obendrein ein hinterhältiger Mörder und wenn ich die Erinnerungen an mein … an sein Äußeres richtig deute war er bereits seit lange vor seinem Ableben mehr untot als lebendig- ein Mann, mit dem kein Geweihter einen Handel geschlossen hätte.“ „Ich habe mit beiden gesprochen“, sagte die Geweihte mit sanfter Stimme. „Verloren waren beide, jeder auf seine Weise. Doch dem Centurio zu helfen, ist ungleich erfreulicher. Er wünschte sich nach all der langen Zeit nicht mehr als den Frieden seines Grabes.“ Sie sann einige Atemzüge ihren Gedanken nach. „Ich kann nicht nur jenen helfen, die ich ansprechend finde. Doch ich habe auch die Pflicht, die Leute in meiner Umgebung vor Wesen wie dem Magus zu schützen.“ Sie schmunzelte, kurz und versonnen. „Mögen beide in Frieden ruhen – und bald ein gesegnetes Grab finden. Was meindt du, wie weit es bis Nilsitz noch ist?“ „Da bin ich überfragt“, gestand Roglamox und wechselte das Thema ohne weitere Anmerkung zum vorherigen. „Ich kenne den Weg von Sturzenstein aus nicht. Bei guten Wetter aber sind es auch Senalosch zwei Tage strammer Marsch. Ich würde also vermuten das wir länger unterwegs sind. Burg Nilsitz, Burg Sturzenstein und Senalosch bilden eine Art Dreieck auf der Karte. Die Schenkel sollten nahezu ähnliche Seitenlängen besitzen.“

Burg Nilsitz

Nahezu vier ganze Tage reisten sie durch den dichten Mischwald, der ganz Nilsitz dort bedeckte, wo sich keine Felsen oder gar Berge erhoben. Die Nächte waren aufgrund des sternenklaren Himmels besonders kalt. Der Vogt jedoch verstand sich darauf, aus dem im Überfluss vorhandenen Schnee eine passende Behausung zu bauen, in deren Inneren es deutlich wärmer war, als draußen unter freiem Himmel. Borindarax erzählte den Gefährten, er habe als Kind von solchen Behausungen der Nivesen gelesen und sich in den Wintern seiner Jugend daran geübt, die sich nach oben hin verjüngenden Halbkugeln aus dem kalten Element zu errichten. Anfangs hatte man ihn belächelt, da er zumeist daran gescheitert war, das letztendlich erzielte Ergebnis jedoch war überzeugend gewesen. Unlängst wurde diese Art des Nachtlagers der Ausbildung der im Isenhag stationierten Soldaten hinzugefügt. Ein Umstand, der den Vogt durchaus mit Stolz erfüllte.

Irgendwann riss das eintönige Bild der sie umringenden, weißen Baumriesen auf. Rechts und links öffneten sich weite, freie Flächen, die ebenmäßig von Schnee bedeckt waren. Dann schien das Gelände steil abzufallen. Sie waren wieder in der unmittelbareren Nähe des Wedengrabens angekommen, über dem ihr Ziel erbaut worden war: Auf einem gewaltigen Felsvorsprung thronte Burg Nilsitz. Der aus mehreren, zum Teil ineinander übergehenden Gebäuden bestehende Wehrbau einer Spornburg wurde anscheinend gerade instandgesetzt, wenn nicht sogar ausgebaut. Überall sah man hölzerne Gerüste, die aber aufgrund der Witterung unbesetzt waren. Eine hohe Wehrmauer umschloss die Burg an den Rändern der Felsnase und ging an ihrer unteren Kante fast nahtlos ins Gestein über. Einzig ein schmaler Weg, welcher gerade einmal breit genug für eine Kutsche war, führte über eine Klappbrücke zum Tor, welcher von zwei Türmen mit Spitzdach flankiert wurde. Über dem Tor lag ein Wehrgang, wie um den Rest der zinnenbewehrten Mauer. Der Weg durch das Tor führte in die Vorburg, welche taktisch günstig angelegt war, so dass jeder Angreifer aus erhöhter Position unter Beschuss genommen werden konnte. Erst das zweite Tor führte in die eigentliche Burg. Im Hintergrund erhob sich ein kolossaler Bergfried noch weit über den länglichen, mehrstöckigen Palas. Oberhalb der rot gebrannten Ziegel dieser höchsten Erhebung der Burg flatterten zwei Banner im seichten Wind dieses Wintertages. Da war einmal der silberne, steigende Gebirgsbock auf grünem Grund, die Farben des Hauses Nilsitz, sowie der schwarze Kriegshammer auf Silber, das Wappen des bergköniglich- eisenwalder Garderegimentes Ingerimms Hammer.

Richild pfiff durch die Zähne, als die Befestigungsanlage in Sicht kam. „Nicht schlecht.“ bemerkte sie. Sie hing die Zügel über den Knauf ihres Sattels und rieb sich die Hände, während ihr Atem in dichten Wolken vor ihrer Nase stand. „Wird Zeit – kalt genug ist es.“ „Wollt ihr uns später Eure Burg zeigen, Hochgeboren?“ wandte sie sich neugierig an den Vogt. “Es ist nicht meine Burg.” Der Vogt lachte kurz auf. “Sie gehört der Familie Nilsitz. Dieses Adelshaus wurde hier zwischen Wedengraben und Eisenwald begründet und besaß lange Zeit ein faktisches Monopol als Zwischenhändler der Menschen mit Isnatosch. Daran haben sie gut verdient. Nur so war es möglich, im Hochtal über dem Großen Fluss eine solch imposante Burg zu errichten.” Borindarax seufzte. “Leider hat der alte Kalman, mein Vorgänger, all das heruntergewirtschaftet. Nein, es war nicht nur er, sondern auch einige seiner Ahnherren. Das übermäßige Wetteifern nach der Gunst des Götterfürsten hat sie ihre Untertanen ausbeuten und ihre Besitztümer ausbluten lassen. Kalmans Tochter Rhela ist noch Junkerin dieses Gutes. Das Banner der Eisenwalder weht dort oben, weil hier mehrere Banner stationiert sind. Dwarosch schätzt diese Mauern sehr. Er hat im Hof der Burg einen Kor-Schrein errichten lassen und veranlasst, dass die Sappeure die Wehranlagen ausbessern und weiter ausbauen. Auch Burg Trollpforz wird auf diese Weise instandgesetzt. Habt ihr schon einmal eine alte Trollfeste gesehen? Sie ist beeindruckend, selbst für einen Angroschim, glaubt mir. Aber um auf eure eingehende Frage zurückzukommen. Natürlich könnt ihr euch die Burg ansehen. Wir werden einen passenden Führer finden, einen Kompetenteren wie mich.“ „Hervorragend.“ Richild rieb sich die Hände und blies eine Atemwolke in die kristallklare, eisige Luft. „Ich habe noch nie eine Trollburg gesehen – das sollte sich ändern. Lässt sich das auf der Rückreise unterbringen? Auf die Führung in Burg Nilsitz bin ich gespannt. Wurde sie als Zollburg errichtet – oder hatte sie ursprünglich einen anderen Zweck?“ Sie rieb sich über ihre stoppelkurzen Haare, die momentan unter einer dicken Mütze steckten. „Ich glaube indes nicht, dass ihr als Vogt die Burgen Eures Lehens nicht eingehend kennt. Ihr stellt Euer Licht unter den Scheffel, Hochgeboren, dessen bin ich mir sicher.“ Der Vogt lächelte und nickte beipflichtend. „Ertappt. Nur würde euch der Oberst tatsächlich weit mehr über die Wehrhaftigkeit sagen können. Solcherlei Dinge sind für mich eher nachrangig.“ Borindarax ließ seinen Blick von der Landmeisterin hoch zur Burg schweifen. „Sie ist als Gegenstück zu Calbrozim errichtet, drüben in Wedengraben. Von den Zinnen aus könnt ihr den Sitz des Grafen sehen. Auf Burg Nilsitz existiert eine Rotze, die auf den Großen Fluss zielt. Meine Brüder und Schwestern in Calbrozim halten es ähnlich. Und ja, sie dient als Zollburg. Nilsitz besitzt Stapelrecht. Da es aber viel zu aufwendig ist, große Warenmengen die Schlucht hinauf zu schaffen, wird zumeist nur eine Gebühr eingezogen. Aber nicht nur deswegen ist die Burg und das vor uns befindliche Dorf bedeutend.” Der Vogt ließ seinen Blick nach links und rechts über die weiße Pracht schweifen. “Es gibt Getreidefelder flussauf- und abwärts entlang der Schlucht, dort wo der felsige Grund weicht und in fruchtbarem Boden übergeht. Dieser schmale Landstrich zieht sich durch die gesamte Vogtei und ernährt viele der Menschen hier. Auch Senalosch ist in gewisser Weise davon abhängig.“ Unvermittelt wechselte der Angroscho das Thema und sah zurück zum Pferd, auf dem Richhild saß. „Trollpforz liegt ganz am anderen Ende meiner Ländereien, weit drüben im Rahja.“ Er rümpfte die Nase. „Ich würde vorschlagen, dass wir uns den alten Sitz der Schrate ein anderes Mal ansehen, wenn das Wetter ein wenig freundlicher ist. Ihr seid herzlich eingeladen mich wieder zu besuchen und mich daran zu erinnern.“ Borindarax legte den Kopf schief und grinste. „Vielleicht zum nächsten Isenhager Donnergrollen.“ Die Landmeisterin neigte den Kopf und erwiderte das Grinsen. „Ich komme gerne darauf zurück. Und was ist für euch das am meisten Beachtenswerte an Nilsitz?“ setzte sie neugierig hinzu. “Der Bergfried. Er hat einen sechseckigen Sockel, der aus dem Fels herausgeschlagen wurde. Vier Schritt sind seine Mauern dick und das aus gewachsenen Gestein. Erst in etwa acht Schritt Höhe ist der reguläre, runde Wehrbau aufgesetzt, den ihr von hier aus sehen könnt. Etwa auf diesem Niveau befindet sich auch der Übergang aus dem Palas. Einst war es wohl nur ein hölzernerer Steg. Heute ist es eine kleine, überdachte Brücke. Die Gefahr, dass der Bergfried einmal seiner Bestimmung nach Verwendung findet, ist doch recht gering. Der Turm insgesamt reicht etwas mehr als dreißig Schritt in hinauf. Der Ausblick von oben ist bei solch einem Wetter sehr schön und reicht bis zu den uns umringenden Bergen. Zudem kann man die Schlucht zu beiden Seiten weit einsehen.” „Dann bin ich um so gespannter, ihn zu besichtigen.“ Zufriedenheit ob dieser Aussicht glitt über die Züge der Kriegerin – offensichtlich hatte sie ein Faible für Wehranlagen, zumindest ließ sie sich kaum eine Möglichkeit für eine Besichtigung entgehen.

Marbolieb schwieg und kuschelte sich enger in ihre Decke, doch die Aussicht auf ein warmes Kaminfeuer lockte auch sie. Sehr. „Was für eine Tageszeit haben wir?“ fragte sie Roglamox. Die Zeit verstrich so gleichförmig bei der tagelangen Schlittenfahrt, dass sie sich schwer damit tat, dies genau einzuschätzen. Dazu kam, dass sie den meisten Teil des Weges ihren Gedanken nachgehangen war – die sich meistenteils um die Grablege der Gebeine unter der Burg handelten, aber auch zu einem merklichen Teil um die Frage, was sich darunter finden würde, wie zugänglich es war – und ob dort weitere Geister zugange wären. Das Gefühl, in die Gegenwart eines Geistes gezogen zu werden – wie ein Sog in einem Wasserstrudel – und dort hängenzubleiben, den Geschmack von Moder und Fäulnis auf der Zunge, ließ sich kaum in Worte fassen – doch es verunsicherte die junge Geweihte zutiefst. „Kurz nach Mittag nach dem Stand der Sonne zu urteilen“, erklärte Roglamox. „Es wird aber noch mindestens zwei Kerzen dauern, bis wir im Warmen sind, tut mir leid. Zuerst müssen wir durch das Dorf hindurch. Es ist eines der größten innerhalb Vogtei. Etwas mehr als vierhundert Seelen mögen in ihm leben. Von dort aus geht's hinauf zur Burg.“ „Danke.“ Marbolieb nickte und vergrub sich, in Gedanken versunken, wieder tiefer in ihre Decke. Sie würden ankommen, irgendwann. Das reichte. Die begeisterten Kommentare der Angroschim, die sich auf ein warmes Willkommen freuten, drangen nicht bis zu ihr durch.

Es dauerte tatsächlich länger, als es der Zwerg prognostiziert hatte, bis sie mit den Schlitten schließlich die langgezogene Rampe zur Burg hinauffuhren. Mehrfach waren sie im Dorf angehalten worden. Der Schulze wollte es sich nehmen lassen, den Vogt zu begrüßen, und auch eine beträchtliche Anzahl von Einwohnern der Ortschaft eilten herbei, um es ihm gleichzutun. Doch schließlich überquerte die Gruppe die Zugbrücke und fuhr durch das Tor in die Vorburg. Hier standen die Bewohner schon Spalier. Borindarax hatte im Dorf einen Boten vorausgeschickt, um sie anzukündigen. Ein Angroscho trat strahlend aus der Reihe der sie empfangenden Burgbewohner, als sie die Schlitten anhielten und auch die Golgariten ihre Pferde zum Stehen brachten. Der Zwerg hatte zwei lange, geflochtenen Zöpfe, die in seinem Backenbart ihren Ursprung nahmen. Sein Kinn hingegen war glattrasiert. „Hochgeboren, ich grüße euch.“ Borindarax machte einen ungelenken Satz vom Gefährt und umarmte sogleich den Sprecher. „Lass das Förmliche. Es ist schön dich zu sehen, Boringarth.“ Der Vogt löste sich wieder mit diesem Worten von dem weißblonden Angroscho im Wappenrock von Ingerimms Hammer und betrachtete alle Anwesenden. Es waren etwa ein Dutzend Bedienstete und acht vollgerüstete Angroschim, auch sie gehörten offenkundig zum Regiment. „Ist Rhela nicht hier?“ Fragte Borindarax als er alle gemustert hatte. Boringarth schüttelte den Kopf. „Sie weilt derzeit in Elenvina.“ Der Vogt nickte und beließ es dabei. „Dann bring uns ins Warme und bitte veranlasse, dass man sich um die Tiere kümmert. Ach und eins noch. Niemand rührt an, was die Schlitten geladen haben.“

Nur wenig später saßen die Gefährten in einer getäfelten Stube. Boringarth hatte sie durch das zweite Tor in den Innenhof der Burg geführt und von dort aus in eines der kleineren, zweistöckigen Gebäude am Rande des Palas, ein Gästehaus. Ihre Mäntel hatten sie zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Vorraum zum Trocknen aufgehängt. Das Feuer eines offenen Kamins verströmte eine angenehme Wärme. Der Raum war nicht übermäßig groß, bot aber allen ausreichend Platz und zudem eine gemütliche Atmosphäre. Roglamox half Marbolieb gerade, sich in einen der Ohrensessel am Feuer niederzulassen, als Boringarth noch einmal das Wort an alle richtete. „Ich lasse euch etwas zu Essen bringen und werde schauen, ob sich trockene Hemden und Hosen für euch finden lassen. Wenn ich etwas waschen lassen soll, dann gebt die Sachen bitte einer der Mägde. Sie werden dann und wann nach dem Rechten sehen. Ihr seid hier ansonsten weitestgehend ungestört.“ Der Zwerg nickte in Richtung einer hölzernen Treppe, welche über Eck hinauf in das Obergeschoss führte. Dieses bestand ganz aus Holz, das hatten sie schon von außen sehen können. „Oben befinden sich sechs Schlafräume, die ich auf die Schnelle hab herrichten lassen. Zögert nicht zu sagen, falls es euch an etwas mangeln sollte. Warmes Wasser lasse ich ebenfalls bringen und in ein paar Kerzenlängen werde ich einen Zuber im Erdgeschoss des Palas bereitet haben.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Angroscho und verließ die Gäste. „Dann werden wir mal unsere Räume beziehen.“ Richild dehnte ihre Schultern und blickte den Vogt fragend an. „Sind die Zugänge zu den Höhlen bekannt, so dass wir uns heute schon ein erstes Bild machen können, oder mögt Ihr dies morgen angehen?“ „Lasst uns dies Morgen beginnen, Landmeisterin“, bat Borindarax. „Ich denke auf einen halben Tag kommt es nach all den Jahrhunderten auch nicht mehr an. Mit ein bisschen Schlaf setzen wir unsere Schritte bedeutend sicherer in der Dunkelheit. Ich spreche heute Abend noch mit Boringarth und lasse alles vorbereiten, so dass wir nach einem angemessenen Frühstück sogleich aufbrechen können.“ Der Vogt legte die Stirn in Falten und kratzte sich den Bart. „Dwarosch meinte, dass es unter dem Palas diverse Kellerräume gibt. Bei der Besichtigung der Sappeure vor dem Beginn der Instandsetzung der Burg haben sie wohl hinter einer Mauer eine natürliche Höhle gefunden, die weit in die Tiefe reicht. Der Oberst hat sie von einem Trupp seiner Männer erkunden lassen. Das ist alles, was ich bisher weiß.“ „Schade, dass er nicht hier ist – er könnte uns sicher einiges über die Tunnel erzählen.“ Spann die Landmeisterin den Faden des Vogtes fort. „Aber ihr sagtet, dass einige der Angehörigen seines Regiments hier sind – sind darunter auch Leute, die die Tunnel erkundet haben?“ Das würde die Sache leichter machen. „Gut, dann machen wir uns einen ruhigen Abend.“ stimmte sie schließlich dem ersten Teil des Planes zu, merklich nicht besonders traurig über die Aussicht, die Nacht im Warmen zu verbringen. In einem richtigen Bett. Borindarax nickte bestätigend. „Korrekt. Es sind zwei ganze Banner hier stationiert, Malmardorum - schweres Fußvolk. Boringarth ist Dwaroschs Adjutant. Bei ihm laufen in Abwesenheit des Oberst alle Fäden zusammen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass er uns Männer an die Seite stellen kann, die uns führen werden.“ Die Landmeisterin nickte zufrieden. Zumindest dieser Punkt schien bestmöglich geplant – alles weitere würde der morgige Tag zeigen.

Marbolieb währenddessen wärmte ihre Hände am Feuer, lauschte den Gesprächen und unterdrückte ein Gähnen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester im Glauben, der offensichtlich ein paar Minuten am Feuer reichten, um wieder vor Energie sprühend die nächsten Pläne zu schmieden, war sie mit dem Ankommen als letzten heutigen Punkt nicht unzufrieden. Roglamox ließ sich neben ihr nieder und seufzte. „Endlich im Warmen“, wohlig klang die Stimme des Zwergen. „Wollt ihr gleich nach oben, oder esst ihr hier unten mit uns? Ich kann euch später auch etwas hochbringen.“ Die Geweihte holte tief Luft– und antwortete mit einem kapitalen Niesen, das von einer weitaus wuchtigeren Person zu stammen schien. Sie schüttelte sich, und setzte dann erneut an. „Ich bleibe hier. Ihr müsst mir keine Sonderbehandlung geben.“ Sie schmunzelte. „Ich koste Euch schon genug Mühe und Zeit. Aber könntet ihr die Mägde fragen, ob ich nachher einen Eimer Wasser und Seife haben darf? Ich sollte einige Sachen waschen – das mache ich selbst.“ Wohl war ihr bei dem Aufwand, den die freundlichen Zwerge neuerdings um ihre Person machten, nicht – sie war bisher immer für sich selbst verantwortlich gewesen, ohne Dienstpersonal. Und sie würde es in absehbarer Zeit wieder sein. Zudem wusste sie zu genau, wieviel Arbeit es machte, eine Person rundum zu versorgen. Ein wehmütiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. Wie es Mirla zurzeit wohl erging? „Es bereitet mir keine Mühe“, versicherte Roglamox verständnisvoll. Doch Marbolieb war in diesem Moment schon zu sehr ihren eigenen Gedanken verhaftet, so dass sie die Erwiderung des Zwergen nicht mehr wahrnahm.

Der restliche, gemeinsame Abend währte nur kurz, war deswegen aber nicht weniger angenehm. Mägde brachten einen großen Topf heißer Brühe herbei. Dazu gab es frisches, noch dampfendes Brot. Erdäpfel, Rüben und saftiger Wildschweinbraten wurden kurze Zeit später aufgetischt. Die Reisegefährten saßen beisammen und aßen. Dem äußerst starken Bier sprachen von den Zwergen nur Atosch und Andragrimm im größeren Maße zu. Die anderen hielten sich merklich zurück. „Sagt, Roglamox, wie kommt es eigentlich, dass Ihr Mägde anstellt, um das Essen zu kochen und aufzutragen, wo es doch so wenig Zwerginnen gibt?“ Marbolieb nieste, tastete nach ihrem Schnupftuch und blickte suchend in die Richtung, in der sie Roglamox vermutete. Sie hatte das warme Essen nach der eisigen Reise genossen und saß nun zufrieden und behaglich am Feuer. „Die Dienerinnen hier sind allesamt Menschen. Teile von Ingerimms Hammer sind schon seit mehreren Dekaden hier stationiert, doch basiert dies auf Verträgen. Burg Nilsitz ist keine unserer Enklaven“, erklärte Roglamox. „Wir sind hier nur so etwas wie privilegierte Gäste.“ Marbolieb spürte wie der Zwerg lächelte. „Wir haben uns mit den Burgbewohnern arrangiert. So gibt es auch seit langem zwei Angroschna, die für uns kochen und eine speziell ausgestattete Vorratskammer. Die beiden sind weit mehr als nur Bedienstete.“

Borindarax und sein Leibwächter verabschiedeten sich bereits unmittelbar nach dem Mahl, um Boringarth aufzusuchen, der der Bruder Boindils war, wie sich beim Tischgespräch herausgestellt hatte. Die restlichen Angroschim machten sich kurz darauf zum Palas auf, um ein heißes Bad zu nehmen und so wurde es ruhig im Gästehaus. Die Landmeisterin und der Graumantel ließen sich die Aussicht auf heißes Wasser nicht entgehen und folgten diesem Lockruf freudig. Marbolieb bedachte den Aufwand, kümmerte sich statt dessen um ihre Wäsche und war nicht unglücklich darüber, an diesem Tag früh zu Bett zu kommen – in ein richtiges, warmes Bett, das eine dienstbare Seele mit im Feuer erhitzten Steinen wohlig angewärmt hatte, ein Luxus, wie sie ihn nur auf einer Adelsburg bisher erlebt hatte. Friedlich klang so der Abend aus und brachte Ruhe ins Land und über die hektische Betriebsamkeit der Menschen – und, in einigen Fällen, auch Zwerge.

Tief unter Burg Nilsitz

Der Morgen im Gästehaus begann bereits vor dem Aufgehen des Praiosrunds. Bedienstete schürten das Feuer und tischten ein deftiges Frühstück auf. Dunkles Brot, Käse und Wurst erwarteten die Gäste auf hölzernen Platten auf dem Tisch der Stube, als diese nach und nach die Treppe herabstiegen. Kräutertee und warmer Honigwein verbreiteten einen angenehmen Geruch. Der Vogt war wohl der erste gewesen, der sich eingefunden hatte, denn als Richhild, gefolgt von Amalvin und Marbolieb in die gute Stube kamen, hatte Borindax seinen Teller schon benutzt von sich geschoben und hielt einen tönernen Becher in Händen. Vor ihm lag ein kleines Pergament, auf dem allerlei Linien und Zwergenzeichen abgebildet waren. Als er die Geräusche von der Treppe vernahm, sah er auf und lächelte. „Guten Morgen zusammen. Ich hoffe, ihr habt alle angenehm geruht.“ „Vielen Dank für die Nachfrage.“ Die Landmeisterin grinste. „Ich könnte einen Ochsen aufessen. Pass’ auf, Schwester, noch eine Stufe.“ Fügte sie übergangslos hinzu, als sie Marbolieb die letzte Treppenstufe hinablotste. Der Vogt lachte. „Sehr gut, dann setzt euch zu mir und langt kräftig zu, und erwartet ein anstrengender Marsch und Treppen, die eure Schenkel hassen werden.“ Amalvin trat neben den Vogt und reckte den Kopf, um das Pergament in Augenschein zu nehmen. „Eine Karte der Keller?“ Schoss er ins Blaue. „In der Tat“, nickend bestätigte Borindarax die Annahme des Graumantels. „Dies ist die Karte, die mir Boringarth zur Verfügung gestellt hat. Ich hatte bereits Gelegenheit zu studieren.“ Er tippte mit einem Finger auf den oberen Teil des Blattes, welcher bei näherer Betrachtung einen vertikalen Schnitt des Palas darstellen mochte. Amalvin konnte zwei große Kellerebenen unterhalb des Erdgeschosses ausmachen. Die darunter befindliche Darstellung war weniger eindeutig, nein sogar eher verwirrend. Es schien eine Art Draufsicht zu sein, jedoch überlagerten sich mehrere Ebenen auf einer Fläche. Dutzende von Runen mochten dem Fachkundigen ermöglichen, die Einzelheiten zu erfassen, die die Karte auf diese Weise verschlüsselte. Der Graumantel jedenfalls gehörte nicht dazu. Er runzelte die Stirn, beugte sich über die Karte und zuckte schließlich mit den Schultern. „Ich vertraue eurem Urteil ... aber mit der Karte bin ich verloren.“ „Keine Sorge. Die Arbeit wurde bereits getan. Der Weg der uns ganz nach unten führen wird ist verzeichnet.“ Der Finger des Vogts glitt über das Pergament und hielt auf einem für Amalvin nicht eindeutigen Punkt auf der unten Hälfte des Blattes. „Hier müssen wir suchen. Dort liegt ein Netz großer, natürlicher Höhlen, die mit hellem Sandboden ausgespült sind. Das Niveau des Flusses liegt aber noch beträchtlich unterhalb dieser Kavernen. Sie sind also entweder sehr alt, oder der Sand wurde bei einer großen Flut eingetragen.“ „Meint ihr, wir bekommen bei der Erkundung nasse Füße?“ Die Gedanken der Landmeisterin schweiften eher in eine praktische Richtung. Kopfschüttelnd verneinte Borax. „Ich habe kein Zeichen gefunden, dass darauf hinweisen könnte.“ Er grinste schief. „Bin auch wahrlich nicht scharf darauf nach den jüngsten Ereignissen.

Nachdem sich alle gestärkt hatten, schritten sie gerüstet und bewaffnet zum Palas. Der robuste Steinbau wuchs stolze vier Stockwerke in die Höhe. Massige und kunstvoll verzierte Holzbalken schauten aus den Außenwänden, dort wo der Dachstuhl aufgesetzt war. Zwergische Soldaten waren gerade dabei, die beiden Schlitten vorzufahren, als man beim Hauptgebäude der Burg ankam. Boringarth stand dabei und überwachte das Ganze. „Angrosch zum Gruße“, begrüßte der Angroscho die Gruppe und fuhr fort, nachdem er und Borax sich die Hand gereicht hatten. „Ich habe acht Soldaten abgestellt, die euch beim Tragen helfen werden.“ Er blickte zur Landmeisterin. „Meint ihr, das wird reichen? Die Bündel sehen nicht so aus, als seien sie sonderlich schwer.“ „Die wiegen nicht viel.“ Richild nickte zufrieden. „Acht Leute sollten mehr als ausreichend sein. Ihr solltet nur den Inhalt nicht durcheinanderwerfen.“ Sie ging in Gedanken den nicht mehr allzu reichlichen Umfang ihres Gepäcks in Bezug auf geweihte Graberde und Räucherwerk durch und zuckte die Schultern. Es würde vermutlich für eine Boronsangersegnung noch reichen – aber danach wäre es wohl bis auf ein paar Krümel aufgebraucht. Egal – sie war gewohnt, mit dem zu arbeiten, was sie hatte, und auch ihre Schwester im Glauben hatte noch die eine oder andere Sache im Gepäck – zumindest Räucherkräuter schien sie in ausreichender Anzahl zu besitzen, wie auch immer sie sich diese beschafft hatte. Spätestens in Isenbrück musste sie dem Boronsanger einen längeren Besuch abstatten, um ihren Vorrat an Graberde aufzufrischen (und diesen sicherheitshalber nochmals zu weihen). Bislang hatte das immer bestens funktioniert– der Knackpunkt an der Sache war eher, die Erde von einem geweihten Boronsanger zu entnehmen, nicht, sie aus einem Grab zu buddeln– etwas, mit dem sich die Golgaritin erheblich schwerer getan hätte.

Hinter dem breiten Eingangsportal lag die Vorhalle des Palas, welche nicht nur das Erdgeschoss umfasste, sondern auch das zweite Stockwerk, was ihr einen durchaus repräsentativen Charakter verlieh. Zwei hölzerne Treppen mit schön gedrechselten Handläufen führten an den Seitenwänden nach oben zu einem Umlauf. Ölgemälde und großflächige Wandteppiche zeigten Jagdszenen, ein großes Holzschild an der Stirnseite der Halle das Wappen von Nilsitz. „Wie gehen wir vor?“ fragte der Vogt an Richhild gewandt. „Habt ihr einen Vorschlag?“ „Wir sollten uns erst einmal unten umsehen, ehe wir die Gebeine hinunterbringen. Am besten geht jemand von euch voraus, der den Weg kennt, gern zusammen mit mir. Dann prüfen wir, wo der beste Platz für eine Grablege ist, und segnen diesen ein. Die Zeremonie dafür wird etwa einen Tag dauern. Dann bringen wir die Gebeine und sprechen einen Grabsegen darüber.“ ‚Und mit etwas Glück stört uns keiner dabei’, klang ungesagt in ihren Worten mit. „Der Geist des Centurio Aquitano erzählte davon, dass in den Kellern das Heiligtum eines alten Gottes, des Herrn der Legionen, verborgen liege.“ mischte sich Marbolieb in das Gespräch ein. „Bevor wir die Toten zur Ruhe legen können, müssen wir dieses neu weihen. Ich werde niemandem in einem Heiligtum eines gefallenen Gottes bestatten.“ Sanft war ihre Stimme – doch so entschieden und so unverrückbar wie einige Quader Felsgestein. „Das, Schwester, hättest du mir auch schon ein bisschen eher sagen können.“ Die Landmeisterin strich sich mit einer knappen Geste über ihr kurzgeschorenes Haar und runzelte, wenig begeistert, die Stirn. So viel zu der einfachen Weihe. „Warum entweihen wir nicht einfach dieses Ketzerheiligtum und legen die Gebeine auf einem ganz normalen Boronsanger zur Ruhe?“ Das würde alles ungleich vereinfachen. „Ich habe es ihm versprochen.“ Ganz einfach klang die Antwort der blinden Priesterin. Richild seufzte abgrundtief. „Das hättest du dir vorher überlegen können.“ Sie holte tief Luft. „Also gut. Wir gehen runter, schauen uns um, räumen das Zeug auf und segnen es neu ein. Dann erst holen wir die Knochen – und bestatten sie.“ Sie überschlug im Geiste die Zeit, die dies vermutlich dauern würde, und seufzte erneut. Nicht zu sprechen davon, dass diese Sache äußerst kräftezehrend werden würde. Marbolieb nieste, senkte den Kopf und schwieg. Ihre Wangen glühten – ob durch die Zurechtweisung oder durch die Erkältung, die sich nun gründlich zu bleiben entschlossen hatte, blieb offen. „Ich helfe Dir.“ Ganz sicher klang die Stimme der Geweihten nicht. Was, wenn dort unten neue Geister lauerten? Sie schlang die Arme übereinander, als ein eiskalter Schauder über ihren Rücken lief. Der Druck in ihrem Kopf nahm allein durch den Gedanken zu, und sie nieste erneut. „Das weiß ich doch.“ Richilds Seufzen nahm der Situation die Spitze. „Schauen wir es uns an. Dann wissen wir mehr.“ Borindarax und auch die anderen Zwerge lauschten dem Zwiegespräch von Golgaritin und Geweihten aufmerksam. Der Inhalt des kurzen Disputs sorgte für das eine oder andere Stirnrunzeln, ein Kommentar aber wollte niemand dazu abgeben. Nachdem Marbolieb und Richhild sich einig waren, nickte Borax mit entschlossenem Gesichtsausdruck. „Gut, dann gehen wir erst ohne Last herunter und sehen uns eingehend um. Ich warne euch aber vor, unterschätzt den Weg nicht. Er ist lang und zehrend“, gab der Vogt zu bedenken, akzeptierte diese Entscheidung aber. „Boringarth wird uns begleiten und führen. Träger brauchen wir dann ja erst beim zweiten Abstieg.“ Der Offizier nickte zustimmend und gab seinen Soldaten Zeichen, dass sie sich erst einmal nicht gebraucht wurden.

Wenig später führte Boringarth die Gruppe in den Gesindetrakt des Palas und von dort über eine unscheinbare, wenn auch breite steinerne Stiege hinab in die Keller der Burg. Nach einer Kehre ging es eine weitere Treppe hinab in die zweite, unterirdische Ebene. Sicher sechs Meter Fels mochten über dem Niveau des Ganges liegen, den sie daraufhin nahmen, um an vielerlei verschlossenen Holztüren vorbei in ein geräumiges Gewölbe zu gelangen. Dutzende kleinere und größere Fässern lagerten hier, waren auf Böcke gelegt und mit Zapfhähnen versehen oder standen aufrecht. An Haken an den Wänden hingen Hartwürste und gepökeltes Fleisch. Brot- und Käselaibe lagerten in Regalen. Es roch nach alledem, aber auch leicht säuerlich und unzweifelhaft nach Bier, was fast schon zu vermuten gewesen war. Ihr Führer durchmaß das Gewölbe und hielt erst vor einer nur grob gehauenen Felswand, vor der unzweifelhaft eine Mauer gestanden hatte. Deutlich waren deren Umrisse auf dem Boden, Wänden und der Decke zu erkennen. In der Wand klaffte ein Loch von gut zwei Schritt Durchmesser. Marbolieb verspürte einen leichten, kühlen Windhauch. Klare, frische Luft drang von unten, zu ihnen hinauf. Sie erwartete also zumindest keine stickige Finsternis. Die kleine Priesterin hielt sich am Arm von Amalvin fest, der sie mehr oder minder erfolgreich über den sauber behauenen Boden bugsierte. Sie war von der gesamten Gruppe die langsamste und hatte ihre liebe Mühe, deren geschwinden Schritten nachzukommen, auch wenn diese immer wieder stehenblieben und auf sie warteten. Nach den ersten Treppen und Gängen hatte sie aufgegeben, zu versuchen, sich die Richtung zu merken. Diese elendiglichen Kopfschmerzen und die ständig laufende Nase rangen mit den Treppenstufen, die wahre Stolperfallen waren, zu rechten Teilen um ihre Aufmerksamkeit. Der Graumantel hatte darauf verzichtet, eine Laterne mitzunehmen, vertraute diesbezüglich seinen Begleitern und hielt sich seine Waffenhand frei. Auch wenn er ziemlich zuversichtlich war, in den oberen Gängen nicht auf irgendwelche Monster zu treffen, so blieb er lieber auf der sicheren Seite. Er wandte wiederholt den Blick nach oben, wo in einigen Ecken beeindruckende weiße – und im Bierkeller sogar tiefschwarze – Bahnen aus Webfäden von der Decke hingen und versuchte sich auszumalen, wie groß die Achtbeine wohl waren, die selbige fabriziert hatten. Unwillkürlich schloss sich seine Hand um den beruhigen soliden Griff seines Rabenschnabels, während er mit der anderen den Unterarm der kleinen Geweihten umfasste und diese durch die Kellergänge steuerte.

Richild schritt zusammen mit Boringarth voran, die Umgebung mit aufmerksamem (und meistenteils neugierigen) Blicken musternd, ohne aber größere Feinde auszumachen als eine feiste, graue Maus, die beim Näherkommen der Wanderer rasch hinter ein dickes Fass huschte. Hinter dem Durchbruch lag ein steil abfallender Gang. Stufen waren in das Gestein gehauen worden. Die einzelnen Absätze waren tief und besaßen eine Höhe, die die Zwerge schnell zum Fluchen brachte. Die Stufen waren für menschliche Anatomie geschaffen worden, nicht für die kurzen Beine der Angroschim. Etwa eine Viertelkerze stiegen sie so hinab. Nur selten machte die Treppe eine Richtungsänderung mit. Kleinere Tunnel kreuzten ihren Weg, teilweise nur handbreit, manchmal jedoch auch so beschaffen, dass man in sie hätte hineinkriechen können. Boringarth jedoch schritt an ihrer Spitze zielsicher weiter abwärts und würdigte dies kaum eines Blickes. Irgendwann jedoch hielt der Offizier inne und brachte damit den gesamten Zug zum Halten. Er betrachtete wiederholt die Karte, nickte und wandte sich dann zu den anderen um. “Wir sind gleich unten angelangt. Ich bitte darum, keinen Lärm zu machen und die Laternen und Fackeln nicht ruckartig zu bewegen. Es gibt große Verbände von Fledermäusen hier unten. Wem der Gestank ihrer Ausscheidungen zu widerwärtig wird, möge sich ein Tuch vor den Mund binden. Da die Luft hier unten glücklicherweise nicht steht, sind die Dämpfe harmlos, wenn auch unangenehm. Wir haben noch etwas mehr als zweihundert Schritte vor uns bis zu unserem Ziel, wenn wir gleich die Höhlen erreicht haben. Bitte folgt mir und weicht nicht vom Weg ab. Das hier unten ist ein Labyrinth.” Marbolieb seufzte erleichtert, als die Gruppe kurz rastete, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Marsch mit den vielen Treppen war anstrengend und kräftezehrend – der Vogt hatte hier nicht zu viel versprochen. Den Übergang in die Höhlen konnte Marbolieb direkt hören – der Hall der Schritte zwischen den Gangwänden war ein anderer als in den Kellerräumen, und wieder anders klangen die natürlichen, fast unbearbeiteten Höhlen. Sie nieste bekräftigend und fischte in ihrem Ärmel nach ihrem Schnupftuch. Von dem Gestank, den der Dung der Fledermäuse aussandte, hatte sie nichts mitbekommen.

Amalvin brummte „Wenn uns hier unten die Lampe ausgeht, haben wir wirklich ein Problem.“ Er warf Boringarth und der Landmeisterin, die solche Gedanken so gar nicht zu schrecken schienen, einen stirnrunzelnden Blick zu, ehe er die ersten Schritte in die Fledermausscheiße tat. Doch Borindarax beschwichtigte sogleich. „Keine Sorge, wir haben ausreichend Lampenöl in Reserve und zur Not auch noch langlebige Fackeln.“ Er nickte in Richtung von Atosch und Roglamox, welche schwere Rucksäcke trugen. Die beiden Angroschim waren gemeinsam mit Andragrimm am Ende ihres Zuges gelaufen.

Die Höhlen waren am besten mit einem durchlöcherten Käse zu vergleichen. Eine Aushöhlung im Fels führte in die nächste, sie waren niemals gleich und ihre Wände natürlich schroff. Unzählige kleine Gänge durchbohrten Wände, Böden und Decken des Gesteins. Wind stieß aus den Öffnungen, pfiff und wechselte permanent Richtung und Intensität. Die Gefährten erhaschten immer wieder Blicke auf ganze Fledermaushorden, die an den Decken hingen, wenn diese denn einmal so tief herabreichten, dass ihr Licht sie zu erreichen vermochte. Der Geruch ihrer Exkremente konnte tatsächlich die Nasen reizen, war aber erträglich. Unangenehmer war der klebrige Schmutz am Boden, durch den sie manchmal fingertief marschieren mussten. Kurz vor dem angestrebten Ziel war die Gruppe gezwungen, eine Höhendifferenz zwischen zwei aneinanderlegenden Höhlen zu überwinden. Etwa vier Schritt kletterten sie nacheinander herab, doch war es nicht steil oder der Boden trotz Fledermauskot nicht glatt genug, als dass daraus hätte eine Gefahr erwachsen können. Unten angelangt hatte sich eine Veränderung eingestellt. Feiner Sand bedeckte den Höhlenboden und ließ ihre Stiefel fingertief einsinken. Die Kaverne hatte die Ausmaße eines Immanfeldes, besaß jedoch in weiten Teilen eine relativ tiefliegende Decke. In ihrer Mitte lag ein einzelner, oben abgeflachter Stein von etwa zwei Schritt Durchmesser. Über ihm hing ein riesiges, seltsames Gebilde. Seine Unterseite war etwa zwei Mannslängen vom Boden entfernt. „Könnt ihr das besser ausleuchten?“ Richild legte den Kopf in den Nacken, hob unwillkürlich ihren Schild und betrachtete das Ding aus zusammengekniffenen Augen. Auf den ersten Blick erinnerte es fast an ein Wespennest – doch ließ sich dies in dem fast undurchdringlichen Dunkel nur schwer ausmachen. Der Vogt und auch Boindil traten mit ihren Laternen in der Hand tiefer in die Kaverne und versuchten den Wunsch der Landmeisterin zu erfüllen. Sie wählten ihren Weg so, dass sie sich beständig voneinander entfernten, um das seltsame Gebilde an der Decke so möglichst von zwei Seiten anzuleuchten. Richhild fand sich in ihrer ersten Annahme bestätigt. Das Ding sah tatsächlich so aus wie ein Insektennest, nur dass es einen Durchmesser von sicher zweieinhalb Schritt besaß und sich somit weit außerhalb von alledem befand, was sie je gesehen oder von dem sie gehört hatte. Unwillkürlich öffnete sich ihr Mund, als sich versuchte, das gewaltige Ding, das bereits seit Hunderten von Jahren hier hängen musste, zu erfassen. Gebannt von dem Gebilde stand sie da und beschränkte sich auf das Schauen. Neugierig trat auch Amalvin einige Schritte vor, verharrte aber urplötzlich, als ihm klar wurde, worum es sich bei dem Gebilde handelte. „Ihr Götter!“ flüsterte er. Marbolieb stolperte, als der Graumantel so unerwartet stoppte, und klammerte sich an den Arm des zwei Köpfe größeren Kriegers, um ihr Gleichgewicht zu wahren. Verdattert wandte sie sich ihm zu. „Was ist? Was seht ihr?“ „Ein übermannsgroßes Wespennest.“ Amalvin streckte sich und legte den Kopf in den Nacken. Bewegte sich da nicht etwas hinter den bleichen, wellenförmigen Schichten? Er kniff die Augen zusammen und zuckte mit den Schultern. „Es sieht aus, als könne es brennen.“ bot er an. „Wollen wir es ausprobieren? „Hm.“ Die Landmeisterin strich sich über ihren Kopf. „Wegmachen müssen wir es, so oder so.“ Doch in ihren Augen glomm ein durchaus interessiertes Funkeln. „Wollt ihr nicht zuerst versuchen, es abzunehmen? Vielleicht wäre es auch besser, zuerst die alten Kultgegenstände abzunehmen, ehe wir den Raum neu segnen?“ Marbolieb klang nicht überzeugt. Sie lauschte in die Dunkelheit, ob sie irgendetwas spüren würde, das ihr einen Aufschluss über den Raum – und mögliche noch hier verweilenden Wesenheiten – geben könnte. „Aber es geht bestimmt einfacher, wenn wir zuerst aufräumen.“ Die Landmeisterin beäugte mit schief gelegtem Kopf noch immer das gewaltige Nest.

„Was ist hier sonst noch? Wie sieht es hier aus?“ beharrte die jüngere der beiden Geweihten, wohl wissend, dass ihr die Ältere an Erfahrung einiges voraus war. Dennoch– hier loszuwüten, ohne vorher sich einen ordentlichen Überblick verschafft zu haben, widerstrebte Marbolieb zutiefst. Sie bestätigte die Aussage mit einem kraftvollen Niesen, das die ganze kleine Frau schüttelte, und schwieg auffordernd. „Niemand setzt hier irgendetwas in Brand!“ Die Stimme des Vogts, der inzwischen auch nähergetreten war, klang leicht erbost. „Diese Entscheidung obliegt ganz allein mir. Segnet diesen Ort und begrabt die Gebeine, aber habt Respekt vor der Vergangenheit. Ich will diesen Ort so erhalten wie er ist“, er ließ keinen Zweifel an seiner Autorität. „Es könnte auch noch bewohnt sein. Bei dieser Kälte sind die Insekten aber wahrscheinlich inaktiv. Jedes von Tsa erschaffene Lebewesen hat ein Recht darauf, zu existieren.“

Marbolieb indes nahm auf einmal etwas gänzlich anderes wahr, als sie dem Nest näher kam. Sie sah. Nach und nach erschienen nun durchscheinende, aus ihrem innersten heraus leuchtende Gestalten, versammelten sich in der Höhle um die Lebenden, die sie nicht wahrnehmen konnten, zu empfangen. Dutzende von Geistern, alle besaßen die das vage äußerliche Erscheinungsbild von Soldaten in borparanischen Rüstungen. Ihre Helme jedoch waren weniger prunkvoll, als bei dem Centurio, den Marbolieb bereits im alten Heiligtum gesehen hatte. Sie gruppierten sich um den Stein und das Nest darüber, das die Geweihte nun auch, als ein großes, pulsierendes Objekt, erkennen konnte. Auch das Wispern, dass sie aus der vergessenen Kultstätte bei Sturzenstein kannte, setzte nun wieder ein. Doch schien es nun aus vielen Quellen zu stammen. Noch bevor sie einzelne Worte heraushören konnte, spürte sie ein unerfülltes Bedürfnis. Das Verlangen nach Vollkommenheit … nein, Gemeinschaft. „Briiiingt siiiiie heraaaaab“, schien es fast gleichzeitig aus vielen Kehlen zu tönen und Marbolieb war geneigt, es nicht als Bitte, denn als Forderung zu interpretieren.

Vollkommen fassungslos betrachtete die Landmeisterin den Vogt, ehe sie mit einer entschiedenen Geste ihren Mund wieder schloss und kräftig durchatmete. „Um diesen Grund als Grabstätte einzusegnen, müssen die Ritualgegenstände früherer Götter hier weg, Hochgeboren. Oder zumindest müssen die umgewidmet werden. So kann das nicht bleiben.“ Sie schnaufte und verschränkte die Arme. „Sonst wird das nichts.“ Borindarax schnaufte. Er war aufgebraucht. „Es ist ein Insektennest. Wie kommt ihr darauf, dass es ein ‚Ritualgegenstand‘ ist? Wollt ihr den großen Stein hier auch herausschaffen, oder in kleine Brocken hauen? Na, dann wünsche ich euch viel Spaß damit. Denn er ist wohl eher Mittelpunkt von Kulthandlungen gewesen, er ist bearbeitet worden, das kann man deutlich sehen.“ Ohne Zweifel, der Vogt war ein Dickkopf, ein zwergischer Dickkopf. Borax trat noch weiter an den abgeflachten Stein unter dem Nest heran. „Seht, er besitzt Blutrinnen“, brachte er immer noch gereizt hervor und deutete dabei auf die Vertiefungen in der Oberfläche. Richild zuckte die Achseln. „Wir weihen ihn neu. Die Blutrinnen stören da nicht. Aber das Insektennest gehört nicht auf einen Boronsanger – die alten Insektengötzen haben damit nichts zu schaffen.“ Sie legte den Kopf schief und betrachtete den Vogt. „Wenn ihr das Ketzerheiligtum in eurem Keller lassen wollt, kann ich euch nicht hindern – auch wenn ich persönlich dies äußerst bedenklich finde. Aber ich werde so hier weder ein Begräbnis vollziehen noch einen Segen sprechen.“ Sie blieb breitbeinig stehen, die Arme verschränkt, und betrachtete den Vogt mit kalten, ruhigen Augen. Das Glosen, was Marbolieb von der Decke her wahrnahm, wurde derweil intensiver, während die geisterhaften Abbilder der toten Soldaten immer näher rückten. Sie erweiterten ihren Kreis kontinuierlich, traten den näherkommenden Menschen und Zwergen entgegen, schritten an ihnen vorbei und kreisten jeden einzelnen von ihnen ein. Die durchscheinende Gestalt einer Frau mit Schild und kurzem Speer in den Händen schien zu erkennen, dass Marbolieb sie wahrnehmen konnte und ging direkt auf sie zu. Mit ein paar schnellen Schritten stand sie unmittelbar vor der Geweihten, die in diesem Moment zur Regungslosigkeit verdammt war. Die Faszination dessen, was sie sah, fesselte sie zu sehr. Eine fatale Begebenheit. Der Pilum, die Waffe der Leginärin, berührte Marbolieb nur ganz sachte an der Brust, doch die Folgen waren angsteinflößend. Eine Taubheit ergriff von diesem Punkt ausgehend Besitz vor ihrem Körper. Schon meinte sie, ihr Herz setze einige Schläge aus. Die Geweihte taumelte einige Schritte zurück und fiel auf den Hosenboden. Dann ließ der Effekt nach, doch hatte sie kurzzeitig das Gefühl, jemand würde ihr die Kehle zuschnüren. Marbolieb japste nach Luft und versuchte ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Marboliebs Hände gruben sich in den Sand, während sie verzweifelt um den nächsten Atemzug rang. Sie bemerkte nicht, dass der hochgewachsene Golgarit neben ihr in die Hocke ging und ihr vorsichtig unter die Arme griff. Ihre Haut fühlte sich heiß an, und dennoch hatte sie Gänsehaut auf den Armen. „Zu .... viele ... Geister.“ brachte sie abgehackt hervor.

Der Vogt war während Richilds Erwiderung durch Marboliebs Hinfallen abgelenkt und sah nun leicht abwesend zu, wie Amalvin und Roglamox der Geweihten wieder aufhalfen. Hören was sie sprachen konnte er nicht. Sie sprachen zu leise und waren auch etliche Schritte entfernt. Als Borindarax dann den Blick erneut auf die Landmeisterin richtete, schien sein Zorn verflogen zu sein. Er stutzte, als seien die Worte der Landmeisterin jetzt erst bei ihm angekommen. “Insektengötzen”, stieß er fragend hervor. “Ihr meint Mokoscha oder dergleichen?” Unglauben stand in seinem Gesicht geschrieben. Kurz schien er nachzusinnen, doch dann machte eine unwirsche, wegwerfende Handbewegung, als wolle er das Thema beenden. “Meinetwegen, wenn ihr glaubt, dass dieses Nest im Mittelpunkt irgendwelcher Götzenanbetung stand. Aber ich will keine Verwüstung. Gefährliche Gase existieren hier unten höchstwahrscheinlich nicht, Feuer wäre also möglich. Bedenkt aber, dass der Qualm uns hier unten stark zusetzen kann. An Rauch kann man leicht verenden unter Tage. Man wird bewusstlos und erstickt einfach.” Borax wandte den Kopf zu dem mehrere Schritt über ihnen hängenden Insektenbau und lachte kurz auf. “Ein Glück für euch, dass es so kalt ist. Ich möchte wetten, dass die kleinen Tierchen sonst sicher etwas dagegen ‘einzuwenden’ hätten, sich ausräuchern zu lassen.”

Unterdessen schritt die geisterhafte Legionärin wieder auf Marbolieb zu, ihren Speer bedrohlich im Vorhalt und unzweifelhaft auf sie gerichtet. Erneut vernahm die Geweihte ein Wispern. Sie konnte jedoch wegen den anderen Gesprächen um sich nur den Begriff ‘Zeichen’ und das wiederholte ‘herunterbringen’ aus dem altbosparanischen Wörtern heraushören. Im Rücken der durchscheinenden Frau spie das glosende Gebilde an der Decke etwas aus. Der Auswurf leuchtete unstetig, ja es erschien Marbolieb fast, als glitzere er. Gleichzeitig erscholl ein Summen, dass nur mit einem zu deuten war: Dem Flug tausender Wespen oder gar der noch größeren Hornissen. Das was nach ihrer Wahrnehmung somit ein Schwarm von beträchtlicher Größe sein musste, teilte sich in viele kleinere Verbände und entschwand in alle Himmelsrichtungen, bis die Dunkelheit, oder für Marbolieb die darin nicht sichtbar liegende Öffnungen im Fels der Höhle sie verschluckten. Als das Summen verklungen war erkannte die Geweihte, dass auch das Glosen unter der Höhlendecke verschwunden war. Denjenigen aber, die mit ihren Sinnen ganz und gar in der Sphäre der Lebenden verhaften waren, blieb dies Ereignis verborgen. Die kleine Priesterin starrte fassungslos von der Höhlendecke zu der Legionärin, die mit dem Speer vor ihr stand. Ihre Lippen formten ein entsetztes ‚Nein’ und sie begann, am ganzen Körper zu zittern. „Heh, was ist mit dir?“ Amalvin fasste die Geweihte an den Oberarmen und drückte sie, in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen. Die Augen der Frau weiteten sich entsetzt, als sie die Legionärin einen weiteren Schritt auf sie zutun sah, und sie versuchte, rückwärts auszuweichen. Erneut brachte der Geist seine Forderung vor und diesmal verstand Marbolieb ihn zur Gänze: „Bringt das Feldzeichen herunter.“ Die Legionärin blieb stehen, ließ die Spitze des Pilum auf Amalvin schwenken und zeigte ein wölfisches Grinsen, soweit es bei der geisterhaften Erscheinung auszumachen war.

Die Landmeisterin hingegen war keinen Zoll zurückgewichen. „Wie wir das Nest beseitigen, ist mir egal.“ Sie betrachtete den steinernen Altar und schätzte die Höhe ab – mit etwas Glück und einer Stangenwaffe würde es reichen ... oder mit einer Räuberleiter. „Wenn ihr sagt, dass Feuer hier unten keine gute Idee ist, lassen wir das. Und glaubt ihr, dass hier nach über tausend Jahren noch etwas lebt?“ Nun huschte der Unglauben über ihre Züge. Sie stellte ihren Rucksack auf den Boden und begann, die benötigten Utensilien herauszuräumen. „Ich werde einen Schutzkreis um den Altar legen. Dann können wir versuchen, den Bienenstock abzunehmen. Das wird vielleicht ein Stundenglas dauern. Wenn wir das haben, fangen wir mit der Umwidmung an – das wird ein bisschen dauern.“ Der Vogt machte einen unschlüssigen Gesichtsausdruck. „Wer weiß das schon. Zugegebenermaßen kenne ich mich mit Insekten auch nicht sonderlich gut aus. Wir Angroschim haben lediglich unsere Reibereien mit allzu besitzergreifenden Höhlenspinnen. Die Viecher können eine echte Plage sein und überaus aggressiv, wie ihr selbst feststellen durftet. Wespen sind seltener und kein großes Ärgernis.“ Borax seufzte, nun scheinbar doch wieder etwas angesäuert von dem geplanten Vorhaben. „Sei es drum. Zieht euren Schutzkreis und dann sehen wir weiter.“ Als Borax geendet hatte trat Boringarth an die Seite Richilds und sah zum Mittelpunkt der Höhle. „Ich schätze, es sind knapp vier Schritt vom Stein bis zum Nest. Soll ich jemanden hochschicken und zwei Mann mit Hellebarden herunterkommen lassen? Vielleicht findet sich aber auch etwas noch Längeres. Bauholz haben wir ja gerade genug auf der Burg.“ Der Offizier legte den Kopf schief. „Bei allen anderen Methoden liegt ihr wohlmöglich drunter, wenn das Ding von der Decke fällt.“ „Eine gute Idee – tut dies.“ Die Aussicht, nicht unter dem papierenen Wespennest begraben zu werden, sorgte dafür, dass ich die Mundwinkel Richilds spontan hoben. „Nicht drauftreten.“ fügte sie sicherheitshalber hinzu, als sie begann, mit einer Mischung aus geweihter Asche und Graberde einen großzügig bemessenen Kreis um Altar und Ding darüber zu ziehen. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie ein Gebet zum Schutz gegen Geister und Götzenmacht an den Unergründlichen richtete. “Ich gehe”, warf Andragrimm ein, bevor jemand anderes etwas sagen konnte. “Ich begleitete dich.” Atosch stellte sich an die Seite des Kriegers. „Habe auch schon eine Idee für ein passendes, improvisiertes Werkzeug. Wir nehmen lange Latten. Oben sägen wir eine tiefe Aussparung rein. Darein setzt wir die Stiele von Spitzhacken und bindet sie fest”, führte er seine Idee aus. “Damit könnt ihr in das Nest schlagen und dran ziehen, bis es sich löst.”

„Nein! Nicht!!“ Der Schrei Marboliebs, die sich jäh mit ihrem gesamten Gewicht an Amalvin hängte und versuchte, diesen zur Seite zu schieben, hallte durch die Kaverne. „Lass ihn in Ruhe!“ Alle in der Höhle drehten sich mehr oder minder ruckartig zur Geweihten um. Fragende bis besorgte Blicke trafen sie. Marbolieb jedoch vermochte diese nicht zu erwidern, sie vermeinte nur, sie spüren zu können. „Was geht hier vor“, fragte der Vogt. Er war der erste, der seiner Sorge Ausdruck verlieh und gleichzeitig die Hand an den Griff des Drachenzahns legte, der in einer verzierten Scheide am Gürtel hing. Die einzige, die nicht auf den Schrei reagierte, war die Landmeisterin. Tief ins Gebet versunken vollendete die den Schutzkreis, darauf vertrauend, dass die Zwerge und Amalvin Herr der Ursache des Getöses werden würden. Marbolieb sank zu Boden, eine Hand abwehrend vor sich gestreckt. „Lass ihn in Ruhe!“ wiederholte sie mit zitternder Stimme, die Augen weit aufgerissen, als stände vor ihr eine schreckeinflößende Bestie. Der Graumantel blickte sich um, eine Hand am Griff seines Rabenschnabels, und zuckte schließlich die Schultern. Außer dem Nest war hier nichts. Seufzend griff er der kleinen Geweihten unter die Arme und zog sie hoch. Er legte ihr die Hand auf die Stirn und schüttelte den Kopf. „Sie ist ganz heiß. Andragrimm, kannst Du sie mit nach oben nehmen?“ „Nein!“ Marbolieb klammerte sich mit beiden Händen an Amalvins Unteram fest. „Du siehst sie nicht! Aber sie sind hier! Viele! Sie sind gefährlich! Amalvin!“ „Ihr habt Fieber, euer Gnaden. Und ihr seid uns hier keine Hilfe.“ Energisch hielt er die sich windende Frau fest. „Die Landmeisterin hatte recht – wir hätten euch nicht holen dürfen.“ Andragrimm, so angesprochen, zuckte nur mit den Schultern und wollte zu sprechen ansetzen, doch Roglamox kam ihm zuvor. „Geister“, rief der Zwerg und sah sich hektisch um. „Sie kann nur Geister meinen!“ Nun kam auch Bewegung in die anderen Angroschim. „Zum Ausgang“, brüllte Borindarax und die anderen folgten. Rückwärts gehend und unsicher ins Zwielicht starrend schritten sie auf den Durchgang zu, aus dem sie gekommen waren. „Folgt uns Graumantel und bringt die Landmeisterin mit.“ Die Stimme des Vogts war unsicher. Er glaubte anscheinend nicht, dass die Golgariten ihm folgen würden. Der letzte der Zwerge, der den Rand der Kaverne erreichte, war Andragrimm. Er hing hinterher, weil er der Bitte Amalvins nachgekommen war und nun Marbolieb vor sich auf den Armen trug. Mit gezogenen Waffen bildeten die Zwerge einen Halbkreis unterhalb des Tunnels zur höhergelegenen Höhle. Atosch stand hinter ihnen, legte ein Seil mit Wurfhaken zusammen, um es zu werfen. Es würde als Aufstiegshilfe dienen. „Lasst mich los!“ Überraschend kräftig kämpfte die kleine Priesterin gegen den Griff Andragrimms an. „Ich muss ihnen helfen! Ich habe es versprochen!“ Sie versuchte, sich aus den Armen des Zwergen zu winden und wieder zu Boden zu gelangen. Der Krieger jedoch blieb beharrlich. Sich seinem Griff zu entwinden war für die zierliche Geweihte unmöglich.

Von ihrer neuen Position aus konnte Marbolieb sehen, dass die Geister allesamt ihre Waffen gesenkt hatten. Ihnen war der Abzug der Zwerge offenbar recht. Auch Amalvin blieb nun unbehelligt. Einzig um die Landmeisterin hatte sich eine große Traube durchscheinender Gestalten gebildet. Aggressiv drangen sie auf Richhild ein, jedoch verblich ihre Gestalt jedes Mal, wenn sie der Geweihten, die tief ins Gebet versunken war, zu nahe kamen. Dies schloss ihre geisterhaften Waffen mit ein. „Lasst mich los.“ keuchte die Geweihte, von Husten unterbrochen, klammerte ihre Hände um den kräftigen Unterarm des Kriegers und versuchte abermals, aus seinem Griff zu entkommen. Sie konnte sehen, wie die Landmeisterin den Kreis schloss und die verbliebenen Geister hinter die Absperrung zurückwichen. Eine große, schweigende Gruppe versammelte sich, die Waffen im Anschlag, abwartend.

„Rondranocheins!“ donnerte der Graumantel, der von dem Hin und Her vollkommen überrumpelt wurde. „Bleibt gefälligst hier! Was meint ihr denn, was wir hier machen?“ Er holte tief Luft. „Wenn es hier jetzt Geister geben sollte, sind die weg, wenn wir hier fertig sind.“ So ganz langsam begann er, die Verzweiflung seiner Ordensoberen zu verstehen, wenn sie im Umgang mit unbedarften Bürgern an ihre Erklärungsgrenzen geriet. Energisch schüttelte der Vogt den Kopf. „Ihr mögt den Umgang mit Widergängern gewohnt sein, wir hingegen sind es nicht. Ebenfalls vermögen wir nichts gegen sie auszurichten. Ich werde hier mit etwas Abstand ausharren, gemeinsam mit Boindil und Roglamox. Andragrimm und Atosch werden nach oben gehen und tun, was ihnen aufgetragen wurde. Was ist mit ihrer Gnaden und sollen sie die Gebeine und die Standarte herunterbringen lassen?“ Amalvin warf einen Blick auf die Landmeisterin, die sich mit einem sehr abwesenden Gesichtsausdruck aufrichtete und ihre Schultern dehnte. Sie legte eine Hand auf den Altar, blickte nach oben und begann dann, vier flache Schalen und einen Weihrachschwenker vor sich auszubreiten, in die sie Räucherkohlen legte. Müßig versuchte sie, Feuer zu schlagen, was ihr erst nach gut einem Dutzend Versuche gelang. „Bringt es herunter – ich denke, sie wird es bald brauchen können. Und ihre Gnaden nehmt mit – die gehört mit einer heißen Tasse Tee zwischen die Laken.“

„Lasst mich hier!“ flehte die Boroni den Zwergenkrieger an, der sie in den Armen hielt. „Ich kann hier nützlich sein – die anderen verstehen sie alle nicht!“ Sie wand sich in seinen Armen und versuchte abermals, zu Boden zu gelangen. „Bitte!“ flehte sie. Die Augen des Vogt verengten sich, so dass seine Augenbrauen nahe zusammenrückten. Amalvin erkannte aufwallenden Zorn. Die Landmeisterin hingegen war zu weit weg, um Regungen in seinem Gesicht zu erkennen, abgesehen davon, dass sie in ihre eigene Tätigkeit vertieft war und keinen Blick für die Gruppe übrig hatte. Borindarax wandte sich um. „Du verstehst, dass ich der Ordenshauptfrau in dieser Sache kaum wiedersprechen mag“, sagte er zu Marbolieb. „Aber du könntest mir verraten was du zu sehen vermagst, vielleicht ändert das ja meine Meinung.“ Der Zwergenkrieger auf dessen Armen die Geweihte lag, seufzte leicht genervt, als er erkannte, dass sich ihr Aufbruch weiter verzögern würde. Andragrimm setzte Marbolieb sachte auf dem Boden ab und gab ihr so die Möglichkeit, besser zu sehen. Erleichtert seufzend atmete die Priesterin durch, schwankte, griff ins Leere und setzte sich auf den Hosenboden. „Die Geister von vielen Legionären sind hier.“ Sie blickte in Richtung des Altars, um den sich am äußeren Rand des Schutzkreises eine große Menge durchscheinender Gestalten versammelt hatte, die ihre Waffen schwenkten und merklich nicht gut auf die Landmeisterin zu sprechen schienen. Doch jeder Versuch, den Kreis zu überschreiten und sie zu berühren, endete damit, dass die Speere und Schwerter durchscheinender wurden und zu Nichts verschwammen. „Ich kann mit ihnen reden. Sie wollen das Feldzeichen. Und wer weiß was noch.“ Ernst nickte Borindarax auf diese Antwort hin. Weiterhin zu Marbolieb blickend gab er Anweisung, ohne lange zu überlegen. “Andragrimm, Atosch, eilt euch. Bringt alles herunter, was wir aus dem alten Heiligtum mitgebracht haben. So leid es mir tut“, der Vogt drehte sich um und sah zu Amalvin herüber. „Wir brauchen ihre Gnaden hier unten. Da sie scheinbar die einzige ist, die im Notfall Kontakt aufnehmen kann, ist sie hier unabkömmlich. Marbolieb“, Borax Stimme wurde nun wieder ruhiger. „Bitte informiere uns über jede Veränderung, jedes aggressive Verhalten und wenn sie uns zu nahe kommen sollten. Wir werden hier am Rand der Höhle warten, bis die anderen zurück sind.“ Die beiden zwergischen Krieger nahmen derweil ihre Sachen auf und machten sich ohne ein weiteres Wort an den anstrengenden Aufstieg. Die Geweihte hustete, nickte und betrachtete die Gruppe durchscheinender Gestalten, die sich um die Landmeisterin scharten. Zumindest war es wahrscheinlich, dass diese das Zentrum des Interesses der Geister war, die sich immer dichter klumpten, doch für die Gruppe am Eingang nur ein halbes Dutzend Wachen abstellten, die sich in vielleicht drei Schritt Entfernung vor den Zwergen aufbauten. „Sie bewachen uns. Aber sie kommen nicht näher.“ Berichtete sie. Kalt war es, umso kälter, je näher die Geistergestalten kamen. Sie zog die Enden ihres Mantels enger und betrachtete die Wesenheiten mit geweiteten Augen. Fast meinte sie, die niederhöllische Kälte der Widersacherin des Raben durch ihre Glieder kriechen zu spüren, und hörte nur zu deutlich den Lockruf, der all diesem zugrunde lag. ‚Sieh, wie leicht es sein kann. Und wie einfach. Törichte Närrin ... .’

Richild hatte inzwischen die Räucherschalen entzündet, platzierte sie an den vier Seiten des Altars und warf je eine großzügige Prise einer Mischung aus verschiedenen Kräutern und Harzen auf die Glut. Den Schwenker selbst bestückte sie mit Splittern aus Ebenholz und Harz, hob ihn auf und begann, mit geübten Bewegungen die feinen Rauchfäden, die ihm entstiegen, am Rand des Schutzkreises zu verteilen. Noch immer bewegten sich ihre Lippen in einem stillen Gebet, und ihre Augen waren halb geschlossen. Wo sie schritt und wo der Rauch der Opfergabe auf sie traf, teilten sich die Geistererscheinungen wie Nebel, durch den ein Lufthauch zog. Scheinbar eine endlose Zeit war die Landmeisterin unterwegs, machte Pausen, und schritt erneut das Rund ab. Still wurde es in der Halle, bis sie mit einem Mal stehen blieb, den Blick auf die Gruppe richtete und leise, aber dennoch deutlich vernehmbar sprach ‚komm her.“ Der Graumantel tauschte einen verwirrten Blick mit Marbolieb und dem Vogt und hob die Schultern. Die Landmeisterin hatte sich währenddessen wieder dem Altar zugewandt, nahm das Salböl zur Hand und zeichnete mit ihm ein Muster auf die Oberfläche des Steins. „Was beabsichtigt sie mit der Aufforderung?“ Borindarax wirkte verwirrt, ob der Worte der Landmeisterin. „Ruft sie uns oder die Geister zu sich?“ Der hob als Antwort die Schultern– und machte sich dann vorsichtig auf den Weg zu seiner Landmeisterin. Diese unterbrach kaum ihre Handlung, drückte Amalvin die Ketten des Rauchschwenkers in die Hand und fuhr dann fort damit, ein Boronsrad auf den Stein zu zeichnen.

Etwas mehr als zwei Stundengläser später vernahm man in der großen Höhle zunächst sich schnell nähernde Schritte. Kurz darauf fiel bereits Lichtschein von oberhalb des Durchgangs zu ihnen herab. Die Zwerge waren zurück, unzweifelhaft, denn sie begannen sich durch den Verbindungstunnel hindurch in ihrer Muttersprache zu unterhalten. Ohne weitere Verzögerung wurden dann große Säcke an Seilen hinabgelassen. Es waren sechs in Summe. Darin mussten die einzelnen, eingeschlagenen Decken und die kleineren Säcke mit den Knochenfunden stecken, die sie in Sturzenstein auf die Schlitten verladen hatten. Als alles unten war, rutschten Andragrimm und Atosch die Schräge hinab. Sie sahen abgekämpft aus. Die Haare klebten ihnen schweißnass auf dem Haupt und sie atmeten schwer. Atosch blieb unten angekommen auf dem Boden sitzen, den Rücken an die Felswand gelehnt. Sein Begleiter hielt sich aufrecht, aber man sah ihm an, dass es bloßer Willen war, die ihn auf den Beinen hielt. „Die anderen warten oben. Sechs Mann sind mit uns herabgestiegen. Sie helfen uns später wieder ans Tageslicht“, sprach er stoßweise an den Vogt gerichtet. Im Rücken Andragrimms wurde unterdessen ein weiteres Mal ein Seil herabgelassen. An ihm hingen verknotet drei Holzlatten und die Standarte aus dem alten Heiligtum.

Mit dem Eintreffen der Gebeine und des alten Feldzeichens registrierte Marbolieb eine Veränderung bei den Geistern. Sie ließen von dem Schutzkreis und der Landmeisterin ab und richteten ihre Aufmerksamkeit auf das, was man in die Höhle hinabgeschafft hatte. Die durchscheinenden Gestallten versammelten sich zunächst um die Gruppe, die am Rand der Kaverne ausgeharrt hatte. Sie komplettierten den bereits existierenden Halbkreis von Geistern, behielten aber weiterhin eine gewisse Distanz zu den Lebenden. Nur wenige Momente nachdem sich alle eingefunden hatten vernahm die Geweihte wiederum ein Wispern aus vielen Mündern, das sich jedoch so stark überlagerte, dass sie es nicht zu verstehen vermochte. Dann, ohne Hektik und ohne jede Spur von Aggressivität bildeten die Geister ein Spalier bis hin zum Altar vor dem Richhild stand.

Ruhig und mit schlafwandlerischer Sicherheit trat Marbolieb vor, nahm die Standarte auf und trug sie, vor sich auf die Arme gelegt, bis zum Altar. Roglamox geleitete die Geweihte auf ihr Bitten hin, damit sie sicher Fuß vor Fuß zu setzen vermochte. Der Angroscho war nicht glücklich, dass es gerade ihn erwischt hatte, aber er wusste gleichzeitig auch, dass er der einzige war, den Marbolieb näher kennengelernt hatte in den vergangenen Tagen. Die Wahl war also nur logisch, waren sie doch fast eingespielt. Die Köpfe der geisterhaften Erscheinungen folgten ihrem Weg zur Mitte der großen Höhle und Marbolieb hatte den Eindruck, als würden viele von ihnen lächeln - ja, als geschehe genau das, was sie sich erhofft hatten. Das Spalier erschien ihr als eine Art Ehrbekundung für das Symbol, dem sie im Leben gefolgt sein mussten. Marbolieb überschritt den Schutzkreis mit einem großen Schritt und legte das Feldzeichen auf dem massiven Steinblock nieder, zwischen die noch immer rauchenden Schalen und mitten auf das Boronsrad aus Asche und Salböl, das die Landmeisterin in den vergangenen Stunden aufgebracht und immer wieder verfeinert hatte. Richild blickte aus ihrer Trance auf, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und begann, das Feldzeichen mit Asche zu bestreuen und das Boronsrad wieder zu vervollständigen. Nachdem sie fast einen Arm der Landmeisterin in die Seite bekommen hatte, trat Marbolieb vorsichtig einen Schritt zurück und kniete sich zwischen zwei Räucherschalen, darauf bedacht, der emsigen Landmeisterin aus dem Weg zu gehen. Amalvin füllte das Räuchergut nach, griff sich den Räucherschwenker und ging abermals den Kreis mit kleinen, vorsichtigen Schritten ab. Der Rauch der verbrannten Kräuter und Harze sammelte sich als feiner, leichter Nebel eine Handbreit über dem Boden. Hier, tief unter der Erde, fand sich kein Windhauch, der ihn zerteilt und vertrieben hätte. Unterdessen wurde der Vogt langsam nervös. Was ging vor sich? Was würde geschehen? Drohte ihnen Gefahr von den Geistern? Hatten die Golgariten und Marbolieb die Situation im Griff, kontrollierten sie das Geschehen? All diese Fragen quälten ihn. Von dem generellen Unbehagen aufgrund der Existenz der Geister einmal abgesehen. „Was sollen wir tun? In den Säcken sind Klappspaten. Können wir die Gebeine vergraben?“ bot Borindarax an. Die Untätigkeit strapazierte seine Nerven. Es dauerte ihm alles viel zu lang.

Seine Unruhe blieb nicht unbemerkt. Amalvin löste sich aus der Gruppe und trat zu den Zwergen, den Geruch nach aromatischem Rauch wie einen Mantel hinter sich herziehend. „Jetzt sollten wir das Nest abnehmen. Habt ihr die Stangen vorbereitet?“ „Haben wir“, brummte Atosch und kam damit dem Vogt zuvor. Der Angroscho reichte dem Graumantel drei Latten, die seiner Vorstellung nach bearbeitet worden waren. Sie besaßen tiefe Einkerbungen, in die Andragrimm und er selbst in der Zeit nach ihrer Rückkehr von der Oberfläche inzwischen Spitzhacken mit den Stielen voran eingesetzt und diese vertäut hatten. „Soll ich euch helfen?“ fragte Andragrimm den Golgariten mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. Ihm schien das Angebot selbst Unbehagen zu bereiten, indes er wohl nicht bereit war, sich dieser Empfindung zu beugen. Amalvin betrachtete die beiden tief versunken scheinenden Frauen und nickte. „Danke.“ Ohne weitere Worte zu verlieren schritten die beiden zum Altar, wo sich das nächste Problem bot– dessen Oberfläche war mit einem Boronsrad geziert, dass die Stiefel der beiden rasch verwischt hätten. Die Landmeisterin, die mit Schweißperlen auf den Schläfen und einem dunklen Leuchten in den Augen davor kniete, brauchte eine geraume Weile, bis sie auf die beiden reagierte und ihnen mit einem verwirrten Nicken bedeutete, zu tun was auch immer sie planten. Der Zwerg sah Amalvin daraufhin auffordernd an. „Spielen wir den Kammerjäger“, sagte Andragrimm fast schon frevelhaft laut über die von der Landmeisterin an den Tag gelegte boronische Schweigsamkeit hinweg. Der Krieger stellte die Holzlatte vor sich auf den Boden, so dass sie in die Höhe aufragte. Dann hob sie ohne weiteres Federlesen an und holte aus. Die Spitzhacke beschrieb eine einmalige Pendelbewegung und fuhr dann mit einem vernehmbaren Knirschen tief in das Insektennest hinein. Kleine und größere Teile, bis hin zu einem handtellergroßen Umfang fielen auf die Darunterstehenden herab. Die Hacke jedoch steckte tief im Nest. „Bereit wenn du es bist“, kommentierte Andragrimm, auf dessen Helm und Schulterplatten nun nicht nur Bruchstücke des Nestes lagen, sondern auch bedeutend kleinere Teilchen, Chitinpanzer von großen Insekten - Hornissen. „Dann auf.“ Amalvin blickte das Nest an, fasste ebenfalls um die Latte, nickte Andragrimm zu und zog. Mit einem Knirschen löste sich der Stiel des papierenen Gebildes, dessen Außenhülle unter der schieren Gewalt einriss. Graumantel und Zwerg wurden fast begraben von dem herabstürzenden Gebilde aus dicht aneinander gefügten Strukturen, die die Insektenbehausung gebildet hatten. Beide, sowohl Amalvin, wie auch Andragrimm machten einen Satz zurück und schafften es so gerade noch, sich in Sicherheit zu bringen. Der Aufprall auf den Altar indes barg eine zuvor unterschätzte Gefahr - eine enorme Wolke aus dichtem, jahrhundertealten Staub breitete sich in dem Moment rasend schnell aus, da das Nest durch den Aufprall gestaucht wurde und zerbarst. Sie hüllte den Bereich des Schutzkreises aus und brannte den sich darin Befindlichen in Augen, Nase und Lungen. “Geht es euch gut?” Der erregte Ruf Bordindarax' hallte zu der Gruppe um die Golgariten hinüber. Der Vogt und der Rest der Zwerge hatten den Blickkontakt zu den anderen verloren. Nur anhand ihrer Laternen, die durch den Staub wie große, gleißende Kugeln wirkten, wusste sie, dass sie noch da waren und konnten ihre Positionen erahnen. Als sich der Staub gelegt hatte, war ein großer Bereich der Höhle von einer Schicht Staub bedeckt, die immer dicker wurde, je näher man dem Zentrum kam, die der Altar bildete. Dies schloss den Bereich mit ein, indem der Schutzkreis gelegt worden war. Die Landmeisterin spürte aber dennoch, dass alles so bestellt war, wie sie es sich erhofft hatte.

Die letzten feinen Staubpartikel tanzten flimmernd im Licht der Laternen und machten die Luft papiertrocken. Marbolieb hustete und rang nach Luft. „Was war das?“ fragte sie erschrocken in den Raum. „Geht es Euch gut?“ Richild wischte sich den Staub vom Kopf und begann, nach den unter der Masse erstickten Räucherschalen zu suchen. Sie nickte geistesabwesend, ehe sie die Schalen kurzerhand umkippte und mit dem Ärmel auswischte. „Alles gut, euer Gnaden.“ Amalvin wandte sich Andragrimm zu und hieb diesem auf die Schulter. Seine Zähne blitzten unter der Staubschicht. „Gut gemacht!“ Die Staubwolke, die er damit aufwirbelte, brachte ihn erneut zum Husten. Die Landmeisterin, die ihm die Räucherkrautschalen in die Hand drückte, unterbrach ihn in seinem Siegestaumel. Noch immer grinsend ging er daran, sie neu zu füllen, und reichte sie wie selbstverständlich an Andragrimm weiter. „Kannst Du sie anzünden?“ Richild nahm die rasch wieder rauchenden Schalen entgegen und stellte sie an vier entgegengesetzten Enden der Höhle, so nah an den Wänden wie möglich, auf. Der Zwergenkrieger grinste zurück, er teilte den Humor des Graumantels und das, obwohl sein Bart nicht mehr goldblond war, sondern gräulich-weiß schimmerte. Ohne ein Wort zu verlieren nahm er die Schalen entgegen und kniete sich mit ihnen auf den Boden. Nach Feuerstein und Zunder musste Andragrimm nicht lange suchen, sie befanden sich in einem ledernen Täschchen an seinem breiten Gürtel. Während er dann das Kraut nach und nach entzündete sprach er leise zu Amalvin. „Wie geht es nun weiter, benötigt ihr noch viel Vorbereitung, bevor wir die Knochen begraben können?“ Vom Rand der Höhle war unterdessen ein geknurrtes „Ignoriert mich ruhig. Ich mache mir ja völlig umsonst Sorgen. Ihr wisst ja was ihr da tut.“ vom Vogt zu vernehmen. „Wir müssen jetzt noch den Anger einsegnen– die Reste des alten Tempels hat sie beseitigt.“ Die Stimme des Graumantels war ebenso leise wie die seines Kampfgefährten. „Wir werden uns eine kurze Weile ins Gebet versenken. Kannst Du aufpassen, dass die Räucherschalen so lange nicht ausgehen?“ Er drückte ihm einen Beutel mit Kräutern in die Hand. Die Nebelschicht auf dem Boden hatte sich zusammen mit den letzten Staubresten des Nestes zu einer wahrlich üblen Mischung verbunden. „Dann wird sie an jeder der Schalen einen der Heiligen anrufen und seinen Schutz für den Anger erbitten und ein Boronsrad darauf zeichnen, ehe sie den Segen des Schweigsamen darüber spricht. Nicht mehr lange– zwei, drei Stunden vielleicht noch.“ Er blickte auf den Vogt. „Wir sollten ihm vielleicht Bescheid sagen.“ Kurz blitzten mit einem Grinsen seine Zähne hell unter der dicken Staubschicht auf. Andragrimm nickte, seine Miene jedoch verriet, dass ihm die Aussicht auf den noch ausstehenden, langen Zeitraum des Wartens nicht sonderlich gefallen wollte. Trotz dieser Tatsache sprach er gelassen, „Die Feuer werden nicht ausgehen, dafür werde ich Sorge tragen.“ Daraufhin drehte sich der Krieger nun ebenfalls den Kopf in Richtung der Außenstehenden und hob den Arm, um diesen anzuzeigen, dass er etwas zu sagen hat. „Unsere Freunde werden nun gleich mit dem Grabsegen beginnen“, sprach er gerade so laut, dass sie ihn hören konnten. „Es wird eine ganze Weile dauern.“

Die Landmeisterin schritt mit dem Räucherschwenker die Ränder des einzusegnenden Platzes ab, trat an den Altar, wischte diesen mit ihrem Ärmel sauber – der Teil war so kein Bestandteil der Liturgie, zum Staubwischen hatte sie dabei noch niemand verdonnert ... doch es gab’ immer ein erstes Mal – und platzierte das einfache Metallgefäß an seinen Ketten darauf. Sie warf noch eine großzügige Handvoll Mohnsamen – Lotos wäre ihr lieber gewesen, doch der war schwer zu bekommen und ihre nächste Lieferung hatte sich durch das Winterwetter auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Wege, die dieser über das liebliche Feld und die unterfelser Praioskirche zu ihr nahm, hätten für mehr als ein Stirnrunzeln bei ihren Ordensschwestern und –brüdern gesorgt. Schade eigentlich, dass dies alles schon so lange her war, dass sich längst der Mantel des Vergessens auf ihren Besuch in Palakar gelegt hatte – und die Bekanntschaften dort, von deren einer sie geglaubt hatte, dass es eine Freundschaft wäre. Glauben und Wissen waren unterschiedliche Dinge ... und das ziellose Wandern der Gedanken eines der ersten Zeichen für das Verlieren des Geistes im Reich des Herrn der Träume. Später. Jetzt gab es Arbeit, die erledigt werden musste.

Am Rande ihrer Aufmerksamkeit spürte sie den Nebel, der ihre Beine bis zum Knie umspielte, und hörte das keuchende Husten der kleinen Priesterin, die in der grauen, sanft wabernden Masse kniete. Das Feld um sie herum war bereitet, gereinigt von allem, was nicht hierhergehörte, und gesäubert von den Resten der Vielbeinigen, die dem Geflügelten gedient hatten, dessen Erinnerung nur noch ein blasses Abbild war im Wechsel der Zeiten. Ein guter Platz für ihn war der Anger des Unergründlichen. Kampf und Streit, Zank und Disziplin mochte sein, doch würde vergehen im unerbittlichen Kreis des Lebens, bis dass das Rad zerbrach und der Tod seine letzte Decke über alle Mühen breitete, zum Schlaf in Frieden und Schweigen bis zum Ende aller Zeiten. So war es – und so würde es sein. Sie trat an die äußerste Schale, weit außen an der Wand, warf eine Handvoll Mohn hinein und hob die Arme. „Golgari, finde die Seelen und trage sie über das Nirgendmeer.“ Hohl und schleifend klang ihre Stimme, ihre Kehle trocken und belegt vom Staub und langem Schweigen. Und doch fand sie einen Widerhall in der Dunkelheit und hing fast wie ein spürbares Ding in der Luft, einen Herzschlag lang und noch einen. Die Geister hatten der Golgaritin aufmerksam bei ihrem Tun zugesehen, interessiert, Erwartungsvoll - wie Marbolieb ihre Mienen, ihre Körpersprache interpretierte. Längst hatten die Erscheinungen das geschlossene Spalier aufgegeben und sich mit gesenkten Waffen in einem losen Verband um den Schutzkreis versammelt. Nun, da die Zeremonie lief, wurden sie scheinbar durch eine höhere Gewalt jeweils zu einem ganz bestimmten Punkt der Kaverne gezogen. Dieser lag jedoch bei allen von ihnen noch innerhalb der Fläche, in der Sand den Boden bedeckte. Ihre Erscheinungen begannen nach und nach zu verblassen, ja scheinbar ins Nichts zu verwehen. Gemeinsam mit dem vermeintlichen Abschied der Geister vernahm Marbolieb ein leises, aber stetiges Surren aus ihrem Rücken, von dem Altar, oder vielleicht was noch immer auf ihm lag? Hin- und hergerissen zwischen beiden Empfindungen schloss die Geweihte die Augen, ohne jedoch die Sinneseindrücke ausblenden zu können. Sie wusste, wie die Weihe eines Boronangers vonstatten zu gehen hatte – ohne jedoch in der Lage zu sein, diese Liturgie selbst zu wirken.

So schloss sie ihre Gebete den Bitten ihrer Schwester im Glauben an, spürte sie – und eine gewaltige, dunkle, schweigende Präsenz im Hintergrund, jenen, den sie beide anriefen, jenen, auf den alles Leben zustrebte und den es doch mit seiner gesamten Kraft floh, die Erlösung und das Ende aller Dinge. Sie fühlte, wie sie mit Richild und Amalvin zusammenrückte, ihren tiefempfundenen, ehrlichen Glauben und die Kraft, die aus der gemeinsamen Liturgie erwuchs, sie alle umschloss und zusammenfügte, vereinte an einem stillen, dunklen Ort, an dem Zweifel und Zeit, Angst und Schmerzen über keine Bedeutung mehr verfügten. Eine Verheißung auf ein Ziel, irgendwann einmal nicht mehr nur Gast zu sein, sondern anzukommen, aller Last und aller Mühen ledig. Eine sanfte Berührung, wie von einer Feder, und die leisen, tröstenden Worte der Priesterin. „Heilige Marbo, bitte bei Boron für die Seelen der Schuldigen.“ Ein neues Räucheropfer, erneutes Innehalten. Die stickige Luft drang mit jedem Atemzug wie Asche in die Lungen der Anwesenden, doch die Priester schienen dies nicht zu bemerken. Die Geister drängten und sammelten sich, begierig, so erschien es Marbolieb, die Gemeinschaft zu vollenden und zusammen dorthin zu gelangen, wohin des Unergründlichen Ratschluss sie rief. Das ärgerliche Summen in ihrem Rücken erreichte neue Höhen. „Heilige Noiona, schenke den Hinterbliebenen Vergessen und den Toten Frieden.“ Die nächste Räucherschale, das nächste Aufwallen des öligen Rauches, wie ein Schleier auf den Gedanken, ein Tuch zwischen ‚draußen’ und ‚hier’. Vor allem die Hinterbliebenen waren es, die Trost benötigten – und die gnädige Gabe des Trankes, der Vergessen war, ein Balsam auf wunden Seelen, der alle offenen Wunden über die Zeit heilen würde, waren sie auch noch so tief. Begierde und Liebe, Hass und Zwist – und allem seine Schärfe nehmen würde. „Heiliger Khalid, segne die Gebeine, auf dass sie Ruhe finden.“ Fast nicht mehr zu hören die Stimme der Landmeisterin, erstickt und rau vom Rauch. Kaum eine bessere Bitte hier, an diesem Ort – mit den Gebeinen der verlorenen Hundertschaft, von den Zwergen an den Eingang geschafft. Und auch die Geister dieses Ortes horchten auf, wandten wie eine Person den Kopf, dahin, wo ihre gefallenen Gefährten auf die Widervereinigung nach tausend Jahren warteten. Aufforderung, Erwartung, fast etwas wie Freude – und Hoffnung, deutlich zu lesen war dies in ihrer Körpersprache, auch wenn keiner von ihnen ein Wort sprach.

Richild musste wieder an den Altar getreten sein, denn auf einmal erklang ihre Stimme direkt neben Marbolieb, hallend und laut, obwohl die Landmeisterin auf keinen Fall lauter sprach als zuvor. „Dies sei der Grund, wo alles ruht. Dir, oh Herr, sei er geheiligt!“ Mit diesen Worten verstummte das Zischen der Kohlen in den Räuchergefäßen, das Scharren der Füße der Zwerge, die geduldig gewartet hatten, und auch die Atemgeräusche ihrer Begleiter. Stille flutete die Kaverne, und den Sehenden wurde mit einem Mal alles Licht genommen. Die Geister verblassten vollständig und verwehten wie der letzte Nebelhauch im Wind. Ein leises ‚danke’ aus viel Kehlen wisperte an die Ohren Marboliebs, ein letzter Atemzug nur, ehe auch er verstummte. Es herrschte Schweigen.

Exakt in dem Moment, da die Stille ihren Anfang nahm, meinte die Geweihte die Luft sei erfüllt von Dutzenden von hauchdünnen, blassen Schlieren, die ihr wie einzelne von einer Spinne gewobener Fäden vorkamen. Ihren Anfang nahmen sie alle genau dort, wo die Geister verschwunden waren, aber auch am Rande der Kaverne, wo die Säcke mit den Gebeinen waren. Gemeinsam endeten sie dort, in ihrem Rücken, wo die Standarte lag. Der Sinneseindruck dauerte nur einen Bruchteil eines Herzschlages und Marbolieb meinte schon nach ihrem nächsten Lidschlag einer Einbildung aufgesessen zu sein, doch eines war nun in der Tat anders. Das Feldzeichen leuchtete in ihrer Wahrnehmung matt und auch das Summen war noch da, wenn nun aber wiederum ganz schwach und leise, aber unverkennbar - es glich nun dem Surren eines ganzen Schwarms. Sie waren vereint, nach über einem Jahrtausend.

Marbolieb wandte sich um und betrachtete die Standarte. Dass ihr Körper sich vor Husten schüttelte, war dabei weit weg. Ein seltsames Ding ... sie würde ihm den Grabsegen spenden, nachdem es zum Sammelpunkt für so viele Seelen geworden war. Sie würden gemeinsam den Flug über das Nirgendmeer antreten, zusammen und vereint. Lange noch, einen Atemzug lang, ein halbes Wassermaß vielleicht, verharrte Marbolieb, noch eins mit dem Erlebten, erfüllt von dem tiefen, ruhigen Frieden, der sie berührt hatte. Als sie sich erhob, wankte sie und hätte sich wieder auf den Hosenboden gesetzt, wenn ihr nicht jemand entschieden unter die Arme gegriffen hätte. „Bringt die Säcke.“ Die leicht abwesende, aber nichtsdestotrotz bestimmende Stimme der Landmeisterin – die augenblicklich deren Urgroßmutter hätte gehören können. Auf dieses Zeichen hatten die Angroschim mit zunehmender Unruhe gewartet. Als die Golgaritin dann das Zeichen gab, waren sie emsig bemüht, ihrem Willen nachzukommen. Auch der Vogt fasste mit an, legte sich einen Spaten über die Schulter und schritt mit den restlichen Zwergen zur Tat. Teilweise aus Sand bestand der Boden, auch wenn er durch die inzwischen beachtlich dichte Nebelschicht kaum noch zu erkennen war. Amalvin und Andragrimm waren die ersten, die damit begannen Gruben auszuheben, die groß genug waren, um die Gebeine aufzunehmen. „Bitte auch eine für das Feldzeichen.“ Marbolieb erschien dies richtig – und gut. Anker- und Sammelpunkt so vieler war es, gemeinsam, wartend auf die letzte Befreiung. So viele, von deren Körpern nichts mehr geblieben war. Sie war es auch, die dem Feldzeichen und den Gebeinen den Grabsegen spendete, dass Boronsrad über sie schlug – über den so lange gefangenen Centurio wie auch über den dunklen Magier, der vergeblich versucht hatte, vor der Götter Ratschluss zu fliehen. Ein Gefühl großer Erleichterung, Widerhall aller Gewesenen, durchflutete sie und hüllte sie ein weiteres Mal in die dunkle, warme Umarmung ihres Herrn. „Möget ihr in Frieden ruhen.“

Die nächsten Tage lagen für Marbolieb im Rückblick betrachtet unter einem trüben Schleier. Sie alle waren nach einem weiteren Tag der Ruhe auf Burg Nilsitz nach Senalosch zurückgekehrt, und sie hatte die kräftige Erkältung, die sie sich unterwegs eingefangen hatte, leidlich auskuriert. Doch der Aufenthalt auf der Festung, wie auch die Reise verblassten fast vollständig hinter dem, was im alten Heiligtum und der Kaverne mit der Opferstätte eines fast gänzlich vergessenen Insektengottes geschehen war. Marbolieb wusste noch immer nicht, warum sie die Geister hatte sehen können, doch hatte sie inzwischen genug Abstand und Zeit für innere Einkehr gefunden, dass sie darüber grübelte, ob es sich wirklich um eine Gabe Thargunitoths handele. Sie hatte gesehen, was in der riesigen Kaverne unter Burg Nilsitz geschehen war, den Schwarm, der das Insektennest verlassen hatte, bevor es zerstört worden war und das Feldzeichen einer Centurie, die Teil der fünften Legion Bosparans gewesen war. Die Standarte, die mehr sein musste, als ein bloßes Symbol für das größte Reich, das die Menschen je errichtet hatten. Warum jedoch ausgerechnet sie es hatte sein müssen, die als einzige von alledem Kenntnis erhalten sollte, konnte sie sich nicht ausmalen - Der Weg der Götter war unergründlich.

Letzte Ehren

Zwei Praiosläufe war es her, dass Zwerge und Golgariten mitsamt Marbolieb nach Senalosch zurückgekehrt waren, als von weit weg ein Horn erscholl. Es war früher Abend. Die Sonne war entsprechend der Jahreszeit bereits untergegangen. Die Gruppe saß zu diesem Zeitpunkt gemeinsam im Salon des Hauses des Vogts, hoch oben über der Stadt. Der Kamin prasselte und heißer Tee wurde gereicht. Topaxandrina, die Haushälterin, tat ihr Bestes, den Gästen alle Wünsche zu erfüllen und das hieß in erster Linie dafür zu sorgen, dass verlorene Pfunde wieder zurückgewonnen wurden. Roglamox hatte mittlerweile wieder seinen Dienst am Stadttor angetreten und auch Atosch war nach der Ankunft in Senalosch wieder von seinen üblichen Pflichten in Anspruch genommen worden. Marbolieb hielt glücklich ihre Tochter auf den Knien, die von dieser engen Umarmung deutlich weniger angetan war als ihre Mutter und liebend gerne das Zimmer auf allen Vieren erkundet hätte. „Das sind sie.“ Die Stimme des Vogts zeigte Erregung. „Es ist ein Horn des Regiments. Mittlerweile höre ich das heraus.“ Borindarax von Nilsitz erhob sich und klappte das Buch zu, in dem er zuvor gelesen hatte. Es war ein uralter Schinken über das Bosparanische Reich und dessen Kulte. Auch Boindil, wie stets an dessen Seite, sprang auf und rannte sogleich hinaus. „Ich schaue nach“, rief er im Davoneilen. Die Landmeisterin registrierte in der beginnenden Hektik wie Andragrimm, der neben Amalvin am Tisch beim Abendessen gesessen hatte, sich zurücklehnte, tief ausatmete und kurzzeitig die Augen schloss. Erleichterung stand in den Zügen des so unerschütterlich wirkenden Zwergen geschrieben. „Wachablösung?“ fragte Amalvin mit einem knappen Grinsen seinen Freund. Nicht, dass er diesem die Aufgabe, auf diese zusammengewürfelte Gruppe acht zu geben, geneidet hätte. Der Graumantel streckte die Beine aus und dehnte Arme, bis die Gelenke knackten. „Das heißt dann wohl für uns, dass die faule Zeit vorbei ist. Aber es war eine interessante Reise – und wenn wir einmal wieder übereinander stolpern, was hoffentlich bald der Fall ist, müssen wir ein Bier darauf trinken.“ Der Zwergenkrieger grinste. „Wenn die nun bevorstehende Trauerzeremonie für unsere in Rabenstein gefallenen Brüder und unsere Schwester vorüber ist, werden wir mit dem Oberst die Humpen heben. Bei Angroschs Barte, das werden wir!“ Auch Andragrimm stand nun auf. „Dwarosch?“ Marbolieb hob den Kopf und ihre Wangen röteten sich. „Was meint ihr, bis wann er hier sein wird?“ fragte sie in den Raum. „Das weiß ich nicht mit Bestimmtheit“, antwortete Borax. „Aber ich denke es werden nur noch wenige Kerzen sein, die du dich gedulden musst, so deutlich wie …“ Borax brach ab. Die Stimme des Vogts wurde von einem tiefen Ton von enormer Lautstärke unterbrochen, das gleichzeitig von rechts und links des Hauses zu kommen schien und so durchdringend war, als würde der Berg es selbst hervorbringen. „Die Hörner Isnatoschs“, sagte Andragrimm voller Stolz. „Das wird ein würdiger Empfang werden. Kommt, lasst uns nach unten gehen. Noch ist der Weg frei.“ Nachdem sich alle der Witterung entsprechend gekleidet hatten, traten sie hinaus ins Freie. Eine klare und kalte Winternacht empfing Menschen wie Zwerge. Die Sterne funkelten am Firmament. Boindil kam gerade wieder den steilen Weg hinaufgerannt. „Sie sind bald da“, brachte er keuchend hervor. „Ingerimms Hammer versammelt sich bereits innerhalb der Stadt für das Ehrengeleit. Fackeln werden ausgegeben. Die Bürger sammeln sich auf der Stadtmauer.“ Borax nickte. „Und dann werden sich alle auf dem Markt versammeln, wo die Totenfeuer brennen werden, so wie es Brauch ist.“ Der Vogt blickte zur Landmeisterin. „Jeder Sohn oder jede Tochter, die im Kampf für Isnatosch stirbt, wird mit diesen Ehren dem Allvater anvertraut. Die Totenfeuer nach der Heimkehr des Regimentes aus Mendena brannten acht Tage, auch sie mehr symbolischer Natur waren. Viel zu verbrennen gab es nicht mehr.“ Marbolieb hatte sich eng in ihren Mantel gehüllt. Die Sterne sah sie nicht, doch die klirrende Kälte erzählte, dass die Nacht tiefschwarz und sternenklar sein musste. Sie schlang ihren Mantel doppelt gefaltet über ihre Tochter, die sich in ihren Arm geschmiegt hatte und mit einem Daumen im Mund aufmerksam und hellwach die Umgebung betrachtete. Die kostbare Bauschdecke hatte sie, so sauber gewaschen wie es ihr möglich war, ordentlich gefaltet an Topaxandrina zurückgegeben – mit einem aufrichtigen Dank für die guten Dienste, die sie ihr geleistet hatte. Ihre Zehen begannen bereits, kalt und gefühllos zu werden. In dieser Nacht vermisste sie die Wärme. „Möchtet ihr, dass ich Euren Gefallenen einen Grabsegen spreche?“ wandte sie sich in die Richtung, aus der vor einiger Zeit noch die Stimme des Vogtes gekommen war. „Ja“, die Antwort Borindarax kam ohne nachzudenken und klang überzeugt. „In Senalosch leben Menschen und Angroschim Hand in Hand, Tür an Tür. Warum sollte also nicht auch eine Dienerin Borons sprechen. Ein Angroschpriester wird ja auch zugegen sein. Außerdem ist es ein passender Rahmen, euch den Bewohnern vorzustellen. Ihr werdet ja noch eine Weile mein Gast sein, wie ich hoffe.“ „Danke.“ Leise war die Stimme der kleinen Priesterin. Sie rieb ihre klammen Hände über den Rücken ihrer Tochter und senkte den Kopf. Nach wie vor bargen die Zwerge Überraschungen – sie hätte dieses Zugeständnis des Vogtes nicht erwartet, wusste sie doch, dass die Geschwister Ingerimms keinen Platz im Götterhimmel des kleinen Volkes hatten. Meist zumindest.

Der Gleichklang dutzender, schwerer Stiefel, die über steinernem Boden marschierten, erklang. Eine einzelne Pauke gab den Takt vor. Die Golgariten sahen bei ihrem Abstieg aus dem hoch gelegenem Stadtteil wie Soldaten, es mussten mehr als einhundert sein, in geübter Formation aus dem Stadttor marschierten. In der Ferne waren einzelne, kleine Lichter in der Dunkelheit auszumachen. Fackeln, die sich auf Senalosch zubewegten. Das musste der Oberst mit seinen Soldaten sein, der nun endlich heimkehrte. Amalvin, der die erblindete Geweihte am Arm führte, sah, wie Bürger die Aufgänge zu der Stadtmauer hinaufschritten und sich hinter den Zinnen rechts und links des Tores verteilten. Immer mehr wurden es und auch sie trugen Fackeln, so dass sich bald ein leuchtender Bogen von Bergflanke zu Bergflanke ausbildete, zwischen denen der oberirdische Teil von Senalosch in den Fels gebaut worden war. Richhild hingegen bemerkte noch etwas anders. Auf dem Platz vor dem großen Tempel der Stadt, indem sowohl Angrosch wie auch Ingerimm gehuldigt wurde, wurden Vorbereitungen für eine Zeremonie getroffen. Die Tore des Gotteshauses standen offen und eine Vielzahl Zwerge wie auch einige Menschen trugen Körbe, große Krüge und sogar einige, kleine Fässer zusammen, die sie nahe den aufgeschichteten Holzstapeln platzierten. „Ihr verbrennt die Toten unter freiem Himmel?“ Interessiert beugte sich die Landmeisterin zu Borindarax. „Ich habe einmal gehört, dass Euer Volk dafür Feuerschächte weit unter den Bergen nutzen würde und habe mich seitdem immer gefragt, wie ihr dies bewerkstelligt.“ Ihr Atem stand in dichten Wolken vor ihrem Gesicht. Klar und kalt und herrlich war die Nacht, und der Schein der mehr als hundert Fackeln verlieh dem Moment Erhabenheit. „Das stimmt.“ Nickend bestätigte der Vogt die Worte Richilds. „Es gibt solche Schächte. Sie funktionieren dank der Doshtra. Das sind Be- und Entlüftungsschächte, die Senalosch umgeben. Es ist ein ausgeklügeltes Netz. Unsere Rasse lebt seit Jahrtausenden tief im Inneren der Berge. Unsere Technik ist weit fortgeschritten, auch in Sachen Städteplanung“, erklärte Borax. „Die Verstorbenen waren jedoch Angroschim, die den Großteil ihres Lebens an der Oberfläche gelebt haben. Es waren Soldaten des Herzogs, auch wenn sie im Isenhag ihre Heimat hatten“, fuhr er fort. „Indem wir sie auf dem Platz vor dem Tempel verbrennen, geben wir allen“, er hob dieses Wort hervor, „Bewohnern der Stadt die Möglichkeit sie zu ehren und um sie zu trauern. Auch den Menschen, die sie kannten.“ Die Landmeisterin nickte, zum Zeichen, dass sie verstanden habe, und schwieg für’s Erste. Wie tausend kleine Nadeln stach die eisige Nachtluft in ihre Haut. Sie genoss die Stille, die aus der Dunkelheit kroch und die wenigen Menschen umschloss. Und so wartete sie, neben ihrer frierenden Schwester im Glauben und ihren Gefährten, die so mache Meile an ihrer Seite gewandert waren.

Ganz Senalosch schien auf den Beinen, es wimmelte nur so von Menschen und Zwergen. Weder Richild noch Amalvin hatten jemals so viele Angehörige des kleinen Volkes auf einem Haufen versammelt gesehen. Gemeinsam mit dem Vogt und seinem kleinen Geleit aus Freunden marschierten die Golgariten vom Fuß des Berges durch die Stadt, bis vor das Isenhager Tor; zu dem Platz, wo die Soldaten Ingerimms Hammer Aufstellung genommen hatten. In festen Gruppen standen sie rechts und links der an diesem Ort noch gepflasterten stadtauswärts führenden Straße, so dass sie sich gegenüberstanden. Ihre Hämmer waren mit dem Kopf auf dem Boden abgestellt, die linke hielt die Fackel. Immer näher kamen die Lichter aus der Ferne und bald schälten sich Konturen, dann einzelne Gestalten aus der Dunkelheit. Es waren die Heimkehrer. An ihrer Spitze liefen Dwarosch, der Oberst und sein erster Hauptmann Antharax, dahinter die Soldaten, die mit ihnen ausgezogen waren. Sie waren vollständig. Hinter den letzten der Angroschim, die Leinen in den Händen hielten, kam eine kleine Meute Hunde hinterher. An ihnen wiederum waren zwei kleine Schlitten befestigt. Ganz still wurde es, als die Gruppe um den Oberst das Spalier der Soldaten erreichte, alle Stimmen verstummten. Die Soldaten reckten die Fackeln am ausgestreckten Arm empor und streckten sie dann nach vorn, so dass eine Art Bogen entstand, unter dem die Heimkehrer hindurchmarschierten. Der Musikantenzug des Regimentes begann erneut mit Paukenschlägen. Als das Tor erreicht war, begann er ein Lied zu spielen, was von Wehklagen kündete. Vor allem die Pfeifenbälge vermochten es, dieses Gefühl besonders berührend zu vermitteln. Das Spalier schloss sich Mann für Mann Dwarosch und seinen Männern an, so dass sich ein langer Fackelzug ergab, der sich wie ein Wurm in die Stadt bewegte, dem Berg entgegen, dem Platz vor dem Tempel. Auch Borindarax und seine Gäste schlossen sich an. Als die Gruppe den Vogt und die bei ihm stehenden Menschen passierte, hoben Dwarosch und Antharax im Vorbeigehen den Arm zum Gruße. Sie sahen müde aus, erschöpft, aber auch froh wieder zuhause zu sein - am Ziel ihres beschwerlichen Marsches. Borax und der Oberst tauschten ernste Blicke aus und Richhild bemerkte, dass der Vogt lächelnd nickte. Er hatte seinem Freund wohl damit angezeigt, dass Mutter und Kind wohlauf waren. Daraufhin entspannte sich Dwaroschs Miene zusehends. Richild schmunzelte, sprach aber nichts. Vielleicht würde sich ja doch alles fügen – denn ewige Zeiten würden sie und ihr Graumantel hier nicht mehr bleiben können, um auf ihre Glaubensschwester acht zu geben. Marbolieb hörte das Prasseln der Flammen und das Stapfen vielzähliger Stiefel und spürte, wie ihr die Kälte, die vom gefrorenen Boden aufstieg, in die Zehen biss. Vorsichtig schob sie die klammen Finger ihrer Hand, mit der sie sich noch immer bei Amalvin untergehakt hatte, unter die dicken Lagen Stoff, mit denen sie ihre Tochter umhüllt hatte, und befand das Kind für ausreichend warm. Rasch löste sie wieder den Griff und suchte nach dem Arm des Kriegers, als die Leute um sie herum begannen, sich dem Zug anzuschließen. „Ist Dwarosch mit dabei?“ erkundigte sie sich im Flüsterton bei dem Graumantel an ihrer Seite, der bestätigend nickte, einige Schritte später das Schweigen bemerkte und „Ja, alles gut.“ hinzufügte.

Der Zug umrundete den großen Platz und kam vor den Stufen des Angroschtempels zum stehen. Menschen und Zwerge, die zuvor die Stadtmauer bemannt hatten, versammelt sich nun auch nach und nach und füllten scheinbar jeden freien Raum zwischen den aufgeschichteten Holzhaufen im Zentrum des Platzes. Priester in eher praktischen als feierlichen Gewändern, die dem Schmiedegott beider Rassen gefällig waren, kamen aus dem Portal des Tempels und schritten mit brennenden Feuerschalen, die sie an ausgestreckten Armen vor sich trugen, die Treppenstufen hinunter. Auf dem Platz angekommen gaben sie die Feuerschalen an Laienpriester weiter und traten zum Kopf der Prozession, um mit Dwarosch und Antharax einige Worte zu wechseln. Borax, Marbolieb und die Golgariten standen einige Schritte weit entfernt, so dass sie nicht verstehen konnten, was gesprochen wurde. Weitere ungeweihte Diener des Tempels machten kurze Zeit später die Säcke von den Schlitten los, auf denen sie festgemacht waren und trugen sie ungeöffnet zu ihrem Bestimmungsort. Jeweils zwei der Laien hoben die Bündel auf die Holzstapel und bedeckten sie mit einem in Öl getränkten Tuch. Zwei der Angroschgeweihten traten daraufhin zwischen die aufgeschichteten Haufen und entzündeten lange Fackeln an den ihnen dargebotenen Feuerschalen. Mit diesen wiederum wurden die Öltücher in Brand gesetzt. Fauchend entzündeten sie sich. Das Feuer griff fast augenblicklich auf das darunter befindliche Holz und damit ebenfalls auf die Überreste der Gefallenen über. Zweisprachig, in Rogolan und der Sprache der Menschen, wurde nun der Allvater angerufen und darum ersucht, die Toten in der ewigen Esse aufzunehmen. Die Namen der Verschiedenen wurden jeweils mit langer Ahnenlinie verlesen, um sie zu ehren. Marbolieb hatte eine Hand auf den Arm Amalvins gelegt, im anderen Arm hielt sie ihre Tochter. Die Kälte hatte ihre Füße gefühllos werden lassen und arbeitete sich durch ihre Beine. Sie begann, vor Kälte zu zittern. Die Verbrennung der Gefallenen folgte einem uralten, den Traditionen tief verbunden Muster und sie sog den Ablauf in ihr Gedächtnis auf. Sie hätte den Gefallenen, die ihre Leben für sie gelassen hatten, gerne die letzte Ehre erwiesen und ihren Grabsegen gespendet – doch hier vermisste ihn niemand. Sie beugte ihren Kopf über ihre schlafende Tochter und hauchte ihren Atem auf das kleine Kind, während sie die eisige Luft wie mit Messern aus Eis in Nase und Wangen stach. Richhild und Amalvin beobachteten die Zeremonie derweil aufmerksam, denn einer solchen Trauerfeier hatte noch keiner von ihnen beigewohnt, als der Oberst sich seinen Weg durch die Menge bahnte und unvermittelt zu ihnen trat. Er lächelte, nickte der Landmeisterin im Vorbeigehen respektsbekundend zu und schlug dem Graumantel freundschaftlich auf den Arm. Mehr Aufmerksamkeit wollte, konnte er den beiden Golgariten in diesem Moment jedoch nicht schenken. Ohne ein Wort zu verlieren, denn seine Kehle war in diesem Moment zu trocken, als dass er etwas hätte sagen können, nahm er Marbolieb in den Arm und legte eine seiner Hände behutsam auf Mirlas Kopf. Marbolieb fuhr auf, als sie die unerwartete Berührung traf, tastete über Arm und Schulter des gerüsteten Oberst und legte ihre offene Hand auf seine Schläfe. Ihre Fingerspitzen waren weiß vor Kälte. Sie atmete erleichtert aus, lehnte vorsichtig ihre Stirn an Dwarosch und überließ sich einige Atemzüge lang seiner Umarmung. Die Geweihte schwieg, jedes Wort überflüssig. Er war wieder hier und er war unversehrt. „Ich bin erleichtert, dass ihr wohlauf seid“, sagte Dwarosch mit rauer Stimme, die klang, als habe er tagelang nicht gesprochen. „Es tut gut, wieder zuhause zu sein.“ Die Borongeweihte zitterte am ganzen Körper. Einige Herzschläge später hob sie den Kopf, ohne ihre eiskalte Hand von der Schläfe des Oberst zu nehmen. „Du hast sie wieder heimgebracht.“ Eine ruhige Feststellung, dass die Dinge so gut waren, wie sie sich befanden. „Dein Verlust dauert mich.“ Aufrichtigkeit, Mitgefühl lag in ihren Worten. Ihre Augen lagen auf seinem Gesicht, ohne seinen Blick festhalten zu können. Dunkel und glänzend verrieten sie nichts von ihrer Blindheit. Tief atmete der Zwerg ein und aus. „Es ist vorbei. Endgültig. Hier endet der Schrecken. Sie sind nicht umsonst gestorben. Wir werden sie ehren, wie sie es sich verdient haben und ihre Namen weitergeben. Du, ihr werdet heute Nacht Teil einer Tradition, die unsere Rasse seit Jahrtausenden aufrechterhält, um seine Helden zu gedenken und den persönlichen Schmerz, die Trauer des Verlustes zu teilen. Ihr Menschen habt eure Rituale dazu, wir haben unsre.“ Die Geweihte nickte und zog ihre Hand zurück, um sie wieder um ihre Tochter zu legen. Das Kind wurde schwer, auch wenn es wie jetzt ruhig und friedlich in ihrem Arm schlief. Marboliebs Zähne klapperten vor Kälte und ihre Lippen hatten sich blau verfärbt.

Erneut erscholl ein Horn. Diesmal jedoch war es kein einzelner, durchdringender Ton, sondern mehrere, wie bei einer Art Fanfare. Alle Blicke derjenigen, die auf dem großen Platz standen richteten sich gen Widdertor, den Berg hinauf, von wo das Geräusch kam. Eingerahmt von Soldaten stand dort ein einzelner Zwerg. Mehr jedoch war aus der Ferne nicht zu sehen. Die Bewohner Senaloschs jedoch hatten keine Zweifel daran, wer es war. „Der Rogmarog“, erklärte Borindarax den Menschen. Alle, Menschen und Zwerge neigten in diesem Moment das Haupt und erwiesen im dem Bergkönig vom Eisenwald ihren Respekt. „Fargol hat den Berg verlassen. Das passiert nicht oft.“ Borax schien ein wenig überrascht. „Der Sohn des Fanderam wird von dort oben zusehen und den Soldaten damit Ehre erweisen. Er ist der Ehrenoberst von Ingerimms Hammer.“ „Eine hohe Ehre.“ Amalvin setzte an, anerkennend durch die Zähne zu pfeifen, besann sich dann aber eines Besseren. Die Landmeisterin, etwas härter gesotten, warf einen interessierten Blick in die Richtung, die Borindarax wies, konnte aber deutlich weniger erkennen als die Zwerge. Alle Gebete und ein von der Priesterschaft und den Laien gemeinschaftlich vorgetragener Choral an den Allvater hatten geendet. Die Totenfeuer brannten inzwischen lichterloh, ihre Brunst reichte einige Schritt weit in den Himmel und verströmten eine derartige Hitze, dass es allen die Kälte aus den Gliedern vertrieb, die nicht fernab ihrer standen. Angrosch beziehungsweise Ingerimm wurde nicht nur das Erz zugesprochen, sondern zusätzlich auch das Element Feuer. Dies war ein Alleinstellungsmerkmal des zwergischen Urvaters innerhalb des Götterglaubens. Den Golgariten wurde dies in diesem Moment bewusster als je zuvor. Für die Zwerge war das Feuer ein Teil ihrer Kultur, ja ihrer Identität. Die Menschen verbanden mit ihm in erster Linie Urängste.

Borindarax trat von hinten an Dwarosch heran. Der Oberst drehte sich zu seinem Freund, als er dessen Hand auf der Schulter spürte und beide umarmten sich brüderlich. Der Vogt nickte in Richtung der Geweihten, als sie sich beide den drei Menschen zuwandten. „Marbolieb, wenn du ein Gebet sprechen möchtest, so wäre nun der rechte Zeitpunkt“, sprach Borax. „Ich weiß, bei euch ist es Sitte, so etwas vor dem Entzünden eines Totenfeuers zu tun, doch wir Angroschim kehren in die feurige Esse Angroschs zurück, aus der wir geschaffen wurden. Für uns ist das Gebet eine Art Geleit für den Übergang.“ Die Priesterin legte den Kopf schief, als sie die Worte des Vogtes hörte. „Führt mich zu den Leichen, ich werde ihnen gerne den Grabsegen spenden.“ Langsam vertrieb die Wärme des Feuers die Kälte aus ihren Fingerspitzen und sorgte dafür, dass sich ihre Finger rot färbten. Sie senkte den Kopf, um die Tatsache zu verbergen, dass ihr dies das Wasser in die Augen trieb, und wandte sich abwartend dem Vogt zu. „Das übernehme ich“, sagte Dwarosch bestimmt. Der Oberst nahm Marboliebs Arm und führte sie langsam zwischen die Totenfeuer, die im ausreichenden Abstand standen, so dass man sich zwischen ihnen bewegen konnte. Dwarosch blieb stehen. „Hier ist es gut. Du stehst nun im Zentrum des Platzes. Man wird deine Stimme nur vernehmen, wenn du energisch sprichst. Sehen können dich nur wenige. Die Feuer lodern zu hoch. Doch durch die Lücken können einige hindurchsehen.“ Erklärte er ihr die Szenerie zum besseren Verständnis. „Sei frei von Furcht. Die Menschen sehen sich nach Beistand ihrer Götter und die meisten Angroschim, die oberhalb der Hallen im Berg leben, akzeptieren ihren Glauben.“ Etwas verunsichert ließ sich die Geweihte führen und stolperte am Arm des Oberst in die gewiesene Richtung. Ihre Füße waren längst gefühllos geworden, und was noch an Empfindungen vorhanden war, war nicht angenehm. Durch die Lage mitten zwischen den Scheitern stand sie direkt in dem dicken, schwarzen Qualm eines der Leichenfeuer, der ihr den Atem nahm. Nicht im Abwind eines Scheiterhaufens zu stehen war hier ein wortwörtlich zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Und atemberaubend noch dazu. Sie hustete und rang nach Luft, während ihr der dicke Qualm die Tränen aus den Augen trieb. „Die Feuer kann ich nicht segnen, Dwarosch. Das geht nur mit den sterblichen Überresten.“ Marbolieb rang nach Atem, klammerte sich an Dwaroschs Arm und begann erneut, zu husten. Die Rauchwolken, die über den Platz waberten, kannten weder Gnade noch Pardon. Mirla, durch den Gestank und das Geruckel aus ihrem Schlummer gerissen, blickte auf, zerknautschte ihr Gesicht und begann zu weinen. „Bringst Du sie hier raus?“ Lange halten können würde sie das inzwischen schon richtig schwere Kinde sowieso nicht mehr. „Ich will gerne für die Gefallenen beten.“ Heiser und rau war Marboliebs Stimme vom Rauch – und von der Kälte zuvor. Eine laute Predigt würde es nicht werden. „Natürlich.“ Kam die knappe Antwort von Dwarosch, der sich sogleich daran machte, seinen eigenen Pelzmantel zu öffnen, um Mirla darunter stecken zu können. Er hob das Kind behutsam von der Brust seiner Mutter und versuchte Mirla dann so schnell wie möglich an sich zu drücken, um das schützende Fell um sie legen zu können. Dem Kind jedoch passte diese Behandlung zunächst gar nicht. Erst nach einigen Momenten unter Dwaroschs Mantel bekam sie dessen Bart zu fassen und erinnerte sich an den Schmuck, der darin hing. Der Spieltrieb beruhigte sie schließlich und so hörte Mirla wieder auf zu schreien. Behutsam legte sich Dwaroschs Hand auf Marboliebs Schulter. „Ich lasse dich jetzt allein. Aber sei gewiss, ich habe dich stets im Blick. Hebe den Arm, wenn ich dich holen soll.“ Als der Oberst mit dem Kind gegangen war, fiel die Geweihte auf die Knie. Der Rauch drang in ihre Lungen und raubte ihr den Atem. Die Hitze stach Nadeln in ihre angefrorenen Finger und Zehen. Marbolieb schloss die Augen und atmete mehrmals ein und aus, erst nach einigen Anläufen den Hustenreiz in den Griff bekommend. Feuerbestattungen mochten den Zwergen Tradition sein – die Boronkirche erlaubte sie den Menschen nur mit einem sehr seltenen Dispens, wie er beispielweise für den Feldzug im Osten galt. Mit erheblicher Mühe schaffte sie es, die gesamten Sinneseindrücke hinter sich zu lassen. Nichts wert waren diese. Das Feuer auszublenden, das um sie loderte, heiß, hungrig und verzehrend. „Oh Herr, schenke ihnen den ewigen Frieden – wohin sie auch gehen werden.“ Rau war ihre Stimme und kratzte in ihrem Hals und trug nicht über das Fauchen des Feuers. Sie selbst trug Schuld an ihrem Ableben, eine Last, die sie künftig tragen – und ihr ins Gesicht sehen würde. „Schicke den Raben aus, ihre Seelen zu finden und sie auf seinem Rücken zu tragen, auf dass sie wohlbehalten über das Nirgendmeer gelangen.“ Wie zur Antwort loderten die Scheiterhaufen auf und sandten Funkenschauer in den pechschwarzen Himmel und über die blinde Priesterin, die in stiller Einkehr auf Knien verharrte.

Nachdem Dwarosch Marbolieb vom Mittelpunkt des Platzes zu den anderen zurückgeholt hatte, wurde warme, mit Honig versetzte Ziegenmilch gereicht. Dies vertrieb zumindest etwas den rauchigen Geschmack im Mund und war eine Wohltat für den Hals. Golgariten, Geweihte und Zwerge standen beisammen, als kurz darauf ein Diener des Angrosch zu ihnen trat und den Oberst auffordernd ansah. „Ich denke, ihr werdet es euch nicht nehmen lassen wollt, das Gedenken an eure gefallenen Kameraden zu beginnen, Sohn des Dwalin.“ So sprach der Zwerg und es war mehr eine Feststellung denn eine Frage. Dwarosch nickte bestätigend und blickte sich um. „Kommt“, sagte er zu Richhild, Amalvin und natürlich Marbolieb. „Es ist so weit.“

Die Zwerge, Soldaten wie Bürger, bildeten inzwischen einen großen, losen Kreis um die Totenfeuer. Die menschlichen Bewohner Senalosch standen am Rande des Platzes, nicht unbeteiligt, aber scheinbar mit Respekt für das, was vor sich ging. Dwarosch trat mit den Golgariten und Marbolieb hinter sich entschlossen durch die Menge hindurch und zu den Feuern, in denen die Überreste der in Rabenstein Gefallenen dem Allvater übergeben wurden. Unmittelbar vor den brennenden Holzhaufen streckte Dwarosch seine Arme zu beiden Seiten aus, reichte eine Marbolieb und forderte sie auf, Richhild bei der Hand zu nehmen. Diese wiederum ergriff die Hand ihres Ordensbruders. Es erschien ihr richtig, auch wenn sie noch nicht genau wusste, was passieren würde.

Soldaten traten neben sie, Männer und Frauen, die der Oberst befehligte. Sie alle nahmen sich bei den Händen und steckten ihrerseits ihre Hände aus. Schnell schloss sich der Ring und dem ersten folgten weitere, die sich miteinander verbanden, indem die Beteiligten des jeweils äußeren Ringes sich mit dem Rücken zu den geschlossenen Händen des inneren Ringes stellten und ihre Hände vor den Körpern des inneren schlossen. Der Betrachter war geneigt bei dem Anblick an die verschlungenen, ineinandergreifenden Linien zwergischer Ornamentik zu denken, oder war dieses Ritual gar ein Teil ihres Ursprunges? Vier Reihen schlossen sich, dann traten auch menschliche Bürger hinzu und schlossen sich dem Kreis an. Immer mehr wurden es und am Ende war nahezu der ganze Platz erfüllt. Schließlich wandte Dwarosch den Kopf zu einem seiner Brüder und eröffnete den Reigen mit belegter Zunge. “Ich kannte eine Schwester. Ihr Name war Ferrizyna und sie war die Tochter der Ferraxa. Sie stammte aus Isnatosch. Und wenn sie auch nicht die Größte oder Stärkste war, so schwang sie ihr Axt doch wuchtig und treffsicher gegen unsere Feinde. Ferrizyna kämpfte tapfer und sie starb aufrechtstehend. Doch vermissen werde ich in ihr immer die lustige Kameradin, die für jeden ein Lächeln übrig hatte, niemals verzagte und stets das Gute in allem zu sehen vermochte. Ich kannte diesen Schwester, eine Heldin, und ich weiß, dass sie jetzt zwischen ihren Ahnen sitzt in Angroschs ewigen Hallen, wo dereinst jeder von uns sitzen wird. Erzählt ihre Geschichte weiter, wann immer man euch auffordert von diesen Tagen zu berichten und bewahrt so ihr Andenken.” Jeder Zwerg hörte die Geschichten von seinen Brüdern und Schwestern und erzählte sie seinerseits an die weiter, die neben ihm standen, ergänzte Dinge die er über betreffenden Toten wusste und berichtete selbst von den anderen verstorbenen Kameraden oder Freunden, die er auf diese Weise ehren wollte. Unzählige Male machten so die verschiedensten Geschichten über alle der Verstorbenen die Runde, im Kreis und von innen nach außen. Nicht nur von Mut, Ehre und Tapferkeit im Angesicht des Todes wurde berichtet, sondern mit der Zeit auch lustige Anekdoten hinzugefügt, die die Gefallenen in den Augen der anderen ausgemacht hatten. Und so hörte man nach einiger Zeit zunächst zaghaftes Gelächter, doch je mehr sich solche eher komische Kunde verbreitete, desto befreienden war das Lachen zu vernehmen. Als jeder im Kreis das Gefühl hatte, alle Namen wären gehört und auch ausreichend geehrt worden, wurde es langsam still. Stunden waren vergangen, doch niemand war gewichen. Schwache waren zwischenzeitlich gestützt werden. Diejenigen, welche die Trauer übermannt hatten fanden im Kreise Beistand, Zuspruch, Halt und Trost.

Dwarosch brummte zufrieden, als er erkannte, dass es nun gut war. Auch er hatte geweint und seiner Trauer damit Ausdruck verliehen. Es wäre falsch gewesen, es nicht zu tun, dies war Teil ihres Erbes, ihrer Kultur, ganz natürlich - so empfanden es die Menschen, die im Innersten der Kreise standen. Heiser stimmte Dwarosch ein Lied an, welches von der dunkelsten Stunde in der langen Geschichte der Zwergen kündete, als der geflügelte, geschuppte Tod, die Horden des goldenen Drachen, die Bingen und Sippenhallen ihrer Heimat verheerten, als gar das gesamte Volk der Zwerge drohte, unterzugehen. Was für das menschliche Ohr einer Beleidigung gleichkommen musste, war für die Angroschim in erster Linie authentisch und gleich dem Anfachen ihres immerwährend brennenden, inneren Feuers. Es kam nicht auf das wie an, nur darauf, dass das Lied gesungen wurde. Die Stimme des Oberst sollte nur die ersten paar Zeilen des Liedes einsam klingen, denn dann fielen andere mit ein, Soldaten und Soldatinnen des Regimentes, wie auch Bürger der Stadt. Und wenn sie der zwergischen Zunge nicht mächtig waren, so brummten sie mit und unterstützten die anderen auf diese Weise. Alsbald sangen alle, die sich auf dem großen Platz vor dem Tempel versammelt hatten, immer selbstsicherer, immer kraftvoller. Das Lied, welches zu Beginn düster und bitter von Tod und Zerstörung erzählte, wandelte sich von Strophe zu Strophe immer mehr zu einer wahren Hymne des Zwergenvolkes, welche von einem glorreichen Sieg gegen den vermeintlichen Gottdrachen, von große Stolz, aber auch ihrem trotzigem Wesen, alten Traditionen und heldenhaftem Mut berichtete. Nach der Trauer kommt der Trotz, so empfand es Marbolieb. Sie stärkten ihr Gemeinschaftsgefühl durch jeden Verlust, indem sie den großen Feind beschworen. Etwas, das sich auch die Menschen zu eigen gemacht hatten, dachte sie bei sich, ergriffen vom Moment. Als das Lied schließlich geendet hatte, ergriff Dwarosch ein letztes Mal, jetzt mit festem Ton, das Wort. “Eine Bitte muss ich noch an euch richten, bevor ihr esst, trinkt und weiter eure gefallenen Brüder und Schwestern ehrt. Ehret unsere Bräuche, tragt ihre Namen weiter. Sie haben heute einen weiteren, stolzen Klang erhalten.“

In Borons Armen

Während des gesamten Rituals hatte der Oberst die Geweihte gehalten, nachdem ihr die Beine den Dienst versagten. Eng gesteckt waren die körperlichen Grenzen der jungen Frau – im Gegensatz zu ihrem starken Willen, der sie über jede Beschränkung hinaustrieb. Wieder zurück hatte Marbolieb es irgendwie geschafft, sich den schmierigen, stinkenden Qualm der Scheiterhaufen, der sich wie eine schwarze Schicht auf Kleider und Körper legte, abzuwaschen, ehe sie vollkommen erschöpft in die Arme des Schlafes glitt. Sie erwachte vom ungnädigen Greinen ihrer Tochter, deren Quengeln von Hunger, schlimmer aber noch von Langeweile kündete. Die Beschwerden indes verstummten rasch und wurden durch das Klirren und Klingeln von Metallperlen abgelöst – ein deutlicher Hinweis, wie das Kind sich zu beschäftigten wusste. „Dwarosch?“ Die Geweihte tastete neben sich und verzog das Gesicht, als ihr diese Bewegung einen erneuten Stich in die Finger versetzte. Die Laken neben ihr waren warm, aber leer. „Ja, ich bin hier“, erklärte Dwarosch mit leiser Stimme. „Deine Tochter wurde wach und hatte andere Pläne, als ausgerechnet weiterzuschlafen.“ Marbolieb hörte, dass er bei seinen Worten schmunzelte, sie brauchte es nicht zu sehen. „Ich geh gleich nach oben und werde ihr einen Brei machen“, erklärte er. „Versuch zu schlafen, du musst dich erholen.“ „Komm’ zurück, wenn sie satt ist.“ Müdigkeit war ebenso unwichtig wie die Frostbeulen auf ihren Fingern und Zehen. Schlafen würde sie noch übergenug. Sinnierend hing sie ihren Gedanken nach und lauschte den schweren Schritten, die vom Aufbruch des Zwerges kündeten. Mehr und mehr reifte in ihr die Überzeugung, dass Dwarosch davonlief – auch wenn ihm dies selbst vermutlich nicht einmal bewusst war. Doch wovor? Marbolieb war sich gewiss, keine Gefahr für ihn darzustellen – aber dies hatte wenig damit zu schaffen, was er selbst sah – oder vielmehr befürchtete.

Eine ungewisse Zeitspanne später wurde die Geweihte erneut durch ihre Tochter geweckt. Diesmal jedoch war es eine letzte, von Mirla vorgetragene Beschwerde, die Marbolieb vernahm. Sie war unzweifelhaft an Dwarosch adressiert, der wohl dabei war, sie wieder in ihr Bettchen zu legen. Kurz darauf schien sie bereits eingeschlafen zu sein, denn Stille kehrte ein. Einzig die leise, ruhige Atmung von Mirla und die deutlich tiefere des Zwergen war zu vernehmen. Dwarosch schien unschlüssig im Raum zu stehen. „Dwarosch?“ schlaftrunken flüsterte Marbolieb in den Raum. „Was ist?“ Sie tastete neben sich und über den Rand der eisernen Bettstatt und sog scharf die Luft ein, als ihr die Bewegung Nadeln durch die Fingerspitzen trieb. „Wo bist du?“ „Ich bin hier“, antworte er sanft, aber auch beträchtliche Müdigkeit lag in seiner Stimme. „Mirla schläft. Sie war sehr hungrig.“ Marbolieb hörte seine Schritte. Er näherte sich ihr und setzte sich auf die Bettkante, wo Dwarosch Finger auf der Suche nach Marboliebs Hand begannen, über das Laken zu tasten. Die Geweihte holte tief Luft, als sie die breite Pranke des Zwergen auf ihren geschwollenen, knotigen Fingern spürte. Ein, zwei Atemzüge lang sammelte sie sich, ehe sie leise seufzte. „Komm zu mir.“ bat sie, und rückte zur Wand, um ihm Platz zu machen. Besonders breit war die Bettstatt nicht, nicht für zwei - diese Erfahrung hatte der Oberst schon vor geraumer Zeit gemacht. „Was ist mit deiner Hand?“ Der Oberst wirkte irritiert ob Marboliebs schmerzerfüllten Zurückweichens. Er kam ihrer Bitte jedoch trotzdem sogleich nach und legte sich langsam und vorsichtig neben sie auf die Seite, nicht auf den Rücken, denn dann wäre ihr kein Platz mehr geblieben. „Zu kalt.“ Erleichtert schmiegte sie sich an die Seite des Oberst, darauf bedacht, ihre Finger nicht zu belasten. Sie grub ihr Gesicht an seine Wange und seufzte abermals, zufrieden diesesmal. „So ist es viel besser.“ Warm war ihr Körper unter dem knielangen Unterhemd aus grobem Leinen, das sie wie immer zum Schlafen trug. „Du klingst müde.“ stellte sie fest. Dwarosch seufzte ob der ihn erwartenden, wohligen Bettwärme und der Nähe Marboliebs. "Topaxa wird dir morgen eine Salbe dafür anrühren. Sie kennt da ein sehr gutes Hausmittel. Es stinkt nur leider bestialisch." Marbolieb hörte das Grinsen in seinem Gesicht, sie hatte es vor Augen, trotz ihrer Blindheit. "Ja. Ich bin müde und auch erschöpft", sprach der Zwerg weiter. "Es war ein sehr langer Gewaltmarsch zurück durch die Kälte. Die Einstiege zu den Tunneln Isnatoschs waren aufgrund des ganzen Schnees nicht auszumachen und wohl auch verschüttet. Aber", der Oberst zögerte kurz und schien über seine nächsten Worte nachzudenken. "Wenn ich die Bemerkung Borindarax’ richtig deute, habt ihr eure Zeit auch nicht vor dem Kamin verbracht." „Wir waren auf Burg Nilsitz und haben einige arme Seelen zur Ruhe gebettet.“ Marbolieb drehte sich, bis sie eine bequeme Position gefunden hatte, und legte vorsichtig einen Arm über die Brust des Zwergen, wobei sie über die kunstvollen Flechten seines geschmückten Bartes strich. Wieviel gerner wäre sie mit ihrer Tochter am Herdfeuer in der Küche geblieben, als sich auf die lange Schlittenfahrt zu machen. Sie lächelte, glücklich ob seiner Nähe – aber auch etwas unsicher. „Macht es dir etwas aus, hier zu schlafen?“ “Auf Burg Nilsitz?” Die Stimme des Oberst verriet Überraschung. “Was wolltet ihr denn dort? Der Weg ist weit und beschwerlich dieser Tage.” Er legte seinen breiten, schweren Arm um die zarte Schulter der Geweihten und begann, ihr den Nacken zu kraulen. “Wenn du nicht zu müde und erschöpft bist, so berichte mir, wie es dazu kam. Meine Geschichte kennt als Helden eh’ nur unsere treuen Suchhunde, die niemals aufgaben und am Ende alle Leichen, oder besser alle Überreste finden sollten. Bitte erspare mir, diese traurige Geschichte aufs Neue durchleben zu müssen.” Dwarosch seufzte und küsste Marboliebs Kopf. Sie spürte die Trauer in ihm. Ihr Haar waren inzwischen über zwei Fingerbreit lang. Seit ihrer Entführung hatte sie es nicht mehr geschoren, und nun war es, dicht, pechschwarz und glatt, auf genau die richtige Länge gewachsen, um ihn nachdrücklich in der Nase zu kitzeln. Mit knappen, wohlüberlegten Worten berichtete die kleine Priesterin von den Ereignissen am Großen Fluss und unter der Festung, ließ aber die Fahrt ebenso aus wie ihre Erkältung, die sie dabei gebeutelt hatte. „Du weißt, dass Du mir alles erzählen darfst.“ bot sie auf seine schmerzlich kurze Schilderung der Suche an, schmiegte sich in seinen Arm – und erstarrte unter seiner unerwarteten Geste. Tief holte sie Atem, fast ein kleines Seufzen, und lehnte ihren Kopf an seinen Hals. „Das weiß ich, Marbolieb. Das weiß ich. Danke“, sprach der Zwerg leise und mit einem leichten Zittern in der Stimme. Eine einzelne Träne, geboren aus dem Schmerz des Verlustes, aber auch aus der Süße des Momentes und der Gewissheit, dass er es gut getroffen hatte, rann seine Wange hinab und verfing sich in seinem Bart. Ja, Dwarosch verspürte Glück und tiefe Dankbarkeit. Eine Zeitlang war es still. Beide, Dwarosch und Marbolieb, genossen die Nähe des jeweils anderen und den Frieden des Augenblicks in Zweisamkeit. Dem Oberst jedoch waren einige Zwischentöne in der Erzählung der Geweihten aufgefallen, die ihn stutzig gemacht hatten und die er trotz darüber nachzudenken nicht einzuordnen vermochte. Dies Thema war ihm allemal lieber, als darüber zu berichten, wie wenig sie von den Toten hatten auffinden können. „Du scheinst einen gewissen Grad der Beunruhigung wegen dem zu verspüren, dass du gesehen hast- oder vielmehr, weil du überhaupt in der Lage warst es zu sehen“, begann er zaghaft, darauf bedacht keine verletzende Mutmaßung zu äußern. „Hältst du es nicht für ein Geschenk des Unergründlichen, oder bist du dir darüber im Unklaren, zweifelst womöglich?“ Der Oberst spürte, wie sich die zierliche Frau in seinen Armen versteifte. Sie schluckte und er fühlte mehr, als er in dem fahlen Zwielicht, das unter der Tür hindurchsickerte, sehen konnte, wie sie den Kopf schüttelte. „Ich weiß nicht, was es ist.“ Sie schwieg einige Augenblicke und kuschelte sich enger an die muskulöse Gestalt Dwaroschs, ehe sie im Flüsterton fortfuhr. „Doch es macht mir Sorgen. Der Schweigsame ist nicht freigiebig mit seinen Geschenken, seine Widersacherin indes umso mehr.“ Sie schluckte, atmete tief durch und achtete einige Herzschläge lang auf ihre Atmung. Ihre Stimme klang wieder in sich ruhend und gleichförmig – doch die gemeinsame Zeit hatte den Zwergen gelehrt, welche Kontrolle die Geweihte über sich auszuüben vermochte. Einige weitere Atemzüge lang führte Schweigen das Regiment, bis Marbolieb es brach. „Doch ich kann dies hier und jetzt nicht ändern. Ich bin wachsam und versuche es zu meiden.“ Sie hob ihre Hand und strich federleicht über die Wange des Zwergen –bedacht darauf, ihre schmerzenden Finger nicht zu belasten. Ihre Fingerkuppen folgten der feuchten Spur auf seiner Wange und fingen den einzelnen Tropfen ein. Sanft fühlte Dwarosch den Atem der Frau an seinem Hals. „Ist es Dir unangenehm, hier zu sein?“ „Nein! Es gibt keinen Ort an dem ich jetzt lieber wäre.“ Dwaroschs Stimme verriet Unverständnis. „Wie kommst du zu dieser Annahme?“ Marbolieb schwieg einen Atemzug lang. „Du machst den Eindruck, als würdest du dich unwohl dabei fühlen, hier zu schlafen. Ist das so?“ Aufmerksam klang ihre Stimme, nicht mehr als ein Flüstern. Sie schloss sie Augen und gab sich dem Frieden und der Wärme des Moments hin ... und genoss das Streicheln von Dwaroschs Hand in ihrem Nacken. Hart und verspannt waren ihre Muskeln, hatte sie doch ihre Tochter stundenlang auf dem Arm getragen, und die leichten, gleichförmigen Bewegungen taten das Ihre, diese Härte wieder zu lockern. „Nein, dem ist nicht so. Ich fühle mich sehr wohl in diesem Moment“, antwortete Dwarosch sanft aber entschieden. Er wollte ihr dieses negative Gefühl nehmen, wusste, dass es verletzend auf sie wirken konnte. „Mir fällt es noch schwer loszulassen. Ich stehe noch unter den Eindrücken der letzten Tage und mag deswegen etwas in mich gekehrt, vielleicht gar distanziert auf dich wirken - zumindest in gewisser Weise. Das ändert aber nichts daran, dass ich bei dir sein möchte. Und bei Mirla.“ Marbolieb nickte, eine kleine Bewegung, mehr zu fühlen als zu sehen. Sie streckte ihre Beine aus und suchte sich ein Plätzchen für sie zwischen der wuchtigen Gestalt des Zwergen und der Wand, was in dem engen Bett nicht so einfach war. „Dann wirst du künftig bei mir nächtigen?“ Mehr Feststellung denn Frage war dies, und die Stimme der kleinen Priesterin klang überaus angetan von diesem Gedanken. Dwarosch indes schien kurzzeitig etwas überrumpelt von dieser Frage. „Jaaa …“, war deswegen auch die leicht verdutzt klingende Antwort, an der sich ein leises, aber dennoch herzhaftes Lachen anschloss. „Ich fürchte, du wirst es nicht leicht haben mit mir.“ „Doch dafür bist du hier.“ Sein Lachen spiegelte sich als Lächeln auf dem Gesicht der Frau. Er spürte, wie ihre Lippen leicht und fast verschüchtert seine Wange streiften, nicht mehr als der Flügelschlag eines kleinen Vogels. Sie schob ein Bein über seinen muskelbepackten Schenkel und schmiegte ihren Kopf abermals an seine Wange, nur um mit einem kleinen, unzufriedenen Murren anzuzeigen, dass sie sehr wohl bemerkt hatte, dass seine Hand in ihrem Nacken ihren Dienst eingestellt hatte. Ein tiefes Brummen verriet, dass der Zwerg die Regung Marboliebs durchaus als angenehm empfand. Dennoch verunsicherte sie ihn damit. Er wusste nicht, wie er sich ihr gegenüber zu verhalten hatte, was sie nun erwartete - ob sie überhaupt etwas erwartete. Dwarosch war mehr als einhundert Jahre älter als Marbolieb und würde sie unter normalen Umständen sicher noch um einige Jahrzehnte überleben, und trotzdem reichte all seine Lebenserfahrung nicht aus, um sich in dieser Situation souverän zu fühlen. Die Zeit würde letztlich zeigen, was sich zwischen ihnen entwickeln sollte. Dwarosch jedenfalls würde allem offen gegenüberstehen, er war sich dieser Sache zumindest sicher - bis hin zur letzten Konsequenz. Und genau diese Sicherheit, am Ende nichts zu verlieren und alles zu gewinnen zu haben, veranlasste ihn seine momentanen Zweifel daran zu überwinden was richtig und was falsch war. Wichtig war, dass er etwas tat - und so küsste er Marbolieb. Einen verwirrten Atemzug lang verharrte sie, ehe sie die sanfte Liebkosung erwiderte – warm und weich und so vorsichtig, als könne sie unter seiner Berührung in ein Dutzend Scherben zerspringen. Zufrieden seufzend kuschelte sie sich an seine Brust, und war wenige Atemzüge später eingeschlafen, ein glückliches Strahlen auf ihren feinen Zügen.

Epilog

Tief lag der Schnee über dem Land, und die Winterkälte hatte die Wälder und Wiesen in den Eisenbergen fest und unerbittlich in ihrem Würgegriff. Eine dicke Schneehaube lag über dem Turmstumpf und den Resten der Umfassungsmauern der Ruine in den Wäldern südlich der Via Ferra, nahe des Fleckens Finsterbach, die sich unter der Schneedecke zusammenkauerte wie die Küken unter den Flügeln einer Glucke, während der graue Winterhimmel behäbig und bedrohend gleichermaßen mit der Verheißung auf noch mehr Schnee und mehr Kälte über dem Land hing. Keine Sonne, die die Kristalle glitzern ließ und das Weiß in eine ifirngefällige Märchenlandschaft tauchte. Statt dessen trübes Licht, das selbst zur Mittagstunde nicht richtig hell werden wollte. Und doch regte sich etwas in dieser lebensfeindlichen Welt aus Eis, toten Mauern und hohen, kahlen Bäumen, die ihre Äste wie Totenfinger in den abweisenden Himmel reckten.

Grau und feist, der Wolkendecke ähnlich, wand sich eine fingerlange Gestalt aus dem festen, gefrorenen Firn, mühte sich über die scharfen Kristalle, fand sich zu ihrer Schwester und mit dieser zu einer Myriade weiterer Verwandter. Ein Heer von Maden, das sich zusammenballte, formte und zu einer Gestalt erwuchs, die sich aus dem unberührten Schnee erhob – bleich und hochgewachsen, schlank, von der schönen Gestalt einer jungen Frau in der allerersten Blüte ihrer Jahre. Glatt und weiß und unberührt war ihre Haut, ebenholzschwarz ihr Haar und ihre Augen wie glühende Kohlen. Als fühle sie eine Berührung, wandte sie den Kopf und gewährte mit dieser kleinen, unscheinbaren Bewegung einen Blick weit hinaus über jene Sphäre, welche die Sterblichen die Ihre hießen – blanker Knochen war die eine Hälfte ihres Gesichts, ein gleißender roter Funke in tiefer Schwärze ihr Auge, und ihre Zähne gefroren in einem viel zu weiten Grinsen. Sie hob die Fingerspitzen an ihr verunstaltetes Gesicht, strich sich über Knochen und Zahn und hob sie vor ihre Augen. Ein feiner Schimmer wie Ascheflocken rieselte von ihnen, tanzte in der Luft und zerstob, ehe er den Schnee erreichte. Über die unversehrte Hälfte ihres Gesichts legte sich purer Hass, während sie sich umwandte und über das Land blickte, weit gen Firun, dorthin, von wo ihr der eisige Winterwind ins Gesicht bließ.

***

„Die Liebe ist überall und auch der Liebe Tod. Und die Zeit, die aus Geschichten über Liebe und Tod errichtet ist.

Zeit und Tod gestehe ich Macht und Anerkennung zu.

Aber:

Was ist Liebe?“

- Tanith Lee -