Marbolieb Federn

An den Federn erkennt man den Vogel

Ort: Senalosch in den Vogteien Nilsitz

Zeit: Mitte ING 1042 BF

Personen: Oberst DwaroschSohnDesDwalin und Ihre Gnaden MarboLieb. Und andere.

Eine Briefspielgeschichte von RekkiThorkarson und IseWeine.

Inhalt: Nach der Jagd in Nilsitz hat Oberst Dwarosch eine Schneiderin in das Haus des Vogtes beordert. Doch so einfach ist es nicht, einem schwarzen Vogel neue Federn anzuziehen - vor allem, da an einer Hülle so viel mehr hängt als nur der äußere Anschein. (Dokument hängt an).

Es war zur Mitte des Ingerimmmondes, die Große Jagd von Nilsitz war ebenso wie das Isenhager Donnergrollen beendet, doch noch nicht alle der vielen Besucher jener Festivitäten waren abgereist, da bat der Oberst Marbolieb an einem Windstag in die gute Stube des Hauses des Vogts von Nilsitz, wo sie wie stets gastierten, wenn sie in Senalosch weilten. Es war noch früh am Morgen, sie hatten gerade mit Mirla, gemeinsam mit Topaxandrina, der Haushälterin Borindaraxs gefrühstückt.

Marbolieb spürte sogleich, dass noch jemand im Raum war, als sie die Stube betraten. Ihre Tochter hatten sie bei Topaxandrina in der Küche gelassen. Die Kleine liebte es mit den Töpfen und Pfannen zu spielen und die Zwergin die Gegenwart des Kindes, während sie Ordnung schaffte und damit begann, das Mittagessen vorzubereiten, das der Vogt sehr früh einzunehmen pflegte, da er lange vor allen anderen aufstand, um seinen Geschäften nachzugehen. Dwarosch schloss die Tür hinter ihnen.  Es war angenehm warm in der Stube, was darauf schließen ließ, dass der Kamin schon wieder angeheizt worden war. Dies übernahm im Haus des Vogts stets Boindil, der Leibwächter Boraxs. Der Ingerimm Mond war im Isenhag noch zum Teil recht kühl, man konnte sich nur schwer vorstellen, dass zur selben Zeit bereits der Frühling im gratenfelsener Becken eingekehrt war.

“Räblein”, ergriff Dwarosch das Wort mit leicht kratziger Stimme und ergriff ihre Hände. “Ich habe mich zu wenig um dich gekümmert die vergangenen Monde, das möchte ich nun zumindest ein wenig wieder gut machen.” Der Oberst drückte leicht ihre Finger, als er bemerkte, dass sie Einwände vorbringen wollte. Er war noch nicht fertig, hatte noch nicht alles gesagt. “Ich habe die beste Schneiderin Senaloschs hierher eingeladen. Sie stammt aus Simiaheim unten in der Stadt und wird dir eine neue Garderobe schneidern, auch Roben. Schuhe wird dir ein Schuster fertigen, der mit ihr zusammenarbeitet. Ihr Name ist Meisterin Apaxalameda. Sie ist die Tochter der Apaximeda.”

Jemand räusperte sich und Marbolieb erkannte nur schwer die weibliche Stimme, als die Schneidermeisterin nun das Wort ergriff. “Euer Gnaden. Es ist mir ein Vergnügen.” Das Stirnrunzeln, ja vielleicht sogar das Naserümpfen der Angroschna, welches sie zur Schau stellte während sie sprach, konnte Marbolieb fast körperlich spüren. Oder bildete sie sich das nur ein - sie wusste es nicht.

Marbolieb stutzte einen Moment lang, ehe sie ein ebenso höfliches wie verdattertes “Seid gegrüßt.” in Richtung der Schneiderin von sich gab. Ihre Finger schlossen sich eng um Dwaroschs Hand und sie lehnte sich, mit ihrer freien Hand nach ihm tastend, zu ihm, bis ihre Lippen in seinen Haaren kitzelten und fast sein Ohr berührten. “Dwarosch, das geht nicht.” raunte sie mit entsetzter Stimme. “Ich habe überhaupt kein Geld, um eine Schneiderin zu bezahlen!” Doch in dieser Sache duldete der sonst für einen Vertreter seiner Rasse sehr liberal eingestellte Oberst keinerlei Widerrede. 

“Es macht keinen Sinn sich zu sträuben, Räblein, ich werde so beharrlich sein wie der sonst so viel bemühte Fels. Die werte Meisterin wird von mir bezahlt werden und meine Stellung als Oberst und Ministerialer macht mir dies ohne weiteres möglich. Also”, fuhr er liebevoll fort, “möchtest du das wirklich ausdiskutieren, oder ergibst du dich meinem Dickkopf?”  “Das ist viel zu teuer!” nickte die Boroni. Kleidung und Schuhe von der besten Schneiderin in einer für ihre Handwerker berühmten Zwergenstadt - das war ein mittleres Vermögen. Eines, das Dwarosch ohnehin schon für den Unterhalt seiner Waffen und Rüstung aufbringen musste, so dass offensichtlich wenig für seinen eigenen Haushalt blieb. Nicht, dass sie bislang mit Geld viel zu tun gehabt hätte - ihre letzte Ausstattung hatte sie von ihrem Tempel erhalten, bevor sie nach Norden geschickt worden war. Doch sie wusste, was an Spenden in Calmir in ihre Kasse kam, ein sicheres Zeichen, über wie wenige Heller und Kreuzer die Bauern im größten Rabensteiner Markt insgesamt verfügten. Für die ein, zwei Silberlinge, die im Jahr dort zusammenkamen, würde sie vermutlich allenfalls ein Schnupftuch aus der Werkstatt dieser Zwergin bekommen.

Marboliebs Atem kitzelte die Haare an seiner Wange, als sie hinzufügte “Danke. Das ist lieb von Dir.” Sie schwieg einen Moment. “Vielleicht magst Du stattdessen ein Paar Socken und einen Kittel für Mirla bestellen?” Das bisherige Hemd ihrer Tochter ging dieser nur noch bis zu den Knien, und der Winter in den Eisenbergen war kalt. Außerdem benötigten Kindersachen deutlich weniger Stoff als die Ausstattung für eine Erwachsene. Dwarosch tat das, was er relativ häufig tat im Umgang mit Marbolieb, wenn diese sich anders verhielt wie erhofft - er seufzte. “Räblein”, versuchte er es dann sogleich noch einmal, nur weniger diktierend und mit mehr Einfühlungsvermögen. “Bitte gewähre mir diesen Wunsch. Nimm es als Ausdruck meine Liebe, aber auch als Eingeständnis, manchmal zu wenig achtzugeben auf dich.”

Tief atmete er einmal ein und aus und die Geweihte spürte fast körperlich, dass Dwarosch sich gegen die nächsten Worte sträubte, er sie aber doch vorbringen wollte. “Die Rahjageweihte auf der Jagd hatte in diesem einen  Punkt recht. Du brauchst eine neue Garderobe und ich habe das zu lange ignoriert.”

“Dwarosch, ich habe Kleidung. Meinst Du nicht, ich würde Dich um Hilfe bitten, wenn das anders wäre?” Die flüsternde Stimme der jungen Boroni, dicht neben seinem Ohr, war sanft und weich. “So sehr wie Du hat sich noch niemals ein Wesen um mich gesorgt. Du bescherst mir ein leichtes und sorgenloses Leben. Du musst nichts beweisen. Ich genieße die Zeit mit Dir aus vollem Herzen. Genau darum werde ich Dir nicht auf der Tasche liegen - Du gibst mir schon so viel mehr als ich wünschen könnte, mein sturer Herr Oberst.”  Marbolieb lächelte, ihre Finger fest in die ungleich breitere Pranke des Zwergen geflochten, beugte sich verschämt vor und küsste ihn auf die Wange, eine flüchtige Berührung wie der Flügelschlag einer Motte, ehe sie pflichtbewusst wieder einen halbwegs ziemlichen Abstand einnahm. Das mißbilligende Räuspern der Zwergin konnte sie schwerlich überhören. Sie holte tief Luft. “Habe ich Dir je einen Wunsch abgeschlagen?”

Fast körperlich spürte Marbolieb die Erleichterung ihres Liebsten, noch bevor dieser etwas sagte. 

“Danke”, flüsterte er und küsste sachte ihre Schläfe. Dann klatschte er sogleich in die Hände, als Zeichen, dass sie anfangen konnten. Dwarosch führte Marbolieb zu einem der bequemen Sessel vor dem Kamin und half ihr Platz zu  nehmen. Als dies geschehen war, öffnete die Schneidermeisterin eine große, lederne Tragetasche, die sie mitgebracht hatte und holte eine große Mappe daraus hervor.  “Euer Gnaden”, übernahm dann die Angroschna förmlich. “Ich habe hier einige Stoffe, die ihr euch... “, die Schneiderin brach ab, offenbar wollte sie nicht Falsches sagen und Marboliebs Gefühle verletzten. Anstelle dessen hörte die Geweihte, wie die Meisterin näher trat. Dann legte man ihr etwas in den Schoss. Was Marbolieb daraufhin befühlen konnte, war eine große, schwere Ledermappe mit diversen Seiten, auf die unterschiedlichste Stoffe aufgespannt waren. “Prüft bitte für euch, welches Material euch zusagt, danach werde ich eure Maße nehmen.”

“Ich hätte gerne schwarzen Stoff.” bat Marbolieb, währen sie mit ihren Fingerspitzen über die verschiedenen Stoffe strich - verschieden glatt und auch verschieden weich, und einige, so verriet ihr das neugierige Tasten, wohl auch mit eingewobenen Mustern aus einem anderen Material - war das der berühmte zwergische Brokat?. Sie runzelte überlegend die Stirn, als sie abermals die Stoffe prüfte - sie konnte nur raten, welcher denn geeignet wäre, mit Web- und Schneiderkunst kannte sie sich  kein bißchen aus. “Ist dieser warm?” deutete sie schließlich auf einen dichten, flauschigen Loden. “Dann hätte ich sehr gerne eine Robe für den Winter davon.” Eine. Das wäre ein vollkommen ausreichender Ersatz für die, die ihre bei ihrer Entführung abhanden gekommen war.

"Ganz recht", pflichtete die Zwergin Marbolieb sogleich eifrig bei. "Ich würde ihn euch für das Innenfutter eines Mantels empfehlen… für eine Robe lässt sich das aber selbstverständlich auch einrichten. Die Robe selbst sollte dann am besten hieraus gefertigt werden." Die Schneiderin klappte die Mappe zweimal um, woraufhin Marbolieb einen Stoff fühlte, der sich schwer und strapazierfähig anfühlt, ja fast als robust zu bezeichnen war. "So etwas verwendet der Herr Oberst für seine Reisegarderobe. Er ist durch die dichte Webtechnik bis zu einem bestimmten Grad wasserabweisend. Wind vermag nicht hindurchzudringen. Ich empfehle einen gewachsten Überwurf aus dünnem Ziegenleder dazu.  Habt ihr sonst noch einen speziellen Wunsch, den ich euch erfüllen kann? Der Oberst war was euren Geschmack angeht äußerst… sparsam mit verwertbaren Aussagen." Der auf diese Weise 'Gescholtene' lachte trocken auf und schüttelte wohl auch amüsiert den Kopf. Marbolieb hörte seinen Bart rascheln, sagen tat er jedoch nichts. Für ihn mochte dieses Gespräch "Frauenangelegenheit" sein. 

“Es sollte eine warme Robe für den Winter sein - einfach geschnitten, mit weiten Ärmeln. Und eine Pellegrina aus dem gleichen Stoff dazu. Beides in Schwarz und unverziert. Geht das, Meisterin - Apaxa...melda?”

“Selbstverständlich”, antwortete die Schneidermeisterin fast ein wenig beleidigt über die Frage, stellte das Gewünschte doch keine besonders große Herausforderung an ihr Handwerk dar.  Marbolieb hob die Stoffmuster auf und streckte das Buch in die Richtung, in der sie die Erzzwergin vermutete. Fasziniert von der Vielfalt der Stoffe, aber heillos überfordert mit der Auswahl, griff sich nach dem letzten helfenden Strohhalm - der sich glücklicherweise fast in Armesreichweite befand. “Dwarosch, was meinst du? Welchen würdest du für eine Winterrobe nehmen?” “Wir machen es so wie vorgeschlagen”, entgegnete der Oberst, während die Schneiderin ihre Mappe wieder entgegennahm. 

Dwarosch fuhr indes fort. “Eine Winterrobe mit warmen Innenfutter und Wachstuchüberwurf, so wie ihr es für meine Garderobe fertigt. Dazu zwei einfache Roben und... Pelle… grin...i!?” Dwarosch war sich bei der richtigen Verwendung der Mehrzahl dieses Wortes nicht sicher. “Ist notiert”, bestätigte die Zwergin die Bestellung. “Ich müsste dann noch die Maße ihrer Gnaden nehmen”, stellte Apaximeda nüchtern fest, woraufhin Dwarosch aufstand und wieder zu Marbolieb trat, um ihr zu aufzuhelfen. 

Als die Geweihte frei im Raum stand, nahm die Schneidermeisterin mit einer langen Kordel maß, indem sie sie nacheinander, um die Körperpartien Marboliebs legte. Die kleinen, in gleichmäßigem Abstand vorhandenen Knoten halfen bei der Findung des richtigen Umfangs. Nachdem sie damit fertig war, kniete sich Apaximeda vor Marbolieb hin und maß auch ihren Fuß. Dabei fragte sie: “Euer Gnaden, habt ihr einen bestimmten Wunsch, was euer Schuhwerk betrifft?”

“Normale Schuhe - keine Sandalen.” Bat sie. Gab es da Besonderheiten? Oder dachte die Schneiderin eventuell an Stiefel? Doch sie war keine Reiterin, die so etwas brauchte. Verwirrt streckte sie eine Hand in die Richtung aus, in der sie Dwarosch vermutete. “Etwas Solides, das eine Weile hält, wenn das geht.” Fügte sie schließlich eher fragend als bestimmend hinzu. Das würde alles zusammen ein Vermögen kosten. Schuldbewusst senkte sie den Kopf - und war froh, dass der Oberst nicht auf noch auf den Gedanken verfallen war, das sowieso schon üppige Arrangement um Mantel und Unterzeug zu erweitern. Wobei Strümpfe nett gewesen wären.  Dennoch - sie fühlte sich durch und durch unwohl in ihrer Haut - das war das erste Mal, dass sie jemand für ein Kleidungsstück abgemessen hatte - für eine Robe war das doch auch gar nicht nötig. 

Im Gegensatz zu manchen Ballkleidern, wie sie diese hin und wieder - zugegebenermaßen zu seltensten Gelegenheiten - an Damen des Adels gesehen hatte. Die saßen so eng, dass sie sich manches Mal gefragt hatte, ob die Adligen in diese eingenäht worden waren - und einmal schien genau das auch der Fall gewesen zu sein, jedenfalls hatte sie trotz emsigstem Suchens keine Möglichkeit gefunden, das Kleid zu öffnen und schließlich zum Messer gegriffen.  Was für ein Glück, dass die Schneiderin nicht eine solche Ballrobe plante. Kurz huschte angesichts dieser Vorstellung ein Grinsen über ihre Lippen, als sie Dwaroschs wuchtige Hand ertastete.

“Wäre es nicht besser, statt der Schuhe Kleidung für Mirla zu kaufen?`” fragte sie vorsichtig. Das Schuhwerk schien mindestens so kompliziert zu sein wie die Robe. Eher mehr. Der Oberst drückte sachte ihre Hand. “Um Mirlaxa werden wir uns auch noch kümmern Räblein. Jetzt aber bist erst einmal du an der Reihe - eins nach dem anderen.” An die Schneidermeisterin gewandt sagte Dwarosch dann: “Ein Paar einfache Schuhe und ein Paar Schnürstiefel. Verwendet für beide bitte das Leder, welches ihr auch für meine Stiefel verwendet. Ich konnte über ihre Strapazierfähigkeit bisher noch nie klagen. Ach und nehmt die Maße ihrer Gnaden in eure Kartei auf. Was den Rest betrifft, so verfahren wir wie besprochen.” “Sehr wohl Herr Oberst”, bestätigte Apaxalameda den Wunsch Dwaroschs tonlos.

“Gut, ich denke dann sind wir fertig oder?” fragte die Zwergin und Marbolieb hörte es rascheln. Die Schneiderin packte wohl ihre Sachen zusammen. “Ja. Schickt einen Boten mit den Sachen hier ins Haus des Vogts”, wies der Oberst Apaxalameda an. Die jedoch antwortete nicht, sondern verabschiedete sich mit einem kühlen “Herr Oberst, Euer Gnaden”, dann bereits hörte Marbolieb die Dielen am Ausgang der Stube knarzen und wusste, dass sie hinaus war.  Marbolieb wartete eine Weile, um sicherzugehen, dass die Meisterin außer Hörweite war. “Ein Paar Schuhe hätte doch ausgereicht, mein Liebster. Ich kann immer nur eines gleichzeitig tragen.” Ein leises Schmunzeln zog sich über ihre Mundwinkel, das aber rasch einem Stirnrunzeln wich.

“Sie klang nicht begeistert - was habe ich falsch gemacht? Hätte ich ihre Stoffe mehr loben sollen?” Nachdenklich fixierte sie einen Punkt irgendwo zwei Handbreit seitlich von Dwaroschs rechter Schulter und grub ihre Zähne in die Unterlippe. "Nein." Die Antwort kam entschieden. Dwarosch schnaubte unwillig. "Apaxalameda ist erz- konservativ. Sie hat menschliche Kunden, aber zumeist nur Händler, die in größeren Mengen abnehmen, Einzelpersonen bedient sie für gewöhnlich nicht mehr. Mit meinem Zeugwart macht sie gute Geschäfte, deswegen konnte sie meine Bitte auch nicht ausschlagen, hierher zu kommen. Ich könnte für das Regiment ja auch in Albenhus einkaufen lassen, dann würde ihr ein beträchtlicher Teil Umsatz wegbrechen." Der Oberst seufzte. "Glaub mir Räblein, ich hätte dir und mir diese alte Vettel gern erspart, aber sie ist nun mal auch leider die Beste in dem was sie tut, deswegen lasse ich auch alles was ich trage in ihrer Schneiderei fertigen."

“Aber für eine Robe reicht doch ein ganz einfacher Schneider, Dwarosch. Das hätte nicht die Beste sein müssen.” wandte Marbolieb ein. “Und wenn sie so viel fertigt, hat sie sicher sowieso eine ganze Werkstatt voller Leute und macht das nicht mehr selbst. Da hätten wir sie nicht ärgern müssen - ich will die Leute hier nicht gegen mich aufbringen.” Nicht mehr zumindest, als sie dies durch ihre Anwesenheit hier sowieso schon geschah. Sie lächelte in die Richtung ihres Liebsten.  Der Oberst lachte leise. “Räblein, dies ist eine Art Freundschaftsdienst. Ihr Menschen sagt ‘eine Hand wäscht die andere’. Ich habe nicht erwartet, dass die werte Apaxalameda bester Laune ist, wenn sie zu uns kommt. Ich wäre es vermutlich an ihrer Stelle auch nicht. Wen kümmert’s? Das hat hat im Grund nichts mit dir zu tun. Sie mag mich nicht.”  Dwarosch feixte, Marbolieb musste es nicht sehen, sie wusste es. “Ich habe ihren Mann einmal im ‘betrunkenen Schrat’ unter den Tisch gesoffen und dann bei ihr Zuhause ‘abgegeben’. Nun, im Grund habe ich ihn vor die Tür gelegt und geklopft. Das Donnerwetter, als sie die Tür öffnete habe ich mir dann von der nächsten Häuserecke aus angesehen. Leider musste ich so laut lachen, dass sie mich entdeckt hat. Seither hat sie wohl eine schlechte Meinung von mir.” Dwarosch lachte schallend. “Trotzdem wird sie mir einen Freundschaftspreis machen - müssen - und das wurmt sie.”

“Oh.” Ein Lächeln zuckte um Marboliebs Mundwinkel. “Es ist nicht schön, seinen Mann volltrunken zu sehen.” Kurz blitzte die Erinnerung an das einzige Mal auf, als sie selbst den Oberst in diesem Zustand erlebt hatte - bei der  Weihefeier des Kortempels in Senalosch. Er war, scheinbar vollauf zufrieden mit sich und der Welt, sturzbetrunken unter dem Tisch eingeschlafen. Und hatte sich dabei als sehr friedlicher Betrunkener erwiesen. Und als lauthals schnarchender und durch und durch unbeweglicher Schläfer. Sie hatte in dieser Nacht auf der Bank am Tisch übernachtet - allein hätte sie den Rückweg aus der Clanshalle auch nicht gefunden. “Und sie ist seitdem noch immer wütend?” wollte sie wissen. Dwarosch zuckte mit den Achseln. “Ob nun wütend oder nicht- sie hat eine schlechte Meinung von mir. Meiner Freundschaft mit Gubosch - ihrem Mann - hat es jedenfalls nicht geschadet. Apaxalameda versucht seitdem jedenfalls alles, mich von ihm fern zu halten. In den Schrat darf er auch nicht mehr. Ich treffe ihn aber immer noch ab und an in Bobaldurs Krug. Anfangs war er etwas grummelig wegen der Sache, heute lachen wir darüber.”  Marbolieb strich mit ihren Fingern über die schwielige Hand des Oberst. Eine kräftige Hand, die von harter Arbeit und langer Übung an verschiedenen Waffen erzählte - mit Schwielen und so mancher Narbe. 

“Wenn Du einmal mit einer Frau den Bund eingehst - würdest Du ihr zuliebe eine Schenke meiden? Oder auf eine Zecherei verzichten?” wollte sie wissen, aufmerksame Neugierde in den Augen.

Stille - der Oberst musste über diese Frage offenbar erst nachdenken. Diplomatisch, ja fast vorsichtig war seine Antwort.  “Wenn es einen wirklich triftigen Grund gäbe, dann würde ich für dich EINE Kneipe meiden. ALLE jedoch nicht. Und das Zechen habe ich seit geraumer Zeit eingeschränkt. Meine wilden Jahre sind lange vorbei, was das betrifft. Du hast mich erst einmal wirklich betrunken gesehen, Räblein.”

“Ich habe gehört, es gäbe wenige Zwerginnen, und die Männer, die von einer von diesen  als Gatte gewählt wurden, wären vergleichsweise wenige.” Ihre Fingerkuppen liebkosten leicht wie eine Feder die rauhe Hand des Oberst. Ein warmes Lächeln schimmerte in den dunklen Augen der jungen Almadanerin. “Du scheinst dennoch verwundert darüber zu sein, dass Gubosch sich seinem Weibe zuliebe einschränkt. Könnte das sein?”

Dwarosch schüttelte den Kopf. “Nein. Angroschax sind zumeist ebenso charakterstark wie wir Männer, Räblein. Wir achten und wir verehren die Frauen, denn nur sie schenken Leben und dazu sind sie wie du sagst in der Unterzahl. Das heißt im Umkehrschluss, dass sie sich durchsetzen müssen und dass sie Ansprüche stellen können - und die meisten tun dies. Entweder man findet sich als Mann damit ab und hat dadurch vielleicht die Chance darauf, einen Bund einzugehen, oder man bleibt allein und macht sein eigenes Ding.” “Dann ist es wenig verwunderlich, dass er für sie den Schrat sein lässt. Aber nicht das Zechen mit Dir.” Sie versank ins Grübeln. “Vermutlich hat sie doch nicht so viel dagegen, sonst würde sie nicht zulassen, dass er mit dir im Krug trinkt - oder?” 

“Ich denke eher, das ungefähr dort die Frontlinie verläuft”, antwortete Dwarosch in der Weise, das Marbolieb wusste, dass er dabei ein breites Lächeln zur Schau stellte.

Eine kluge Frau. Marboliebs Achtung vor der Schneiderin wuchs - und zugleich die Überzeugung, dass diese ganz bewusst steuerte, welche Freiheiten ihr Mann hatte - und wo sie die Grenze zog. Die wenigen Angroschax, die sie kennenlernen durfte, waren sich ihres Wertes wohl bewusst - und vermutlich hätte Gubosch keinen Humpen mehr mit dem Oberst getrunken, wenn seiner Frau das aus tiefstem Herzen missfallen hätte. Sie beschloss, die Sache - einschließlich Dwaroschs Ansichten - eingehend und ausführlichst mit der Frau zu erörtern, die sich damit wirklich auskannte und die Beteiligten schon seit Jahren beobachtete: Topaxandrina. Später. Unter vier Ohren. Und so nickte sie auf die Aussage des Oberst, ein leises, zustimmendes Lächeln in den Augen, in dem sich Vorfreude mit Neugier vereinte und wechselte das Thema.

“Vielen Dank für die Kleider, Dwarosch.” Die Geweihte senkte ihre Stimme. “Sag, ist meine Robe wirklich so schlimm?”

Dwarosch seufzte und war plötzlich wieder ernst, ja fast ein wenig kleinlaut. “Sagen wir so, Räblein, sie sind deinem Amt nicht mehr angemessen. Ich habe nicht gut genug acht gegeben auf dich und das beschämt mich. Doch dies ist Vergangenheit. Wie ich die Apaxalameda kenne, wird sie uns übermorgen einen Boten mit den ersten Sachen schicken. Ob dann Schuhe und Stiefel schon dabei sind weiß ich nicht, aber lange wirst du darauf auch nicht warten müssen. Sie arbeitet mit einem Schuster zusammen, der auch die Stiefel meiner Soldaten fertigt. Er hat seine Werkstatt auch in Simiaheim.”

“Dann werde ich bald wieder vorzeigbar sein.” Ganz hatte das Schmunzeln die Lippen der jungen Frau nicht verlassen, als sie dennoch mit einem neugierigen Funkeln in den Augen nachfasste. “Was meinst Du mit ‘nicht gut genug achtgegeben’, Dwarosch?”

Er stieß die Luft aus aufgrund der Nachfrage. Es fiel Dwarosch schwer, diese Sache in Worte zu fassen, nicht weil er es nicht wollte, sondern weil er glaubte, es nicht richtig erklären zu können.  “Nun, ich denke Männer werden auf eine gewisse Weise ignorant, wenn sie zu lange allein gelebt haben. Sie verschließen vor bestimmten Dingen die Augen im übertragenen Sinne, weil sie ihnen zu ‘unbedeutend’ scheinen. 

In deinem und meinem Falle hat es aber vielleicht auch noch einen anderen Grund und darüber denke ich nach. Möglicherweise habe ich gewisse Sachen als zu selbstverständlich hingenommen, wie zum Beispiel dass du dich um deine Garderobe kümmerst. Das du es im Moment gar nicht vermagst, habe ich nicht sehen wollen, oder ignoriert.” Er seufzte.  Die Boroni tastete nach seinem Arm und legte ihre Hand auf die Seine. “Dwarosch, ich kümmere mich doch um meine Kleidung.” tröstete sie. “Ich wasche und ich flicke sie. Topaxandrina hat mir eine Nadel und Garn geliehen. Und in Calmir habe ich auch Geld - ich kann mir neue Schuhe kaufen, sobald ich zurück bin. Es ist nicht so, dass ich hier nackend herumlaufe. Du musst mich doch nicht aushalten.” Wie ein Adliger seine Mätresse. Unwillig ob des Gedankens schüttelte sie energisch den Kopf. 

“Ich liege Dir und dem Vogt schon genug auf der Tasche - er gibt mir und Mirla Obdach und Gastung, und alles, was ich im Gegenzug tue, ist Topaxandrina in der Küche zu helfen. Er und Du, ihr seid sehr großzügig. Das reicht für mich, mein Liebster - es ist unnötig, dich nach mehr zu mühen.” Sie atmete tief durch und fuhr dann mit sehr leiser Stimme fort. “Ich möchte vermeiden, dass du dich von mir ausgenutzt fühlst, Dwarosch.” 

“Niemand Räblein, wirklich niemand hat das Gefühl, dass du ihm auf Tasche liegst, noch dass du jemanden ausnutzt.  Wir Angroschim leben in Clans zusammen. Du und Mirlaxa gehören zu meinem, kleinen Clan - mein eigentlicher Clan ist sich nicht sicher, ob er stolz oder beschämt sein soll, weil ich ihm angehöre. Wie dem auch sei, solch ein Familienverbund ist das bedeutendste Bindeglied unserer Kultur - man sagt Sohn des, oder Tochter der, aus dem Clan oder der Sippe, was gleichbedeutend ist. 

Also bitte nimm es als das an was es ist, selbstverständlich.” 

Die blinde Geweihte neigte den Kopf.” Ich danke Dir für Dein Geschenk, Dwarosch. Es ist großzügig. Selbstverständlich ist es nicht.” Dass sie niemals zu einer Zwergensippe gehören würde - gehören konnte -, sprach sie nicht aus. Dies war ihr ebenso bewusst wir dem großmütigen, gutherzigen Oberst an ihrer Seite. Dass es selbstlos war, eine blinde Kriegsbekanntschaft aufzunehmen und samt Kind durchzufüttern, ebenso. In Worte zu fassen hätte sie dies alles nicht vermocht. So nahm sie seine Hand, führte sie an ihre Lippen und küsste sie sanft. 

~*~

Zwei Tage später, so wie der Oberst es vorhergesehen hatte, kam tagsüber ein Bote zum Haus des Vogtes. Dwarosch war an jenem Morgen früh in Richtung Widdertor aufgebrochen, um die Kasernen Senaloschs  zu inspizieren.

Topaxandrina half Marbolieb, die Sachen, die penibelst zusammengelegt in einem großen Wäschebeutel gebracht worden waren, auszupacken. 

Es waren die bestellten Roben - die normalen, wie auch die für kalte Witterung, der wasserdichte Überwurf, sowie sechs Paar Strümpfe, Unterhemden und -hosen. Ganz unten im Beutel jedoch wartete eine Überraschung, bei der sogar die alte Zwergin ins Schwärmen geriet - ein dicker Mantel mit Elfenbausch als Innenfutter und einem Pelzkragen aus Nerz.

Inständig fasziniert strich Marbolieb durch das dichte Fell, in das sie ihre gesamte Hand vergraben konnte, und bewunderte die Weichheit und Glätte des kostbaren Rauchwerks. Schließlich nahm sie den dicken, schweren Stoff auf und schmiegte ihn an ihre Wange. Geraume Zeit verstrich, und in ihren Wimpern glitzerte eine einzelne Träne. Sie schniefte. Und legte schließlich den Mantel widerstrebend wieder zurück, um sich entschieden mit dem Ärmel über die Augen zu wischen. “Der ist wundervoll weich. Und wohlig warm. Ich werde im nächsten Winter nicht frieren.”

Sie drehte sich suchend zu der Zwergin um. “Beschreibst Du mir, wie er aussieht?” “Das Wildleder ist dunkelbraun, die weite Kapuze besitzt einen breiten, helleren Pelzrand, der sich über den Kragen und das Revers fortsetzt. Auch die breiten Armumschläge sind mit Pelz besetzt.  Es gibt acht breite Knöpfe aus achteckig geschnitztem Horn. Die Knopfleiste ist durch eine schwarzen Kordel abgesetzt.  Der Überwurf aus Loden, der dazugehört, wird dich für einige Stunden vor nassem Schnee oder Regen schützen können. Und frieren wirst du ganz sicher nicht darin, der Bausch ist dick und von herausragender Qualität, so wie er sich anfühlt. Von der Länge würde ich sagen, dass er dir bis zu den Knöcheln hinab reicht und er wird deine schlanke Taille betonen.”

Topaxandrina seufzte versonnen. “Ein wundervolles Stück. Ich bin sicher, er wird dir lange Freude bereiten.” 

“Ganz gewiss.” Mit leuchtenden Augen streichelte die blinde Geweihte das weiche Fell und erfreute sich an der samtenen Glätte und Wärme unter ihren Fingerspitzen.

“Meint Du nicht, dass er es ein klein wenig übertreibt? Ein so wundervoller Mantel lohnt sich schwerlich für mich. Der ist einer Adelsfrau in ihrem Schloss angemessen." Sie schwieg einige Augenblicke und ihre Finger streichelten weiterhin den breiten, schön geschwungenen Kragen des Mantels. Es musste sich äußerst kuschelig anfühlen, ihn zu tragen. Ein glückseliges, in sich gekehrtes Lächeln lag auf ihrem hübschen Gesicht.

“Pappelapapp, oder wie heißt es bei euch”, entgegnete die Zwergin amüsiert. “Die Adelsfrau wird ihren dicken, vornehmen Hintern wohl kaum aus ihrem Schloss bewegen bei dem Mistwetter, für den er gemacht ist. Nein, sie braucht diesen Mantel nicht, du hingegen schon - wir beide kennen Herbst und Winter im Isenhag. Also mach dir einfach nicht so viele Gedanken und freu' dich einfach über das Geschenk. Dwarosch hat sich ja auch viel Zeit gelassen damit.”

“Ich habe noch nie so viel Kleidung besessen. Schon gar nicht auf einmal.” Noch immer vollkommen fasziniert streichelte Marbolieb über den makellosen, feinen Pelz des schweren Ledermantels. Frieren würde sie damit wirklich nicht mehr - und auch die Zeit der Frostbeulen auf den Zehen hatte mit dieser schieren Menge an Strümpfen ziemlich sicher ihr Ende gefunden. Einige Atemzüge lang genoss sie still die luxuriöse Masse an seidigen Haaren unter ihren Händen.

“Topaxandrina, Dwarosch hat mir über den Mann der Schneiderin erzählt. Gurbosch hieß er wohl.” Oder so ähnlich. Auch nach zwei Wintern hatte sie noch ihre Schwierigkeiten mit den Feinheiten der zwergischen Namen, insbesondere, wenn diese in dem gutturalen Brummeln der Angroschim ausgesprochen wurden. Meist lag sie mittlerweile richtig - doch immer, wenn sie dachte, endlich eine Aussprache verstanden und begriffen zu haben, kam jemand mit einer Erklärung, die alles wieder über den Haufen warf. “Er hat mir von dem Streit der beiden über seine Zecherei mit dem Oberst berichtet.” Wieder schwieg sie einige Augenblicke und ordnete ihre Gedanken, ehe sie gar zu schnell von ihrer Neugier über ihre Zunge getrieben werden konnten.

“Kommt solcher Streit bei einem Bund von Feuer und Erz unter eurem Volk häufiger vor?”

Die Zwergin stutzte einen Moment, dann lachte sie herzhaft los.

“Natürlich”, begann sie, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. “Es hat bei uns Angroschim fast schon Tradition in gewissen Sippen, dass die Männer nach dem Tagwerk, der Arbeit in die Schänken gehen, um ein, zwei Bier zu trinken. Auch Frauen, die einem Handwerk nachgehen trifft man dort an. Und selbstverständlich kommt es vor, dass aus zwei Bier, drei werden, oder vier…” Die Zwergin zuckte mit den Schultern.

“Ich glaube in dieser Hinsicht unterscheiden wir uns wenig von euch Menschen, Marbolieb. Nur dass wir Angroschax diesen ‘Brauch’ für gewöhnlich nicht grundsätzlich negativ betrachten. Nun ja, das heißt, wenn die Männer nicht allzu häufig über die Stränge schlagen. Das seht ihr sicher ebenso.

Dwarosch war in seiner Jugend ein Rauf- und Trunkenbold, um es in den Worten seines Vaters auszudrücken. Ich nehme an, es gibt weit mehr als eine Angroschna, die ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hätte, wenn sie wüsste, dass ihr Mann einmal mit Dwarosch versackt ist und unter dem Tisch gelegen hat.” Wiederholt lachte Topaxandrina. “Hm.” Marbolieb nickte. Trunksucht - bei Mann wie bei Frau, die unterschieden sich darin wenig - war bei den Menschen überaus häufig - wenn die Bürger und vor allem das einfache Volk einige Heller in den Taschen hatten, trugen sie es oft genug ins Wirtshaus, anstatt ihren Kindern Essen zu kaufen oder es für Haus und Hof zu verwenden. Warum hätte dies bei den Angroschim anders sein sollen?

“Mir geht es um Anderes, Topaxandrina. Bei euch gibt es viel weniger Frauen als Männer - anders als bei den Menschen. Du hast mir erzählt, dass gerade mehr als ein Dutzend Freier um Deine Gunst werben. 

Ich hätte erwartet, dass eure Männer da mehr bemüht sind, ihre Frauen gewogen zu halten als bei uns - sie sind viel seltener und der Nebenbuhler sind viele. Und doch gibt es über einen Wirtshausbesuch Streit. Das verstehe ich nicht.”

Vorsichtig begann sie, die kostbaren Kleidungsstücke wieder zusammenzulegen und zu stapeln, damit sie nicht mehr den gesamten Platz auf dem Tisch einnahmen. Bewundernd ließ sie den feinen Stoff eines Hemdes durch ihre Finger gleiten, fasziniert von der Glätte des feinen Gewebes. Ihr einziges Hemd war aus grobem Leinen, rauh genug, um die einzelnen Fäden zu ertasten und mittlerweile auch häufig genug geflickt, so dass sie mit einem Griff hätte sagen können, wo vorn und hinten, oben und unten war. Dieses hier floss wie Wasser durch ihre Finger, war dicht, und gleichzeitig weich und anschmiegsam - ein sehr hochwertiges Stück Webkunst, gewirkt mit sehr feinem Faden, und ganz gewiss eine Freude zu tragen.

“Kindchen”, seufzte die Angroschna. “So einfach ist es dann doch nicht. Ja, sie tun alles, um um eine von uns zu werben, machen teure Geschenke, schmeicheln durch Wort und Tat und sind stets präsent, wo sie können, damit man sie auch ja nicht vergisst.  Aber, wenn sich dann eine Angroschna dazu hinreißen lässt, mit einem Angroscho den Bund von Feuer und Erz einzugehen, dann tut sie es - endgültig und das im Bewusstsein, dass der werte Herr der Schöpfung sich bislang nur von seiner besten Seite gezeigt hat, denn ein Bund kann nur in der Theorie wieder geschieden werden, praktisch kommt das nicht vor. Deswegen müssen wir Angroschax mit einigen ‘Kleinigkeiten’ wohl oder übel auskommen.”

“Hm.” Marbolieb grub ihre Zähne in ihre Unterlippe und bedachte einige Zeit das Gesagte. 

“So ist es sehr klug, sich viel Zeit mit der Auswahl eines Gatten zu lassen. Wer viele Jahrdutzende willens und fähig ist, sich zu benehmen und Maß zu halten mit seinen Unarten, wird dies vermutlich auch länger schaffen.” Sie fasste die letzten Hemden und schichtete sie sorgfältig übereinander. “Dennoch hätte ich erwartet, dass die Männer bei euch dankbarer darüber sind und sich entsprechend verhalten, wenn sie mit einer Frau den Bund schließen dürfen. Oder sehe ich das zu einseitig?”

“Du bist jung”, entgegnete die Haushälterin gutmütig. “Vieles, was dir negativ erscheint, verliert seinen Anstoß mit den Jahren. Glaub mir, es gibt bedeutend Wichtigeres als solche kleineren ‘Ausfälle’. Liebe zeigt sich meiner Meinung nach nicht durch das Feuer der Leidenschaft, oder den Verzicht auf gewisse Vorlieben oder Gewohnheiten, wie den Bierkonsum. Nein, es ist die bedingungslose Loyalität, die entscheidend ist. Ärger, Zank und Streit verblassen, wenn man weiß, dass man zusammengehört.  Nach Jahrzehnten des Zusammenlebens entwickelt sich eine Art Gemeinschaftsseele, durch die beide Partner wissen was der andere denkt und fühlt. Worte sind oft nicht mehr nötig. Häufig reicht ein Blick, oder eine kleine Geste, um Dinge ‘auszudrücken.’” Bei den letzten Worten war Topaxandrinas Stimme träumerisch geworden. Sie schien für einen Moment in der Vergangenheit zu verweilen.

Versonnen lauschte Marbolieb den Worten nach, die den Klang der absoluten Aufrichtigkeit in sich trugen. Vieles, was für die langlebigen Angroschim selbstverständlich war, klang aus dem Blickwinkel eines Menschen erst einmal seltsam. Sie dachte an so manche der Trunksucht Erlegenen, die zu ihr gebracht worden waren und die zerrupfte, verlauste - und magere - Kinder hinterließen. Selten war dies nicht gewesen - sehr viele der Bewohner Punins und der umliegenden Dörfer hatten gerade einmal genug Geld, sich für einen Tag Essen zu kaufen - manchmal nicht einmal das. Und reicher waren auch die Leute in Calmir nicht - die ärmeren Bauern und Kätner kamen nur mit ach und krach mit ihren Vorräten über den Winter (manchmal auch nicht), und wenn dieser einmal besonders streng war, bemerkten sie das am eigenen Leibe. Dem Wirtshaus blieben sie trotzdem nicht fern - und nach einigen Bieren verloren sie üblicherweise die Herrschaft über Geist und Zunge. Kaum ein Wunder, dass die örtlichen Traviageweihten ein strenges Regiment führten und mit hartem Besen die Wirtsstube auskehrten, wenn ein Ehegatte - oder beide -  es zu arg trieben.

“Dwarosch hat angeboten, für mich auf den Besuch einer Schenke zu verzichten, wenn das nötig sei.” Bot sie zum Thema an, und setzte mit sanfter Stimme hinzu. “Ich habe ihn nicht darum gebeten. Das würde ich auch nicht verlangen.” Sie lächelte versonnen. “Ich fürchte, er hat meine Frage nach dem Mann der Schneiderin falsch aufgefasst.” Sie lauschte, ob sie eine Regung der guten Seele des Vogtshauses hörte. 

“Bisher war er nur einmal in meiner Gegenwart sturzbetrunken - die Situation war etwas ungeschickt.” In mehrfacher Hinsicht - Marbolieb spürte, wie die Hitze über ihr Gesicht kroch.

“Ich bin hier Gast - ich werde gewiss keine  Forderungen stellen.”

Topaxandrina schwieg eine Weile. Es schien der Angroschna, als wären Marboliebs Fragen nur vorgeschoben, Zeichen ihrer Unsicherheit mit der gesamten Situation.  "Du denkst zuviel nach, Kind", sagte sie schließlich sanft und versuchte dabei nicht belehrend zu klingen. "Lass deinen hübschen Kopf einfach mal raus und höre auf deinen Bauch. Nimm die Dinge, wie sie sind.

Dwarosch ist ganz gewiss kein einfacher Mann, aber er hat eine Menge Lebenserfahrung und trifft keine leichtfertigen Entscheidungen. Er ist einer, der gelernt hat sorgfältig abzuwägen und wenn er zu dir und Mirlaxa steht, dann wird er dies auch nicht revidieren."

Die Haushälterin lachte leise. "Er wird dir sicher oft Kopfzerbrechen bereiten, sein Sturkopf wird dich vielfach den Kopf schütteln lassen und ja seine Ignoranz wird dich so manches Mal ärgern, aber Kind, er liebt dich und fast ebenso wichtig, er liebt Mirlaxa. Sind diese Dinge nicht viel wichtiger?" 

Die Zwergin holte tief Luft und setzte dann noch einmal an, ernster im Ton.  "Du musst dir nur über eine Sache abschließend klar werden: Willst du mit ihm leben und an seiner Seite alt werden, denn er wird es nur bedingt? Wenn er nicht durch das Schwert stirbt, wird er erst dich, später dann deine Tochter zu Grabe tragen und wird dabei selbst noch nicht einmal ein Greis sein."

Sie seufzte. "Das Leben ist vergänglich, dass weißt du wohl besser als die meisten Menschen, doch wäre ein Leben an seiner Seite immer auch eine Mahnung an deine eigene Sterblichkeit.  Hast du deinen Platz im Leben gefunden, bist bereit alle Konsequenzen zu tragen? Nur wenn du dies wirklich mit Sicherheit weißt, kannst du dir diese eine Frage ehrlich beantworten. Andernfalls wirst du irgendwann mit der Laune der Götter hadern, die uns so unterschiedlich erschaffen haben.  Aber wenn du sie bejahst und zu eurer Liebe stehst, dann darfst du verdammt nochmal jede Forderung stellen."

Diesesmal war es an Marbolieb, lange zu schweigen.

“Ich werde nicht hierbleiben, Topaxandrina.

Wenn der Herbst kommt, gehe ich zurück nach Calmir. Meine Aufgabe ist dort, so wie Dwaroschs hier ist. Mirla wird bei euch bleiben - der Oberst hat versprochen, für sie zu sorgen.” Die Boroni senkte den Kopf.

“Ich liebe Dwarosch. Es wird für mich keinen anderen Mann geben. Meine Sterblichkeit fürchte ich nicht. Doch selbst für ihn werde ich meine Weihe nicht aufgeben.

Ich bin, was ich bin.

Und ich werde dazu stehen und die Konsequenzen tragen.” Sie verstummte und die Knöchel ihrer aufeinander gelegten Hände traten weiß hervor.

Fest griff Topaxandrina die Schultern Marboliebs, eine Geste, die der Geweihten Halt schenken sollte, denn die alte Zwergin wusste nur zu gut, dass das, was ihr grad offenbart worden war, für die noch junge Menschenfrau eine sehr harte Entscheidung gewesen sein musste. 

"Es dauert mich, das zu hören, Kind. Dennoch wirst du von mir nun kein weiteres Wort zu diesem Thema hören. Es ist deine Entscheidung und die werde ich mit keiner Silbe in Frage stellen. Im Gegenteil, ich bewundere deine innere Stärke. 

Dwarosch wäre nicht mehr am Leben, wärst du eine andere und würdest nicht dem Herrn des Schweigens folgen. Er wird akzeptieren, dass du IHM dein Leben geweiht hast und das dieser Eid nur durch den Tod gelöst werden kann … . Irgendwann … irgendwann wird er es verstehen." Topaxandrina seufzte und Marbolieb erkannte tiefe Trauer darin.

"Versprich mir, uns zu besuchen Kind.  Mirlaxa wird es bei uns gut haben, dies ist mein Versprechen an dich. Dwarosch wird ein guter Vater sein, wenn er es nicht schon jetzt ist, und ich werde ihn immer wieder an seine Pflichten erinnern. Selbstverständlich aber werde ich auch das Meinige dazu tun, deiner Tochter eine schöne Kindheit zu bereiten."

Marbolieb erwiderte die Umarmung der Zwergin und lehnte ihren Kopf an deren Schulter. “Ich danke dir aus ganzen Herzen. Ich werde euch besuchen, sobald ich kann.” Sie seufzte und die alte Zwergin merkte wohl das mühevoll unterdrückte Schluchzen in diesem Laut.

“Dwarosch sagte, der Baron erwarte mich im Herbst zurück.” Tief holte die Geweihte Luft. “Ich wünschte, er würde mit mir kommen.”

Wiederholt seufzte Topaxandrina voller Schwermut. "Wir beide wissen, dass dies nicht geschehen wird.  Dwarosch mag keine Weihe erhalten haben wie du, doch ist er ebenfalls 'erwählt'. Ich verstehe von Angroschs kriegslüsternem Sohn ebensowenig wie von seinem blutigen Handwerk, aber ich glaube unserem Hochkönig, ebenso wie der Oberst es tut.  Dwaroschs Aufgabe ist es, die Kinder Isnatoschs auf das Heldenzeitalter vorzubereiten und unsere Wehr zu stärken. Das Regiment, diese seltsame Landkarte, der neue Tempel - all das sind Bausteine, die zu diesem Ziel führen sollen. Das wird er nicht aufgeben, er kann sich nicht verleugnen, das ist seine Lebensaufgabe."

“Du sprichst von Liebe und füreinander einstehen, Topaxandrina. Warum aber meinst Du damit nur, dass die Frau alles, einschließlich ihrer selbst, aufgeben und ihrem Mann nachfolgen soll? Warum gilt meine Liebe nichts, wenn ich nicht alles, was ich bin, dem Mann zuliebe opfere - er aber für mich nicht einmal auf das Wirtshaus verzichten würde?

Das ist nicht recht, Topaxandrina. Nicht vor den Göttern. Nicht vor den Menschen. Und ebensowenig vor den Angroschim.”

"Ich habe nicht gesagt, dass du etwas aufgeben oder opfern sollst, Kind." Nun klang die Zwergin doch belehrend. "Und du willst doch nicht ernsthaft  Kneipenbesuche in ihrer Bedeutung mit der Entscheidung gleichsetzen, welchen Lebensweg man geht?" 

Die Boroni regte sich nicht. “Du fragtest nach meinem Platz im Leben, Topaxandrina. Der ist an der Seite meines Gottes. Es würde mich glücklich machen, wenn Dwarosch bereit wäre, an meiner anderen Seite zu leben. So lange, wie die Götter uns geben - ob dies nun ein Jahrzwölft ist oder drei. Ich weiß auch, dass er das nicht tun wird. Und ich würde nie ausschließlich die Seine sein können.”  Sie schüttelte den Kopf gegen solcherlei Grillen und löste sich vorsichtig aus den Armen der Zwergin, ließ dabei aber eine Hand leicht auf ihrem Arm liegen.

“Ich bin Dir dankbar, dass ihr euch um Mirla kümmert. Sie wird ein liebevolles Zuhause haben. Und ein besseres Leben, als ich ihr je werde bieten können.”

Die Haushälterin schwieg.  Es gab nichts, was sie hätte sagen können, das Marboliebs Seelenschmerz gelindert hätte. Noch mehr über dieses Thema zu sprechen, hätte geheißen sie noch mehr innerlich aufzuwühlen und das wollte Topaxandrina nicht. Es tat der alten Zwergin leid, die junge Frau so zu sehen. Sie hatte Marbolieb in ihr Herz geschlossen und sie konnte ihren Kummer, ihren Gram nur zu gut verstehen. Das Leben war nicht immer gerecht, die Götter scherten sich schließlich nicht um die ‘kleinen Sorgen’ der Sterblichen. Es gab kein immerwährendes Glück. Der Schmerz gehörte ebenso zum Leben, wie Verlust und die darauffolgende Trauer. Nach einer ganzen Weile legte Topaxandrina Marbolieb ihre Hand auf die der Geweihten.

“Meinst du ich und Mirlaxa können dich im Sommer besuchen kommen?” Die Miene der jungen Frau hellte sich auf, als sie mit sehr viel weniger bitterer Stimme entgegnete: “Ihr seid mir immer aus ganzem Herzen willkommen. So oft und so lange ihr mögt. Ich habe zwei Gästezimmer im Tempel. Bist du sicher, dass ihr die lange Reise auf euch nehmen wollt?” “Ich mag ein gewisses Alter erreicht haben Kind”, gestand Topaxandrina, gab sich dann aber kämpferisch, “aber ich scheue diesen Weg nicht. Außerdem werden wir ganz sicher nicht alleine gehen. Ich bin mir sicher, dass Dwarosch das nicht zulassen wird.”

“Gut.” Die Erleichterung in diesem Wort sagte alles - denn die Strecke durch das Gebirge war alles andere als einfach zu gehen. Allein hätte Marbolieb es nicht nach Senalosch geschafft. Vermutlich wäre das früher, vorher, anders gewesen - aber auch dann war die Strecke für einen einzelnen und nicht gebirgskundigen Wanderer gefährlich.  Sie drückte die Hände der Zwergin, die in ihrer Zeit hier zu ihrer Freundin geworden war. Auch wenn diese das vermutlich nicht so sehen würde. Aber sie war die einzige Person hier außer Dwarosch, mit der sie besser bekannt war. Gerade darum hatte sie es nicht verdient, von ihr derart angefahren zu werden.

“Bitte verzeihe meinen Ausbruch, Topaxandrina. Das war unangemessen und ich hätte mehr Beherrschung zeigen müssen.”  Weit her war es damit nicht mehr in den letzten Monden - Kontemplation, Fassung und innere Ruhe waren ohne Familie in einem Kloster deutlich leichter zu erlangen gewesen. “Ich hätte es auch unterlassen können, derart in dich zu dringen, Kind. Ihr nennt sowas ‘menschlich’, wenn ich nicht irre - also entschuldige dich nicht dafür”, beschwichtigte die Zwergin mit milder Stimme und umarmte Marbolieb mütterlich. 

~*~

Es mochte die Stunde des Herrn Firun sein, da Marbolieb hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und sich schwere Schritte näherten. Das charakteristische Klirren von Dwaroschs Kettenrüstung war unverkennbar. Es war nicht die Prunkrüstung aus Toschkril, dem Zwergensilber, sondern seine Alltagsrüstung. Sie hörte inzwischen sogar diesen Unterschied heraus. Mirla, die bis dahin mit Holzklötzen auf dem Fußboden der guten Stube gespielt hatte, rief kurz darauf begeistert “Dado!” aus und Marbolieb vernahm, wie das Spielzeug zu Boden fiel und kleine, tapsige Schritte in Richtung Tür enteilten.

Das tiefe, gutmütigen Lachen des Oberst verriet der Geweihten, dass sie richtig gelegen hatte. Die Geräusche berichteten indes, dass der Oberst seine Ziehtochter auf dem Arm genommen hatte. “Naaa Mirlaxa, bin ich noch rechtzeitig, um mit euch zu Abend zu essen?”, wollte Dwarosch wissen und Mirla antwortete mit einem “ja”. Dann, der Zwerg tat einige Schritte in die Stube, wandte sich Dwarosch an Marbolieb. 

“Sind die Sachen gekommen?”, wollte er wissen, während er sich vorbeugte und Marbolieb zur Begrüßung küsste. Diese schloss die Augen, legte ihren Arm um den bulligen Nacken des Zwergen und erwiderte den Kuss zur Antwort mit mehr Leidenschaft, als Dwarosch in diesem Moment wohl erwartet hätte.

“Sie sind wunderschön - und so viele.” Marbolieb legte ihre Wange an seine, und flüsterte mit warmer Stimme. “Danke. Du bist verrückt, mein geliebter Herr Oberst.”

Dwarosch lachte leise und mit einem Unterton, der tiefe Zufriedenheit ausdrückte. “Oh ja, verrückt bin ich bis zu einem gewissen Grad wohl tatsächlich”, gestand der Oberst gut gelaunt, “aber bestimmt nicht deswegen”, schränkte er gleich darauf ein. “Freut mich, dass dir die Sachen zusagen. Hast du sie schon anprobiert?” Die blinde Geweihte schüttelte den Kopf, beinahe etwas schüchtern. “Ich dachte, dass du sie vielleicht sehen magst.” Ein glückliches Lächeln auf den Lippen fügte sie hinzu. “Magst Du mir nach dem Abendessen beim Anprobieren helfen?”

"Damit liegst du richtig und ja - sehr gern", erwiderte der Zwerg sanft und half Marbolieb dann aus dem Sessel aufzustehen.  "Gehen wir nachsehen, was uns Topaxa heute bereitet hat. Ich habe einen Bärenhunger. Danach muss meine kleine Kriegerin hier ja auch ins Bettchen." Mirla gluckste und gab zwischendurch ein Lachen von sich, was Marbolieb darauf schließen ließ, dass Dwarosch sie knuffte. 

Das Essen war sehr schmackhaft, wie fast jeden Tag. Topaxandrina war eine gute Köchin. An jenem Abend gab es deftiges Wildschwein auf Erdäpfeln mit einer Pilzrahmsoße und dicken Bohnen. Alle griffen beherzt zu. Mirla bekam zwar auch etwas vom Erwachsenenessen, jedoch keinen Nachschlag, obwohl sie vehement danach verlangte. Die Bohnen waren nach Topaxandrinas schwer verdaulich und würden dem Kind sonst eine schlaflose Nacht bereiten. Anstelle dessen bekam Marboliebs Tochter Brot, mit welchem sie genüsslich die Soße von Teller verputzte. Nachdem alle satt waren, trennten sich die Wege der Tischrunde wieder. Die Zwergin und Marbolieb gingen an den Abwasch. Boindil, der wie stets mitgegessen hatte, feuerte den Kamin an und Borindarax verkroch sich wieder in seinem Arbeitszimmer im Keller hinter seine Bücher. Dwarosch hingegen brachte Mirlaxa ins Bett.

~*~

Es verging mehr als ein Stundenglas, bis der Oberst die gute Stube betrat und sich neben Marbolieb vor den Kamin setzte. “Sie war heute Abend besonders widerspenstig,” gestand Dwarosch. “Eine Geschichte hat nicht gereicht … .”

Marbolieb blickte auf und tastete nach dem leeren gepolsterten Sessel neben ihr, der in gerade richtigem Abstand vor dem Kaminfeuer stand. “Mirla hat großes Glück, dass sie dich hat.” befand sie dankbar. Und dass sie hier leben durfte, in diesem reichen Haushalt mit gepolsterten Sesseln vor einem Kaminfeuer. Die wenige Arbeit in der Küche war in kaum einem Wasserglas erledigt, und die Boroni mochte die gemeinsame Zeit mit der fleißigen Zwergin. Und, um ehrlich zu sich selbst zu sein, beruhigte sie damit auch ihr Gewissen, indem sie als Gegenleistung für die ganzen Annehmlichkeiten, die sie erhielt, einen kleinen Beitrag leisten durfte. Die Geweihte lächelte glücklich aufgrund des Gute-Nacht-Berichts. “Erzählt Du ihr die Geschichten in deiner eigenen Sprache?” Sie sann einige Augenblicke nach und fügte dann interessiert hinzu. “Wie war dein Tag heute, Dwarosch?”

Der Oberst tat einen kleinen Seufzer, bevor er nach Marboliebs Hand griff und zu sprechen anhob. “Ich erzähle ihr Geschichten und Märchen unseres Volkes, in eurer Zunge. Hier und da aber streue ich Begriffe aus dem Rogolan ein und erkläre sie ihr. Das ‘Gute Nacht - süße Träume’, sage ich zum Beispiel stets in beiden Sprachen, so dass sie sich daran gewöhnen kann. Sie hört die anderen - Borax, Topaxa, Boindil und die Besucher, die hier ein und aus gehen häufig, nein täglich in unserer Zunge sprechen, das wird ihr helfen, sie zu erlernen.” Kurz entstand Stille. Der Zwerg suchte eine andere, bequemere Sitzposition.

“Der Tag war … gewöhnlich. Ich habe die Mortrazrom, die Kasernen von Isnatosch inspiziert, wo ein Teil der Soldaten untergekommen ist. Es ging um Bettenbelegung, Wach- und Ausbildungspläne und so weiter und sofort - Pflichten.” “Auch diese müssen erledigt werden.” Marbolieb legte ihre freie Hand über den jene des Zwerges und strich sanft über seinen Handrücken, der eher einer Landkarte glich, abgearbeitete und voller Schrunden und Striemen, die ein langes Leben gegraben hatte. Was hatte er mit seinem Seufzen gemeint? Grübelnd runzelte sie die Stirn, kam aber zu keinem rechten Ergebnis. Sie seufzte ihrerseits. So gut sie ihren Liebsten manchesmal einzuschätzen wusste - er gehörte zu einem fremden Volk, und vieles war ihr, auch nach anderthalb Götterläufen, noch immer fremd. 

“Wirst du ihr auch Garethi beibringen?”  “Selbstverständlich Räblein, das tue ich doch bereits. Übrigens”, Dwarosch Stimme hob sich, als habe er etwas Wichtiges zu verkünden, “es gibt seit kurzem eine kleine Schule in Senalosch. Dort können Kinder beider Rassen lesen und schreiben lernen, zweisprachig. Borindarax ist ein Förderer dieses … Projektes. Diese Idee soll im ‘Eisernen Bund zu Isenhag’ begründet worden sein.” Er klang fast ein wenig belustigt bei dem letzten Satz, fuhr aber dennoch fort. “Wenn sie von Erfolg gekrönt ist und sie sich durchsetzt werde ich Mirlaxa dort anmelden, wenn es soweit ist.” “Eine Schule?” Marbolieb zog ungläubig die Augenbrauen nach oben und Dwarosch spürte, wie ihre Finger innehielten. “Wie eine Praiostagsschule? Bei den Erzzwergen?” Die waren noch eigensinniger und unbeweglicher als die Dörfler in Calmir, die in dieser Hinsicht viel von den Zwergen hatten. “Und welcher Tempel wird darauf acht geben?”  Sie konnte nicht so recht glauben, dass ein Zwerg sein Kind neben einen Menschen setzen würde. Gerade, weil es so wenige Zwergenkinder gab und diese üblicherweise wohl behütet im Kreis der Sippe erzogen wurden - so hatte es ihr Topaxandrina erklärt. Die Praiostagsschule in den Städten wurde üblicherweise von den Hesindegeweihten (wo es diese gab) und ansonsten von den Geweihten eines anderen Tempels geführt. Das meiste an Zulauf besorgte die Tatsache, dass es dort üblicherweise ein Essen vom Tempel gab - und die Kinder lernten zumindest die Namen und Aspekte der Zwölfe, die Abfolge der Monate und den Namen der Kaiserin. Die Bürger und der Adel hingegen ließen ihre Sprösslinge von Hauslehrern unterrichten - viele Götterläufe lang, während die Kinder der einfachen Leute nur zwei oder drei Jahre die Praiostagsschule besuchten, ehe sie entweder beim Tagewerk der Eltern mithalfen oder ein Handwerk erlernten. Wo dann der Meister den Gesellen beibrachte, was sie zu wissen hatten. 

Ihren Gedanken nachhängend nahmen ihre Finger ihre Tätigkeit wieder auf. Warm und kräftig war die Hand des Mannes in ihrer, und versprach Geborgenheit und Sicherheit. “Keine Kirche, wenn ich mich recht entsinne. Aber Borindarax wollte einen der Angroschgeweihten für den Rechenunterricht gewinnen, Zahlen und ihre Mystik. Für den Schreibunterricht sucht er wohl noch, ebenso wie er keinen Schreiberling findet, der ihm Arbeit abnimmt bei der Verwaltung und dem ganzen ‘Papierkram’.  Was den Heimat- und Sachkundeunterricht angeht”, Dwarosch lachte kurz über diesen Begriff, “so haben wohl mehr als eine Handvoll Mitglieder der Loge - so bezeichnen sie sich selbst, zugesagt den Kindern einmal die Woche Unterricht zu erteilen. Borax selbst sieht sich als Schirmherr dieses ‘Versuchslaufs’. Derzeit sammelt er Anmeldungen. Aus den Familien seiner Arbeiter gibt es wohl auch schon einiges Interesse, vorwiegend aber Menschen. Vielleicht”, so mutmaßte Dwarosch, “muss sich das Konzept auch erst durchsetzen, ein paar Jahre funktionieren, bevor meine Brüder und Schwestern ihre Sprösslinge in diese Schule geben, er weiß?” Der Oberst schüttelte den Kopf. Marbolieb kannte die Geste, mit der er etwaigen Unglauben ausdrückte und wusste, welches Geräusch dabei durch den langen Bart, der auf Brust und Bauch rieb, entstand.   “Vermutlich braucht es Zeit.” stimmte die Boroni zu. Sie verstummte nachdenklich, ihre Fingerspitzen auf der Hand ihres Liebsten. Etwas Zeit - oder viel. Neue Gedanken taten sich erfahrungsgemäß schwer in alten Köpfen.

Die Flammen knisterten im Kamin, als sie an den Buchenholzscheitern fraßen, und Marbolieb genoss das verschwenderische Gefühl der Wärme auf ihren bloßen Zehen. Das Haus des Vogtes mit seinen dicken Mauern und größtenteils unterirdischen Gemächern war auch im Hochsommer kühl - um nicht zu sagen, kalt, ganz besonders nach einem schweren Gewitter, das in dieser Jahreszeit im Isenhag nicht ganz unüblich war, so dass der Kamin eine deutliche Annehmlichkeit war, auch wenn die Beheizung der guten Stube üblicherweise von den Luftschächten aus dem Bauch des Berges übernommen wurde - nach einem System, das der Geweihten noch immer nicht ganz eingängig war, allen Erklärungen zum Trotz. “Dwarosch.” nahm sie mit sanfter Stimme den Faden wieder auf und wartete, bis sie sich sicher war, dass der Oberst ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. “Es ist herzerwärmend, wie Du mit Mirla umgehst.” Ihre Finger schlossen sich um seine Hand. “Danke. Dafür. Und für alles andere, dass Du uns gibst. Die Zeit hier in Senalosch ist die schönste meines Lebens. Ich lebe hier im Überfluss - mit meiner Tochter, an der Seite des Mannes, den ich liebe.”

Eine sanfte Röte kroch bei diesem Geständnis über ihre Wangen und ließ ihre hübschen Züge im Schein des Kaminfeuers aufleuchten. “Du brauchst dich dafür nicht bedanken, Räblein, für nichts von alledem”, antwortete der bullige Zwerg mit einer Sanftheit in der Stimme, die man ihm vom Äußerlichen kaum zutrauen würde. “Auch ich genieße jeden einzelnen Moment mit dir, mit euch. Ich bin sehr dankbar, dies alles noch erleben zu dürfen, war ich doch schon so oft dem Tode sehr nahe. Für einen wie mich, für den es in seinem ganzen bisherigen Leben nur das Kriegshandwerk gab, ist es … ganz besonders, diese Erfahrung sammeln zu dürfen.” Dwarosch fühlte, wie sich die Hand der blinden Geweihten fester um seine schloss. Sie senkte den Kopf und seufzte.

Einige Augenblicke lang war das Knistern des Feuers das einzige Geräusch, bis sich mit einem leisen Rascheln die junge Frau wieder regte. “Magst Du die Kleider sehen?” fragte sie leise. “Unbedingt”, brachte Dwarosch hervor und Marbolieb merkte, wie sich ein Kloß in seinem Hals löste. Er schien erleichtert darüber, dass das Thema, welches untrennbar mit dem immer näherrückenden Abschied verbunden war, nun fürs erste beigelegt war.

Der Oberst stand auf, ohne Marboliebs Hand loszulassen und half ihr aus dem Sessel. “Womit fangen wir an”, fragte er, während er sich schon der großen Tafel zuwandte, auf dem die Kleidungsstücke lagen.

“Entscheide Du.” lächelte Boroni, ihre Finger noch sicher in der breiten Pranke Dwaroschs. Es war viel praktischer so - schließlich sah er die Kleider, nicht sie. “Ich hatte noch nie so viele auf einmal. Du sagst mir, wie es aussieht?” fragte sie. Hoffentlich war zumindest eine der Roben in schwarz - andererseits war das fast zweitrangig, wenn sie warm und einigermaßen passend war. Der Zwerg betrachtete die durch Topaxandrina säuberlichst ausgebreiteten Stücke zunächst mit einem langgezogenem “hmmm” und überlegte. Dann half er Marbolieb dabei ihre alte, zerschlissene Robe auszuziehen. “Ich trage dir alles nach unten, wenn wir zu Bett gehen. Dann kannst du auch gleich die Unterkleidung wechseln - das brauchen wir hier ja nicht tun, wo wir ‘Besuch’ bekommen könnten”, sprach der Oberst nicht ganz ohne Schalk in der Stimme.

“Oh.” Etwas verschämt hatte sich die Boroni aus ihrer Robe helfen lassen - aber darunter trug sie nicht viel - nicht mehr als ihre schwere Halskette. “Das Untergewand liegt unten.” beichtete sie. Nach etlichen Irrungen und Wirrungen hatte nur ein letztes Hemd überlebt, das sie mittlerweile, um es zu schonen, nur noch als Nachtgewand trug. So schimmerte das Licht des Kamins auf ihrer sanft gebräunten Haut und zeigte vorwitzig deutlich mehr, als der Oberst erwartet hätte. “Gibst Du mir eine Robe?” bat sie, unsicher ihre Zähne in ihre Unterlippe grabend. Dwarosch wählte zunächst die einfache Robe und trat, nachdem er der Geweihten beim Anlegen zur Hand gegangen war einen Schritt zurück, um sie zu begutachten. “Makellose Arbeit”, urteilte er nach kurzer Zeit. “Die beiden Roben für den Sommer haben einen leicht seidig - schwarzen Glanz und eine Borte aus Silberfaden.” Wer trat einen Schritt näher und befasste den Stoff.

“Sie scheint aus…”, Dwarosch überlegte.  Marbolieb strich überlegend mit ihren Fingerspitzen über das Gewebe, hob dann einen Arm und schmiegte ihre Wange gegen den weichen Stoff. “Leinen?” mutmaßte sie. Forschend betastete sie die Borte an den Ärmelenden. “Zeigt sie ein Muster?” fragte sie neugierig.

“Hmmm”, brummte der Zwerg seine Zustimmung. “Du hast vermutlich recht, es muss sehr feines Leinen sein. Spinnenseide fühlt sich anders an, die kenne ich.”  Dann schüttelte Dwarosch immer noch leicht nachdenklich leicht den Kopf. “Nein, kein Muster. Die Borte ist ganz dezent gehalten, so wie ich sie erwarten würde. Ornamentik, so wie man sie bei der Bekleidung, speziell bei den Obergewändern meiner Rasse findet, hätte ich unpassend, für die Besucher deiner Gottesdienste vielleicht sogar leicht irritierend empfunden.  Ah”, fügte er nach kurzer Zeit an, in denen er auch die zweite Robe eingehend betrachtet hatte, die noch auf dem Tisch lag und auch für die wärmere Jahreszeit gedacht war.  “Die andere Robe ist tatsächlich aus Spinnenseide. Sie hat auch eine bedeutend breitere Silberborte - ich würde mutmaßen, dass dies hier deine ‘Ausgehuniform’ ist.” Dwarosch reichte Marbolieb die zweite Robe, damit sie diese spezielle Seide fühlen konnte. Marbolieb, die noch immer bewundernd über den feinen Stoff ihrer Robe gestrichen hatte, hielt ruckartig inne. “Echte Seide? Dwarosch! Das ist ein großes Vermögen wert! Es wird keinen Anlass geben, zu dem ich etwas so Kostbares tragen könnte - oder dürfte.” Viel leiser fügte sie hinzu. “Es wird mich in Calmir niemand darin sehen.”

Verlegen schüttelte sie den Kopf und bat mit einer Mischung aus Neugier und Sehnsucht “Darf ich sie anfassen?” Er legte ihr die Robe in die Hände. Dabei feixte er. “Du kannst sie tragen, wenn der alte Rabensteiner dich besucht, oder du auf Burg Rabenstein weilst. Ich bin mir sicher er wird mindestens eine Augenbraue heben, wenn ihm bewusst wird, dass es Spinnenseide ist und allein das ist es wert.” Dwarosch lachte kurz auf. Der Gedanke belustigte ihn offenbar. “Davon abgesehen”, begann der Oberst dann wieder deutlich ruhiger, “kannst du die Robe auch einfach für dich selbst tragen Räblein. Es ist dein Glaube, der zu einem guten Stück aus deiner innigen Verbindung zum Unergründlichen genährt wird. Warum solltest du in Momenten der inneren Einkehr, die nur IHM und dir allein vorbehalten sind, nicht Sachen tragen, in denen du dich wohl fühlst? 

Ich trage meine Toschkrilrüstung nicht weil sie gut aussieht, oder ich andere damit beeindrucken will - nein, sie ist für den Schutz den sie bietet leicht, effektiv und zweckmäßig für ‘mich’. Mit leuchtenden Augen betastete Marbolieb den glatten, edlen Stoff, schmiegte ihn an ihre Wange und sann über das von Dwarosch präsentierte Konzept nach. Einen derart geschmeidigen, feinen Stoff hatte sie noch niemals besessen, geschweige denn getragen. Er klang auch anders als alle Stoffe, die sie bislang gewohnt wart - ein sanftes Rascheln und knistern, wenn sie ihn durch ihre Hände zog - fast wie das Trippeln von tausend winzigen Beinchen. ‘Seidenschrei’ hätte dieses Phänomen die Schneiderin wohl genannt. “Ich weiß nicht, ob ein so edler Stoff einer einfachen Geweihten wie mir zusteht.” beichtete sie schließlich. “Unsere Kirche hat sehr strikte Vorgaben, welcher Rang was tragen darf - und reine Seide trägt nur der Patriarch in Al’Anfa.” Verliebt fasste sie in den wundervollen Stoff und genoss das kühle, glatte Gleiten über ihre Hände. “Aber ich bezweifle, dass irgendwo von Spinnenseide geschrieben steht.” 

Erneut streichelte sie über den feinen Stoff und konnte davon einfach nicht lassen. “So fein.” flüsterte sie begeistert.

Der Oberst schüttelte verwundert den Kopf. “Die Kirche schreibt euch ernsthaft vor, nein beschränkt euch vielmehr in der Art der Stoffe, die ihr tragen ‘dürft’? Pah”, stieß er mit ein wenig Verachtung hervor.

“Ich dachte solche sinnbefreite Gängelei gäbe es nur betreffend bestimmter Farben oder des Hermelin, die weltlichen Würdenträgern ‘vorbehalten’ sind und herauszustellen wie besonders sie sind, wenn ihr Charakter oder ihre Handlungsweise dies schon nicht überzeugend darlegen.” Dwarosch hielt inne. “Wieso kümmert euch überhaupt Al’Anfa? Ich dachte der militärische Arm des Puniner Ritus, die Golgariten, wären gegründet worden, um die Häretiker aus Al’Anfa auszumerzen. Was kümmern euch also Vorgaben des Patriarchen?”

“Standesgemäße Kleidung gibt es doch auch bei den Zwergen - bei euch hat doch ebenfalls ein Schmied seine Tracht und ein Goldschläger eine andere.” Verwundert verstärkte Marbolieb ihren Griff um die Hand des Oberst, ehe sie mit einem träumerischen Lächeln die Hand unter den flaumweichen Stoff schob und diesen über ihre Wange streicheln ließ. “An der Tracht erkenne ich sogar, ob eine Tischlermeisterin verheiratet ist oder nicht. Das ist bei den Angroschim doch sicher auch so.”  Das lange Schweigen des Oberst - ein sicheres Zeichen, dass er nachdachte - berichtete ihr, dass für ihn da so Einiges zur Klärung blieb. Die streng geregelte Lebensweise der Erzzwerge bot viel mehr Regelungen und ungeschriebene Gesetze des Zusammenlebens, als sie aus ihrer Zeit in Punin und Calmir kannte. “Bei den alten Kirchen ist das nicht anders. Die Kleidung und die Borten zeigen, welchen Rang in der Kirche ihr Träger bekleidet. So sind es die prunksüchtigen Al’Anfaner, die nichts auf Bescheidenheit und Demut geben, die ihr Haupt in teure Seide kleiden.”

Sie streichelte über die kostbaren, glatten Stoff. “Auch wenn ich sie jetzt etwas verstehen kann.” fügte sie mit ganz leiser Stimme hinzu.

“Hm”, war zunächst alles, was Dwarosch auf die Einwände Marboliebs hervorbrachte.  Das folgende ‘Brummeln’- so war die nachdenkliche Stille von Seiten des Zwergen am treffendsten zu bezeichnen, deutete daraufhin, dass er das Gesagte nicht kategorisch von der Hand weisen konnte. Ganz im Gegenteil.

“Du hast recht”, bestätigte der Oberst einsichtig. “Wir kennen solche ‘Privilegien’ auch. Nur sind sie für mich kulturell so selbstverständlich, dass ich sie nicht mehr als besonders beziehungsweise abwegig wahrnehme, die eurer Rasse hingegen schon, eben weil sie mir fremd sind.”

Dwarosch seufzte. “Selbst da der oberirdische Teil von Senalosch nun schon seit so langer Zeit ein Schmelztiegel unserer Rassen ist, bleibt noch viel zu tun, was die Überwindung von Vorurteilen betrifft.” Schmunzelnd ergänzte er. “Ich glaube ich bin zu alt, um mein Unterbewusstsein frei von jeglichen Vorurteilen zu machen.”

Dann legte er Marbolieb den Wintermantel über die Schultern, sie merkte es gleich an seinem Gewicht und half ihr in die Ärmel zu kommen. Marbolieb schwieg und fädelte ihre Arme durch die dicken Ärmel. Warm! Oder vielmehr, jetzt im Sommer vor dem prasselnden Feuer: mehr als dies. Weich und kuschelig. Sehr weich und und kuschelig. Einige Schweißperlen sammelten sich auf ihren Schläfen, als sie verliebt über das dicke Leder strich. Der Schnitt war perfekt auf sie angepasst, und der Mantel, obgleich schwer, umhüllte sie wie eine zweite, sehr dicke Haut- ihr aber dennoch viel mehr Bewegungsfreiheit lassend, als sie erwartet hätte. “Wundervoll.” befand sie, selig lächelnd. “Ich werde nicht mehr frieren.” Was aber sollte sie jetzt mit der seidenen Robe tun? Unwillkürlich fasste sie wieder nach dem so glatten und dennoch so weichen Stoff, der um so viel angenehmer auf ihrer Haut lag als alles, was sie bisher an Kleidung besessen hatte, und runzelte überlegend die Stirn. Eine glitzernde Schweißperlen rollte über ihre Schläfe nach unten.

“Ist dir etwa warm?”, fragte Dwarosch amüsiert. Er hatte die körperliche Reaktion Marboliebs bemerkt. “Warte kurz, ich befreie dich gleich von dem guten Stück - das dir übrigens sehr gut steht. Ich möchte nur noch kurz den Überwurf anschauen.” Er warf ihr das gewachste Cape über die Schultern und schlug die Enden vor ihrer Brust übereinander, ohne die Schnüre zu schließen. “Passt tadellos. Nass wirst du damit auch kaum werden.” Dann befreite er sie nacheinander wieder von Überwurf und Mantel.

“Sinnst du immer noch über die Spinnenseide nach, Räblein?”, fragte der Oberst schließlich, als er die Sachen wieder auf den Tisch gelegt hatte. “Denk meinetwegen soviel darüber nach wie du willst. Ich werde das gute Stück ganz sicher nicht zurückgeben. Überleg' einmal, was das für eine Beleidigung gegenüber Apaxalameda wäre.”  Dwarosch lachte. “Und versuch dir nur Mal vorzustellen, wie lange sie mir das nachtragen würde.”

Marbolieb atmete erleichtert auf, als der schwere Stoff von ihren Schultern genommen wurde. Es war warm, hier in der guten Stube des Herrn über die Vogtei Nilsitz, und wenn eine Zwergin Winterkleidung für den Eisenwald schuf, so war sie überaus gründlich. Eine weitere Schweißperle tropfte von der Nase der kleinen Borongeweihten. Sehnsüchtig ließ sich sich den feinen Stoff durch die Finger fließen, schlang ihre Arme, die Robe noch immer in der Hand,  voller Dankbarkeit um den Hals Dwaroschs und grub ihr Gesicht in sein Haar.

Nur zu bereitwillig nahm der breitschultrige Zwerg die zierliche Menschenfrau in den Arm und es schien Marbolieb in jenem Moment, als hielte er sie fester als sonst.

Dwarosch wollte, konnte sich nicht damit abfinden die Frau, der er weit mehr verdankte als sein Leben, gehen zu lassen und doch wusste er, dass er es trotz allem musste - gerade weil er sie so sehr liebte. Mirlaxa würde bei Dwarosch bleiben und ihn Tag für Tag, nur durch ihre Präsenz daran erinnern, dass die geliebte Frau in der Ferne weilte. Dies war die bittere Ironie des Unausweichlichen.  Die Endgültigkeit des bevorstehenden Abschieds schnürte Dwarosch in jenem Moment die Kehle zu. Er hätte ihr gern so viel mehr gegeben als eine neue Ausstattung an Roben. Er würde dafür sorgen, dass es ihr gut ging. Die Jagdmeisterin des alten Rabensteiners würde sie für ihn im Auge behalten, dafür würde der Oberst sorgen. Doch auch dieser Gedanke vermochte nicht die Sorgen zu vertreiben, den Schwermut, der von ihm Besitz zu ergreifen drohte.

-- Main.IseWeine - 19 Jun 2020