Maskenball Verflucht

Kapitel 16: Verflucht

Im Speisesaal, der nichts anderes war als ein großes, schön eingerichtetes Zimmer, waren bereits einige Mitglieder der Gästeschaar zusammengekommen, und anders als beim Fest am gestrigen Abend hatten sie es dieses Mal auch vorgezogen, sich nicht zu maskieren. Trotz der eher in dezenter Größe gehaltenen Maskierungen am Vorabend war es der Gauklerin auf den ersten Blick nicht möglich, bekannte Gesichter der Orgie wiederzuerkennen, was aller Wahrscheinlichkeit auch daran lag, dass die Feier gestern nur sehr schlecht ausgeleuchtet gewesen war und auch die Kleidung eine nicht gar so kleine Rolle bei der Maskerade eingenommen hatte.

Doratrava wurde ein wenig verlegen, als sie erkannte, dass ihre heutige Kleidungswahl recht freizügig im Vergleich zur Garderobe war, welche die Gäste für den heutigen Morgen gewählt hatten. Doch war sie in ihren moralischen Vorstellungen auf diesem Fest mittlerweile schon so oft erschüttert worden, dass sie diese Tatsache nur noch am Rande berühren konnte, zumal das Kribbeln in ihrem Bauch vor Vorfreude, ihre Geliebte gleich wieder zu sehen, diese Regung glatt unterdrückte.

Es sollte nicht lange dauern, bis sie jene Ecke erspähte, wo ihre Freundin Rahjalind ihr Morgenmahl einnahm. Ihr gegenüber saß mit Meister Aelfwin ein weiteres bekanntes Gesicht. Die beiden waren allem Anschein nach in eine Unterhaltung vertieft, sodass sie die Ankunft der Gauklerin erst bemerkten, als diese direkt vor ihnen stand. Die junge Novizin, welche glockenhell auflachte, trug ihre lockigen Haare offen und gekämmt – gekleidet war sie in ein relativ züchtig gehaltenes dunkelblaues Wollkleid. Meister Aelfwin trug eine olivgrüne Weste aus Bausch. Von den beiden Feenküsschen war nichts zu sehen.

„Dora …“, wandte sich die junge Adelige dann an ihre Freundin, „… ich wollte dich nicht wecken und dir Frühstück bringen.“ Ihr Blick fiel auf einen Holzteller, der angerichtet mit Wurst, Brot und Käse war. „Dann ist mir Meister Aelfwin über den Weg gelaufen. Du hast mir gar nicht erzählt, dass du mit dem Gedanken spielst, dich ihm und seinen Feenküsschen anzuschließen.“ Eine Feststellung, aus der Doratrava sowohl Neugier, als auch Enttäuschung und Anklage zu hören vermochte.

Ein Stich fuhr durch Doratravas Herz, das beim Anblick ihrer Geliebten zuerst einen freudigen Sprung gemacht hatte, nur um dann einen Dämpfer zu erhalten, als sie den Halbelfen entdeckte, wie er so scheinbar innig im Gespräch mit ihrer Geliebten vertieft war. Dann fiel ihr Blick auf das Gesicht der Novizin, und sie kam nicht umhin, deren Emotionen daraus zu lesen, so gut kannte sie Rahjalind nach der kurzen, aber intimen Zeit schon. „Rahjalind …“ stammelte sie, aus dem Gleichgewicht gebracht. „Nein, also … so ist es nicht ...“ Wenn jetzt auch noch die flapsige Bemerkung dem Barden gegenüber, als dieser ihr vor so unendlich vielen Stunden angeboten hatte, seine Truppe zu begleiten, ihre Geliebte verletzen sollte, dann würde ihr das unendlich leid tun. „Das war doch, bevor wir … also … ich würde nichts tun, was ...“ Verdammt, sie war einfach nicht gut mit Worten und spürte zudem schon wieder die Tränen in ihren Augen lauern, völlig hilflos stand sie da und wusste nicht, was sie tun sollte. Heiß brannten die spöttischen Blicke des Barden auf ihrer Haut.

Rahjalind nickte ihr zu. "Ähm ... ja ...", kam es zögerlich, "... setz dich doch zu uns und iss etwas. Meister Aelfwin hat mir gerade davon erzählt, wie begeistert er von deinen Darbietungen war."

"In der Tat ...", pflichtete ihr der Barde nickend bei, "... Ihr würdet sehr gut zu uns passen." Aelfwin nahm einen Schluck aus seinem Kelch und ließ seine interessierten Augen auf dem blassen Gesicht der Gauklerin ruhen.

"Siehst du ...", setzte die Novizin jener Aussage erfreut hinzu, auch wenn jener Unterton bloß gespielt sein sollte, "... das sollte dich doch freuen. Du hättest eine Gruppe, genügend Aufträge und kämst im ganzen Efferd des Reiches herum. Besser könnte es für eine Angehörige des fahrenden Volks doch nicht laufen, oder?" Rahjalind hob interessiert ihre Augenbrauen.

Doratrava war jeglicher Appetit vergangen. Sie folgte zwar der Einladung, sich zu setzen, entspannte sich aber nicht, sondern nahm nur ganz vorne an der Kante der Bank Platz, als würde sie gleich wieder aufspringen wollen. Mühsam beherrscht wandte sie sich zuerst dem Halbelfen zu: „Meister Aelfwin, habt Dank für das Lob. Aber … können wir das nicht später noch besprechen? Ich würde jetzt gerne allein mit meiner Freundin reden.“ Die Stimme der Gauklerin klang sehr gepresst in dem Versuch, weder in Tränen auszubrechen noch in ihrer Hilflosigkeit einen Wutanfall zu bekommen und dabei noch einigermaßen freundlich zu bleiben.

Meister Aelfwin entsprach dem Wunsch der Gauklerin ohne Nachfrage. Er erhob sich vom Tisch und neigte grüßend sein Haupt. "Die Damen ...", murmelte er, dann schritt der Barde von dannen.

Rahjalind blickte dem Meister noch für einige seiner Schritte nach, dann wandte sie sich ihrer Freundin zu. Ihre grünen Augen wirkten in diesem Moment fragend, aber auch fordernd und sie schien darauf zu warten, dass Doratrava eine ungestellte Frage beantwortete.

*

Erleichtert sah auch Doratrava dem Barden nach, dann holte sie mit geschlossenen Augen zitternd Luft, bevor sie sich ihrer Geliebten zuwandte und ihr so fest und ernsthaft wie möglich in die Augen sah. „Rahjalind … bitte … ich bleibe, so lange du willst. Wenn ich damit die Chance meines Lebens verspiele, indem ich Meister Aelfwin ziehen lasse, dann soll es so sein.“ Die Gauklerin sprach leise, schließlich brauchte ihr Gespräch niemand sonst zu hören, und eindringlich, aber Rahjalind konnte deutlich vernehmen, wie sie um ihre Beherrschung kämpfte. „Nach letzter Nacht könntest du alles von mir verlangen, solange ich nur in deiner Nähe bleiben darf. Ich liebe dich von ganzem Herzen … und weiß doch, dass es nicht so einfach ist.“ Doratrava musste schlucken, bevor sie fortfuhr: „Deine Mutter hat mir vorhin unmissverständlich klar gemacht, dass sie nicht davon ausgeht, dass wir lange zusammenbleiben, weil wir aus unterschiedlichen Welten stammen und diese nicht so einfach verlassen könnten. Damit ...“, erneut musste Doratrava schlucken, deutlich konnte die Novizin sehen, wie sich das Wasser in den Augen der Gauklerin sammelte. „damit hat sie wahrscheinlich recht … aber du, du bist doch eine Dienerin der Schönen Göttin, du musst doch einen Weg kennen, damit eine Liebe wie die zwischen uns ...“ Abrupt verstummte Doratrava, als ihre Augen überliefen, bevor sie mit krächzender Stimme fragte: „Liebst du mich denn überhaupt? Oder war das nur ein Spiel für dich?“

Die Novizin hörte Doratravas Redeschwall ruhig an. Einzig bei der Frage, ob sie ihre Freundin liebe, zuckte sie kurz zusammen. Rahjalind mochte sie sehr, doch war es wohl keine Liebe. Liebe empfand sie für die Göttin und ihre Familie. Auch ihre Berufung liebte sie - die Aufgabe und das Bestreben, den Menschen die Liebe der Göttin näher zu bringen. Aber ihre Freundin ... sie war sich unschlüssig, ob sie einen normalen Menschen jemals mit jener Liebe bedenken konnte, die sie für die Göttin und ihren Glauben empfand.

Rahjalind nahm Doratravas Hand in die ihre. "Ich mag dich sehr, Dora. Und genau weil ich dich so mag, würde ich nie wollen, dass du für mich auf Dinge verzichtest, die dir wichtig sind." Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, bevor sie fortfuhr. "Ich würde nie von dir verlangen, etwas aufzugeben oder bei mir zu bleiben, obwohl es dein Herz in die weite Welt hinaus zieht." Die Novizin blickte sich um und hob dann ihre Schultern. "Ein Spiel ist die Liebe nie, ich würde so etwas nie tun. Einem Menschen etwas vorgaukeln, damit er oder sie mir gefügig wird und dann fallen lassen, nachdem ich meinen Spaß hatte", schloss sie mit einem energischen Kopfschütteln.

Doratrava ließ den Kopf hängen, so dass ihre langen Haare ihr Gesicht verdeckten. Ihre … Geliebte? … war ihr ausgewichen, das konnte doch nur bedeuten, dass … Die Tränen tropften nun auf ihre bloßen Knie, sie versuchte sich zu sammeln, um weitersprechen zu können, das dauerte aber ein paar Augenblicke. Dann sah sie wieder hoch, mit tränennassem Gesicht, und suchte erneut die grünen Augen Rahjalinds. „Ich … ich verstehe ...“ Nicht. „Aber … Meister Aelfwin, Ailil und Aife sind mir nicht wichtig, wenn du das meinst, es wäre vielleicht nett mit ihnen, und sicherer, aber ich kann mich schon lange ganz gut allein durchschlagen, ich gäbe also nichts auf, wenn ich ihnen nicht folgte. Ich … bitte, gibt es denn keinen Weg … also, muss es denn immer in Schmerzen enden?“ Nun konnte die Gauklerin das Schluchzen nicht mehr aus ihrer Stimme heraushalten. „Ich … offenbar muss ich mich immer gleich verlieben, wenn ich einem so herrlichen Menschen wie dir nahe komme, und offenbar muss ich meine Liebe dann immer sofort darauf ziehen lassen. Darf ich denn niemandem nahe kommen, geschweige denn lieben, ohne befürchten zu müssen, dass es mir das Herz zerreißt? Vom ersten Kuss an habe ich dich geliebt und vom ersten Kuss an wusste ich, wie es enden würde.“ Doratrava wollte sich schluchzend in die Arme Rahjalinds werfen, aber irgend etwas nagelte sie an ihrem Platz fest. Doch war ihre Stimme nicht mehr leise, diesen Schmerz konnte sie nicht flüsternd in Worte fassen. Tränenerstickt flehte sie ihre Freundin an: „Kann das in Rahjas Sinne sein? Was soll ich tun? Wenn ich gehe, wann wird es wieder passieren?“ Nun sank die Gauklerin weinend in sich zusammen. „Haben meine Zieheltern mich verflucht, weil ich vor ihnen geflohen bin? Bin ich zu einem rastlosen Leben ohne Liebe verdammt?“

"Verflucht ...?" Die Novizin machte ein betretenes Gesicht, "… nein ...", sie schüttelte den Kopf, "… du trägst soviel Liebe in dir. Du bist von Rahja gesegnet, nicht verflucht. Die Liebe ist jedoch immer etwas Unvorhersehbares ... etwas Spannendes und Schönes." Abermals griff Rahjalind nach der Hand ihrer Freundin. "Nur weil Liebe nicht so erwidert wird, wie wir uns das wünschen, heißt das nicht, dass man verflucht ist." Sie machte für einige Momente eine bedeutungsschwere Pause. "Ich möchte nicht, dass du aus meinem Leben verschwindest. Ich mag dich sehr, aber du musst für dich selbst wissen, ob dir das genug ist."

Die Gauklerin drückte Rahjalinds Hand an ihre nasse Wange und bedeckte sie dann mit Küssen, während sie still weiter schluchzte. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder sprechen konnte. „Was … was meinst du damit? Du magst mich genug, um mit mir Rahjas Freuden zu teilen, aber du liebst mich nicht, wie ich dich liebe?“

Erneut ließ Doratrava den Kopf hängen. Was hatte sie erwartet bei einer Novizin der Schönen Göttin? Ewige Treue, wie es ihre Zieleltern gepredigt hatten? Was hatte sie gedacht? Nichts, einfach nichts. Oder nein, das stimmte so nicht. Sie erinnerte sich noch sehr genau an die verdrängte warnende Stimme, welche sie vom ersten Kuss hatte abhalten wollen. Ein Teil von ihr war sich aller Konsequenzen von Anfang an bewusst gewesen, aber der Rausch der Gefühle hatte den Verstand wie schon damals bei Jel einfach hinweggefegt.

Nun gut, das Leben musste weitergehen, dennoch gab es noch so viel zu sagen. Zu Doratravas Schmerz trug bei, dass ihre Freundin auf ihre tausend Fragen bisher immer nur so knapp geantwortet hatte. Wie sollte sie sich ihren Kummer von der Seele reden, wenn Rahjalind gar nicht richtig auf sie einging? Schützte ihre Freundin sich so selbst? Gingen ihre Gefühle doch tiefer, als sie es sich selbst eingestehen konnte und durfte, wenn man an ihre Berufung dachte?

„Also gut“, setzte Doratrava endlich das Gespräch fort. Fast ließ sie sich von einem jähen Impuls verleiten, noch tiefer in Rahjas Hölle hinabzusteigen, doch die Frage, was sie tun musste, um Rahjalinds echte Liebe zu gewinnen, konnte sie sich gerade noch verbeißen, denn sie hatte zu viel Angst vor der Antwort. Stattdessen überlegte sie, welche der vielen offenen Stränge, welche nach einer Antwort verlangten, sie nun verfolgen sollte. „Dann hilf mir damit“, entschied sie sich schließlich. „Du erinnerst dich vielleicht noch an den ersten Abend. Ich sagte dir, ich würde deinen Rat brauchen. Denn was mir heute passiert, passierte mir schon einmal, es ist noch gar nicht so lange her, nur ein paar Götternamen.“ Doratrava machte eine kurze Pause, um zu sehen, wie Rahjalind reagierte, bevor sie tief Luft holend fortfuhr: „Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich eine Frau lieben. Zwar war es nicht mein erster Ausflug in rahjanische Gefilde, aber der erste mit einer anderen Frau und die erste echte Liebe meines Lebens. Doch war mir nach dem ersten, kurzen Rausch sofort klar, dass ich diese Liebe niemals würde erfüllen können, denn das hätte bedeutet, mein ganzes freies Leben als Gauklerin aufzugeben. Dazu war ich nicht bereit, und so zerriss ich selbst das gerade geknüpfte zarte Band. Meine damalige Geliebte, Jel, also Jelride, hat es verstanden, aber es hat mir wie, glaube ich, auch ihr, das Herz gebrochen.“ Erneut hielt die Gauklerin inne, um Rahjalinds Miene zu lesen. „Ich wollte eigentlich von dir, einer angehenden Dienerin der Schönen Göttin, wissen, wie ich mit einer solchen Situation umgehen soll. Was ich mit Jelride machen sollte. Was dann, wenn mir so etwas wieder passiert. Und dann … dann traf mich der Blitz aus heiterem Himmel erneut. Ich habe Jel nicht vergessen und bereue nichts. Aber war es falsch, mich wieder zu verlieben, in jemand anderen? Für einen kurzen Moment, wenige Stunden, war mein Herz wieder heil. Und nun … geht wieder alles in die Brüche? Es mag kein Fluch Travias sein, aber es fühlt sich verdammt noch mal so an!“