Maskenball Weinbeergeiss

Kapitel 6: Weinbeergeiß

„Rahjalind!“ rief Doratrava ehrlich erfreut und konnte gerade noch an sich halten, um nicht aufzuspringen und ihr um den Hals zu fallen. Ja, ihre Eltern bemühten sich und waren nett und freundlich wie kaum zu erwarten war gegenüber einer ihnen völlig unbekannten einfachen Gauklerin. Aber Doratrava war den so nahen Umgang mit hochgestellten Leuten nicht gewöhnt und hatte sich bis eben eher so gefühlt wie die Maus vor der Schlange, immer darauf bedacht, ja nichts Falsches zu tun oder zu sagen – oder sogar zu denken bei der Leichtigkeit, wie man hier offenbar in ihrer Miene las.

Stattdessen begnügte die Gauklerin sich mit einer hoffentlich zufriedenstellenden Antwort. „Deine Eltern sind sehr freundlich zu mir. Ich kann ihnen nicht verdenken, dass sie wissen wollen, was ihre Tochter ihnen da ins Haus geholt hat.“ Doratrava blinzelte der Novizin zu, damit diese hoffentlich erkannte, wie die Bemerkung gemeint war. „Ich hoffe, am Ende des Tages alle Erwartungen erfüllt zu haben.“ Ups, was war ihr da wieder für ein Satz herausgerutscht. Erneut breitete sich ein blasses Rosa auf ihren Wangen aus, hatte sie doch keine Ahnung, was von wem der Anwesenden wirklich von ihr erwartet wurde und welche Erwartungen sie in den Gästen wecken würde. Schnell sprach sie weiter, um ihre Verlegenheit zu überspielen. „Wann geht es denn los? Und bis wann wird gefeiert? Je nachdem muss ich mir ja vielleicht meine Kräfte einteilen.“ Die Gauklerin versuchte ein unbeschwertes Lächeln, aber es schwang noch immer viel Verlegenheit darin mit. Bei den Göttern, was gab sie nur für ein Bild ab, wie ein kleines Mädchen, das nichts von der Welt wusste. Dabei war sie zu ihrer eigenen Überraschung mittlerweile schon eine junge, gestandene Frau, die möglicherweise schon mehr erlebt hatte als Rahjalinds Eltern.

Die Tochter Thymons und Addas begrüßte ihre Freundin mit einem herzlichen Lächeln. Gewandet war die Novizin in ein einfaches und züchtiges Kleid aus rot gefärbter Wolle. Ihre lange Haarpracht fiel ihr offen auf die schmalen Schultern und sie trug nichts vom Lippenrot und hob auch nicht ihre Augen mit Kohlestaub hervor, wie sie es noch am Vortag getan hatte. Das Lächeln gegenüber ihrem Gast hob ihre Laune, die nach dem, was ihre Mutter drauf und dran war auszuplaudern, im Sinken begriffen war.

Ja, dass Rahjalind ihrer Mutter nur äußerlich ähnelte, konnte Adda nur sehr schwer verkraften. Wie gerne hätte sie sich in ihrer älteren Tochter ein Abbild geschaffen. Die junge Frau hatte aber charakterlich fast gar nichts mit ihrer Mutter gemein. Ihr gab es nichts, an jeder Hand fünf Liebhaber zu halten und nebenbei die Vorzeigeehefrau zu spielen. Ihr lag nichts daran, sich stets perfekt zu inszenieren. Sie wollte ihrer Familie kein solches Ärgernis sein wie Adda es für die ihre sein musste. Nein. Rahjalind war ein liebenswürdiger Mensch. Sie setzte sich für Tiere ein und gab Bauern in ihrer Freizeit Tanzstunden, sodass auch die hart arbeitende Bevölkerung Freude an den Gaben der Göttin haben konnte – außerhalb ihrer Ehebetten wohlgemerkt. Sie erfreute sich an den lächelnden und strahlenden Gesichtern ihrer Mitmenschen, wenn sie ihnen die Scheu davor nahm, sich im Takt zu bewegen und zu drehen. Die Novizin lebte ein selbstloses Leben, ohne sich stets an anderen bereichern zu müssen.

„Meine Eltern und ´sehr freundlich´…“, sie betonte eben jene Worte besonders, als sie hinter den Stuhl ihres Vaters trat, „… das kann ich mir nicht vorstellen.“ Freche Worte einer edlen Dame, die alle am Tisch sitzenden Personen empören sollten, an welchen sich aber augenscheinlich niemand störte. Das herzliche Lachen Rahjalinds, gefolgt von einer Umarmung für ihren sitzenden Vater sollte die Situation jedoch sogleich aufklären.

Doratrava war ein wenig verwirrt von dem Austausch. Konnte Rahjalind so freizügig reden, ohne dass sie dafür zurechtgewiesen wurde? Da das nicht geschah, waren ihre Eltern denn dann vielleicht nicht eben doch ‚sehr freundlich‘?

„Wir geben uns Mühe, meine Koschammer …“, antwortete Thymon, und auch auf seinen Lippen war ein Lächeln auszumachen. Einzig Adda schien die Situation etwas unwohl zu sein.

„Das Fest wird am frühen Abend beginnen, zur Hesindestunde …“, beantwortete die Hausherrin stattdessen Doratravas Frage, „… gefeiert wird so lange wir das wollen.“ Die Halbergerin lächelte schnippisch. „Immerhin gibt es hier rundum nur Weinberge und die Weinbeergeiß wird sich wohl nicht daran stören.“

„Äh … wer ist die Weinbeergeiß?“ rutschte es Doratrava unvermittelt heraus.

„Eine Sage…“, erklärte Thymon sogleich. „Die Sage von Sankt Linnart, unserem Ahnen, und der Weinbeergeiß.“ Der Edle vom Linnartstein wies auf das Gemälde über dem großen Kamin. Darauf zu sehen war ein hübscher blonder Mann mit einer schneeweißen Ziege inmitten der Weinberge Linnartsteins. „Der Legende nach erschien Rahja dem Heiligen Linnart in Gestalt einer Ziege, unterwies ihn und segnete seine Weinstöcke … unsere Weinstöcke …“, er wies mit stolzem Gesichtsausdruck beim Fenster hinaus, „… die Stöcke unserer Ländereien wurden vor langer Zeit von Linnart gepflanzt, und da unser Wein als besonders schmackhaft bekannt und beliebt ist, könnte da schon was dran sein.“

Doratrava nickte bei dieser Erklärung vestehend, in Gedanken aber kam sie zu der Ansicht, dass Adda die Sage ihrer Bemerkung nach nicht sonderlich ernst nahm. Nun, eine Sage war eine Sage. Sie mochte einen wahren Kern haben oder auch nicht. Die Gauklerin liebte schöne Geschichten auch unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt.

Völlig unverhofft wehte ein plötzlicher Stimmungsumschwung alle besorgten Gedanken, von denen sie sich sowieso viel zu viele machte, zur Seite, und Doratrava fühlte sich auf einmal mutig. Sie blickte von Rahjalind zu Adda und streifte auch Thymon mit einem Blick, dann stand sie unvermittelt auf und drehte sich mit einem schnellen, aber eleganten Tanzschritt einmal um ihre Achse, dass der lange Rock ihres – oder vielmehr Rahjalinds – grünen Kleides sich weit aufbauschte und ihre weißen Beine, deren Füße in dünnen, flachen goldenen Sandalen steckten, bis zum Knie sichtbar wurden. „Wie gefalle ich euch überhaupt? Kann ich mich so sehen lassen?“

„Du siehst toll aus…“, jauchzte Rahjalind sogleich und klatschte erfreut in ihre Hände. „Das Grüne steht die besonders gut – das dachte ich mir schon. Passt zu deinen Augen. Wirst du es auch heute zum Fest tragen?“

„Ich bin noch am Überlegen“, antwortete Doratrava mit deutlicher Freude an Rahjalinds Begeisterung. „Doch wenn es dir so gut gefällt, werde ich wohl kaum umhin kommen?“ Sie schenkte ihrer Freundin ein aufreizendes, aber dennoch herzliches Lächeln. „Zumindest … ach, ich will nicht zuviel verraten!“ Ihr Blick schweifte für einen Moment versonnen in die Ferne. „Wobei das Kleid natürlich ein wenig lang ist, um darin allzu ausgefallene Dinge vorführen zu können. Wobei - tanzen sollte schon gehen ...“ Spontan fasste sie Rahjalind an den Händen und wirbelte sie zweimal um ihre Achse, während die Gauklerin dazu elegante, gemessene Schritte tanzte. Der lange Saum des Kleides zwang sie zur Vorsicht.

Rahjalind ließ sich kichernd mitziehen und drehte sich bereitwillig mit Doratrava im Kreis. Als sie zum Stehen kam, atmete sie schwer doch zeigte sich ein breites Strahlen auf ihrem anmutigen Gesicht.

Thymon verfolgte die Darbietung mit einem schmalen Lächeln, währen Adda mit ihrer Zunge schnalzte. „Es steht Euch, auch wenn mir ein schwarzes besser an Euch gefiele. Der Kontrast zu Eurer blassen Haut und den Haaren wäre atemberaubend. Ach was gäbe ich nur für solch eine makellos blasse Haut.“

War das der Grund für Addas anfängliche Missbilligung? Ein wenig Neid auf ihre weiße Haut, zu der dann in ihren Augen auch noch das grüne Kleid nicht passte? Wenn es so war, dann war Doratrava erleichtert, denn damit konnte sie umgehen. Sie überging Addas zweite Bemerkung, denn was hätte sie darauf sagen sollen? Sie verwarf auch die Antwort, welche sie eigentlich geben wollte, und ließ sich von ihrem ‚Mut-Anfall‘ - oder sollte man sagen, schlichter Waghalsigkeit, weiter tragen: „Im Fundus Eurer Tochter fand sich nichts Geeignetes in schwarzer Farbe.“ Schnell blickte sie zu Rahjalind hinüber. Hoffentlich verletzte sie ihre neue Freundin nicht mit dieser Aussage, oder erweckte den Anschein der Undankbarkeit, denn nichts läge ihr ferner.

Kurz schien es der Gauklerin als wog die Hausherrin ihre vorangegangene Aussage ab. „Ihr seid in etwa meine Größe …“, bemerkte sie. „Vielleicht lasse ich Euch eines von den Meinen aufs Zimmer bringen. Ihr könnt dann wählen, wenn Ihr Euch für das Fest ankleidet.“ Die Halbergerin legte ihren Kopf schief; „Nur müsste sich das Kleid vorher noch ein Schneider ansehen lassen. Meister Leofric wird heute Nachmittag hier sein und den Gästen mit ihren Kleidern helfen. Vielleicht möchtet Ihr Euch ihnen anschließen?“ Sie hob ihre Schultern. Doratrava wusste natürlich, auf was die Hausherrin ansprach, war sie als Frau doch um einiges üppiger als die junge Gauklerin.

Doratrava wurde fast ein wenig schwindelig, als ihr klar wurde, was sie da eben aus einer spontanen Laune heraus getan hatte. Und es hatte auch noch funktioniert! Sie musste nachher in einer ruhigen Ecke wirklich dringend mit Rahjalind sprechen, sonst dachte diese noch …

Die Gauklerin erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an den abwartenden Blick der Hausherrin, bevor die Pause zu lang wurde. „Ich danke Euch für das Angebot, ich werde es gerne annehmen. Vielleicht kann der Schneider auch noch etwas an der Länge dieses schönen Kleids hier machen“, sie deutete lächelnd an sich herunter. „Da fällt mir ein: es wird doch sicherlich Musiker geben, die heute Abend aufspielen? Kann ich mich mit diesen unterhalten? Und … äh … gibt es hier auch Handwerker?“ Diese Frage klang ein wenig zaghaft, Doratrava wusste, dass ihr Ansinnen zumindest seltsam klang. Schnell sprach sie weiter: „Wenn es möglich wäre, auch mit diesen zu sprechen, könnte ich vielleicht etwas Besonderes vorbereiten … aber ich will noch nichts versprechen!“ fügte sie hastig hinzu. Sie hatte ja keine Ahnung, ob möglich war, was ihr vorschwebte.

*

„Handwerker?“, Adda zog für einen Moment ihre Brauen hoch. „Was gedenkt Ihr denn zu tun?“ In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Neugier und Belustigung mit. „Es gibt hier genügend geschickte Männer und Frauen am Hof …“, sprach sie dann jedoch weiter, „… es fällt mir nur schwer abzuschätzen, ob sich das, was Ihr auch immer vor habt, innerhalb der nächsten paar Stunden bewerkstelligen lässt.“ Die Hausherrin blickte sich um, ganz so als wolle sie in diesem Moment nach etwas Bestimmten suchen. „Die Musiker sollten schon hier am Gut sein. Wenn Ihr dann runter zum Schneider geht, er hat sein Lager beim Eingang zum unteren Weinkeller aufgeschlagen, müsstet ihr irgendwo auch die Musiker finden können. Sie sind nicht zu verfehlen.“

Nun, den leisen Spott hatte sie sich wohl verdient, dachte Doratrava bei sich. Zudem wusste sie ja wirklich nicht, ob die Handwerker ihren Plan würden in die Tat umsetzen können. Sie hatten ja sicher noch eine ganze Menge andere Dinge zu tun, bis das Fest begann, und zum Schneider musste sie auch noch. Und war die Antwort Addas nun überhaupt eine Zustimmung gewesen, die Handwerker ansprechen zu dürfen? Sie traute sich nicht, nochmals nachzufragen und schüttelte unwillig den Kopf, um ihre Gedanken zu klären.

In diesem Moment machte sich ihr Magen lautstark bemerkbar. „Ups“, entfuhr es ihr errötend, als sie die Hand vor den Mund schlug. Sie hatte gestern Abend nicht viel gegessen, weil sie im Zuber eingeschlafen war (ob das Hausmädchen sie wohl an die Herrschaft verpetzt hatte?), und heute Morgen war sie bisher zu nicht mehr als einem Schluck Traubensaft gekommen.

Es sollte abermals Thymon sein, der den unausgesprochenen Wunsch der Gauklerin lesen konnte. „Ihr könnt Euch im Übrigen am Frühstückstisch gerne bedienen. Das Essen ist nicht nur zum optischen Aufputz des Zimmers aufgetragen worden.“ Mit einer einfachen Handbewegung deutete der Edle auf den Tisch und die Speisen, die sich darauf befanden. Doratrava wunderte sich über den Umgang der Edlenfamilie ihr gegenüber. Es war anders als sie dies von Adeligen des Herzogtums bisher gewohnt war. So wurde sie beinahe so behandelt, als wäre sie selbst von Stand; durfte die Gauklerin doch Kleider der Frauen der Familie tragen und sogar gemeinsam mit ihnen am selben Tisch essen. Es war für sie eine willkommene Abwechslung.

Bevor wieder etwas anderes dazwischenkam, nahm sie schnell wieder Platz und warf Thymon einen dankbaren Blick zu, bevor sie sich bediente, allerdings wie immer maßvoll und bedächtig, damit ihr nachher nichts schwer im Magen lag, wenn sie körperliche Höchstleistungen erbringen musste. Da Rahjalind auch eben erst gekommen war, hoffte sie, dass ihre neue Freundin ihr Gesellschaft leisten würde, dann konnte sie sich mit ihr in Ruhe unterhalten – wenn denn ihre Eltern, die dem Anschein nach schon gegessen hatten, anderweitig nach dem Rechten sahen. Sie schaute die Novizin erwartungsvoll und mit einem herzlichen Lächeln an.

Es sollte auch nicht mehr lange dauern bis sich Adda und Thymon entschuldigten und mit dem Hinweis sie hätten noch so einiges vorzubereiten von den jungen Frauen verabschiedeten. Auch Rahjalind griff erst jetzt beim Essen zu. Es gab Brot, allerhand Gemüse, wie Karotten und Gurken, Wurst und Käse, sowie die hier allgegenwärtigen Weintrauben aus der diesjährigen Ernte.

Als das Edlenpaar das Speisezimmer verlassen hatte, stahl sich ein sanftes Lächeln auf die Züge der Novizin. „Das lief ja besser als gedacht, oder?“ Insgeheim war sie froh, dass ihre Eltern die Gauklerin so gut aufnahmen und sie anständig behandelten. Wiewohl sie Adda und Thymon stets vor allem den korrekten Umgang mit ihren Gästen hoch angerechnet hatte. Man konnte über ihren Lebensstil streiten, doch sie verhielten sich stets korrekt.