Maskenball Goettin

Kapitel 17: Göttin

Rahjalind ließ ihre großen grünen Augen auf Doratrava ruhen. Stoisch verfolgte sie die Welle an Gefühlen, die ihr von ihrer Freundin aus entgegen schwappte. Der jungen Novizin fiel es vielleicht einfacher, mit solchen Empfindungen umzugehen, doch gänzlich unberührt ließ sie jene ehrliche Zurschaustellung von Verletzlichkeit nicht. Oft schon war sie konfrontiert damit, dass sich Gläubige, die sie besuchten, dann auch in sie verliebten. Meistens waren es Männer und oft jene, mit denen sie nicht Rahjas Freuden teilte. Rahjalind war, was das anging, eine der prüderen Rahjadienerinnen – bei Doratrava jedoch hatte es sich gestern Abend richtig angefühlt. Dennoch konnte sie aus ihrer Haut nicht hinaus. Dienerinnen der Rahja konnten ihre Liebe nicht nur einem einzelnen Menschen schenken – es war ihre Aufgabe, die Liebe und Gaben ihrer Göttin unter die Menschen zu bringen und ihnen bei Sorgen und Fragen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. So wie auch jetzt.

„Was du tun sollst, weißt du selbst am besten …“, begann die Novizin kryptisch, „… versuche einmal die ganzen Stimmen in deinem Kopf, die dir deine Zieheltern oder irgendwelche Barden eingepflanzt haben, auszublenden und höre auf dein Herz. Du bist mit Sicherheit nicht verflucht – du sprühst vor Liebe.“ Sie lächelte aufmunternd. „Doch es sei dir gesagt, dass die Liebe nicht zwangsläufig bedeuten muss, bis ans Ende aller Tage glücklich zusammen zu bleiben.“ Sanft schüttelte Rahjalind ihren Kopf, um den kommenden Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Liebe kann auch für ein paar Tage sein, eine Nacht oder nur einen Augenblick. Es bedeutet nicht, dass man einander ausgenutzt hat, wenn man nach einer leidenschaftlichen Nacht in des anderen Armen wieder seiner Wege zieht. Du bist jung, Dora und du hast dein ganzes Leben vor dir. Du kannst noch so viel Glück und Freude erfahren.“

Rahjalind streichelte beruhigend über ihre Hand. „Der Schmerz ist jedoch etwas, mit dem wir, jeder für sich selbst, umgehen müssen. Das bleibt niemandem erspart. Die Liebe ist nicht nur wunderschön, sie macht uns auch wahnsinnig verletzlich. Deshalb lass den Schmerz zu, trauere und dann richte deinen Blick nach vorne. Die Zeit heilt alle Wunden.“

Doratravas schon fast getrockneten tiefblauen Augen füllten sich erneut mit Tränen. Bevor sie noch verarbeiten konnte, was ihre Freundin ihr gerade alles gesagt hatte, durchzuckte sie ein jäher Impuls, und diesmal folgte sie ihm. Sie beugte sich blitzschnell vor und küsste Rahjalind, versuchte auch ihre Zunge einzusetzen. Woran war sie mit ihrer Freundin? Würde sie es zulassen? Würde sie sich wehren? Beim ersten Anzeichen von Abwehr würde sie sofort ablassen.

Rahjalind erwiderte den Kuss und stieg in das Zungenspiel ein. Sie liebte es zu küssen und ließ in diesem Moment auch jene Vorsicht schleifen, die sich aufgrund von Doratravas Zustand vielleicht angeboten hätte. Nur kurz flammte in ihr der Gedanke auf, dass dieser Kuss ein vielleicht falsches Signal an ihre Freundin senden könnte.

Unendliche Erleichterung durchströmte die Gauklerin und ließ die Tränen erst recht fließen. Sie schlang ihre Arme um Rahjalind und genoss den Kuss aus vollen Zügen. Auf ihr Herz hören sollte sie, das hatte ihre Freundin gesagt.

Doch weiterkommen würden sie so nicht, also löste sich Doratrava schweren Herzens nach gefühlt viel zu kurzer Zeit wieder von der Novizin. Seltsamerweise hatte der Kuss den Aufruhr ihrer Gefühle eher beruhigt als noch weiter angefacht. Sie lächelte ein wenig durch ihre Tränen hindurch, streichelte Rahjalind über das Haar und nahm dann ihrerseits deren Hand in die ihren. „Du … hast mir jetzt ganz viele Sachen gesagt, nach denen ich gar nicht so richtig gefragt habe“, begann Doratrava, jetzt wieder leise, obwohl ihr eigentlich egal war, ob die Leute außen herum von ihnen beiden Notiz nahmen oder nicht. Im Moment gab es nur sie und Rahjalind in der Welt, und so könnte es auch für immer bleiben … nein, nicht jetzt schon wieder , sie nahm sich mühsam zusammen. „Immerhin hast du mir geholfen, meine wirren Gedanken zu ordnen.“ Sie lächelte Rahjalind traurig an. „Die eigentliche Frage ist vermutlich: wie kann ich denn lieben ohne den Schmerz? Ich brauche gar nicht auf mein Herz zu hören, wenn es der Meinung ist, sich verlieben zu müssen, dann galoppiert es mit mir davon und fragt mich nicht erst lange. Und dann passiert das mit Jel und jetzt mir dir und der Schmerz danach bringt mich fast um. Liebe kann doch nicht etwas sein, das immer gewaltsam zerrissen wird, das immer im Schmerz endet? Und wie kann ich nur für einen Augenblick oder eine Nacht lieben und dennoch glücklich sein, wenn die Liebe dann endet? Ich spüre doch, wie ich mich nach dir verzehre, wie ich dich immer ansehen, immer berühren, immer küssen könnte, wie ich nicht mehr von deiner Seite weichen will – ja, ja, auch wenn ich weiß, dass es nicht möglich sein wird, aber das macht die Liebe mit mir, und es fühlt sich nicht so an, als würde dieses Gefühl in ein paar Tagen von selbst aufhören. Im Gegenteil, wenn ich nur daran denke, dass es so wäre, erschreckt mich das zutiefst!“ Doratrava hielt inne, auch wenn sie aussah, als wollte sie noch viel mehr dazu sagen, aber ihre Freundin sollte jetzt erst einmal Gelegenheit haben zu antworten, bevor sie sie unter der nächsten Lawine von Fragen begrub.

„Liebe ist ein extrem intensives Gefühl …“, Rahjalind lächelte bitter, „… so sehr sie es versteht uns zu berauschen, so weh kann sie uns tun. Ich wünschte, ich könnte dir jetzt ein Allheilmittel nennen, doch kann ich es nicht. Wenn wir so mutig sind, uns zu verlieben, dann besteht immer auch die Gefahr, dass es irgendwann einmal weh tut.“ Ihr Lächeln klarte sich ein wenig auf. „Aber ich denke dennoch, dass die schönen Momente es wert sind. Es ist nicht alles schlecht, auch wenn es ein unverhofftes Ende nehmen sollte. Genieße einfach die Zeit, genieße deine Jugend und die Freude, die du im Stande bist zu empfinden.“

Auch die Schöne Göttin hatte also nicht alle Antworten, die in ihren ureigensten Bereich fielen – oder die Novizin kannte sie noch nicht. Doratrava kam zu der Überzeugung, dass es keinen Sinn hatte, weiter darauf herumzureiten. Nun war es an ihr, bitter zu lächeln. „Bisher brauchte ich keinen Mut, um mich zu verlieben – es ist einfach so passiert, ohne mein wissentliches Zutun, wie der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel. Falls so ein Blitz mich wieder einmal treffen sollte, werde ich erneut nichts dagegen tun können. Aber sollte ich einmal die Gelegenheit haben, mich der Liebe… langsam? … zu nähern, so wird es ob meiner bisherigen Erfahrungen vermutlich tatsächlich viel Mut erfordern ...“ Ihre Stimme erstarb, erstickt von einem erneuten Aufwallen des Schmerzes und der Trauer. Die Gauklerin musste zweimal schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. „Ansonsten bereue ich nichts und will auch nichts vergessen, im Gegenteil. Und ich will dich nicht verlieren, selbst wenn wir nicht für immer zusammen sein können. Ich habe so wenige echte Freunde, da ist mir jeder einzelne lieb und teuer.“ ‚Habe ich überhaupt Freunde außer Jel, wenn sie mich überhaupt noch sehen will, Rahjalind, die dabei ist, mich fortzuloben, und Lugan, der meinen Körper mag und ein netter Kerl ist, aber mehr?‘ dachte Doratrava bitter. ‚Ich bin doch nirgends lange genug, um echte Freunde zu finden ...‘

*

„Rahjalind … und was ist nun mit uns beiden?“ wagte Doratrava jetzt endlich mit zitternder Stimme zu fragen. „Auch wenn du mich nicht so lieben kannst wie ich dich und auch wenn deine Worte meine Fragen nicht verstummen lassen können, können wir dann wenigstens … noch einige Tage zusammen verbringen? Kannst du mir einen schönen Abschied schenken?“ Die letzten paar Worte waren kaum noch zu verstehen, da Doratrava so sehr gegen die Enge in ihrer Kehle ankämpfen musste. Unwillkürlich hatte sie ihre Freundin bei den Schultern gepackt, ihre Nasenspitzen berührten sich fast, da die Gauklerin sich in ihrer Anspannung so weit vorgebeugt hatte.

"Ich bin eine Dienerin der Schönen Göttin, Dora ...", kam es bestimmt, aber in sanftem Ton, "… soweit es meine Berufung zulässt, werde ich immer für dich da sein. Du darfst mich im Tempel oder hier besuchen kommen so oft du willst und vielleicht ergibt es sich ja hin und wieder, dass ich dich besuchen kann. Du wirst nicht aus meinem Leben verschwinden, deshalb gibt es keinen Abschied." Rahjalind stoppte und auf ihren Lippen zeigte sich ein strahlendes Lächeln. "Das kann ich dir hier und jetzt versprechen. Und schöne Tage werden wir beiden uns immer zu machen verstehen."

Doratrava ließ die Schultern der Novizin los und rückte ein Stück von ihr ab, als sie erkannte, dass sie ihrer Freundin jetzt entweder gleich die Nase abbeißen oder sie erneut küssen würde, wobei sie im Moment zu ersterem tendierte. Sie warf ihre Arme frustriert seufzend in die Luft. Das war doch zum … bei den Niederhöllen, was war denn in Rahjalind, in das freundliche, nette, offene, liebenswerte, feurige, junge Geschöpf gefahren? Sie gebärdete sich jetzt zunehmend wie eine unnahbare Statue, aalglatt, ohne Angriffsflächen. Musste man sich so in einem Rahjatempel verhalten? Das konnte sich Doratrava nicht vorstellen. Spürte Rahjalind denn nicht ihre innere Not, die größer war, als ihre Worte es ausdrücken konnten, ihren Wunsch zumindest nach Trost, wenn schon nicht mehr zu erreichen war? „Rahjalind … hör auf, mich zu quälen!“ presste die Gauklerin verzweifelt über die Lippen. „Ich habe es verstanden, du musst es mir nicht immer wieder mit neuen Worten sagen. Du bist eine Dienerin der Schönen Göttin und ich eine einfache Sterbliche und deshalb kannst du mich nicht lieben wie einen Menschen, sondern nur wie die Göttin, die alle Menschen lieben muss und sich deshalb nicht für einen einzelnen aufsparen kann. Ich will aber nicht die unwirkliche Berührung einer fernen Wesenheit auf meinem Körper spüren, SONDERN DEINE HÄNDE! Nochmal: ich habe verstanden, dass ich dich nicht für mich allein haben kann, und das wollte ich ja auch überhaupt nicht, ABER BEHANDLE MICH NICHT, ALS SEIST DU DIE GÖTTIN SELBST! Ich will ein paar wenige schöne Tage mit RAHJALIND verbringen, nicht mit RAHJA! Also sei bitte wieder DU SELBST und weiche nicht ständig in alveranische oder sonstwelche Gefilde aus! Antworte einmal klar auf eine einfache Frage: Darf ich JETZT noch ein paar Tage mit dir zusammen sein und dich lieben, wie ich es eben tue? Wirst du mir den Wunsch erfüllen, ALS RAHJALIND mein Lager zu teilen, solange ich noch hier bin, damit ich die Erinnerung in meinem Herzen bewahren kann, bis wir uns wieder sehen?“ Doratrava hatte nicht wirklich geschrien, ihre Rede aber mit solch intensiver Wucht vorgetragen, dass spätestens jetzt alle Leute im ganzen Speisesaal mehr oder weniger verwundert zu ihr und Rahjalind herüber sahen. Aber wie schon während des ganzen Gesprächs war das der Gauklerin mittlerweile völlig egal. Etwas ruhiger fuhr sie fort: „Denn es gibt sehr wohl einen Abschied, denn ich werde ja gehen müssen, wenn ich auch hoffe, mich nicht so unmöglich benommen zu haben, dass du und deine Familie mich nie wiedersehen wollt!“ Jetzt lächelte Doratrava sogar wieder ein wenig schief, wenn auch Trotz, Trauer und Resignation darin mitschwangen.