Maskenball Immerdar

Kapitel 18: Immerdar?

Rahjalind wirkte etwas irritiert. Kurz zogen sich auch ihre Augenbrauen zusammen und ein aufmerksamer Betrachter konnte darin so etwas wie einen leichten Anflug von Zorn erkennen. Die Novizin hatte Verständnis für ihre Freundin, aber das gab ihr nicht das Recht, so mit ihr zu reden. "Es sind immer meine Hände ...", sagte sie etwas gereizt, "… genauso wie es immer meine Lippen sind. Es ist Göttinnenlästerung, etwas anderes zu behaupten." Die junge Adelige rieb sich an ihren Schläfen. "Ich habe nie gesagt, dass ich keinen Menschen normal lieben kann. Ich werde nur nie ein Leben führen können, in dem ich einer Person für ewig treu sein kann. Meine Treue gehört der Göttin und ich bin nichts mehr als ihre bescheidene Dienerin." Rahjalinds Stimme wurde nun etwas härter. "Ich werde nie eine Partnerschaft führen können wie du sie dir wünscht. Du siehst nun, wie schwer es ist meine Berufung zu akzeptieren." Rahjalind seufzte.

Doratrava verschlug es für einen Moment die Sprache. Gut, sie war in ihrer Erregung vermutlich zu weit gegangen, aber hatte ihre Freundin immer noch nicht verstanden? War der Sinn ihrer Rede im Sturm der Worte verlorengegangen? Was sollte sie denn noch sagen? Aber irgendwie musste sie sich doch verständlich machen können! Leise Verzweiflung stieg in ihr auf, weil sie irgendwie nicht zu Rahjalind durchdringen konnte, egal, was sie versuchte. Aber er half nichts, sie konnte es nur nochmals versuchen, mit anderen Worten. Nochmals holte sie tief und zitternd Luft, aber diesmal versuchte sie, so ruhig wie möglich zu bleiben, auch wenn ihr das nahezu unendlich schwer fiel. „Rahjalind … das habe ich doch verstanden, auch wenn es mir schier das Herz zerreißt. Und weil ich dich liebe, werde ich nichts von dir verlangen, was du nicht zu geben bereit bist. Ich meinte doch nur, dass ich das Gefühl habe, du weichst mir heute die ganze Zeit aus, beantwortest keine meiner Fragen in eindeutiger Weise und verweist auf Rahja, wenn du nicht weiter weißt.“ Als sich erneut Ärger in Rahjalinds Gesicht abzeichnete, hob Doratrava abwehrend die Hände. „Ich sage nur, wie ich es empfinde, das muss nicht heißen, dass du es so gemeint hast. Offenbar kennen wir uns doch noch viel zu wenig, um uns ohne Missverständnisse über schwierige Fragen auszutauschen.“ Sie lächelte schief und traurig und sprach dann sehr sanft weiter: „Rahjalind … ich habe gefragt, ob ich noch ein paar schöne Tage hier mit dir verbringen darf, sonst nichts. Ohne Gedanken an die Zukunft, ohne dich zu etwas verpflichten, ein paar schöne Tage zum Abschied nur für uns beide?“ Rahjalind hatte das Gefühl, in den Augen der Gauklerin auf den Grund ihrer Seele sehen zu können. Doratrava hatte jede Wehr gesenkt und bot ihrer Freundin ihr innerstes Wesen in all seiner Verletzlichkeit dar, aber nicht, um sie zu erpressen, sondern als Beweis ihres Vertrauens.

Rahjalind wirkte etwas verwirrt. "Ich habe deine Frage gehört...", meinte sie dann und zog verwundert eine Braue hoch, "...und habe sie auch schon beantwortet. Gerne darfst du hier bei mir bleiben ... so lange du willst. Ich würde mich freuen, aber irgendwann sollte ich dann zurück in den Tempel." Sie lächelte herzlich. "Du darfst auch zukünftig kommen, so oft du willst. Ich würde mich freuen und sehe das nicht als Verpflichtung."

Doratrava streckte zaghaft die Hand nach Rahjalinds Wange aus, um einmal sanft mit einem Finger darüberzustreichen. Wieder wurde ihr die Kehle eng, zum wer weiß wievielten Male am heutigen Tage. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft und hungrig und durstig. Sie hatte so gut wie nicht geschlafen und seit dem gestrigen Morgen fast nichts zu sich genommen, und der eben ausgestandene Kampf, denn irgendwie hatte sie das Gespräch als solchen empfunden, hatte ihr die letzten Kräfte geraubt. Aber sie spürte, dass der Kampf nun vorbei war. Sie hatte nicht ‚gewonnen‘, aber sie hatte ihre Freundin auch nicht verloren. Mit einem Mal übermannten sie Erschöpfung und Erleichterung und sie fiel Rahjalind schluchzend um den Hals, zu keinen weiteren Worten fähig.

Die Novizin streichelte ihr sanft den Rücken. Nie hätte sie gedacht, dass das anfangs so zugeknöpfte Mädchen eine solche Vielzahl an Emotionen in sich trug. Ganz so als hielt der launische Efferd und die liebliche Rahja Hochzeit im Körper ihrer Freundin. Rahjalind war in ihrem jungen Leben erst wenige Male mit solch leidenschaftlichen Menschen in Berührung gekommen – es war jedes Mal eine Herausforderung gewesen. Dass sich Doratrava nun in sie verliebte, verkomplizierte die Sache zusehends.

Es dauerte, bis Doratrava sich endlich soweit beruhigt hatte, dass sie wieder etwas sagen konnte. „Rahjalind ...“, begann sie mit kaum verständlicher, vom Weinen krächzender Stimme, „… danke. Du weißt nicht, was mir das bedeutet … oder vielleicht weißt du es.“ Endlich ließ sie ihre Freundin los, deren blaues Kleid an Schulter und Rücken schon ganz nass war von den Tränen der Gauklerin. Sie hatte heute nach ihrem Empfinden nicht wirklich viele Antworten auf ihre tausend Fragen erhalten und auch noch gar nicht alle gestellt, aber darauf würde sie nun verzichten. Aber ihre eben erst aufgeblühte Freundschaft war nicht zerbrochen und sie durfte diese noch ein Weilchen länger ausleben. Einen kurzen Augenblick fragte sich die Gauklerin, ob Rahjalind nicht doch ein Spiel mit ihr gespielt hatte, denn hatte ihre Freundin sie nicht vorhin, als sie eben an den Tisch getreten und der Barde noch anwesend gewesen war, mit Enttäuschung in der Stimme darauf angesprochen, dass sie sich womöglich Aelfwin und seinen Küsschen anschließen wollte? Doch schnell schob sie den Gedanken zur Seite, sie vertraute ihrer Freundin und war zu erschöpft, um weitere moralische Abgründe auszuloten, die sie sich vielleicht nur einbildete.

Doratrava wischte sich über ihr nasses Gesicht. Sie fröstelte nun in ihrem für die Jahreszeit doch sehr dünnen, knappen Kleid, das sie nur deshalb angezogen hatte, um Rahjalind zu gefallen. Aber das Lächeln, welches sich zaghaft einen Weg auf ihre Züge bahnte, zeigte zum ersten Mal heute wieder Anzeichen von der Wärme und Lebensfreude, welche Rahjalind an ihrer Freundin lieben gelernt hatte. Doratravas Stimme war immer noch kratzig und heiser, aber ihr Tonfall zeugte von Vorfreude und Glück: „Dann … lass‘ uns etwas unternehmen zusammen. Gestern sagtest du etwas von einem Ausritt? Und wie lange bleibt Meister Aelfwin noch? Können wir nicht heute Abend zusammen tanzen? Ich bin euch ja eigentlich noch etwas schuldig. Wir können die Feier ja heute Abend im kleinen Kreis mit deinen Eltern noch ein wenig fortsetzen.“ Sie war sich zwar nicht sicher, ob sie Adda und Thymon gegenüber unbefangen auftreten konnte, fühlte sich aber verpflichtet, das Angebot zu machen, auch wenn sie viel lieber ganz allein mit Rahjalind getanzt hätte.

„Sehr gerne können wir heute ausreiten …“, das Gesicht der Novizin hatte sich nun wieder gänzlich aufgeklart. Doratrava konnte ihr ganz deutlich ansehen, dass sich das Gespräch der beiden wieder auf ein Terrain bewegte, welches der jungen Adeligen viel mehr lag; „… ich zeige dir die Weinberge und den Schrein des Heiligen Linnart mit der Weinbeergeiß unten im Dorf. So kommen wir wenigstens ein bisschen vom hier herrschenden Trubel weg und haben etwas Zeit für uns …“, Rahjalind ließ ihren Blick durch das Speisezimmer schweifen, „… ohne das ganze Drumherum hier.“ Die junge Novizin schenkte ihrer Freundin ein herzliches Lächeln.

Wieder hatte Doratrava irgendwie das Gefühl, ihre Freundin nicht ganz greifen zu können, nicht ganz bis zu ihr selbst vorzudringen. Nun ja, damit würde sie nun erst einmal leben müssen. Aber Rahja oder wer auch immer hatte ihr die Möglichkeit verschafft, noch eine Zeit lang in der Nähe Rahjalinds zu verbleiben. Vielleicht schaffte sie es ja, noch einmal Zugang zum innersten Wesen ihrer Freundin zu gewinnen, wie sie selbst es Rahjalind ermöglicht hatte. In der vergangenen, leidenschaftlichen Nacht war sich Doratrava keiner Schranken zwischen ihnen beiden bewusst gewesen. Sie sehnte sich erneut nach diesem Zustand der vollkommenen Glückseligkeit und Harmonie und hoffte, mit Rahjalind noch einmal dorthin zu kommen, so lange ihr Besuch währte. Aber nun musste sie etwas essen und sich dann für den Ausritt umziehen.

Zwei Stundengläser später sah ein Bauer im herbstlichen Sonnenschein zwei Pferde, die lachende junge Frauen trugen, die eine blond, die andere weißhaarig, die Weinberge erklimmen. ‚Jung müsste man sein, und adlig‘, dachte der Mann, schüttelte unwillig den Kopf und setzte seine Arbeit fort.

E N D E