Maskenball Schneider

Kapitel 8: Schneider

Als Doratrava nach dem Frühstück wieder auf ihr Zimmer kam, bemerkte sie, dass man ihr schon zwei Kleider der Hausherrin aufs Bett gelegt hatte. Eines davon war ähnlich dem Grünen geschnitten, welches sie trug, nur eben in Schwarz gehalten, das andere, auch in Schwarz, ein bisschen ausladender mit einigen Unterröcken mehr. Darüber hinaus wurden ihr zwei Masken bereitgelegt. Eine in Smaragdgrün, die andere in Schwarz und geschmückt mit der langen Schwungfeder eines Paradiesvogels.

Die Masken fielen Doratrava zuerst ins Auge. Ihr erster Gedanke war, sie einfach nicht weiter zu beachten, aber dann ging ihr auf, dass sie sich vielleicht doch besser an die hiesigen Gepflogenheiten halten sollte. Irgendwann hatte sonst vor allem Addas Geduld mit ihr möglicherweise ein Ende. Sie war sowieso überrascht, dass sie der edlen Dame aus einer Laune heraus sogar zwei Kleider hatte aus dem Kreuz leiern können. Allerdings … das mit den mehreren Unterröcken kam überhaupt nicht in Betracht, damit konnte sie rein gar nichts anfangen, wenn sie nicht nur herumsitzen wollte, und dafür hatte Rahjalind sie sicher nicht eingeladen. Also blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich mit dem anderen Kleid zu befassen, das musste sie zumindest eine Zeitlang tragen – nachdem es der Schneider ihrer schlanken Figur angepasst hatte. Sie trat zum Bett und hob das Kleid in die Höhe, um es genauer zu betrachten. Es war aus sehr leichtem, seidigem Stoff – und hatte den gleichen Schlitz wie das Gewand, welches Adda am Vorabend bei der Begrüßung getragen hatte. Die Ärmel waren lang im Gegensatz zu dem grünen Kleid, und leider nicht abnehmbar, dafür endeten sie in feinen Spitzen. Ein dünner, kunstvoll geknoteter Gürtel mit dezenten goldenen Verzierungen betonte die Hüfte. Ein Mieder war nicht dabei, hier sollte allein der Schnitt die Brüste betonen. Was bei Adda sicher besser funktionierte als bei ihr, wie Doratrava ein wenig neidisch sinnierte. Vorne hochgeschlossen, war das Kleid am Rücken tief ausgeschnitten, doch mit einer kunstvollen, golddurchwirkten Schnürung versehen, welche zwar nichts verbarg, aber in ihrer Kunstfertigkeit einen ganz eigenen Blickfang darstellte. Es gab hier nur einen Unterrock, genauso geschlitzt wie das Hauptkleid, aber den würde sie sicher nicht anziehen.

Nach Schuhen hatte sie niemand gefragt, zum Glück hatte sie daran gedacht, die flachen goldenen Sandalen mitzubringen, das einzige, was von ihrem Schuhwerk, das sonst eher aus praktischen Stiefeln bestand, überhaupt zu den Kleidern passte. Ihre akrobatischen Vorführungen, die sie nur auf größeren Festen zum Besten gab, vollführte sie immer barfuß, um des besseren Halts und Gefühls willen, aber ohne Schuhe tanzen konnte sie wohl eher nicht in solch edler Gesellschaft. Obwohl, wenn sie es recht bedachte … man würde sehen. Die Gauklerin lächelte still vor sich hin. Manchmal war ein Gaukler ein Schelm ...

Doratrava wechselte in eine saubere Garnitur Straßenkleidung, allerdings blieb sie barfuß, denn die Sandalen passten nicht und die Stiefel würden sie behindern, falls sie mit den Musikern Tanzschritte durchgehen musste. Dann raffte sie die Kleider zusammen, nahm auch die Masken an sich und verließ ihr Zimmer, um nach dem Schneider zu suchen. Sie hatte ganz versäumt zu fragen, wo denn der Weinkeller sei, aber es liefen ja genügend Bedienstete herum. Vielleicht fand sie auch Rahjalind unterwegs. Gern hätte sie den Rat ihrer Freundin, wenn es an das Anpassen der Gewänder ging. Fröhlich und ein wenig falsch pfeifend eilte sie mit vollen Armen nach draußen.

Draußen auf dem Hof war nun schon deutlich mehr Betrieb als bei Tagesanbruch. Auch die ersten Gäste konnte die junge Frau bereits ausmachen, dachte sie zumindest, denn viele der Feiernden, die schon eingetroffen waren, wollten wohl auch zu diesem frühen Zeitpunkt des Tages nicht erkannt werden. Warum genau würde sich Doratrava wohl erst dann erschließen, wenn das Fest eröffnet wurde. Sie war schon gespannt darauf.

Über kiesigen Boden, der auf ihren nackten Füßen reichlich unangenehm war, schritt die Gauklerin aus dem Herrenhaus hinaus in Richtung der Nebengebäude, wo sie den unteren Weinkeller vermutete. Puh, hoffentlich war das auf dem Festplatz nicht auch so, sonst musste sie sich etwas einfallen lassen. Aber die hohen Herrschaften trugen doch in der Regel Schuhe, welche sich mit so einem Boden nicht gut vertrugen, insofern hoffte sie das Beste.

Erst jetzt eröffnete sich ihr die volle Schönheit der Gegend. Sie konnte von hier leicht bis hinunter ins Dorf Linnartstein und sogar den glitzernden Großen Fluss im Rahja sehen. In weiterer Entfernung konnte man auch die Eisenwald, Ingrakuppen und die Windhagberge ausmachen. Die Gegend rund um das Gut war von schier endlosen Weinbergen dominiert, die ob der Jahreszeit alle schon ein leuchtend braun-orangenes Blätterkleid trugen. Der Tag war für einen Praioslauf im späten Travia sonnig und sogar recht warm. Im Travia konnte es in dieser Gegend auch schon mal schneien, dachte Doratrava bei sich. Welche Art Feste hier dann wohl gefeiert wurden?

*

Durch das emsige Treiben auf dem ganzen Gut dauerte es etwas länger, bis Doratrava den Eingang zu besagtem Weinkeller fand. Auch dort hatte sich bereits jetzt eine Gruppe Gäste eingefunden, die auf die Dienstleistungen Meister Leofrics wartete. Ein an diesem Tag sehr begehrter Mann, wie es schien. Leofric war ein recht klein gewachsener Schneider aus dem Albernischen, doch zeichneten ihn vor allem seine geschickten und flinken Finger aus. Es sollte demnach nur ein halbes Stundenglas dauern, bis Doratrava zu ihm hineingebeten wurde. Die impulsive Gauklerin war es nicht gewöhnt, so lange untätig herumzustehen, und war zunehmend ungeduldig geworden. Sie hatte begonnen, mit einem Bein zu einem unhörbaren Takt zu wippen und die Wartezeit nur damit halbwegs überstanden, dass sie weitere Pläne für ihre Aufführungen heute Abend geschmiedet – und wieder verworfen – hatte. Endlich vorne angekommen sah sie den Meister und eine Gehilfin, wie sie etwas gestresst wirkend den nächsten Kunden erwarteten.

Als Leofric der jungen Frau ansichtig wurde, stemmte er seine Hand gegen seine Hüfte und schüttelte leicht den Kopf. „Mädchen, nein … nein …“, er blies sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, „… so wird das nichts … ausziehen und Kleid anziehen …“

Die Gauklerin zuckte etwas zurück bei der harschen ‚Begrüßung‘. „Äh … ja, deswegen bin ich hier, aber wollt Ihr nicht erst wissen, was ich genau von Euch will?“ fragte sie leicht eingeschüchtert.

"Was ich ...", der Angesprochene blinzelte irritiert und wandte sich dann zu seiner Gehilfin um, die nur unwissend die Schultern hob, "… Ihr werdet das wollen, was alle hier wollten, die durch diese Tür getreten sind." Er wies beiläufig auf die Kleider in ihrem Arm. "Ihr werdet Hilfe mit den Kleidern brauchen. Wollt Ihr, dass wir die Stücke hier im Staub auflegen, oder darf ich es mir erst ansehen, wie der Stoff an Euch aussieht?"

Immerhin schien man mit dem Mann reden zu können. Doratrava legte ihren Haufen Stoff mit den Masken auf einen Tisch und sah sich um. Aber ... sollte sie sich hier einfach vor den beiden nackt ausziehen? Und wer schneite womöglich sonst noch herein? Sie hatte ja, wahrscheinlich im Gegensatz zu den ganzen hohen Herrschaften, keine Unterkleidung an. Daran hatte sie nicht gedacht, denn so etwas besaß sie gar nicht. Um Zeit zu gewinnen, begann sie schon mal mit leichtem Zittern in der Stimme zu erklären. "Ja ... natürlich, Ihr habt recht. Aber die Kleider müssen nicht nur passen, ich muss mich darin auch bewegen können!" Zur Demonstration nahm sie Maß in dem etwas engen Raum und schlug wie schon gestern Abend vor Rahjalind ein einfaches Rad. "Seht Ihr? Und die Masken sollen bei so etwas auch nicht herunterfallen. Was sagt Ihr?"

Wenig beeindruckt von der akrobatischen Darbietung der Gauklerin ließ Leofric seine Finger über den Stoff der abgelegten Kleider gleiten. "Das sind nicht Eure Kleider ...", es war keine Frage sondern eine Feststellung. Sein Blick fand jenen Doratravas. "Nur wie soll ich die Kleider ändern wenn Ihr sie mir hier nur ablegt? Ich weiß nicht ob Ihr schon einmal bei einem Schneider wart, aber ...", er stoppte und rieb sich die Schläfen. "Geht hinter die Fässer und kleidet Euch um ...", wies der Albernier sie dann an. "Beginnt mit dem Kleid, das Ihr heute tragen wollt."

Doratrava war ein wenig verwundert über die Kaltschnäuzigkeit des Mannes. Weder ihr Aussehen schien ihm in irgend einer Weise komisch vorzukommen, noch die Tatsache, dass sie kein hochgestellter Gast war und dazu noch Sonderwünsche hatte. Sie zuckte innerlich die Schultern und nahm sich zuerst das schwarze Kleid Addas, um erleichtert über diesen Ausweg hinter den Fässern zu verschwinden. Da sie die Gastgeberin war, würde sie ihr die Ehre erweisen, ihr Kleid zuerst zu tragen - sofern es denn eine Ehre für Adda war, wenn sie das tat. Wohl eher nicht, wenn sie es sich recht überlegte. Egal. "Herr ... Leofric? Ich möchte gerne beide Kleider heute Abend tragen - nur, falls das einen Unterschied macht", fügte die Gauklerin unsicher hinzu.

"Mmmmh...", brummte der Schneider, doch schien er abwesend und nur Augen für das Kleid zu haben. "Kommt her...", er wies auf einen größeren Schemel vor ihm, "...stellt Euch da rauf." Als die Gauklerin seiner Aufforderung nachgekommen war, machte er sich sofort an die Arbeit. Immer wieder begleitet von leisen Flüchen und unwilligem Stöhnen, dauerte es etwas länger, bis er das schwarze Kleid Addas so umgeformt hatte, dass es einigermaßen gut an der schmalen Gauklerin saß. "Seht Euch im Spiegel an...", sprach er, als sein Werk vollendet war. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, doch das zufriedene Nicken signalisierte den Umstehenden, dass er mit dem Resultat ganz glücklich war.

Die Gauklerin, der es sichtlich schwer gefallen war, die ganze Zeit ruhig auf dem Hocker zu stillzustehen, sprang erleichtert herunter und postierte sich vor dem Spiegel. Als sie sich das erste Mal selbst in dem Kleid sah, zog sie überrascht und überwältigt die Luft ein. Der Schneider hatte in der kurzen Zeit wahre Wunder gewirkt, für ihre eher unbedarften Augen saß das Kleid perfekt, sogar ihre Oberweite schien zugenommen zu haben. Kichernd drehte sie sich im Kreis und warf einen Blick über die Schulter. Ihre wallenden Haare verdeckten einen Teil der Schnürung, aber ihre weiße Haut, welche durch das gold-schwarze Gitter der wohlgeordnet kreuz- und quer verlaufenden schmalen Bänder sichtbar war, würde sicher den ein oder anderen Blick einfangen, und wenn ihr Bein durch den seitlichen Schlitz sichtbar wurde, dann erst recht. Auch sonst hatte Adda recht gehabt, ihre Haut- und Haarfarbe harmonierte ganz hervorragend mit dem schwarzen Kleid, die goldenen Akzente verstärkten diesen Eindruck nur noch. Der Meister hatte das Kleid auch ein wenig gekürzt, so dass es nur noch gerade eben so auf dem Boden schleifte. "Das habt Ihr gut gemacht", wandte Doratrava sich nun wieder an den Schneider, als sie einer ihrer oft von ihr selbst gefürchteten spontanen Anwandlungen erlag. "Kann ich damit auch ...", sie setzte an, ein Rad zu schlagen.

Der kleingewachsene Schneider verzog kurz sein Gesicht, dann bedeutete er der Gauklerin mit einer einfachen Handbewegung, dass sie es ja einmal versuchen könnte. Schwarze Haarsträhnen hingen ihm ungebändigt ins Gesicht, was dem Meister in eben diesem Moment ein recht zerstreutes Aussehen verlieh. Etwas unstet wandte er sich dann jedoch, ohne Doratravas Kunststück abzuwarten, dem anderen Kleid zu, das auf dem Tisch lag. „Soll ich mir dieses Stück auch ansehen?“

Der Schneider war wirklich unmöglich. Eine solche Missachtung ihrer Person, wenn sie etwas vorführen wollte, und sei es nur ein einfaches Rad, hatte Doratrava noch selten erlebt. Sie schnaubte ärgerlich. Immerhin wirkte die Ignoranz des Meisters wie ein kalter Eimer Wasser ins Gesicht, und die Gauklerin verzichtete auf die Durchführung ihres spontanen Einfalls. Wahrscheinlich war es besser so, der dünne Stoff des schwarzen Kleides fühlte sich nicht so an, als würde er es gut vertragen, wenn man ihn über Gebühr dehnte, und so etwas konnte bei akrobatischen Übungen schnell mal passieren.

„Ja, deshalb habe ich es ja mitgebracht“, erwiderte Doratrava stattdessen schlicht. „Ich nehme an, dazu soll ich es anziehen?“ Sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern verschwand mit dem Kleid hinter den Fässern.

Leofric quittierte das Verhalten der jungen Künstlerin mit einem zustimmenden Kopfnicken. Allem Anschein nach war ihm diese Art der Kommunikation lieber als langwierige Erörterungen und Floskeln.

Eine geraume Weile später war auch das grüne Kleid zur Zufriedenheit von Meister Leofric an ihre Körperformen angepasst und deutlich gekürzt worden, was den guten Mann noch mehr ins Schwitzen gebracht hatte. Zumal Doratrava erneut Schwierigkeiten mit dem Stillstehen auf dem Schemel gehabt hatte, so dass der Schneider sie mehrmals entnervt ermahnen musste, mit dem Wippen und Zappeln aufzuhören.

Blieben zum Schluss noch die Masken, nachdem sie ihre einfache Straßenkleidung wieder angezogen hatte. Immerhin sollten die Leute draußen sie erst heute Abend in den schönen Kleidern zu sehen bekommen. „Könnt Ihr etwas machen, damit die Masken mir nicht vom Kopf fallen, wenn ich solche Dinge tue wie … zum Beispiel einen Salto machen?“ Wobei sie selbst skeptisch auf die lange Vogelfeder an der einen Maske blickte.

„Einen S…“, der Meister rollte mit seinen Augen. „Dythlind …“, herrschte er dann seine Assistentin an, „… kümmere du dich darum. Ich habe zu tun und kann mich damit nicht auch noch aufhalten.“ Der Schneider wandte sich dann ab und bat den nächsten der Wartenden zu sich hinein.

Die Gehilfin blickte schüchtern zur Gauklerin auf. „Wir könnten sie zusätzlich mit einer Schnur an Eurem Kopf befestigen … ich müsste die Masken dafür aber mit einem Locheisen bearbeiten. Was meint Ihr?“

Doratrava schüttelte nur den Kopf. Der gute Schneider war wirklich … wie sollte man das nennen? Auf seine Aufgabe fixiert? Besessen? Sie zuckte die Schultern und wandte sich Dythlind zu. Wie Rahjalind. Nur mit ‚Dyth‘. Sie musste ein wenig kichern und räusperte sich, als die Gehilfin des Schneiders sie befremdet ansah. Dann erst sickerten deren Worte in ihren Kopf. „Locheisen? Lieber nicht. Die Masken sind geliehen!“ stieß die Gauklerin entsetzt hervor. Dann zog sie die Masken eben nur zum Tanzen auf. Ihr war schon eine Idee gekommen, wie sie das bei akrobatischen Kunststücken regeln konnte. Dazu würde sie aber wahrscheinlich nochmals Rahjalind – oder Adda – um Hilfe bitten müssen. Na ja, aber die Masken zu verunstalten, traute sie sich nicht. Sie nahm sie auf, ebenso wie die Kleider, und verließ mit einem „Den Göttern zum Gruß und vielen Dank!“ den Weinkeller.

Die Gehilfin verneigte sich knapp. „Gehabt Euch wohl…“, grüßte sie zum Abschied und auch Leofric, mit dem Rücken zu Doratrava stehend, brummte Worte des Grußes, die die Gauklerin jedoch nicht deutlich genug verstehen konnte.