Maskenball Schaulaufen

Kapitel 5: Schaulaufen

Am nächsten Morgen wurde Doratrava schon früh von geschäftigem Treiben im Hof unterhalb ihres Fensters geweckt. Ein prüfender Blick hinaus verriet ihr, dass die Vorbereitungsarbeiten zum heutigen Fest wieder in vollem Gang waren. Es wurden Tische und Bänke aufgestellt, Laternen aufgehängt und alles mit bunten Bändern geschmückt. Auch jene Girlande, die sie am Vorabend bei ihrer Ankunft über das halbe Anwesen gezogen hatte, hängte wieder an ihrem angestammten Platz. Die Götter schienen ihnen darüber hinaus ebenfalls hold zu sein; der Himmel war blau und wolkenlos und die kühle Morgenluft hatte eine belebende Wirkung.

Die Gauklerin hatte gut geschlafen in dem ungewohnt weichen Bett, wenn sie sich auch an wirre, zusammenhanglose Träume erinnerte, deren Einzelheiten ihr sofort nach dem Aufwachen entglitten. Sie machte sich erst einmal an der Waschschüssel ein wenig frisch, bevor sie sich der entscheidenden Frage stellte: Was sollte sie anziehen für das Frühstück? Ihre Straßenkleidung war noch verschwitzt und schmutzig, hier würde sie kaum Gelegenheit finden, diese zu waschen. Oder sollte sie Rahjalind danach fragen? Irgendwie schämte sie sich ein wenig ihrer einfachen Sachen im Angesicht dieses ganzen Prunks hier. Das war normalerweise nicht ihre Art, denn sie war diese Standesunterschiede zeit ihres Lebens gewöhnt und nahm sie als gegeben hin. Aber sonst war da ja auch immer eine klare Grenze, hier die einfache Gauklerin, dort die hochgestellen Damen und Herren, die sich für eine kurze Zeit ihrer Darbietungen erfreuten (oder auch nicht) und sonst nichts mit ihr zu tun haben wollten. Aber nun … nun war Rahjalind plötzlich ihre Freundin, und auf einmal war die Grenze verschwunden, sie stand auf derselben Seite wie die edle Novizin und konnte nicht umhin, sich mit ihr zu vergleichen, so blödsinnig das auch war. Ach, müßige, ungebetene Gedanken …

Dennoch: was sollte Doratrava nun anziehen? Ihr eigener Fundus war denkbar klein, sie hatte nur ein paar wenige leicht transportable Kostüme und Tanzkleider mitgenommen und nur ein halbwegs gesellschaftsfähiges, wenn auch sehr knappes Kleid. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass sie außerhalb ihrer Vorführungen soziale Kontakte pflegen würde. Das knappe Kleid traute sie sich nicht anzuziehen, dann blieb eigentlich nur noch Rahjalinds Angebot, eines ihrer Kleider zu benutzen. Was würde wohl ihre Mutter sagen, wenn sie die Gauklerin in einem Kleid ihrer Tochter umherspazieren sah? Aber immer noch besser, als mit einem knappen Kleid oder gar einem noch knapperen Kostüm den falschen Eindruck zu erwecken.

<a name="__DdeLink__34179_3116966744"></a> Sie öffnete den Schrank, in den sie am Vorabend die ganzen schönen Kleider sorgfältig und bewundernd eingeräumt hatte und sah sich eines nach dem anderen nachdenklich an. Eines konnte sie sich heraussuchen und behalten, hatte Rahjalind gesagt. Hm, vielleicht konnte sie heute morgen eines der Kleider nur probetragen, und, falls sie sich darin nicht gut genug bewegen konnte oder es ihr dann doch nicht ganz so gut gefiel, später dann doch noch ein anderes Kleid ausprobieren. Ja, so würde sie es machen. Dann kamen aber tatsächlich nur die Kleider aus Drôl in Frage, außerdem wusste sie gar nicht, wie man sich in den voluminöseren Kleidern mit den vielen Unterröcken bewegte, und sie wollte hier nicht wie die Karikatur einer Hofdame herumstolpern. Innerlich schüttelte sie sich bei diesem Gedanken.

*

Doratrava zog die beiden leichten Kleider hervor und legte sie nochmals nebeneinander aufs Bett, um sie zu vergleichen. Was sich als schwere Aufgabe herausstellen sollte, nun, da sie eine Wahl treffen musste. Das grüne Kleid war sehr lang, zumal Doratrava etwas kleiner war als Rahjalind, da würde wahrscheinlich der Rock die ganze Zeit über den Boden schleifen. Die Ärmel des sehr luftigen Obergewandes fächerten trichterförmig auf und ragten ein gutes Stück über die Hände hinaus. Der Ausschnitt war relativ züchtig und hinten etwas weiter, dünne Träger hielten das Obergewand auf der Schulter. Allerdings gehörte zu dem Kleid auch noch ein kurzes Mieder, das mit einer goldverzierten Borte direkt unter den Brüsten ansetzte, diese bedeckte und auf beiden Seiten mit vier fächerförmig angeordneten dünnen Trägern über die Schulter nach hinten geführt wurde. Außerdem gab es noch ein eng anliegendes Untergewand aus seidig schimmerndem Taft, fast so lang wie das Obergewand und mit einem eigenen, eng anliegenden Ganzkörper-Mieder, doch das würde die Gauklerin sicher nicht anziehen. Sie brauchte so viel Bewegungsfreiheit wie möglich.

Das weinrote Kleid war nicht ganz so lang, es würde wohl knapp nicht auf dem Boden schleifen. Der Stoff war etwas schwerer und mit einem ornamentalen Muster verziert, zudem mit einer Goldborte an jeder Kante. Vorne klaffte das Kleid auf, auch über dem Oberkörper ließ es einen breiten Spalt, über den eine Schnürung führte. Dies diente dazu, das leichte, aber ebenso lange, dafür aus etwas hellerem Material gefertigte Unterkleid zur Geltung kommen zu lassen, welches deshalb auch nicht weggelassen werden konnte. Auch hier war der Ausschnitt recht züchtig, wenn das Kleid auch die Schultern freiließ. Dafür war ein Seidentuch in noch hellerem Rot, fast schon Altrosa, raffiniert um Brüste, Schultern und Arme geschlungen, ein Tuch in gleicher Farbe zudem um die Hüfte, vorne durch einen Knoten zusammengerafft, von welchem aus eine lange Ecke des Tuches in kunstvollen Falten herabhing. Vervollständigt wurde das Kleid durch zwei Armstücke, welche aus beiden Stoffarten von Ober- und Unterkleid zusammengesetzt waren und über welche eine feine Schnürung von den Handgelenken bis zu den Schultern führte. Am oberen Ende waren die Armstücke (wie auch der Ausschnitt des Oberkleides) durch Spitzenbesatz verziert. Das musste die berühmte Drôler Spitze sein, von der sogar eine einfache Gauklerin schon einmal etwas gehört hatte. Zum Glück konnte man die Armstücke auch weglassen.

Was also tun? Um beide Kleider anzuprobieren, fehlte Doratrava schlicht die Zeit, zumal sie alleine wahrscheinlich Schwierigkeiten haben würde, vor allem das rote Kleid richtig anzuziehen mit seinen Schnürungen und den Tüchern, welche sie erst entwinden musste, um sie nachher wieder richtig anzubringen. Nein, damit war es entschieden: sie würde das grüne Kleid nehmen, ohne Untergewand. Mit dem kurzen Mieder trug sie trotzdem genug Stoff oben herum, dass ihre sowieso kleinen Brüste züchtig verdeckt waren, und der Stoff des Kleides war zwar luftig, aber trotzdem undurchsichtig. An der Länge konnte sie allerdings leider nichts ändern, sie würde für den Moment einfach aufpassen müssen, nicht über den Saum zu stolpern, vor allem beim Treppensteigen. Vielleicht konnte sie Rahjalind später fragen, ob sie eine Idee hatte, wie man das Kleid schnell kürzer bekam. Mit Schneiderei kannte Doratrava sich leider auch nicht sehr gut aus. Wenn sie weiter in diesen Kreisen verkehrte, würde sie daran wohl eines Tages arbeiten müssen.

Auch im Haupthaus des Gutes herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Einige umherlaufende Bedienstete schafften es gar, den Eindruck von aufkommender Hektik auszustrahlen. Als Doratrava den Speisesaal betrat, sollte dieses Gefühl vom einen auf den anderen Herzschlag verschwunden sein. Hier herrschte Stille wie im gebrochenen Rad zu Punin. Einzig das Flüstern weniger Personen war zu hören.

<a name="__DdeLink__636_3688308039"></a> Etwas befremdet und verloren sah die Gauklerin sich um. Nach dem Lärm draußen kam ihr die Stille hier nachgerade unheimlich vor, zumal sie es nicht gewöhnt war, dass Leute beim Essen nicht sprachen, nicht lautstark mit dem Geschirr klapperten und, je nachdem, wo sie war, auch lautstark rülpsten.

*

„Doratrava …“, rief ihr dann eine vertraute Stimme zu, „… kommt und leistet uns Gesellschaft.“ Es war Adda von Halberg gewesen, die gemeinsam mit einem Mann an der Tafel saß und damit beschäftigt war, ihr Morgenmahl einzunehmen. Einladend schob sie einen der Stühle zurück. „Kommt her und setzt Euch, meine Liebe …“, lächelte sie. „Ich darf Euch meinen Gemahl Thymon vorstellen?“ Der Mann erhob sich galant aus seinem Stuhl und lächelte der Gauklerin freundlich zu.

Solcherart angesprochen hob Doratrava unwillkürlich in einer durchaus stolzen Bewegung den Kopf und schüttelte leicht die langen, weißen, etwas gewellten Haare, die ihr frei vom Kopf über die Schultern flossen. Ein Sonnenstrahl musste sich in ihre Augen verirrt haben, die smaragdgrün aufblitzten, in perfekter Harmonie zur Farbe des Kleides, das sie gewählt hatte und das aus ihr einen anderen Menschen machte. Kaum vermochte man darin die einfache Gauklerin zu erkennen, welche am gestrigen Abend verschwitzt und staubig und mit einfacher Kleidung das Gut erreicht hatte, auch noch mit einer Girlande am Huf ihres Pferdes.

Doratrava war Schauspielerin genug und hatte auch schon genug gesehen, um sich den oberflächlichen Anschein von Unbefangenheit zu geben, als sie auf die Gastgeber zuschritt, einen leichten Knicks machte und Thymon die Hand zum Kuss reichte. Zumindest meinte sie sich zu erinnern, dass man das so machte. Wo war eigentlich Rahjalind?

Thymon hauchte einen Kuss auf die ihm dargebotene Hand. „Setzt Euch zu uns …“, ergänzte der Edle dann seine Begrüßung. Aufmerksam hatte er den suchenden Blick seines Gastes registriert; „… ich denke, Rahjalind wird auch gleich zu uns stoßen. Sie braucht morgens immer ein bisschen länger.“ Er lächelte, und Doratrava konnte fühlen, dass er sie interessiert musterte.

An Addas Blick konnte die Gauklerin jedoch festmachen, dass sie jenes Kleid, das sie trug, erkannte, und das Zucken ihres Mundwinkels signalisierte der jungen Frau, dass sie mit irgendetwas daran nicht ganz einverstanden war – ob es nun die Tatsache war, dass sie als Gast eines der Kleider ihrer Tochter trug, oder ob sie mit der Art und Weise, wie sie es trug, nicht einverstanden war, konnte sie nicht ausmachen.

Die Andeutung von Missbilligung in den Augen der Gasgeberin versetzte Doratrava einen kleinen Stich. Was sie gerade machte, war auch eine Art Vorführung, nur in einem Metier, in welchem sie sich nicht gut auskannte. Und Missbilligung war ihr bei ihren Vorführungen in den letzten Jahren eher selten entgegen gebracht worden, sie hatte fast verlernt, wie sich das anfühlte. Doch da sie daran nichts ändern konnte, versuchte die Gauklerin, diesen Umstand so gut es ging zu ignorieren.

„Und, habe ich dir zuviel versprochen …“, brach Adda ihr kurz andauerndes Schweigen, doch sollten diese Worte nicht ihrem Gast, sondern ihrem Gemahl gelten.

„Hast du nicht …“, antwortet dieser sogleich, ohne seinen Blick von der Gauklerin zu nehmen, „… sie ist bemerkenswert … Doratrava, Teuerste, erzählt doch etwas über Euch. Was werdet Ihr uns denn heute für Künste darbieten, wo kommt Ihr her und wie habt Ihr denn meine Tochter kennen gelernt?“

Doratrava konnte den Blick von Addas Gemahl nicht recht deuten. Was hatte Rahjalinds Mutter ihm denn versprochen? Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie setzte sich ob des ungewohnten Kleides erst einmal umständlich auf den dargebotenen Platz. Also gut, ein Verhör sollte es werden, wie praktisch, dass Rahjalind noch nicht da war, schoss es der Gauklerin durch den Kopf.

Bevor die Pause peinlich werden konnte, begann Doratrava zu erzählen, wobei sie nicht nur Thymon, sondern auch Adda im Blick zu behalten versuchte, um ihre Reaktionen einschätzen zu können. „Ich hatte das Glück, bei der Brautschau in Herzogenfurt vor ein paar Götternamen auftreten zu dürfen. Dort hat Eure Tochter mich gesehen und wohl Gefallen an meinen Darbietungen gefunden. Sie sprach mich an und hat mich zum heutigen Fest eingeladen, ziemlich spontan, wie mir schien. Nun, so kommt es, dass ich nun hier bin.“ Die Gauklerin machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob ihre Erklärung irgendeine Wirkung hervorrief, dann fuhr sie fort: „Ursprünglich komme ich aus einem kleinen Dorf im Kosch, Wildreigen, aber das werdet Ihr nicht kennen, oder?“

Der Edle schüttelte schmal lächelnd seinen Kopf, unterbrach sie jedoch nicht.

Doratrava war schon klar, dass die Frage nach ihrer Herkunft auf etwas anderes abzielte, aber sie war nicht bereit, mehr oder weniger fremden Menschen, deren Absichten sie nach Rahjalinds gestrigen Ausführungen nicht traute, einfach so intime Dinge aus ihrem Leben zu erzählen. Also machte sie einfach weiter: „Auf jeden Fall haben mich als Kind schon durchreisende Gaukler aufgenommen, bei denen ich dann nach und nach alles gelernt habe, was ich heute kann. Ich weiß ja nicht, nach was Euch der Sinn steht, und Rahjalind hat bisher nur ein paar Andeutungen gemacht, was das Fest angeht. Aber ich kann für Euch und Eure Gäste tanzen, am besten dann, wenn ein paar anständige Musiker mich begleiten, oder allerlei akrobatische Kunststücke vorführen. Beides lässt sich auch kombinieren. Oder, wenn Ihr es dramatischer haben wollt und jemand sich traut, dann werfe ich auch Messer.“ Doratrava war sich nicht sicher, ob die letzte Bemerkung klug gewesen war, doch wenn jemand sie nach ihrem Können fragte, dann fühlte sie einfach reflexhaft den Drang, sich bestmöglich zu präsentieren, das war ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen. Wenn sie allerdings an Rahjalinds ‚MUSS‘ und ‚KANN‘ zurückdachte, war sie sich nicht sicher, was ihre Gastgeber aus ihrem dritten Talent machen würden. Egal, gesagt war gesagt. „Wie ist es Euch lieber? Ihr könnt Wünsche äußern, was meine Darbietung angeht, oder mir freie Hand lassen. Ihr könnt mich auch auf die Probe stellen, bevor Eure Gäste mich zu sehen bekommen.“ Die Gauklerin hatte sich ein wenig mitreißen lassen von ihrer eigenen Rede, man merkte ihr deutlich die Begeisterung für ihre Kunst an. Jetzt sah sie aller Vorbehalte zum Trotz ihre Gastgeber nacheinander erwartungsvoll an.

*

<a name="__DdeLink__602_1944207032"></a> Thymon hob beschwichtigend seine Hand. Er war genug Menschenkenner, um Doratravas Unwohlsein in seiner Gegenwart erkennen zu können. „Das Messer muss nicht sein“, eröffnete er lächelnd. Er war zwar ein Veteran des Borbaradkrieges und der einzige des Kyndocher Schwertzuges, der es lebend zurück geschafft hatte, doch wollte er sich nicht von einem blassen Mädchen mit Messern bewerfen lassen, auch wenn er ihr die Befähigung, ihn dabei nicht umzubringen, nicht absprechen wollte. „Aber sonst seid Ihr in Eurer Kunst frei. Ich weiß nicht, ob Euch Rahjalind schon instruiert hat, wie das hier für gewöhnlich abläuft …“, er hob seine Augenbrauen und blickte die Gauklerin interessiert an. Dennoch sollte er keine Antwort abwarten. „Hier gibt es kein ´tut dies oder macht das´. Hier seid ihr frei. Einzig die Gesetze und Gebote der Götter mögen hier heute Gültigkeit haben.“

Erleichterung erfüllte Doratrava, dass ihre Kunst im Messerwerfen nicht gefragt war. Zwar war sie auch darin eine Meisterin und einfaches Volk erfreute sich gerne an dem Nervenkitzel, doch tatsächlich waren ihr die anderen Künste, bei denen sie sich schöpferisch ausleben konnte, deutlich lieber. Außerdem war sie sich sicher, dass die vielen Gäste des Festes sie nervös machen würden, und ein durch Nervosität hervorgerufener Fehler beim Tanzen hatte doch deutlich harmlosere Auswirkungen als ein Fehler beim Messerwerfen.

„Genau …“, nun fühlte sich Adda dazu bemüßigt, wieder in die Konversation der beiden einzusteigen, „… Rahjalind hat einen guten Geschmack und ein gutes Auge. Wir verlassen uns auf sie und trauen Euch zu, dass Ihr wisst, was Euer Publikum zufrieden stellt.“ Die Halbergerin lächelte gönnerhaft, dann schenkte sie Traubensaft in einen der leeren Kelche und schob diesen dann zu Doratrava. „Ihr werdet hier nicht geprüft, oder verhört. Wir …“, sie wies auf sich und ihren Gemahl, „… sind ehrlich an Eurer Person interessiert.“

Doratrava nahm den Kelch und hob ihn an die Lippen, nicht zuletzt, um ein Zucken der Mundwinkel zu verdecken. Waren ihr ihre Empfindungen so leicht anzusehen? Sie fühlte, wie eine leichte Röte in ihre Wangen stieg. Sie nahm einen tiefen Schluck und stellte den Kelch wieder zur Seite. Ein wenig sehnsüchtig schielte sie nach den essbaren Leckereien, sah im Moment aber keine Möglichkeit, ohne ‚Bruch der Etikette‘ (sie war selbst erstaunt, welchen teils hochtrabenden Wortschatz sie in den letzten paar Jahren angehäuft hatte) dort heranzukommen.

„Ihr braucht Euch nicht zu sorgen …“, Thymons Stimme hatte nun beinahe schon väterliche Züge angenommen, „… es wird Euch hier nichts geschehen. Ich weiß ja, was da draußen über unsere … Zusammenkünfte … alles erzählt wird …“, er rollte theatralisch mit seinen Augen, „… Ihr werdet hier zu nichts gezwungen oder genötigt. Dafür werde ich selbst sorgen. Ihr steht sozusagen für die Dauer Eures Aufenthalts unter meinem persönlichen Schutz.“

Rahjalinds Eltern sprachen so warm und freundlich mit ihr, dass Doratrava langsam Zweifel kamen, ob ihre Tochter gestern Abend nicht vielleicht übertrieben hatte. Vor allem Thymon strahle etwas aus, das Doratrava fast – fast! - Vertrauen zu ihm fassen ließ. Doch sie hatte schon genug vor allem von Männern erleben müssen, dass ein gewisses Misstrauen blieb, das erst längere Bekanntschaft zu beruhigen vermögen würde.

Aber auch Adda war, wenn man von dem missbilligenden Blick auf ihr Kleid absah, sehr freundlich und bemüht heute morgen und nicht ganz so darauf bedacht, sich selbst zu präsentieren. Doratrava beschloss für sich, die beiden so gut es ging unvoreingenommen nach ihren Taten zu beurteilen und nicht ausschließlich auf Rahjalinds Urteil zu vertrauen – was nichts daran änderte, dass sie wie versprochen alles daran setzen würde, ihre Freundin zu beschützen, auch wenn sie langsam daran zweifelte, dass dies nötig sein würde.

„Ja, denn wenn Ihr es geschafft habt, Rahjalinds Herz zu öffnen, dann spricht das für Euch …“, warf nun wieder Adda ein. „Sie öffnet sich Fremden gegenüber nicht leicht und macht stets einen sehr in sich gekehrten Eindruck – nicht das was man sonst von einer Dienerin der Schönen Göttin erwarten möge.“ Die Hausherrin setzte lächelnd ihren Kelch an die edel geschwungenen Lippen und nippte daran. „Tiere liebt sie, ja, den Tanz, die Musik und das Malen … mit Menschen ist sie oft noch ein bisschen … unerfahren und n…“

„Was Mutter?“, es war Rahjalind, die sich auf erstaunlich leisen Sohlen dem Tisch näherte. Schnell schob sie das von Adda gesagte beiseite und wandte sich Doratrava zu. „Ich hoffe du hast gut geruht und meine Eltern löchern dich nicht zu sehr mit ihren Fragen?“