Maskenball Tanz

Kapitel 13: Tanz

Als Rahjalind von dannen schritt und Doratrava sich umsah, bemerkte sie, dass ihre Ängste wohl unbegründet waren. Viele der Gäste schienen sich nun genau jenen Gelüsten hinzugeben, die die beiden jungen Frauen vor wenigen Herzschlägen noch zu unterdrücken versuchten. Die Gauklerin sah überall um sich herum Feiernde, die einander neckten, verheißungsvolle Blicke austauschten oder sich küssen. Sie sah sich bildende Pärchen – gemischt- und gleichgeschlechtig - die sich mit roten Wangen und schwer atmend in den Armen lagen und leidenschaftlich mit Händen, Lippen und Zunge berührten, oder jene, die ihr Verlangen nicht länger unterdrücken wollten und deshalb gleich in eines der Gebäude verschwanden. Eine ältere Teilnehmerin war diesbezüglich nicht so diskret gewesen – barbusig saß die Dame auf einer der Bänke und die Ausbuchtung unter den ausladenden Röcken ihres Kleides, sowie die darunter hervorragenden Beine, zeigte der Gauklerin, dass unter eben diesem und zwischen ihren Schenkeln wohl ein anderer Teilnehmer kniete und ihr sichtlich Freude bereitete.

‚Eine Orgie‘, schoss es Doratrava durch den Kopf, während sie gar nicht mehr wusste, wo sie hinschauen sollte, um keine Szenen zu erblicken, welche ihr die Schamesröte ins Gesicht trieben, ‚aber das Fest hat doch kaum begonnen … hat Aelfwin doch alle drei Strophen des Liedes gespielt?‘ In ihrem Freudentaumel mit Rahjalind zusammen hatte sie auf die tatsächliche Melodie und den Gesang gar nicht geachtet, sondern sich einfach intuitiv treiben lassen, ihr Körper hatte das meiste ganz von selbst getan, während ihr Geist in anderen Sphären weilte.

Um Herrin ihrer Sinne und ihres Verstandes zu bleiben, beschwor Doratrava nochmals die Ekstase des Tanzes mit Rahjalind herauf und zog sie um sich wie einen schützenden Mantel. Irgendwie gelang es ihr damit, jedes travia-ungefällige Bild, auf das ihr Auge fiel, nicht als solches wahrzunehmen, sondern statt dessen an Rahjalinds warme Haut, an ihre heißen Lippen und feurigen Augen erinnert zu werden, an das Hochgefühl, welche ihre Zunge in ihrem Mund und ihre Berührungen auf ihrer Haut ausgelöst hatten, so dass sie den völligen Verfall der Moral um sich herum einigermaßen ertragen konnte.

Auch an den Tischen begann die Feier nun anzulaufen. Es wurden, für diese Breiten, feine Speisen aufgetragen. Wein aus dem Keller des Gutes, frische Weintrauben, Käse, Brot, gebratenes Fleisch vom Fasan und sogar das eine oder andere Täubchen. Es schien auch nicht wenige Gäste zu geben, die eben jene ´Fleischeslust´ dem Kopulieren mit einem der anderen Festteilnehmer vorzogen.

Doratrava sollte bei all den sich ihr bietenden Eindrücken dennoch gleich etwas, oder besser gesagt jemand, bestimmter ins Auge fallen. Sie wusste nicht, wie lange dies schon der Fall war, aber Adda stand nahe der Bühne und musterte sie mit stechendem Blick. Dem zum Gegensatz stand das milde Lächeln, welches sich in diesem Moment auf den Lippen der Halbergerin zeigte.

Als die Gauklerin sich der Aufmerksamkeit der Gastgeberin bewusst wurde, drang deren Blick durch ihren eben erst aufgebauten Panzer wie ein heißes Messer durch Butter. Doratrava fühlte sich innerlich getroffen, ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Doch das Lächeln Addas verwirrte sie. War das nur eine Maske für die Gäste, oder galt das ihr? Und warum hatte sie dann den Eindruck, der Blick von Rahjalinds Mutter ginge ihr durch Mark und Bein?

Zu einer Erwiderung sollte die junge Gauklerin jedoch nicht mehr kommen, wurde sie doch wenige Herzschläge darauf von einem der Feenküsschen abgeholt und sanft in Richtung Bühne geschoben. „Dein Tanz von vorhin macht Lust auf mehr …“, bemerkte diese, und Doratrava konnte fühlen, dass sie dabei lächelte, „… wir wollen jetzt mit dem normalen Unterhaltungsprogramm beginnen und hoffen, dass du uns unterstützt.“

Huh, was sollte diese Bemerkung über den ‚Tanz von vorhin‘ jetzt wieder bedeuten? Der Übungstanz, oder der mit Rahjalind, der natürlich kaum den Augen der Feenküsschen und des Halbelfen entgangen sein konnte? Und wenn letzterer, dann … ja dann was? Doratrava beschloss, das Thema zu wechseln, während sie sich mitziehen ließ: „Sag mal, wie heißt du eigentlich wirklich? Und wie deine Schwester? Ich mag nicht immer ‚Feenküsschen‘ zu euch sagen ...“

Das Feenküsschen lachte glockenhell auf. „Es ist dir wirklich wichtig, unsere Namen zu kennen?“, sie sah Doratrava aus großen grünen Augen an. Als keine Antwort folgte, fuhr sie fort; „Da bist du eine der ersten, die danach fragt. Die meisten interessieren sich nicht dafür. Mein Name ist Ailil und meine Schwester nennt man Aife.“

Überrascht sah Doratrava das Feen … nein, Ailil, an. „Noch niemand? Aber … stört euch das nicht? Also … ihr seid doch eigene Menschen und nicht nur Anhängsel von Aelfwin … und ihr könnt gut spielen! Aber hab‘ Dank, Ailil, und richte Aife meine besten Grüße aus. Wenn ich tatsächlich ein Stück mit euch reisen sollte, würde ich gerne eure Geschichte hören, wenn ihr sie mir erzählen mögt.“

„Gerne …“, nickte die Angesprochene, „… aber alles zu seiner Zeit. Jetzt gilt es, das zu tun, weswegen wir hier sind.“

Bei der Bühne angekommen, musterte Doratrava den Barden, dann fragte sie rundheraus: „Was hast du mit den Leuten gemacht?“

Ailil schürzte ihre Lippen. „Gefällt es dir etwa nicht?“ Fast schien es der Gauklerin, als würde die junge Frau ihre Frage als Kritik werten. „Das, was du hier siehst, ist, wofür die Gäste gekommen sind. Hat man dich darüber nicht aufgeklärt? Es sind menschliche Gelüste und Begierden …“, sie wies um sich, „… alles, was du hier siehst, ist von der Schönen Göttin gegeben und es ist herrlich.“ Das Feenküsschen gab einen vergnügten Seufzer von sich, nahm dann jedoch wieder Doratrava ins Auge. „Für so prüde hätte ich dich gar nicht gehalten“, bemerkte sie dann.

Nun, sie hatte es ja herausgefordert, das hatte sie nun mal wieder davon. Schon wieder begannen ihre Wangen sanftrosa zu leuchten, denn die Geringschätzung, oder was sie aus der Antwort von Ailil heraushörte, traf sie durchaus. Doch sie war jetzt nicht in der Stimmung, klein beizugeben. Knapp und leicht gepresst erwiderte sie „Meine Zieheltern waren Geweihte der Travia. Und nein, ‚man‘ hat nur vage Andeutungen gemacht und auf meine Nachfragen ist ‚man‘ ausgewichen.“ Doratrava blickte Aelfwin starr an, denn der hatte sich noch überhaupt nicht geäußert.

Der Meister bedachte die Gauklerin mit einem schmalen Lächeln, aus dem sie unter anderem auch Mitleid herauslesen konnte. Dabei erschloss es sich ihr jedoch nicht, ob dieses Mitleid der Tatsache geschuldet war, dass ihre Zieheltern Traviageweihte waren, oder ob es Verständnis dafür war, dass Doratrava sich mit ihrer Hintergrundgeschichte hier unwohl fühlte. „Ihr konntet Euch nicht vorstellen was das hier war? Oder habt es im Vorfeld mitbekommen?“, fragte er dann. „Ihr seid wohl nicht oft in dieser Gegend, habe ich recht?“

„Was? Nein … welche Gegend? Hier bin ich zum ersten Mal.“ Schon wieder verunsicherte sie der Blick des Barden, und sie ärgerte sich darüber. „Nein, ich wusste nicht, dass das hier … eine Orgie geben würde. Ich war bisher nur selten auf einer Adelsfeier eingeladen, und das waren alles keine … Orgien !“ Doratrava musste sich sichtlich überwinden, das Wort auszusprechen. Ob ihre Wangenfarbe nun Scham, Verlegenheit oder Zorn geschuldet war, war nun nicht mehr eindeutig festzustellen. „Und ich sagte schon, dass ich von den Gastgebern nicht eingeweiht wurde!“ Nicht einmal von Rahjalind ...

Meister Aelfwin runzelte skeptisch die Stirn. „Wer hat Euch dann hier hergeholt? Es sollte doch bekannt gewesen sein, dass Ihr solche … Zusammenkünfte … nicht schätzt.“

„Im Gegensatz zu Euch?“ entfuhr es Doratrava, bevor sie ihre Zunge im Zaum halten konnte. Dann biss sie sich auf die Lippen und erwiderte etwas ruhiger: „Rahjalind hat mich bei der Altenberger Brautschau gesehen. Offensichtlich gefielen ihr meine Darbietungen, und sie hat mich hierher eingeladen, ohne mehr zu erwähnen, als dass es sich um ein Familienfest handeln würde. Damals kannten wir uns aber noch nicht wirklich, also ...“. Die Gauklerin hielt inne, da sie keine Ahnung hatte, was Rahjalind damals in Herzogenfurt wirklich in ihr gesehen hatte, und sie wollte nun weder sinnlos darüber spekulieren, noch darüber nun mit dem arroganten Kerl diskutieren. Schon gar nicht wollte sie etwas Schlechtes von ihrer Freundin denken, denn die junge, freundliche, liebliche, süße , begehrenswerte Novizin der Schönen Göttin wollte ihr mit Sicherheit nichts Böses. Wenn sie auch garantiert nicht geahnt hatte, wohin und wie weit das Zusammentreffen mit einer gewissen Gauklerin sie führen würde. Doratrava erlaubte sich einen kleinen innerlichen Freudensprung, auch wenn sie jetzt noch nicht wusste, ob das überhaupt gerechtfertigt war. „Also konnte Rahjalind nicht wissen, das ich ‚solche Zusammenkünfte nicht schätze‘“, beendete Doratrava nach einer recht langen Pause ihren angefangenen Satz.

„Ja mir gefällt es hier…“, antwortete der Barde lächelnd, „…warum denn auch nicht? Es ist wie das ewige Fest in Rahjas Zelt. Es ist nicht verwerflich, Freude zu schenken und zu empfinden …“, er stoppte und hob mahnend den Zeigefinger, „… solange es in beidseitigem Einvernehmen geschieht.“ Beinahe väterlich umsorgend lag sein Blick auf der Gauklerin. „Und genau deshalb ist es auch wichtig, dass Ihr Euch hier wohl fühlt. Wenn Ihr unter falschen Versprechungen hier hergeholt wurdet, dann wird Euch auch niemand zum Vorwurf machen, dass Ihr Euch unverrichteter Dinge wieder entfernt.“

<a name="__DdeLink__6747_1689554537"></a> Doratrava sah den Barden ärgerlich an. Dieser belehrende Ton, das hörte sich ja fast an wie ihr Ziehvater. Sie schüttelte sich innerlich, aber sie hatte jetzt keine Lust mehr zu streiten. „Danke für den Rat, aber ich bleibe. Und tanze. Worauf warten wir?“ Die Gauklerin hörte sich weder dankbar an, noch zufrieden oder als würde sie sich sonderlich wohlfühlen, aber ihr auffordernder Blick war entschlossen.

*

Wie vorher geübt und abgesprochen, spielten die Musiker als erstes Stück ‚Grün auf immerdar‘. Doch im Gegensatz zum Übungstanz erlegte sich Doratrava diesmal keine Beschränkungen auf. Im Gegenteil, die Energie aus dem eben erlebten, aber leider so abrupt unterbrochenen Rausch mit Rahjalind musste irgendwo hin und befeuerte ihren Tanz noch mehr, zudem wollte sie die Gäste, die noch etwas anderes im Kopf hatten als orgiastisches, blindes Liebesspiel aufrütteln, ihnen bewusst machen, dass es auf dieser Feier noch etwas Besonders, nicht Alltägliches zu sehen gab: sie!

Also begann sie auf dem freien Platz vor der Bühne mit ihren zunächst der Musik angepassten langsamen Schritten und Drehungen zunächst Spannung und Aufmerksamkeit aufzubauen. Schon jetzt flog das schwarze Kleid um ihren Körper, wie die weißen Haare um ihren Kopf. Je schneller das Stück wurde, desto schneller begann auch Doratrava über den Platz zu wirbeln und schon den ein oder anderen kleinen Sprung einzuflechten. Dann ließ sie sich weg von der Bühne und durch die Reihen der Tische treiben, mit traumwandlerischer Sicherheit umging sie Hindernisse wie Diener und Beine von unvorsichtigen Gästen und präsentierte ihren Zuschauern ihre Kunst und ihren Körper aus nächster Nähe. Sie strich mit ihren Armen und Händen um die Sitzenden, Liegenden und Stehenden, natürlich, ohne sie wirklich zu berühren, sie ließ ein Bein mehrfach waagrecht über Tische schwingen, während sie sich auf dem anderen Bein drehte, was interessante Einblicke unter ihr Kleid gewährte, das war ihr in ihrer aktuellen Stimmung aber egal. Als das Stück seinem Ende und Höhepunkt zustrebte, sprang Doratrava mit einem wirbelnden Sprung auf einen der Tische, legte dort ein letztes Stakkato mit ihren Füßen hin, so dass der Tisch wie eine Trommel dröhnte, und warf sich mit dem letzten Akkord der Musik auf ein Knie nieder, um die Arme und den Kopf gleichzeitig in der Geste des triumphierenden Künstlers nach oben zu werfen und so einen Moment schwer atmend zu verharren. Dann suchte ihr Blick den Rahjalinds – und gleich darauf den Addas.

Der Tanz Doratravas schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Sehr viele der Anwesenden schienen gebannt zu sein von den rhythmisch-akrobatischen Bewegungen der Gauklerin und wieder andere empfanden bei der Darbietung eine weitere Luststeigerung. Menschen aus diesen Breiten waren den Anblick einer Frau, die sich so bewegen konnte, nicht gewohnt, was beim einen oder anderen ungeahnte Fantasien hervorzurufen schien.

Rahjalind jedoch sollte begeistert sein. Als ihre Freundin geendet hatte, klatschte sie Beifall. Neben der jungen Novizin stand Adda, die nicht ganz so begeistert wirkte und Doratrava abschätzig musterte. „Du warst großartig …“, frohlockte erstere, eilte ihr entgegen und nahm die Hände der Gauklerin in die ihren. „Was wirst du als Nächstes zeigen?“

Die Gauklerin fühlte einen Stich im Herzen. Ihrem Gefühl nach hatte sie ihr Bestes gegeben und mehr, und das war nicht wenig, wie sie mit einem gewissen Stolz mittlerweile behaupten konnte. Wenn sie jemandem mit ihrer Kunst keine Freude bereiten konnte, bereitete ihr selbst das in gleichem Maße Kummer, denn dafür lebte sie. Wenn sie auch vermutete, dass Addas Geringschätzung einen anderen Grund hatte. Schon spürte Doratrava wieder Trotz in sich aufsteigen und einen sich bildenden unheilvollen Impuls. Schnell verstärkte sie ihren Griff um Rahjalinds warme, weiche, Sinnlichkeit versprechende Hände und flüsterte ihrer Freundin zu „Was ist mit deiner Mutter?“, bevor sie laut sagte: „Zwei, drei Tänze, die ich mit den Musikern nicht geübt habe, lasst euch überraschen, wie ich es auch tun muss.“ Doratrava zwinkerte fröhlich, das störte sie überhaupt nicht. Im Gegenteil, intuitiv tanzte sie sogar eigentlich viel gerner als formal eingeübte Stücke, wo sie jeden Schritt im Voraus kannte. Sie liebte es viel mehr, überrascht zu werden und sich selbst zu überraschen mit dem, was ihre Intuition ihr eingab. Sie blickte zu Adda hinüber, denn schon wieder fühlte sie den Drang, hier und jetzt zu klären, was es zu klären gab. Musik und Tanz machten sie betrunken und hemmungslos, dazu brauchte es keinen Weingeist, wie sie sich ironisch eingestand.

„Mutter …“, flüsterte Rahjalind dann, „… sie ist nicht ganz damit einverstanden, dass wir beide … du weist schon …“, sie stoppte und ein rötlicher Schimmer legte sich auf ihre Wangen. „Sieh es nicht als Kritik an deiner Kunst.“ Die Novizin wandte sich kurz zu Adda um, die jedoch allem Anschein nach gerade in ein Gespräch vertieft war. „Gerade sie sollte sich dazu nicht äußern, hält sie sich doch an jedem Finger fünf Liebhaber und macht kein Geheimnis daraus …“, die junge Adelige schnaubte, „…lass dir davon nicht die Stimmung vermiesen – sie wird sich schon wieder beruhigen.“

‚Na gut‘, dachte Doratrava bei sich, ‚dann ist das ja geklärt. Genau, was ich vermutet habe, und irgendwann, spätestens morgen, werde ich mich dem stellen müssen … nachdem ich mich mir selbst gestellt habe.‘ Zu Rahjalind gewandt antwortete sie mit schiefem Lächeln: „In Ordnung, ich versuch‘s. Aber ich fürchte, ich muss jetzt wieder zu Meister Aelfwin, sonst wird er noch ungeduldig!“ Sie zwinkerte Rahjalind kurz zu und wollte sich schon lösen, aber dann konnte sie der Versuchung doch nicht widerstehen und zog Rahjalind erneut in eine Umarmung, um sie leidenschaftlich und hungrig zu küssen. Dabei drehte sie sich ein wenig weg von Adda, damit sie deren Blick nicht sehen musste, sollte ihr das, was direkt neben ihr geschah, zufällig auffallen.

Rahjalind genoss den Kuss und sie schien sich nicht daran zu stören, dass ihre Mutter, die sich vor wenigen Momenten noch darüber echauffiert hatte, nur wenige Schritt neben ihnen stand. Insgeheim ärgerte sie die geplante Intervention ihrer Mutter – jener Frau, die sich beim Ausleben ihres Triebes nie besonders diskret war. Auch nicht in Gegenwart ihrer Kinder. Dasselbe galt auch für ihren Vater Thymon, der wohl gegenwärtig auch irgendwo hier am Anwesen zwischen den Schenkeln einer Dirne vergnügte. Ja, was dachte Adda, dass sie als Rahja-Novizin keusch lebte. Nun war Rahjalind eine Dienerin der Schönen Göttin, die vor allem die bildenden Künste und den Umgang mit Pferden liebte, doch kam es mitunter schon vor, dass ein Gläubiger oder eine Gläubige ihr Interesse weckte und sie gemeinsam der liebreizenden Göttin opferten. Die junge Adelige hoffte insgeheim, dass der Abend für Doratrava nicht so schlimm war, wie sie befürchtete.

Viel zu schnell löste sich die Gauklerin von ihrer Freundin, winkte ihr glücklich lächelnd zu und kehrte zur Bühne zurück. Sie sprach sich kurz mit den Barden ab, dann begann sie erneut zu tanzen. Diesmal beschränkte sie sich auf ruhigere Tänze, die der vorgesehenen Musik Aelfwins, Ailils und Aifes folgten und nicht den Anspruch hegten, die volle Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen. Dennoch legte Doratrava auch in diese Tänze ihren vollen künstlerischen Ausdruck, obwohl sie ihre Schritte und Bewegungen rein intuitiv an die Musik anpasste und sich von der Melodie, dem Gesang und ihrer eigenen Stimmung leiten ließ. Letztere war noch immer in Aufruhr, manchmal musste die Gauklerin ein Zittern unterdrücken, wenn sie daran dachte, wie viele Stunden es noch sein würden, bis sie endlich mit Rahjalind allein war. Das drückte sich in ihrem Tanz dann manchmal doch in gelegentlich eingestreuten wilden Sprüngen und Drehungen aus, welche den ein oder anderen Zuschauer zu überraschen vermochten.

Soweit ihr Gemütszustand und die Konzentration auf die Ausübung ihrer Kunst es zuließen, versuchte Doratrava, die Stimmung unter den Gästen (und ein ganz klein wenig zaghaft auch Addas, wenn sie diese denn erblicken konnte) im Auge zu behalten. Sie wusste nicht genau, was sie fürchtete, aber sie war sich eben nicht sicher, ob sie schon alle Abgründe des Tages gesehen hatte. Auch nach Rahjalind hielt Doratrava immer wieder Ausschau, einerseits, weil sie von ihrem Anblick nicht genug kriegen konnte, und andererseits, weil immer noch der Wunsch ihrer Freundin, beschützt zu werden, in einem Winkel ihres Kopfes präsent war.

Rahjalind schien in Gedanken immer bei ihrer Freundin zu sein. Mit großen Augen sah sie ihr beim Tanzen zu und bewunderte die Beweglichkeit und das Gefühl, das sie in ihre Kunst legte. Was täte sie an diesem Abend nur ohne Doratrava – auch wenn sie durch den Tanz zu der Musik Meister Aelfwins selten bis gar nicht in ihrer direkten Nähe war, so half ihr dennoch die Präsenz der jungen Gauklerin auf diesem ´Fest´. So kam es auch, dass sie über mehr oder weniger geschickte Annäherungsversuche diverser Festgäste hinwegsehen konnte.

Die junge Adelige hatte es sich inzwischen auf einer der Bänke bequem gemacht und beobachtete das Treiben auf dem Fest. Die anfängliche allgemeine Ausgelassenheit wurde weniger, was in erster Linie daran lag, dass sich viele der Gäste zu zweit oder mehreren in ruhigere Gefilde zurückzogen. Dennoch wurde immer noch viel getanzt und gespeist. Auch Rahjalind hatte sich eine Weinrebe geschnappt und schob sich genüsslich eine Traube nach der anderen in den Mund.

Als ihr Blick den Doratravas traf, bedeutete sie ihr freudig, sich zu ihr zu setzen. „Setz dich, iss und trink …“, sprach die Novizin im Stile einer vollendeten Gastgeberin. „Ich hoffe der Abend ist nicht so schlimm für dich, wie es ab und zu den Anschein hat.“ Rahjalind konnte es an der Körpersprache ihrer Freundin ganz deutlich sehen, dass sie nicht unbedingt glücklich mit den Vorgängen hier war. „Ich bin dir auf jeden Fall dankbar dafür, dass du hier bist. Das lenkt mich ab.“

Schwer atmend lehnte sich die Gauklerin an Rahjalinds Schulter, was sofort wieder ein wohliges Kribbeln durch ihren Bauch jagte. Sie nahm mit geschlossenen Augen einen Schluck aus einem Kelch, verzichtete aber auf Essen, das würde ihr jetzt nicht gut tun, sie war ja noch nicht fertig, im Gegenteil. Dennoch genoss sie die dringend nötige Pause und ging schließlich auf Rahjalinds Frage ein: „Du hättest mich schon ein bisschen besser vorbereiten können … warum hast du es nicht getan? Hast du Angst gehabt, ich würde davonlaufen?“ Sie ließ Rahjalind gar keine Zeit zu antworten, sondern tat das gleich selbst: „Ja, vielleicht wäre ich das sogar … und dann hätten wir niemals …“ Doratrava stellte den Kelch zur Seite und zog das Gesicht der Novizin sanft zu sich heran, um sie erneut lange und hingebungsvoll zu küssen, bevor sie weitersprach: „Das hier entschädigt mich für alles, was mir heute an diesem Ort sonst noch geschehen mag“, flüsterte die Gauklerin heiser. „Wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, dann muss ich deiner Mutter … und vielleicht sogar dem frechen Halbelfen dankbar sein. Wenn dies hier eine ganz normale Feier gewesen wäre, hätte ich vermutlich niemals den Mut gefunden, mich in dich zu verlieben und das so offen und öffentlich zu zeigen. Da gibt es noch viel mehr zu sagen, für das wir jetzt nicht die Zeit haben, lass‘ uns das später machen, wenn wir allein sind.“ Doratravas weiße Finger fuhren leicht über Rahjalinds Wangen, als sie ihre Freundin zärtlich betrachtete. „Also mach‘ dir jetzt keine Gedanken mehr, mir weh getan zu haben, denn das hast du, um mich gleich darauf tausendfach dafür zu entschädigen. Wobei ich hoffe, mehr zu sein als eine Ablenkung?“ Ein ganz klein wenig Angst mischte sich in die eben noch so liebevoll-zufriedene Stimme der Gauklerin.

Regelrecht erschlagen fühlte sich Rahjalind von der Vielzahl an Fragen, den leidenschaftlichen Berührungen und dem Liebesgeständnis. Gerade Letzteres machte der jungen Novizin etwas Sorgen. Sie genoss die Nähe der jungen Gauklerin, doch wusste sie um die zerstörerische Wirkung, die unerwiderte Liebe auf einen Menschen haben konnte. Dennoch beschloss sie für sich, dies vorerst nicht anzusprechen – es würden sich in der kommenden Zeit mit Sicherheit genügend Gelegenheiten bieten.

„Ablenkung, ach…“, Rahjalind nahm die Hand ihrer Freundin in die ihre und schlang ihre Finger zwischen jene Doratravas, „…ich bin glücklich, dass du da bist. Ich habe mich lange vor diesem Fest gefürchtet und mich auch ein bisschen geschämt, dir davon zu erzählen. Jetzt könnte ich mir keinen Ort vorstellen wo ich nun lieber wäre.“ Sie lächelte herzlich. „Ich möchte die Nacht mit dir verbringen und morgen können wir gemeinsam ausreiten – ich hoffe, das Wetter bleibt schön.“

„Aber was ist es, von dem du abgelenkt werden willst?“ fuhr Doratrava dann mit etwas mehr Ernst und Besorgnis fort. „Das alles hier kann doch nichts Neues für dich sein, wenn ich all die vielen Andeutungen richtig verstanden habe?“

Die Novizin schüttelte ihr Haupt. „Es ist nichts Neues für mich, nein, aber dennoch muss ich es nicht gut finden oder mich hier wohl fühlen.“

Doratrava dachte an die Worte Aelfwins vom Anfang des Festes. Wie war das mit allseitigem Einverständnis? Doch Rahjalind konnte als Tochter der Gastgeber wohl nicht einfach davonlaufen … aber sie hatte offensichtlich eine andere Lösung gefunden, welche etwas mit einer kleinen, exotischen Gauklerin zu tun hatte. Die sich glücklich dafür schätzte.

Dann erst drang die Bedeutung der Worte, welche die Novizin vor der Antwort auf die letzte Frage gesprochen hatte, zu ihr durch. Ihr wurde erneut ganz warm ums Herz und fast ein wenig schwindlig. Die Nacht mit Rahjalind, und morgen dann ausreiten … aber noch musste das alles warten.

Ein letztes Mal für den Moment küsste Doratrava ihre Freundin, um sich dann von ihr zu lösen. „Ich gehe mich umziehen. Ich kann doch das schöne Kleid, das ich von dir habe, jetzt nicht in meinem Zimmer versauern lassen!“ Sie zwinkerte Rahjalind lächelnd zu und machte sich auf den Weg.

Rahjalind nickte und entließ ihre Freundin mit einem Lächeln und einem seltsamen Glanz in ihren Augen.