Maskenball Eis

Kapitel 15: Eis

Schmal lächelnd musterte die Halbergerin ihren jungen Gast, wie sie die Stiegen hinunter stapfte. Adda hatte sich allem Anschein nach bereits gewaschen, geschminkt und umgezogen. „Wir haben Euch gestern vermisst“, kam es schnippisch, aber in einem Ton, der es unmissverständlich machte, dass sie über alles im Bilde war.

Doratravas Zorn, der ob der Szenen vor ihrem Zimmer sowieso schon schwer aufrechtzuerhalten gewesen war, verflog nun vollends, weggewischt vom kritischen, abwägenden, wertenden Blick der Gastgeberin. Natürlich hatte genau das passieren müssen! Wieder schlug die Stimmung der Gauklerin ins Gegenteil, von Zorn zu Verlegenheit zu Scham, auch wenn sie sich verzweifelt zu sagen versuchte, dass dafür kein Grund bestehe. Was hatte sie getan? Vor allem: was hatte sie anderes getan als die anderen Gäste, oder vielleicht sogar als Adda selbst? Diese nicht totzukriegende, kleine fiese Stimme in ihrem Kopf antwortete ihr hämisch auf die innerliche Frage: ‚Du hast dich an ihrer Tochter vergriffen!

„Ähm ...“, begann sie mal wieder rosa anlaufend und stammelnd, „ich mich auch … also … was ich meine, ist, ich wollte nicht …“ Bei den Niederhöllen! Heiß loderte der Trotz in ihr auf, und diese brodelnde Welle spülte wieder die ebenso heiße Liebe zu Rahjalind an die Oberfläche, die all die morgendlichen, profanen Eindrücke unter der grauen Last praktischer Notwendigkeiten zu erdrücken versuchten. Ihre tief rubinroten Augen, deren Adda sich plötzlich bewusst wurde, sprühten glühendes Feuer, ihre zitternde Stimme bekam einen stählernen Unterton, doch Doratrava schaffte es, die grundlegende Höflichkeit zu wahren und zusammenhängende Sätze zu bilden. „Es tut mir leid. Ich wollte gestern noch viel mehr vorführen, aber dann … ereilte mich Rahjas Ruf in Form Eurer Tochter. Ich stehe in Eurer Schuld. Wann immer Ihr wollt und ich in der Lage dazu bin, werde ich meine ausgefallene Aufführung nachholen, ohne zusätzlichen Lohn, versteht sich. Und ich stehe in Eurer Schuld, denn Ihr habt dem wunderbarsten Geschöpf, dem ich je begegnet bin (‚wenn man von Jel absieht‘, mischte sich ungebeten wieder jene kleine, fiese Simme in ihrem Kopf ein, welche sie sofort in ihre Schranken wies), das Leben geschenkt. Dafür bin ich unendlich dankbar (‚aber nicht ihr‘, wisperte die Stimme erneut – psst!). Und nach einem Bad, sofern das möglich ist, stehe ich Euch für ein weiteres Verhör zur Verfügung!“

Addas statuenhaftes Antlitz durchlief eine Vielzahl von kaum auseinanderzuhaltenden Regungen. Als Doratrava geendet hatte, folgte dann jedoch eine sehr deutliche in der Form eines Lächelns. Ein Lächeln, aus dem die Gauklerin Belustigung, aber auch Neugier herauslesen konnte. Dem Blick aus nun schon der dritten Augenfarbe, die sie an ihrem jungen Gast wahrgenommen hatte, hielt die Halbergerin problemlos stand. Kurz dachte sie dahingehend, welcher Zauber hier wohl im Spiel sein mochte und ob es eventuell gar nötig sein würde, ihren Onkel bei den Bannstrahlern zu konsultieren. Sie entschied sich jedoch sogleich dagegen – die Gauklerin war keine Gefahr und Adelhelm konnte sie nicht leiden.

„Es freut mich zu hören, dass Ihr meine Tochter so sehr mögt …“, ihr Blick fiel auf die Kratzer an ihren Armen, „… und allem Anschein nach hattet ihr auch eine spannende Nacht. Ja, Rahjalind trägt einen Vulkan an Leidenschaft in sich, der, wenn er denn ausbricht, aus dem stillen, schüchternen Mädchen eine aufregende und leidenschaftliche Frau zu machen versteht.“ Sie machte eine wedelnde Handbewegung. „Dennoch solltet Ihr nicht vergessen, wer sie ist … und wer Ihr seid.“ Die Hausherrin machte einen kurzen Kontrollblick über ihre Schulter bevor sie sich wieder der jungen Künstlerin zuwandte. „Dabei meine ich nicht den Standesunterschied. Rahjalind ist eine Dienerin der Schönen Göttin, Ihr gehört dem fahrenden Volk an. Sie wird ihren Tempel nicht verlassen und Ihr werdet Eure Lebensweise nicht ändern. Es stellt sich deshalb die Frage, was daraus entstehen soll?“

Adda hob ihre Augenbrauen und verzog kurz ihren Mundwinkel, wartete aber keine Antwort ihres Gastes ab. „Ich gönne euch beiden die Freude, die ihr einander schenkt. Daran ist nichts Verwerfliches zu finden. Doch solltet Ihr Euch nicht zu sehr an sie gewöhnen, denn ich denke, dass niemand von Euch beiden für den anderen sein Leben grundlegend auf den Kopf stellen würde.“

Erneut verrauchte Doratravas Wut, die Rede der Gastgeberin wirkte wie ein Eimer voll eiskalten Wassers, den man ihr über den Kopf goss. Was hatte sie alles erwartet: Zorn über die unbotmäßige Annäherung an ihre Tochter, Geringschätzung, wie sie als einfaches Straßenmädchen es wagen konnte, sich so etwas anzumaßen, den sofortigen Rauswurf aus dem Gut, Schlimmeres, vor dem sie nur vage Befürchtungen gehegt hatte. Doch nichts dergleichen: die freundlich-sachliche Rede und das Verständnis für die rahjagefällig zugebrachte Nacht mit ihrer Tochter nahmen ihr allen Wind aus dem Segeln. Und der Hinweis auf ihrer beider verschiedene Lebensweisen, welche sich wohl kaum miteinander vereinbaren ließen, riefen ihr genau dieses Problem ins Bewusstsein, obwohl sie schon seit dem ersten Kuss versucht hatte, eben diese Gedanken zu verdrängen. Sie hatte es gewusst, gewusst wie damals bei Jel, sie hatte gewusst, dass nach dem Hochgefühl der Absturz folgen würde. Und sie hatte dennoch sehenden Auges den Berg erklommen, war höher gestiegen und immer höher, wohl wissend, dass die Entfernung zum Boden damit immer größer, der Fall immer tiefer sein würde.

Doch Doratrava nahm sich eisern zusammen. Sie wollte nicht vor der Gastgeberin in Tränen ausbrechen, auch wenn sie die Flut nahen fühlte. Der beginnende Kampf in ihrem Inneren verhinderte, dass sie irgend etwas als Erwiderung herausbrachte, sie starrte Adda nur an. Sie traf einen Entschluss: der Flut konnte sie nicht entkommen, aber sie konnte vor ihr fliehen und ihr Hereinbrechen damit zumindest verzögern. Sie würde fliehen, mit Rahjalind zusammen, auf der Nussschale ihrer Leidenschaft, so lange es möglich war.

Die Hausherrin musterte Doratrava einen Moment lang lächelnd, dann fuhr sie fort. „Ihr dürft Euch gerne in der Waschkammer waschen – ich denke Ihr kennt den Weg?“, abermals sollte sie keine Antwort abwarten, „Das Wasser im Zuber ist zwar nicht mehr frisch sollte aber noch warm sein.“ Noch einmal musterte die Halbergerin sie eingehend. „Wenn Ihr Euch dann von den Spuren der Leidenschaft befreit habt, seid Ihr zum gemeinsamen Essen im Speisesaal geladen. Rahjalind habe ich dort vorhin herumlaufen sehen.“, Adda nickte Doratrava lächelnd zu, „Und nun entschuldigt mich.“

Die Gauklerin sah Adda nach, wie sie sich gemessenen Schrittes entfernte, ihrer Sache und Position völlig sicher. Sie dagegen war sich völlig unsicher, was sie jetzt wirklich von diesem Auftritt halten sollte. Sie hatte keine Ahnung, was die Gastgeberin wirklich dachte und ob diese sie nicht in Wirklichkeit nach Brabak wünschte. Andererseits … warum sollte Adda sie hier länger dulden, wenn sie ihre Anwesenheit überhaupt nicht ertragen konnte? Genug jetzt der fruchtlosen Grübelei, sie sollte sich jetzt waschen, bevor jemand anderes ihr zuvorkam.

Doratrava fand die Waschkammer zum Glück leer vor. Dass das Wasser nicht mehr frisch war, war nicht zu ändern, aber für sie nichts Ungewöhnliches, auch wenn sie das Waschen am Bach einem nicht mehr so ganz sauberen Zuber eigentlich vorzog. Doch es floss leider kein Bach durch den Waschraum, also musste sie mit dem Zuber vorlieb nehmen. Sie suchte sich Seife, versenkte sich in das lauwarme, etwas trübe Wasser und begann, sich so schnell wie möglich einzuseifen und abzuwaschen. Rahjalind war im Speisesaal, wer weiß, wie lange, sie musste sich beeilen, bereitete ihr doch allein der Gedanke, sie könnte ihre Geliebte verpassen, weil sie zu spät kam, schon Bauchschmerzen.

Kurze Zeit später eilte sie, wieder in das Laken gewickelt, denn natürlich hatte sie versäumt, Kleidung mitzunehmen, zurück zu ihrem Zimmer, um sich anzuziehen. Kurz überlegte sie, doch dann entschied sie sich für etwas Eigenes. Das schwarze Kleid Addas war etwas mitgenommen, außerdem war es Addas, das grüne Rahjalinds schien ihr zu fein, um es bloß für das Frühstück zu tragen. Also wählte sie als Untergewand das schwarze, mit Glitter besetzte Bänderkostüm, welches sie auf der Hlûtharswachter Hochzeit getragen hatte, das hieß, einen Teil davon. Sie ließ die Beine unbedeckt und umwickelte nur einen Arm bis zum Handgelenk, aber so locker, dass mehr Haut als Band zu sehen war, während sie den anderen Arm bloß ließ. Nur um den Körper herum bis knapp über die Brüste wickelte sie die Bänder so dicht es ging. Darüber zog sie dann ihr leichtes, rotes Kleid an. Dieses war von einfachem Schnitt, aber aus seidigem Stoff, ärmellos, hinten weit ausgeschnitten, vorne bis zu den Brustansätzen, welche aber von den Bändern verdeckt wurden. Vorne und hinten fiel das Kleid spitz zulaufend bis zu den Knien, an den Seiten bedeckte es gerade die Hüften. Dazu zog sie ihre goldenen Sandalen an. Sie wirbelte einmal im Kreis, dass das Kleid flog und sich ein wenig entknitterte, dann fiel ihr Blick auf ihre zerkratzen Arme. Nun ja, alle Spuren der Leidenschaft waren eben nicht einfach so abzuwaschen. Mit einem lächelnden Schulterzucken machte sie sich auf zum Speisesaal.