Marbolieb Angroschna

Eine Angroschna auf Reisen

Ort: Calmir in der Baronie Rabenstein - und der Borontempel dort

Zeit: Mitte Efferd 1043 BF

Personen: MurloschtaxaTochterDerMokloscha und Ihre Gnaden MarboLieb

Eine Briefspielgeschichte von BorBar und IseWeine.

Inhalt: Im Efferd 1043 BF besucht die zwergische Bergvögtin von Ishna Mur die Borongeweihte in dem kleinen Bergdorf Calmir (Dokument hängt an).

Auf nach Calmir

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Es war der graue, fahle Morgen des ersten Angroschtags im Regenmond als Murloschtaxa, Tochter der Mokloscha, ihren Mann auf die Stirn küsste und durch das Große Tor von Ishna Mur nach außen trat. Sie trug über dem langen schlichten Kleid einen dicken Lodenmantel mit Kapuze. Auf dem Rücken hatte sie einen schweren Rucksack geschnallt, um die Hüften hatte sie einen breiten Gürtel mit einem Drachenzahn und einer Gürteltasche geschnallt. Um sich den Weg ein wenig zu erleichtern, hatte sie einen langen Wanderstab, der an den Enden mit Eisenringen gefasst war,  dabei. Der Regenmond war ins Land gekommen und schon eine Weile über die Berge gezogen. In den tieferen Tälern putzte er die reifen Äpfel, Birnen und Zwetschgen an den Ästen.

An den Hängen des Eisenwaldes wusch er die letzten Äpfel und einen Gutteil der Blätter von den Ästen. Entlang der Via Ferra aber, in den Bergen, trieb der eisige Wind wässrige Schneeflocken vor sich hier, türmte den Schneematsch auf den Wegen und erstarrte vor Frost, wenn die Nächte einmal nicht unter einer dicken Wolkendecke geborgen ruhten. Die Angroschna freute sich, dass der Herbst noch ein paar schöne Tag mit sich gebracht hatte und machte sich von Ishna Mur auf erst ein Stückchen in Richtung des Großen Flusses um dann nachdem sie das schmale Tal der Bergwacht nach rechts abzubiegen bis sie zu einem der engen Passwege kam, die über den Kamm des Eisenwaldes führten. 

Der steile Aufstieg über den Weg kostete sie fast einen ganzen Tag, so dass sie sich noch vor Anbruch der Dunkelheit einen Schlafplatz an einer überhängenden Felswand gesucht hatte. Die Nacht verbrachte sie frierend in ihre zwei Decken gehüllt im Halbschlaf, immer wieder von den Geräuschen der Nacht geweckt. Der Weg von Nilsitz schlängelte sich entlang der Niacebra entlang nach Süden, auf einem schmalen Saumpfad, der zu einem Klettersteig wurde, wo sich der Wildbach eine tiefe Schlucht zwischen dem Welfansdom linkerhand und dem Reiakath, dem Starenfelsen, rechterhand gegraben hatte.  Bei wirklich schlechtem Wetter wäre er kaum noch gangbar und erinnerte die Zwergin daran, dass die Zeit für oberirdische Wanderungen hier rasch ein Ende finden würde. Murla war froh, dass sie die festen, kniehohen Stiefel angezogen hatte und nicht die Halbschuhe mit denen sie noch in den letzten Tagen durch die Umgebung der Bergwacht gestreift war.

Sie tastete sich mit dem Stab über die vereinzelt liegenden Schneebretter immer darauf bedacht, dass sie nicht in den eiskalten Bach abrutschen würde. Auf einmal trat sie tatsächlich auf einen vereisten runden Stein, der unter dem Schnee lag, und mit einem Schrei rutschte sie in Richtung Bach. Zum Glück konnte sie sich noch im letzten Moment mit dem Stab fangen und abstützen, ihr linker Fuß hing schon fast auf den Eisschollen, die den Bach herab trieben.  ‘Oh, Angrosch!’ fluchte sie. ‘Noch so eine Nacht und meine Konzentration ist dahin, dann würde ich jetzt im Bach liegen. Und da keiner hier auf diesem Pfad langläuft, wäre das ein eiskaltes Vergnügen.’ Sie musste trotz der Gefahr über diese Idee grinsen. Auf jeden Fall war sie jetzt wieder voll wach.

Bis zum Abend ging es weiter durch das enge Bachtal und auch diesen Abend fand die Angroschna keinen wirklich geeigneten Schlafplatz und so war sie am nächsten Morgen noch ein wenig geräderter und schlecht gelaunt. Bis zu Gingelbach, einem behäbigen Ort mit spitzgiebligen Fachwerkhäusern, der sich am Ufer eines klaren Gebirgssees drängte, begleitete eisiger Schneeregen den Weg der Angroschna. In Gingelbach querte eine Brücke die Niacebra und führte auf dem - aus Murlas Reiserichtung - linken Ufer weiter gen Praios. Nun hätte auch ein beladener Ochsenkarren den Weg gut gemeistert - und tat dies wohl auch so manchesmal, wie die tiefen Spuren im unbefestigten, immer wieder mit Steinbrocken überstreuten Grund erzählten. 

Müde über die Steine auf dem Weg stolpernd und fluchend schleppte sich Murla vorwärts. In Gingelbach hatten sie ihr gesagt, dass sie bis zum Abend noch nach Calmir kommen könnte. Deshalb biss sie Zähne zusammen und lief weiter. Eine weitere Brücke, südlich des Dorfes, querte den Zufluss des Sees - der hier, so hätte ihr eine Ansässige berichten können, Gingelbach genannt wurde. Der Abend dämmerte bereits, als sie vor sich ihr Ziel, eine erstaunlich große Siedlung, die mehrere hundert Einwohner haben mochte, vor sich sah - dies musste Calmir sein, der einzige Marktflecken der Baronie, gesichert durch einen Etter aus ungeschälten Baumstämmen und Ästen. Erleichtert atmete Murla auf, ihr Ziel lag vor ihren Augen. Jetzt musste sie nur noch den Borontempel finden. Sie stapfte also bis in die Siedlung und sah sich um, ob sie irgendwen finden würde, der ihr den Weg erklären könnte.

Um den Dorfplatz , auf dessen Mitte eine Linde stand, gruppierten sich einige schmucke, mehrstöckige Fachwerkhäuser. Gegen die hereinbrechende Dämmerung schien aus einigen Fenstern Licht und es schollen Gesprächs- und sogar Gesangsfetzen. Drei der Gebäude besaßen gar ein hölzernes Schild über der Tür, das auf ein Gasthaus hinwies. Auf dem einen war eine graue, watschelnde Gans abgebildet, auf dem zweiten ein Rabe, der aus einem vollen Weinkelch trank, und auf einem dritten war eine gelbe Traube unter allerlei Blattwerk zu erkennen.  Ein weiteres, großes Haus, das sogar über einen kleinen, mit einem Jägerzaun abgetrennten Garten verfügte, fiel durch bunte Malereien auf Türrahmen und Ausfachungen auf, die eine Gänseschar, Fingerhut, Blumen und Früchte darstellten. Murla überlegte, wenn sie jetzt in einen der Gasthöfe einkehren würde, dann würde sie vermutlich schnell sitzen und einschlafen, aber sie würde es wohl kaum noch bis zu Marbolieb schaffen.

Also wand sie ihre Schritte dem Gänsetempel zu und klopfte an die Tür.  “Angrosch zum Gruße!” rief sie und wartete auf eine Antwort. “Travia zum Gruße!” Eine dunkle Männerstimme, deren Besitzer seine Lebensmitte auch schon überschritten haben mochte, grüßte von innen. “Tretet ein und seid willkommen.” Mit diesen Worten öffnete sich die Tür und ein gemütlich wirkender Traviageweihter mit leichtem Bauchansatz, Vollbart und beginnenden Geheimratsecken, roten Wangen und fröhlich blitzenden Augen öffnete die Tür. “Ich bin Vater Ganslieb. Und mit wem habe ich das Vergnügen?” Murla neigte kurz den Kopf, dann stellte sich dann mit “Murloschtaxa Tochter der Mokloscha, Euer Gnaden.” vor.  “Ich möchte Euch nicht lange stören”, fuhr sie dann fort. “Aber ich bin fremd hier und suche Ihre Gnaden Marbolieb, die Boroni. Könnt Ihr mir bitte den Weg erklären.” “Oh.” Die Miene des Geweihten gefror. “Der Borontempel steht am Dorfrand - fünfzig Schritt in diese Richtung.” Er wedelte mit der Hand in die ungefähre Richtung, in der sich der Tempel befand. “Kennt ihr die Geweihte?” fragte er mit einer Stimme, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. “Ja”, war die knappe Antwort. “Spielt das für die Wegbeschreibung eine Rolle?” “Sie ist kein Ruhmesblatt für unser Dorf.” Gab der Traviageweihte mit verbissenem Gesicht zur Auskunft. “Ihr solltet euch von ihr und ihrem liederlichen Lebenswandel fern halten.”

“Habt Dank für Euer Warnung, Euer Gnaden”, nickte Murla höflich aber auch ein wenig abweisend. “Ich denke, ich bin alt genug, um mir mein eigenes Bild davon machen zu können. Fünfzig Schritt in diese Richtung?” vergewisserte sich Murla. “Vielen Dank, Euer Gnaden, und entschuldigt die Störung.” Sie neigte noch einmal den Kopf und stapfte dann müde in die ihr gewiesene Richtung. “Travia mit euch.” Verabschiedete sich kopfschüttelnd der Geweihte und ging wieder in seinen Tempel, um seiner Frau zu berichten, dass die Boroni einmal mehr Zwergenbesuch empfing.

Es waren nicht viel mehr als fünfzig Schritt, als Murla am Dorfende auf den Borontempel am entsprechenden Anger traf. Das Gebäude war überraschend groß - größer noch als der Traviatempel - aus dunklen Bruchsteinen halbrund gemauert und lag finster und schweigend da. Weder trat Rauch aus dem Kamin, noch war irgendein Lichtschein zu sehen. Langsam betrat die Angroschna den Boronanger und ging den Weg zum Portal des Tempels. Da alles dunkel war, öffnete sie leise die Tür und betrat das Innere des Tempels. Genauso leise schloss sie die Tür hinter sich.

“Marbolieb?” rief sie leise in die Dunkelheit. Die blinde Boroni brauchte ja kein Licht, daher war Murla auch nicht überrascht, das hier im Tempel kein Licht brannte. Es war stockfinster im Tempelraum, selbst die empfindlichen Augen der Zwergin vermochten hier nichts mehr zu erkennen. Der Hall ihrer Stimme verriet ihr, dass es sich um einen einzigen, offenen, großen Raum handelte, ihre tastenden Füße, dass es einige Stufen nach unten ging. Einige Zeit lang geschah nichts, bis die leise Stimme der jungen Geweihten  einige Schritt vor ihr auf einmal die Stille zerbrach. “Wer seid ihr und was wünscht ihr?” flüsterte sie; offensichtlich hatte sie Murla nicht erkannt. “Marbolieb!” entfuhr es Murla erleichtert. “Ich bin es Murla! Ich habe doch gesagt, ich komme Euch besuchen.” “Murla?!” entfuhr es krächzend der Boroni. Sie räusperte sich mehrmals, bis ihre Stimme wieder fast so ähnlich klang, wie die Angroschna sie in Erinnerung hatte. “Kommt.” Sie reichte ihrem Gast die Hand.

“Ich kann nichts sehen”, antwortete die Angroschna, gab aber trotzdem der Boroni die Hand und ließ sich führen. Die blinde Geweihte führte die Zwergin durch den Tempelraum und dann durch eine Seitentür hinaus auf einen Gang, eine weitere Tür hindurch in einen Raum, durch den durch einen nicht ganz dichten Laden das Dämmerlicht hereinsickerte. Eine große Küche, ein offener Herd, in dem jetzt aber nur noch kalte Asche lag, ein Strohsack mit einigen Decken, ein großer Tisch mit einer Bank entlang der Wand und zwei dreibeinigen Schemeln. An einer Wand standen zwei große Eimer neben einem auf einem Dreibein aufgebauten Zuber. Darüber hing ein Joch mit zwei Schnüren an der Wand, und daneben ein kleiner Hammer aus Holz.

Auf etwas über Kopfhöhe der Priesterin zog sich ein Brett an der Wand entlang, auf dem verschiedene irdene und offensichtlich schon lange genutzte Krüge, Tiegel und Kistchen standen, und neben dem Tisch war ein etwa zwei Spann langes Schränkchen in die Wand eingelassen. “Setzt euch doch.” bugsierte Marbolieb ihren Gast auf einen der Schemel. Erschöpft von der dreitägigen Wanderung ohne ausreichend Schlaf ließ sich Murla auf den Schemel plumpsen.  Mit einem lauten Seufzen nahm sie den schweren Rucksack ab und stellte ihn neben sich - Murla hoffte eine Stelle zu finden über die Marbolieb nicht stolpern würde. Auf dem Tisch lag eine kleine Handaxt und ein Holzscheit, daneben lag ein beachtlicher Berg abgeschälter Späne. “Ich habe hier irgendwo einen Maulaffen.” erklärte die Boroni mit noch immer kratziger Stimme, nahm den zweiten Hocker und schob ihn, gebückt den Abstand zur Wand abschätzend, unter das Holzbrett, kletterte vorsichtig auf den wackeligen Schemel und begann, das Brett abzutasten. Ihre Hände wischten einen tönernen Becher zu Boden, der laut klirrend zersprang, was dazu führte, dass die Geweihte so sehr zusammenzuckte, dass sie fast zu Boden gestürzt wäre. Nach einigem weiteren Versuchen kletterte die Geweihte schließlich mit einer tönernen Figur wieder zu Boden, zu der sie einige handlange, schmale dünne Holzbrettchen mitbrachte.

Nach einer kurzen und erfolgreichen Suche nach Feuerstein und Stahl entzündete sie auf dem Herd einen der Holzspäne, und mit diesem das Brettchen, das sie in das Maul des Kienspanhalters schob. Sie pustete auf ihre Fingerspitzen, die bei der Frage, ob der Zunder nun Feuer gefangen hatte oder nicht, deutlich gelitten hatten, und stellte das Konstrukt auf dem Tisch ab, ehe sie selbst wieder Platz nahm. “Wie geht es euch, edle Dame?” flüsterte sie und räusperte sich erneut. Der Kienspan war nur ein kleiner, glimmender Lichtpunkt, doch genug, dass die Angroschna das Innere des ärmlich eingerichteten Raumes ausmachen konnte. “Habt Ihr Hunger?”

Nachdem Murla jetzt endlich ein wenig mehr von dem Raum sehen konnte, schaute sie sich um und musste feststellen, dass Marbolieb sich in ihrer doch sehr bescheidenen Unterkunft eingerichtet hatte.  Denn sie fand ja irgendwie alles wieder was sie zum Leben brauchte. Allerdings zeugte die erkaltete Asche im Ofen, dass sie zwar gelegentlich Licht machte, aber an Heizen hatte sie wohl kaum Interesse oder kein Holz - aber dass könnte sich Murla ja später genauer ansehen. Dann erinnerte sie sich, dass Marbolieb ja einige Fragen gestellt hatte. “Danke der Nachfrage”, begann sie. “Es geht mir eigentlich ganz gut, allerdings habe ich die letzten zwei Nächte unterwegs so gut wie gar nicht geschlafen und bin recht müde. Und Hunger? Wartet einen Moment!”

Murla holte sich den Rucksack heran und begann darin zu suchen. Nach kurzer Suche hatte sie anscheinend gefunden, was sie gesucht hatte und zog ein verpacktes Bündel heraus. Sie stellte es auf den Tisch und wickelte es aus. Je weiter Murla das Paket auseinander faltete umso stärker  wurde der Geruch nach Apfelkuchen. Und dann lag ein kleiner runder Apfelkuchen auf dem Tisch. “Ihr mochtet ihn doch so sehr, also habe ich einen gebacken und mitgebracht. Leider ist er  nicht mehr ganz frisch, aber ich glaube er wird uns trotzdem noch schmecken.” Dann schaute sich Murla um.

“Wo habt Ihr denn ein Messer?” Marbolieb schnupperte, und ihre Augen wurden feucht. Ohne ein Wort tastete sie über den Tisch, bis sie am Ende ein etwas über handlanges und deutlich schartiges Messer fand und es vorsichtig, mit dem Griff voraus, in Murlas Richtung hielt. Murla griff nach dem Messer und begann den kleinen Kuchen in Stücke zu schneiden. Dann schaute sie sich nach Tellern um. Als sie diese auf dem Regalboden sah, stand sie stöhnend auf und holte zwei davon, lud auf jeden ein große Stück des Apfelkuchens und stellte einen Teller vor Marbolieb hin. “Wohl bekomms’s!” Den anderen nahm sie an sich und setzte sich mit dem Teller im Schoß auf den Hocker. Über das hagere Gesicht der Boroni breitete sich ein andächtiges Lächeln aus, als sie ungläubig den Kuchen betastete, abermals daran roch und dann sehr, sehr vorsichtig, als vollziehe sie eine heilige Handlung, einen Bissen davon kostete. Sie seufzte tief und schloss glücklich die Augen.

Als die Angroschna sah wie sehr die Boroni den Kuchen genoss, ging ein Strahlen über ihr Gesicht. Dann hatte sie ja genau das Richtige im Gepäck. Und für die anderen Köstlichkeiten (ein Schinken, zwei große Brote, ein Beutel Nussplätzchen und eine Flasche Schnaps, sowie einen großen Beutel Tabak) war ja auch noch später Zeit. Erstmal ankommen, ein wenig schlafen und dann morgen weitersehen. Während sie Marbolieb bei Essen zusah, bemerkte sie das kleine Kneifen im Bauch das anzeigte, das auch ihr Magen gefüllt werden wollte. So biss sie herzhaft in das Stück Kuchen. ‘Ja, altes Mädchen, der ist gut geworden, sehr gut!’ dachte sie während sie aß und danach dann die Krümel zusammenschob und auch die noch mit dem Zeigefinger aufstippte. Langsam und genüsslich verzehrte die Boroni den Kuchen und putzte dann, verschämt, aber nicht bereit, davon zu lassen, die letzten Krumen mit dem Finger vom Teller.

Sie seufzte glücklich, als sie den irdenen Teller, der nun fast so sauber war wie zuvor, von sich schob und die Hände über ihrem wohlgefüllten Bauch faltete. “Ich danke Euch.” sagte sie glücklich, ihre Stimme durch die viele Übung der letzten Stunde merklich geschmeidiger denn noch einige Zeit zuvor. “Nun”, meinte Murla immer noch sehr zufrieden mit der gelungenen Überraschung. “Da ich mich ja vorher nicht angekündigt hatte, wusste ich ja nicht, ob Ihr auf Gäste eingerichtet wart. Daher hielt ich es für das Beste ein wenig vorzusorgen.” Dann hörte Marbolieb ein unterdrücktes Gähnen aus der Richtung der Angroschna. “Ich bin leider heute auch kein gesprächiger Gast, wie ich sagte waren die letzten Nächte auf dem Weg nicht sehr angenehm. Daher würde ich noch ein kleines Pfeifchen mit Euch rauchen - wenn Ihr wollt - und Euch dann bitten mir zu sagen, wo ich mich niederlassen darf.” “Ihr dürft meinen Strohsack haben, Euer Wohlgeboren. Hier ist es am wärmsten.” Sie wies auf den von einigen geflickten Decken und einem gleichfalls nicht mehr ganz neuen Wintermantel bedeckten Strohsack, der an eine Wand der Küche gelehnt lag. “Habt ihr Tabak dabei?” setzte sie sehnsüchtig hinzu. “Nein, nein!” wehrte Murla ab. “Ich werde Euch nicht den Schlafplatz streitig machen, denn ich habe Decken dabei. Ich werde mich einfach dort in der Ecke ausbreiten.”

Und dann fügte sie mit einem breiten Lächeln hinzu: “Aber natürlich! Wo habt Ihr Eure Pfeife?” Murla holte ihren kleinen Tabakbeutel aus der Gürteltasche und begann erst ihre und dann die Pfeife der Boroni zu stopfen. ‘Den großen Beutel werde ich Dir noch nicht geben, sonst wehrst Du Dich doch nur wieder gegen das Geschenk!’ fügte sie in Gedanken hinzu. “Ich bestehe darauf.” Ein strahlendes Lächeln breitete sich über das Gesicht der jungen Boroni aus. Sie kramte ihre Pfeife aus dem Schränkchen an der Wand, das außerdem noch zwei leere Fächer, einen Stoffbeutel, zwei schrumpelige Äpfel und einen fingerlangen Wurst- und Käserest enthielt, und reichte diese mit einem dankbaren Nicken ihrem Gast.

“Ich habe noch zwei Gästezimmer - ich nehme eines davon.” “Aber der Name Gästezimmer sagt doch, dass diese Zimmer für die Gäste sind und nicht für die Gastgeber”, widersprach nun Murla vehement, die dachte, dass dieses der einzige bewohnte Raum des Hauses sei. “Sagt mir wo sie sind und ich werde mit dorthin begeben.” “Das hier ist mein Tempel.” lächelte die kleine Menschenfrau. “So darf ich entscheiden, wer wo schläft, Euer Wohlgeboren. Und ihr werdet den wärmsten Strohsack nehmen.”

‘Hui!’ durchfuhr es Murla. ‘Jetzt zeigst Du es mir aber. War ich in Ishna Mur auch so herrisch?’ ging es ihr durch den Kopf. “Wie Ihr wünscht, Euer Gnaden!” war die Antwort. Um sich weiter mit der Geweihten zu streiten, war sie im Moment zu müde. also fügte sie sich der Anweisung und rollte ihre Decken auf dem Schlafsack aus. “Dann wünsche ich Euch eine angenehme Nachtruhe!” “Das wünsche ich euch ebenso, Euer Wohlgeboren. Möge Bishdariel euch sanfte Träume schenken unter dem Dach des Schweigsamen.”  Mit einem freundlichen Lächeln sammelte die Boroni den alten Wintermantel von dem Strohsack ein, überließ ihrem Gast aber alles, was dort an Decken lag. “Euch eine gute Nacht, Frau Murla.” Ein gegähntes “Danke!” war alles was aus der Ecke mit dem Strohsack kam. Einige Zeit später war dann ein leichtes Schnarchen aus dem Zimmer zu hören.

Ein Tag im Tempel

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Ein Poltern und Platschen weckte die Bergvögtin am nächsten Morgen. Mit einem lauten Schnaufen stellte die Boroni zwei nicht mehr ganz volle Wassereimer in der Küche ab und wischte sich über die Stirn, ehe sie, mit einem Blick auf ihren Hausgast, auf Zehenspitzen zum Herd schlich und Feuer schlug, um ein Feuer aus zwei Scheiten und einer kleinen Handvoll Zunder zu entfachen. Als sie bemerkte, dass Murla sich regte, wandte sie sich um und lächelte freundlich. “Guten Morgen. Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen, Frau Murla.” “Oh ja, ich habe geschlafen wie ein Stein”, antwortet die Zwergin und rieb sich die Augen. Dann setzte sie sich auf dem Strohsack ab und begann ihre Haare, die sich über Nacht aufgelöst hatten, zu einem dicken Zopf zu flechten.

“Sagt mir bitte, wo ich mich waschen kann”, war dann die Frage als sie mit ihrem Zopf fertig war. “Ich habe Wasser geholt.” lächelte die Geweihte. “Hier ist ein Bottich und ich bringe euch gleich noch ein frisches Tuch.”  “Ihr seid so gütig”, dankte Murla. Sie wusch sich den letzten Rest des Schlafs aus dem Gesicht, das eisige Wasser brachte auch alle Lebensgeister zurück. “Ihr müsst mich nicht bedienen! Ich habe fast mein ganzes Leben ohne Dienerschaft gelebt und weiß sehr gut, wie man arbeitet.” Da jetzt auch das Licht des jungen Morgens in den Raum fiel, sah sich Murla erst einmal um. Im Licht zeigten sich schonungslos alles Spuren einer langjährigen Nutzung und hohen Alters der Einrichtung. Die Kanten des Tongeschirrs, das sich auf einem Brett neben dem Spülbottich stapelte, waren abgeplatzt, und einige der Teller und Becher durchzogen feine Risse. Das größtenteils hölzerne Besteck hatte gleichfalls schon viel Nutzung gesehen, ebenso wie Tisch und Schemel. Dennoch waren der Tisch und der Boden peinlich sauber, aber ab etwa Kopfhöhe der Zwergin hingen die ersten Spinnweben, die sich vor allem unter dem Dach dick und verstaubt in den Ecken breit machten.  Der Strohsack und die Decken waren sauber, aber fadenscheinig und häufig geflickt. Sie hatten alle ein einheitliches grau-beige angenommen, die Decken selbst waren aus ungefärbter Wolle gewoben.

Marbolieb hatte das kleine Feuer in Gang gebracht und mühte sich, einen mit Wasser gefüllten Kessel über die Flammen, deren Höhe sie nur erahnen konnte, zu hängen. Ein einzelnes weiteres Holzscheit lag neben dem Herd. In einer Ecke hinter der Tür stand ein Reisigbesen und eine Kehrschaufel neben einem flachen, breiten Holzeimer, dessen Griff aus einer dicken Kordel bestand. “Ich mache uns Frühstück!” verkündete die Geweihte frohgemut und räumte den Beutel sowie Wurst und Käse auf den Tisch. Letztere waren etwa fingerlange Reste und zu Mumien getrocknet. Die Wurst wies interessante gelbe und grüne Kringel auf, und dem Käse war ein aparter grün-blauer Pelz gewachsen. Sie wartete, bis das Wasser kochte, und goss dann einen Teil davon in eine Kanne, in der einige Kräuter schwammen. In den Rest warf sie zwei genau bemessene Handvoll Getreidegrütze und eine kleingeschnittene Rübe und rührte das ganze andächtig um, ehe sie, als es gequollen war, den Topf und zwei Schüsseln zu Tisch trug und den ungewürzten Brei mit einem “Wohlschmecken” anpries. Murla roch an dem Tee und nippte dann vorsichtig daran. ‘Lecker, dieses warme Wasser!’ dachte sie bei sich. Dann tauchte sie vorsichtig den Holzlöffel in den Brei und kostete auch diesen. Da sie die Zubereitung gesehen hatte, konnte sie sich soweit  zusammennehmen, dass sie die fade Pampe nicht ausspuckte sondern gequält runterschluckte.

Um Wurst und Käse machte sie aus Sicherheitsgründen einen Bogen. Ein Zwergenmagen verträgt zwar einiges, aber sie wollte ihn nicht so herausfordern. “Sagt, Euer Gnaden, ist das Euer übliches Frühstück? Oder ist es gerade eine Fastenzeit?” “Oh, verzeiht!” verlegen sprang die junge Frau auf und tastete sich, die Fingerspitzen an einer Wand, zu dem Schränkchen, aus dem sie auch noch den restlichen Inhalt, zwei schrumpelige Äpfel, zwei Zwiebeln und eine weitere Rübe, brachte. “Wenn ihr noch etwas davon mögt, bedient euch gerne.” Mit etwas verschämter Stimme fügte sie hinzu: “Ich koche morgens immer genug, dass es auch als Abendessen reicht - so muss ich nur einmal anfeuern.” Und noch leiser. “Das ist mein übliches Essen.” 

Sie senkte den Kopf und ihre Wangen färbten sich rot. Zu gerne hätte sie ihrem Gast mehr vorgesetzt, aber das war alles, was ihre Vorratskammer hergab. Dann hellte sich ihre Miene jäh auf. “Ich habe noch einen Beutel Nüsse! Mögt ihr diese?” Welch ein Glück, dass auf dem Anger ein Haselbusch wuchs! “Nein! Macht Euch keine Mühe!” widersprach Murla. Sie stand von dem Schemel auf und holte die restlichen Gastgeschenke aus ihrem Rucksack. Der Duft von frisch geräuchertem Schinken durchzog die Luft der Wohnküche, dann wurde er durch den heftig, herben Geruch von Brot ergänzt und von dem süßen, nussigen Aroma des Nusskuchens gekrönt.

“Ich habe da noch etwas Verpflegung eingepackt und alleine schaffe ich das nicht! Wir sollten es uns teilen.” freute sich Murla. “Die Ahnen sagen immer, wenn Du gut gefrühstückt hast, dann ist der Tag ein guter Tag!” Die Geweihte schnupperte mit leuchtenden Augen den Duft all dieser Köstlichkeiten und rührte vorsichtig in der klebrigen Grütze, die in der Schüssel vor ihrem Platz langsam erkaltete.  “Dann habt ihr ein angemessenes Frühstück!” freute sie sich, die Erleichterung deutlich in ihrer Stimme. “Aber die Grütze wird sonst schlecht.” seufzte sie traurig. Wenn die Zwergin nicht mitaß, dann hatte sie heute sowieso eine viel zu große Portion gemacht. Andererseits bedeutete dies, dass sie sich diesesmal vollkommen unbesorgt den Bauch vollschlagen konnte - immerhin war die Grütze jetzt schon gekocht. “Eure Ahnen haben recht!” bekannte sie, als sie energisch begann, den klebrigen Getreidebrei zu löffeln. “Nein, nein!” jetzt klang Murla ein wenig empört. “Ihr müsst mitessen, alleine essen macht dick, sagt die Muhme! Und wenn Ihr unbedingt Eure Grütze zuerst essen wollt, dann wird das unser zweites Frühstück! Denn der Winter naht! Und da muss man kräftig sein und Euch bläst der Wind ja schon durch die Rippen!”

“Vielleicht ein kleines Stückchen Kuchen?” fragte die Boroni hoffnungsvoll, während sie dabei war, die doppelte Portion Grütze in sich hineinzuschaufeln. Vermutlich wäre sie hinterher so satt, dass sie sich gar nicht mehr regen konnte - und dabei hatte sie genausoviel noch einmal für das Abendessen. Auch wenn dass dann zwingend bedeuten würde, dass sie den Rest der Woche nur mit verkleinerten Portionen auskommen musste, wenn sie nicht einen Tag fasten wollte. Was aber den Vorteil hätte, dann kein Brennholz zu verbrauchen. Über diese Gedanken hin räumte sie hungrig ihre Schüssel zweimal leer und lehnte sich dann, mit spannendem Magen, mit einem glücklichen Seufzen an die Wand hinter dem Tisch.

Ob des Missverständnisses, dass Murla der Geweihten bei dem Brei geholfen hätte, war diese nicht ganz unglücklich, sondern schnitt zuerst Marbolieb eine kleine Ecke von dem Nusskuchen ab. Der lockere Boden war eng mit gerösteten Hasel- und Walnüssen belegt und diese mit einer großen Portion Honig fixiert. Nachdem sie den Teller vor ihr abgestellt hatte, musste sich Murla erst einmal die Honigtropfen von den Fingern lecken. Dann schnitt sie den Knust von einem der Brote ab, legte da eine reichliche Scheibe von dem Schinken drauf und begann genüsslich zu essen. “Sagt”, kam es mit untermalendem Schmatzen aus ihrer Ecke. “Wo habt Ihr denn den Holzvorrat, dann kann ich noch ein paar Scheite holen, während Ihr esst.” “Das Holz liegt neben dem Herd.” gab die Boroni zur Auskunft, während sie andächtig den Nusskuchen beschnupperte. “Ich lege es gleich nach, Wohlgeboren, ihr müsst nichts tun. Ihr seid mein Gast.”

“Ja, wenn Ihr mich eingeladen hättet”, antwortete Murla, “dann wäre ich Euer Gast, da ich mich selbst eingeladen habe, bin ich Eure Last.” Mit einem Blick sah sie, dass neben dem Herd nur noch ein magerer Scheit lag. “Ich hole noch was Holz von draußen, da liegt nur noch der letzte Scheit.” erklärte sie, schlang ihren Mantel über und suchte den Ausgang, den sie gestern müde und im Dunkeln gegangen war. “Aber … “ setzte die Boroni verdattert an, während Murla nach draußen polterte. Aus dem Gang zweigten mehrere Türen ab, eine in den Tempelraum, eine weitere in die Sakristei, zwei in die Gasträume und eine letzte nach draußen in den Garten. Dort gab es unter einem Vordach einen Hackklotz und einen kleinen Berg an ungehackten Holzstücken, während im Gang an der Wand eine Holzaxt hing.  Das Holz selbst, so zeigte ein genauer Blick der Angroschna, war von recht geringer Qualität - verwachsene Astansätze, Wurzelstümpfe und morsche Holzstücke bildeten die Hauptmenge des insgesamt kleinen Haufens. ‘Na, da haben sie dir ja den ganzen Mist angedreht, aber was soll’s für heute wird’s reichen!’ überlegte Murla, holte die Axt von Haken und begann mit gezielten Schlägen das Holz in ofengerechte Stücke zu zerlegen. Dabei kam sie nach einem Dutzend Holzstücken in Schweiß, so dass sie ihren Mantel auszog und an den Haken hing.  Danach ging weiter sie resolut gegen die schlechten Teile vor, als die Sonne dann fast im Zenit stand, lag der Holzvorrat gespalten und ofengerecht um den Hackklotz verstreut. Murla begann die Scheite zusammen zu tragen und unter dem Vordach zu stapeln. “Kommt, ich kann euch doch helfen.” Die Boroni war nach einiger Zeit der Zwergin nach draußen gefolgt und hatte mit zunehmender Bestürzung der Arbeit gelauscht. “Ihr müsst doch nicht meinen ganzen Wintervorrat hacken!” “Das soll den ganzen Winter halten?” lachte Murla. “Aber nur, wenn Ihr Euren Tempel in die Khom verlegt. Das bisschen Holz reicht für maximal einen Götternamen, wenn Ihr nicht ständig das Eis von Eurem Schlafsack haken wollt!” Als sie fertig war, hing sie sie Axt wieder an den Haken. “Wo bekommt Ihr das Holz denn her?” “Das bekomme ich von den Holzfällern. Die Schulzin beauftragt sie.” gab die Boroni zur Auskunft. “Ich danke euch sehr für das Hacken, Edle Dame. Aber das hättet ihr wirklich nicht tun müssen - ich hatte doch genug Holz für heute.”  Mit viel leiserer Stimme fügte sie hinzu. “Es reicht, wenn ich sparsam bin.” “Warum solltet Ihr sparsam sein?” fragte Murla nun die Geweihte. “Ihr seid eine Geweihte, der man Respekt und den Zehnt entgegenbringt - so war es zumindest in Albenhus.”

“Deshalb bekomme ich ja Essen und Holz von den Dörflern, edle Dame.” erklärte die Geweihte. “So viel wirft das Dorf nicht ab, dass ich etwas verprassen könnte.” “Verzeiht, das ich es sage, aber das Holz ist der letzte Abfall, den die Dörfler nicht mehr selber verheizen wollen und bei dem Essen - wenn Ihr Wurst und Käse meint, dann ist da auch nicht mehr viel mit los.” fasst die Angroschna ihre Beobachtungen zusammen. “Meint Ihr, es würde etwas bringen, wenn ich mal mit der Schulzin spreche?”

Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Nein. Sie folgt den Empfehlungen der Traviageweihten.” Und es würde nichts besser, aber nach ihrer Abreise viel schlimmer machen, wenn die Bergvögtin mit der Schulzin aneinandergeriet. “Das Holz wird gewiss reichen, edle Dame.”

“Die Gänsepriester?” stieß Murla aus. “Na, den einen habe ich gestern schon getroffen, der hat Euch ja fest ins Herz geschlossen! Kein Wunder, dass Ihr hier nur mit den letzten Sachen ‘beschenkt’ werdet.” Aber sich mit der Traviakirche anzulegen, dass war selbst für Murla alleine ein bißchen viel. Eine Schulzin hätte sie sich schon vorgeknöpft. Marbolieb hob resigniert die Schultern. “Ich bin nicht das, was sie als Geweihte gewünscht hatten.”  “Aber sie haben Euch und sie müssen das akzeptieren. Ihr sagt, dass Ihr hier von Euren Oberen eingesetzt wurdet und das Ihr hier nicht weg könnt.” meinte Murla. “So wie sie Euch aber behandeln, geht das nicht zusammen.” “Was sollte ich tun, Euer Wohlgeboren?” Die Geweihte senkte den Kopf und ihre Stimme wurde immer flacher. “Sie werden sich gewiss irgendwann an mich gewöhnen. Ich war ja bisher nur ein Jahr hier. Sie kennen mich noch kaum.”

“Aber sie scheinen Euch gut genug zu kennen, um Euch nicht zu mögen!” meinte Murla angedacht ihres Erlebnisses am Vorabend. “Ich bin allein, unverheiratet, habe ein Kind und mich geweigert, einen Ehebund mit einem Dörfler einzugehen. Und einen Angroscho als Liebhaber.” “Und nun kommt auch noch eine alte grantelnde Angroschna zu Besuch. Ich mache es mit  meinem Besuch hoffentlich nicht noch schlechter.”

Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Wärt ihr jetzt ein Angroscho, würden sie dies anders sehen.” “Dann bin ich froh”, meinte die Zwergin ehrlich. “Aber ich möchte Euch während meines Besuches zu Hand gehen und das Ganze hier ein wenig wohnlicher machen. Und zwar genau aus den Gründen, die Ihr genannt habt: Ihr seid allein, unverheiratet und von den Dörflern werdet Ihr gemieden. Und nicht ganz zu vergessen: Ihr seid blind!”

“Aber ihr seid mir doch zu nichts verpflichtet, Euer Wohlgeboren. Und ich euch kann das niemals abgelten!” flüsterte die Menschenfrau. “Nein, ich bin zu nichts verpflichtet”, nickte die Angroschna. “Aber es hat mir gefallen mich mit Euch in Ishna Mur zu unterhalten. Und ich mag Euch, und kann es nicht leiden, wie man Euch hier behandelt. Da mir vermutlich die Macht fehlt diese Art der Behandlung zu beenden, möchte ich Euch während meiner Anwesenheit unterstützen. Ihr seid so dünn und immer unruhig. Wenn ich gehe, würde ich mich  freuen, wenn Ihr für den Winter ein wenig mehr auf Euren Rippen habt und vielleicht einfach ein paar Tage zur Ruhe und Besinnung gekommen seid.”

Marbolieb öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, und schloss sie dann wieder, tastete nach dem Ort, wo sie die Zwergin vermutete, und schlang ihre Arme fest um den Hals der fast zwei Köpfe kleineren Frau. Überrascht und fast ein wenig erschreckt ließ die ältere Angroschna den spontanen Gefühlsausbruch der Geweihten über sich ergehen und umarmte Marbolieb ihrerseits und drückte die dünne junge Frau fest, aber nicht zu fest an sich. Die kleine Geweihte hielt einige Atemzüge lang sehr still in den Armen der anderen Frau, ehe sie sich verschämt befreite. “Entschuldigt bitte, Euer Wohlgebhoren. Ich habe mich vergessen.” bat sie verlegen um Verzeihung. “Nein, nein!” widersprach Murla. “Ihr müsst Euch nicht entschuldigen. Gefühle sollte man nicht unterdrücken, sie sind wichtig! Aber das wisst Ihr als Seelenheilkundige doch selber!”

“Das heißt dennoch nicht, dass ich sie stets zulassen darf, Frau Murla.” schüttelte die Geweihte sanft den Kopf. Sie holte tief Luft. “Gibt es etwas, mit dem ich euch heute eine Freude machen kann?” “Mögt Ihr mir den Rest des Hauses und den Tempel zeigen?” “Gerne.” nickte die Boroni. “Mögt ihr mitkommen?” Sie griff nach einem langen Stock, der neben der Tür in lehnte, und tastete sich an der Hausmauer entlang, bis sie unter dem Dach hervortrat und die Steine einen Überzug aus Moos und Flechten bekamen, und streckte die Hand aus. Es regnete nicht. Vorsichtig stocherte sie auf den Boden, bis sie den ausgetretenen Trampelpfad erreicht hatte, der auf den Anger führte. “Was ich mache, wenn Schnee liegt, muss ich mir noch überlegen.” bekannte sie. “Ich nehme an, dass Ihr von den Dörflern keine Hilfe erwarten könnt?” fragte Murla. “Aber wenn Ihr von den Menschen keine Hilfe bekommt, würde Ihr Hilfe von den Angroschim annehmen?”

“Hier in Calmir gibt es keine Zwerge, Frau Murla - und selbst wenn, hätten sie keine Veranlassung, mir zu helfen.” Die junge Frau zuckte die Schultern. “Ich dachte eher an ein gespanntes Seil oder etwas Ähnliches.” Der Boronsanger war klein, der Boden steinig. Die meisten der Gräber besaßen aus Stein gehauene Boronsräder, etwa ein Drittel nur Stelen aus zusammengefügten Holzlatten. Umschlossen wurde der Anger von einem groben Zaun, der seinerseits von einer Hecke aus Schlehen und Brombeeren gesäumt wurde. Zwei kahle Büsche, vermutlich Haselnüsse, standen nahe des Zauns zwischen zwei Grabreihen. Zwischen den Gräbern wucherte Unkraut, und nur der wichtigstes Weg in den Anger war einigermaßen von den langen Gräsern und buschigen Kräutern befreit. Ein kühler Wind kam auf, berichtete von Schnee auf den Berghängen und zauste in den Mänteln der beiden Frauen. Murla zog ihren Mantel enger zu, der Wind aus den Bergen war hier kälter als in Ishna Mur und deutete einen frühen Winter an. Das trübe Wetter passte zu der Stimmung, die das Totenfeld ausstrahlte. Auch ein Grund mehr warum die Angroschim ihre Toten den Tiefen der Erde übergaben und sie nicht in der Erde verscharrten.

“Ihr habt mich falsch verstanden”, meinte sie während sie den Weg entlang gingen. “Das es hier in Calmir keine Angroschim gibt, konnte ich mir nach dem Empfang des Gänsepriesters denken. Ich dachte, ob ich Euch Hilfe für den Winter aus Ishna Mur bieten kann.” “Das ist sehr freundlich von Euch, Frau Murla.” Marbolieb dachte nach, und die Zwergin konnte sehen, wie das Gesicht der jungen Frau bei diesen Überlegungen aufleuchtete - und dann jäh wieder sein Lächeln verlor.

“Ishna Mur ist so viele Tagesreisen entfernt - ich denke nicht, dass ihr da etwas tun könnt.” “Ich denke auch nicht das ich die drei Tage im Winter laufe, aber ich wüsste jemanden, dem ein Winter in Calmir gut tun würde. Und die Gesellschaft würde Euch sicherlich auch gut tun”, meinte Murla fröhlich lachend. “Oh.” Das Gesicht Marboliebs gefror. Zu gerne hätte sie etwas Gesellschaft gehabt - und vielleicht gar jemanden, der sie führen könnte, wenn sie außerhalb des Tempels etwas zu erledigen hatte. Letzte Woche hatte sie sich auf dem Rückweg vom Brunnen im Dorf verirrt - was allein nicht so schlimm gewesen wäre, aber da es justament an diesem Vormittag wie aus Kübeln goss, hatte sich dies sehr unerfreulich gestaltet. “Ich könnte keinen Begleiter unterhalten, edle Dame. Das Essen hier wird für zwei Leute nicht reichen.” “Oh, ich würde einen Begleiter oder besser eine Begleiterin schicken, die Euch nicht zur Last fällt.” versprach Murla. “Ich würde Euch Murixe, unsere Jüngste, schicken. Sie muss auch mit dem wirklichen Leben zurecht kommen und nicht nur die Welt durch ihre Zahlen sehen. Sie ist nur ein paar Jahre älter als Ihr.”

“Aber mein Tempel ist nicht so edel wie eure Bergwacht - das hier ist ein bescheidenes Haus. Ich kann eurer Jüngsten nicht die Umgebung bieten, die sie gewohnt ist.” Die Boroni überlegte einige Augenblicke. “Spricht sie Garethi?” Murla musste laut lachen. “Murixe hat noch nicht in der Bergwacht gelebt.” 

Dann fuhr sie fort: “Murixe ist noch ein Kind, sie hat nur in unserem Haus in Albenhus gelebt und kurz in Senalosch. Und kurz nach dem Umzug ist sie nach Xorlosch, dort lernt sie. Aber sie muss auch aus dem Muff der Urstadt heraus und das wahre Leben kennenlernen.” “Da würden viele Angroschim euch aber sehr widersprechen, Euer Wohlgeboren!” Die Boroni hatte mit einiger Mühe wieder den Weg zurück zum Tempel eingeschlagen - gerade noch rechtzeitig, als die ersten dicken Tropfen begannen, aus den schweren grauen Wolken zu fallen. Allerdings würde ihre Geschwindigkeit reichen, dass die Frauen einen guten Guss abbekämen - von Eile war nichts zu sehen.

“Ja”, nickte Murla, “das stimmt. Und Euer Freund, Bruder Grimmgasch, wäre vermutlich einer der ersten.” Da schlug sich Murla mit der flachen Hand vor die Stirn. “Das habe ich ganz vergessen! Als ich beschlossen hatte, Euch zu besuchen, gab er mir einen Stapel Pergamente mit. Er sagte, dass er sie Euch versprochen hat. Und ich habe sie Euch bis jetzt noch nicht gegeben.” “Das sind sicher die Übersetzungen der Inschriften eurer Halle.”  Ein eiskalter, mit Schnee durchsetzter Regenschauer peitschte den Frauen ins Gesicht, und Marbolieb zog sich mit einer Hand ihre Kapuze enger über den Kopf, mit der anderen, in der sie ihren Stock hielt, tastete sie zunehmend hektischer nach dem Weg. “Ich glaube es ist besser, wenn wir uns beeilen”, meinte Murla und ergriff Marbolieb am Unterarm und dirigierte sie zurück zur Tür. Nass wie begossene Pudel kamen die beiden wieder unter dem Vordach an. Marbolieb streifte sich den Mantel von den Schultern und hängte ihn an eine Haken direkt hinter der Haustür, wo sich unter ihm rasch eine Pfütze bildete. Sie rieb sich die Oberarme. “Wollen wir nachsehen, ob vom Tee heute morgen noch etwas übrig ist?” schlug sie vor.

Murla ging mit der blinden Boroni in die Küche, wo sie die Kanne mit dem Rest Tee auf den Herd stellte. “Es ist noch was da, wird auch gleich warm sein.” Die Geweihte verbiss sich sämtliche Sorge um ihre Holzvorräte - sie hatte einen Gast, und der sollte sich wohlfühlen. “Aber edle Dame, ich fürchte, ich kann Eurer Tochter wirklich nichts bieten.” Begonnen mit ausreichendem Essen. “Ich glaube nicht,dass sie Grütze mag.” “Oh, sie mag vieles nicht”, antwortete Murla. “Aber Ihr mögt doch auch nicht nur Grütze essen, oder? Und wenn ich meine Tochter hier über den Winter einquartiere, dann wird sie für Ihren Unterhalt aufkommen und Euch einen Mietzins bezahlen.” ‘Und damit ist das Thema Grütze vom Tisch’, fügte Murla in Gedanken hinzu. ‘Es sei denn die beiden Naschkatzen geben das Geld in der ersten Woche für Kuchen aus. Aber gut, dann ist es Lernen durch Schmerzen. Und eigentlich sollte Murixe rechnen können.’ “Eure Tochter darf hier selbstverständlich mein Gast sein.” Erklärte die Boroni. “Nur für ihren Unterhalt kann ich leider nicht sorgen.” fügte sie etwas kläglich hinzu. “Doch von einem Gast verlange ich keinen Mietzins!” “Dann nehmt Sie nicht als Gast, sondern als Eure Schülerin auf und somit hat sie Lehrgeld zu zahlen”, ändert Murla ihren Vorschlag. ‘Nenn es wie du willst, ich werde dir Murixe über den Winter schicken und sie wird hier für einen wohnlichen Winter sorgen - dafür kenne ich meine Tochter zu gut.’ musste Murla jetzt in sich grinsend hinzufügen.

Dann ging sie zum Herd nahm die Kanne mit dem aufgewärmten Tee herunter und goß ihn Marbolieb und dann sich ein. “Jetzt habt Ihr mir den Boronanger gezeigt. Nun, er ist so wie ich es erwartet hatte.” ‘Trostlos und traurig.’ “Ihr solltet ihn im Sommer sehen, wenn die Blumen auf den Gräbern blühen und alles in der Sonne liegt. Oder im Herbst, wenn die ersten Blätter fallen, es aber noch warm ist.” In der Stimme der Geweihten lag Wehmut - was aber auch mit der Kälte und dem Schneematsch draußen zusammenhängen mochte. Der Regen hatte inzwischen aufgegeben und sich dem Unvermeidlichen gefügt - nun waren es große, nasse Flocken, die aus dem schweren grauen Himmel auf Dere fielen.

“Mögt ihr den Rest sehen?” fragte Marbolieb, als sie sich die Hände am Feuer gewärmt hatte - vorsichtig abschätzend, um ihm nicht zu nahe zu kommen. Dies hatte ihr schon einige versengte Fingerspitzen beschert. Sie rieb ihre Finger, schloss sie um den Becher und trank einen tiefen Schluck des lange gezogenen, würzigen Tees - den ihr ganz andere Gebräue gewohnter Gast gewiss als ‘wässrig’ bezeichnet hätte.  “Was wünscht ihr, dass ich eurer Tochter beibringe?” fügte sie dem Gedankengang hinzu. “Gerne”, nickte Murla zustimmend, “ich bin noch nicht in vielen Tempeln Eures Gottes gewesen.” Murla nippte an dem heißen Wasser, dass die Geweihte als Tee anpries. “Und Murixe zeigt einfach wie Ihr lebt und Eure Dienst verrichtet, damit lernt sie genug.” “Sie wird kaum etwas damit anfangen können, Edle Dame. Wünscht ihr vielleicht, dass ich sie in einer Sprache unterrichte? Bosparano, Tulamidya - oder Aureliani?” Sie überlegte einen Augenblick und fügte dann nochmals die unbeantwortete Frage von vor einigen Minuten hinzu: “Spricht Murixe Garethi?”  Damit stand und fiel die gesamte Idee der Bergvögtin. “Ja, fast besser als die Sprache ihrer Vorväter”, kicherte Murla. “In ihrem Alter gab es wenig Angroschim in Albenhus, aber viele Menschen.” “Gut.” Nickte die Geweihte. Vielleicht würde ihr Murixe - mit etwas gutem Willen - auch ein paar Brocken Rogolan beibringen können. “Aber ihr Bosparano ist sicherlich ausbaufähig”, stimmt Murla den Plänen der Geweihten zu. “Mehr als die Buchstaben ist da nicht drin.” “Lesen werde ich ihr nicht beibringen können.” schmunzelte die Geweihte.  “Kommt - ich zeige euch den Rest des Tempels.”

“Gerne”, Murla stellte ihren Becher ab und dann folgte sie der Boroni. “Habt Ihr denn keine Bücher in Bosparano?  Oh, Mist, jetzt habe ich schon wieder die Schriften von Grimmgasch vergessen.” Sie ging zurück in den Wohnraum und kramte dann in ihrem Rucksack herum bis sie einen Stapel Pergamente hervorgekramt hatte und auf den Tisch legte. “Ich werde Sie Euch nachher vorlesen.”

“Danke!” Neugier blitzte in den Augen der jungen Menschenfrau auf, als sie sich, die Fingerspitzen einer Hand an der Wand, aufmachte, ihrem Gast die Innenräume zu zeigen. Von dem Gang, der zum Holzplatz führte, zweigten drei fast identische Kammern ab - eine war eine Winzigkeit größer als die beiden anderen, doch waren sie alle gleich spartanisch eingerichtet, wiesen eine Truhe, einen Tisch mit einem Stuhl und einen Strohsack in einem hölzernen Bettkasten auf. Die Fenster waren zum Schutz gegen die Kälte mit einem in einen Holzrahmen gespannten Pergament verschlossen, zusätzlich gab es schwere hölzerne Läden, die von außen zugezogen werden konnten.

Die Küche kannte Murla bereits, eine weiter Tür zweigte vom Gang in die Sakristei ab, einer kleinen Kammer  hinter dem Tempelraum, in dem sich mehrere Truhen, ein Schrank und ein an die Wand gebauter Tisch befanden. 

Die Boroni öffnete die Schränke und Truhen, um ihren Inhalt ihrem Gast zu zeigen. Mehr als die Hälfte von ihnen war leer, in einer Truhe fanden sich dicke, oft geflickte und verwaschene Decken aus dunkler Wolle und zwei leere Strohsäcke. In einem Schank standen zwei Eimer, einige verschlissene Leintücher, ein Schwamm, einige Wischtücher  und ein kleiner Handbesen, in einem der Wandschränkchen schließlich mehrere  irdene Schalen, in denen schon öfter ein Feuer gebrannt hatte, ein kleiner Beutel mit Kohle, ein ebensolcher mit Sand, einige leere Phiolen und Krüge und zwei etwa doppelt handlange Kästchen, welche die Geweihte mit vorsichtigen Händen aus dem Schrank nahm und auf den Tisch stellte.

Sie öffnete das erste. “Hier habe ich Salböl … ” sie hob ein fingerlanges, verkorktes Tonfläschchen, zog mühsam den festsitzenden Korken ab und reichte es der Zwergin. Ein würziger Duft nach Rosmarin, Lilienwurzel, südlichen Gewürzen und verschiedenen Harzen kitzelte Murla in der Nase - insgesamt eine sehr harmonische, beruhigende Mischung, die das letzte Öl, das sich am Boden des Gefäßes gesammelt hatte, verströmte. “Oh!” entfuhr es der Angroschna. “Das riecht sehr gut, aber es ist ja leider fast alle. Woher bekommt Ihr den neues?” “Vielleicht besuche ich eines Tages wieder den Tempel in Punin.” hoffte die Geweihte, ehe sie den restlichen Inhalt des Kästchens auspackte. “etwas Kohle ...” ein weiterer Tiegel “und noch Kräuter zum Räuchern. Ich habe etwas Mohn auf dem Anger gefunden, und Salbei.” Nicht die klassische Mischung, aber alles, das sie in den letzten Jahren hatte bekommen können - auch wenn beides nur noch einen halben Fingerhut voll beziehungsweise einige getrocknete, verschrumpelte Blätter ausmachte.

“Auch da ist sehr bald nichts mehr drin”, meinte Murla. Das klang nicht vorwurfsvoll eher ein wenig mahnend. In dem zweiten Kästchen befand sich ein Kamm, ein kleines, scharfes Messer, und, in ein Stück Tuch gewickelt, zwei Nadeln, eine gerade, eine gebogene, und eine winzige Spule Garn sowie ein Säckchen mit Holzasche.

Marbolieb ließ der anderen Frau Zeit, sich alles anzusehen, ehe sie es mit liebevollen Bewegungen wieder zusammenpackte. “Das Öl, die Kohle und die Kräuter verstehe ich für einen Gottesdienst”, fasste Murla das Gezeigte zusammen. “Aber wofür braucht ihr dieses?” “Für die Leichen und die Grablege - ebenso wie das andere.” erzählte Marbolieb mit sanfter, glücklicher Stimme. “Seht Ihr, darin unterscheiden sich unsere Sitten deutlich von den unseren.” “Wie sieht eine Begräbniszeremonie bei euch aus? Ich habe bislang nur einmal einer Verbrennung auf einem Scheiterhaufen beigewohnt - aber ich glaube, das ist nicht der übliche Weg.”

“Nein, das ist nicht der übliche Weg”, meinte Murla. “Obwohl es ist schon nach der Art der Angroschim, aber wohl nur für einen Notfall. Normalerweise bestatten wir unsere Toten in den tiefen Feuerschächten. So einen habt Ihr vielleicht auch bei uns in Ishna Mur gesehen - oder besser gespürt.” Marbolieb nickte. Die Hitze in der heiligen Halle  hatte sie wohl bemerkt. “Und warum tut ihr dies?” “Um ihn wieder mit Angrosch zu vereinen.” “Weil dieser über das Feuer gebietet?” forschte die Boroni nach. “Nein, nein”, erwiderte Murla. “Aber das ist ein lange Geschichte, die ich Euch in Ruhe erklären kann.” “Nachher in der Küche?” klang es hoffnungsvoll, während die Boroni ihre Habseligkeiten wieder verstaute und das Schränkchen schloss, während sie die Zwergin noch durch einen weiteren leeren Raum mit einem großen Tisch in der Mitte und einer Art Liegen an den Wänden sowie einem steinernen Waschtisch führte, und dann eine weitere unscheinbare Tür in den Tempelraum öffnete.

Murla begleitete die Geweihte weiter auf ihrem Weg durch den Tempel und schaute sich interessiert um. Der Tempelraum selbst war aus dunklem, poliertem Stein gebaut, der Altar ein steinerner Block an der Stirnseite, über dem ein Halbrelief, das seinen aufsteigenden Raben zeigte, aus der Wand gearbeitet war.  In die Halle führten fünf Stufen nach unten, so dass ihr Boden knapp einen Schritt unter der Erdoberfläche lag. Murla spürte die Dunkelheit und die Kälte, die diesen heiligen Ort umgab. Obwohl es ein wenig unter die Erde ging, war es nicht das Gefühl wie in einer Binge, eher erdrückend.

Es war kühl, kaum feucht, und still - nur durch zwei winzige Fensterspalten nahe der Tür fiel etwas Licht in den Raum, was aber durch schwere Läden von außen ebenfalls hätte ausgeschlossen werden können.

Auf dem Altar stand eine einzelne - leere - Schale, in der einige Kohlenspuren von einem Einsatz als Räucherschale kündeten - doch die Luft im Tempel berichtete, dass das letzte Brandopfer schon sehr lange her sein müsste. Neben dem Eingang war eine flache Opferschale in den Fels des Türsturzes getrieben, blank poliert von vielen Händen und leer. Einige penibel gefaltete, merklich alte Decken lagen auf einem Stapel vor dem Altar und mochten auch eine Sitzgelegenheit bieten, auf einem kleinen Sockel rechts neben dem Altar stand eine hölzerne, fast lebensgroße Figur, die eine junge Frau mit sanftem Blick, darstellte, die in einer Hand eine Sanduhr hielt und in ein weites Tuch geschlagen war, das ihr Haupt wie eine Kapuze umschloss und in schönen, sehr lebensecht gestalteten Falten bis zu Boden floss. Marbolieb strich mit ihren Fingerspitzen liebevoll über das glatte, glänzend polierte Holz, tastete sich zu den Decken und ließ sich darauf vor dem Altar auf die Knie nieder, schloss die Augen und genoss die Gelegenheit für einige Atemzüge lang an inniger Andacht. Es war kalt im Tempel - kalt genug, um die Härchen auf den Armen Murlas aufzustellen.

Es schien ein sehr gesundes Dorf zu sein, überlegte Murla, denn alles wirkte so als wenn lange Zeit keiner die Dienste der Geweihten und des Tempels in Anspruch genommen hatte. Leer, fast leer, kalt und trostlos, so erschien Murla alles was sie hier zu sehen bekam. Und mittendrin die blinde Boroni, die das alles nicht sah oder nicht sehen - besser wahrnehmen - wollte.  “Ihr habt nicht viele Besucher in Eurem Tempel?” war die vorsichtige Frage in Marboliebs Richtung. Die schüttelte schweigend den Kopf, ehe sie sich ungelenk erhob und sich in Richtung der Stelle tastete, an der sie die Stimme der Zwergin gehört hatte. Murla streckte ihre Arme der Boroni entgegen. 

Die Geweihte hätte sie dennoch fast verfehlt, erwischte aber mit einer ausgestreckten Hand die Finger der Zwergin und atmete erleichtert auf. “Ich bin noch da, Euer Gnaden!” Marbolieb holte tief Luft, schloss ihre Hände um die kräftigeren der Zwergin und nickte. “Gehen wir zurück?” “Ja, natürlich”, erwiderte Murla. “Ist Euch unwohl?” Die Menschenfrau schüttelte den Kopf. “Aber ein Tee wäre großartig.” Sie hätte sich heute morgen doch nicht so sehr den Bauch vollschlagen sollen. “Dann hakt Euch bei mir ein”, forderte sie die Geweihte auf und nahm Marboliebs Arm in den ihren. Dann stützte sie die Boroni und führte sie zurück in die Küche. Sie drückte sie auf einen der Schemel nieder und begab sich dann zum Herd um noch eine Kanne Wasser zu kochen. “Wo waren die Kräuter für den Tee, Euer Gnaden?” “Diese sind in dem bauchigen Tontopf mit einem Sprung im Deckel und einer Kerbe im  Henkel, neben dem Brottopf auf dem Regal, auf dem die Teller stehen.” 

Viel Auswahl, um ihn nicht zu finden, hatte die Zwergin nicht. In seinem Inneren befanden sich  ein paar Handvoll Minzblätter, denen etwas Melisse und einige Stengel wilder Thymian untergemischt waren.

Murla hob eine Augenbraue. Kein Wunder, dass die Boroni so dürre - ja schon fast klapprig - war. Sie nahm mit einem Löffel ein paar der Kräuter hinaus und warf diese in das kochende Wasser.

‘Da werde ich Murixe wohl einen vollen Rucksack mitgeben müssen!’ überlegte sie noch.

Ein intensiver Duft nach Kräutern und Sommer erfüllte den Raum, als das heiße Wasser die Aromen der Blätter weckte. Marbolieb schnupperte und ein glückliches Lächeln huschte angesichts des Duftes über ihre Lippen. “Ihr wolltet mir noch erzählen, warum die Angroschim ihre Toten so bestatten, wie sie es tun.” setzte sie neugierig hinzu. Murla nahm ihren Becher mit dem heißen Tee und setzte sich auf einen Schemel. “Wir Angroschim sehen uns ja als Kinder Angroschs - wie es auch der Name schon zeigt. Und bei der Geburt eines Angroschim wird ein unsterblicher Lebensfunke aus Angrosch Esse entnommen und ist die Seele des Angroscho und wenn er oder sie dann stirbt, dann ist es unsere Pflicht diesen unsterblichen Lebensfunken Angrosch zurückzugeben.” Sie nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher.

“Und wie können wir diesen Funken dem Weltenschöpfer zurückgeben? Natürlich in dem wir ihn mit Angroschs Urfeuer verschmelzen. Deshalb lassen wir unsere Toten in die Feuerschächte hinab, die bis in Angroschs Halle hinab reichen. Diese finden sich in den meisten großen Tempeln der Angroschim - auch in Ischna Mur, worauf wir als kleine Bergwacht sehr stolz sind. Ist es nicht möglich den Toten in einem Feuerschacht zu bestatten, so wird der Tote dem Feuer übergeben. Wenn möglich wird aber die Asche des Toten mitgenommen und dann später in einem Tempel dem Weltenherrscher zurückgegeben.” Marbolieb nickte. “Aus eurer Sicht kann ich das nachvollziehen. Ist es schon einmal vorgekommen, dass Angrosch einen der Angroschim zurückgeschickt habe, um seine Aufgaben zu vollenden?”

Neugierig lauschte sie, was Murla von diesem Gedanken hielt.

Murla macht ein abwehrendes Handzeichen: “Ein Untoter?! Nein, das wäre nicht Angroschs Werk!” Die Geweihte schüttelte entsetzt den Kopf. “Nein, ich meine, dass er ihm erneut den Lebensfunken eingegeben hat.”

“Davon habe ich noch nie gehört”, musste Murla mit leichter Enttäuschung in der Stimme zugeben. “Das wäre ein Thema für Bruder Grimmgasch …”

“Hm - das erklärt, weshalb ihr eure Toten verbrennen könnt. Wenn ihr gewiss seid, dass Angrosch sie niemals zurückschicken wird, benötigen sie ihren Leib nicht mehr.” beschloss die Geweihte. “Ihr Körper ist nur der Träger des Lebensfunkens, er vergeht, der Lebensfunke aber ist unsterblich. Marbolieb nickte. Unter diesem Gesichtspunkt war das Verbrennen wirklich verständlich. Aus der Glaubenswelt der Zwerge heraus.

“Was ist dann der Lebensfunke eines Angroschos - ein Teil Angroschs?” wollte sie interessiert wissen. “Ja, in gewisser Weise schon”, bestätigte Murla. “Es ist ein Teil seines Urfeuers.” Die Boroni nickte aufmerksam und trank einen großen Schluck des herrlich warmen Tees. “Gibt es etwas, das ihr von mir wissen wollt, Frau Murla?” “Ach, wisst Ihr im Moment bin ich mit dem zufrieden, das ist gesehen habe”, antwortet Murla nach kurzem Überlegen. Dann nahm auch sie einen Schluck von Tee.

“Ich hoffe, ich habe euch nicht verschreckt, edle Dame.”  Marblieb führte die Teetasse an die Lippen, stellte fest, dass sie leer war und stellte sie wieder ab. “Der Calmirer Tempel ist ein sehr einfaches Haus - doch die Borontempel im Puniner Kult sind alle schlicht gehalten.” “Nein, ich lasse mich nicht leicht erschrecken”, Murlas Stimme hatte wieder einen fröhlicheren Unterton bekommen. “Ich habe mir in Albenhus damals auch den Tempel Eures Gottes angesehen. Ja, er war ähnlich schlicht. Allerdings hatten die Priester genügend Räucherwerk und Holz und sahen durchaus wohlgenährter aus als Ihr. Und ich denke, dass könnt Ihr nicht auf den Puniner Kult schieben, oder?”

“Albenhus ist auch eine reiche Stadt.” bemerkte die junge Frau. “Calmir ist ein kleines Dorf, und die wenigsten hier sind wohlhabend.”  “Und trotzdem, Ihr werdet von den Nachbarn geschnitten und seid nicht so wohl gelitten”, bemerkte Murla. “Ich möchte mich aber nicht mit Euch streiten. Wenn Ihr meint, dass das so sein muss, dann sei es so. Es war nur das Fazit unseres gemeinsamen Rundgangs.”

“Ich tue, was ich kann.” schüttelte die Boroni den Kopf. “Doch die Ansichten der Dörfler sind eigen. Und in eigenen Punkten haben sie auch recht.”

Murla zuckte mit den Schultern bevor sie sich gewahr wurde, dass die blinde Frau das nicht sehen konnte. “Das mag sein, aber damit machen sie Euch das Leben noch schwerer als Ihr es als Blinde eh schon habt.”

“Ich bin eine Fremde in ihrem Dorf. Sie sind nicht meine Dienstboten und schulden mir nichts.” wandte Marbolieb ein. Und freiwillig würden die Dörfler ihr vermutlich keinen Handschlag tun. “Zudem haben die meisten selbst sehr wenig.”

“Ich denke schon, dass sie Euch etwas schulden. Ihr seid ihre Priesterin!” “Sie haben mich nicht ausgesucht - und die Traviageweihten grollen mir ob meines Lebenswandels.” Sehr leise fügte sie hinzu: “Und der ist nicht traviagefällig.” “Aber sie fressen sich am Zehnt dick und rund und lassen Euch hier mit Holzresten und leeren Schränken!” schimpfte Murla, als sie sich an die Begegnung von Vorabend erinnerte, wurde sie sofort wieder wütend. “Und das ist auch nicht der Gänsegöttin gefällig!” Die Boroni hob resigniert die Schultern. “Sie sagten, wenn ich von meinem liederlichen Lebenswandel ließe, dürfe ich an Travias Güte teilhaben.” Murlas Grollen wurde immer lauter, sie klang jetzt recht unwirsch. “Bigottes Gesindel!” 

“Sie haben aus ihrer Sicht recht. Sie haben mir einen Ehegatten angeboten, damit Mirla nicht ohne Vater aufwachsen muss - zwei sogar. Und sie haben auch recht damit, dass Mirlas Vater mitzureden hat, ehe ein anderer Mann sie als sein Kind annimmt. Das Problem daran bin ich, nicht sie.” Murla runzelt die Stirn: “Also lasst es mich kurz zusammenfassen: Eure Nachbarn mögen Euch nicht, die Gänsepriester mögen Euch nicht, Ihr seid fremd hier, ja, bei Angrosch Kl… langem Bart, warum seid Ihr noch hier?”

“Weil mich meine Kirche zu diesem Tempel abgeordnet hat. Ich kann ihn nicht gegen ihre Weisungen verlassen.” “Das sagtet Ihr schon als wir in Ishna Mur darüber gesprochen haben”, bestätigte Murla. “Aber nachdem ich aber das hier vor Ort gesehen habe, wundere ich mich doch sehr, dass Ihr es hier überhaupt aushaltet.

Meint Ihr nicht, dass die Dörfler und die Gänsepriester einen Brief an Euren Muttertempel unterschreiben würden, der Euch von dem Dienst hier entbindet? Und das wäre sicherlich erfolgreicher als eine Ansprache von Dwarosch.”

Marbolieb schüttelte den Kopf. “Sie könnten nur die Bitte stellen, dass ich abberufen werde - und mich würde man fragen, warum ich meinen Dienst nicht ausgefüllt habe.” Und wohin sie dann versetzt würde, mochte sie sich nicht ausmalen. Es würde aber sehr sicher weit weg von Dwarosch und ihrer Tochter sein. “Und wenn zur gleichen Zeit der Wunsch nach einem Priester des Totengottes aus Senalosch käme?”, meinte Murla. “Das wäre doch ein Wink des Schicksals!” “Dann wird die Kirche vermutlich prüfen, ob ein Spender willens ist, einen Tempel zu erbauen und zu finanzieren - das kostet ungeheuer viel Gold, und eine Bitte, einen Tempel einzurichten, wird lange erwogen.” Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. “Die Entscheidungsdauer ist der der Zwerge ebenbürtig.” Beide schenkten sich da wenig bis nichts - was sie manchmal überraschend ähnlich machte, trotz aller Unterschiede. “Ich sehe, dass meine Pläne anscheinend nicht realisierbar sind.” Murla klang enttäuscht. Eigentlich war doch also so einfach, aber die Boroni war zu lange mit Dwarosch zusammen und begann schon zu stur und uneinsichtig zu werden wie der alte Oberst. “Ich bin sehr dankbar, dass Dwarosch so großzügig war, sich um Mirla zu kümmern.” bekannte die Geweihte. Dann wurde ihr der energische Ton der Zwergin bewusst. “Was hättet ihr denn getan, edle Dame?”

“Ich bin keine Priesterin”, entgegnete Murla nun etwas weniger echauffiert. “In meiner Jugend hat man mir Respekt vor den Geweihten des Angrosch beigebracht und das man ihnen ihre Wünsche erfüllen sollte, denn wenn es ihnen gut, dann geht es auch dem Weltenschöpfer gut. Daher hätte ich mir - wäre ich hier eine Priesterin - den Respekt der Dorfbewohner geholt. Nun merke ich aber, dass Ihr dieses Thema anders seht und daher lässt sich meine Vorstellung nicht mit Eurer Realität in Deckung bringen.” “Was hättet ihr getan, Frau Murla? Mit den Geweihten der Gütigen gestritten?” Diese hatten ihr schnell klargemacht, dass das Dorf bislang gut ohne sie ausgekommen war - und es dies auch weiterhin würde. Vermutlich wäre die Zwergin aber sehr viel resoluter und auch erfolgreicher an die Sachen herangegangen - irgendwie. “Wie es aussieht ist dieser Tempel der deutlich ältere und größere hier in Calmir”, meinte Murla nachdenklich. “Diese Eigenschaft und dass auch die Gänsepriester eines Tages vor Eurem Totengott stehen, hätte ich als Diskussionspunkt vorgebracht. Vielleicht auch mit etwas Nachdruck.”

Dann besann sie sich und fragte nach: “Wie und warum hat es Euch eigentlich nach Calmir verschlagen?” Marbolieb senkte beschämt den Kopf und murmelte mit leiser Stimme. “Ihr habt Recht, Wohlgeboren. Doch die Geweihten der Travia führten ein Vierteljahrhundert den einzigen Tempel in Calmir.”  Was das reine Alter des Bauwerks etwas ins Hintertreffen brachte. Sie verstummte, und es dauerte einige Zeit, bis sie den zweiten Teil der Frage beantwortete.

“Ich wurde von meiner Kirche hierher geschickt, um den verwaisten Tempel zu versorgen.” Sie grub ihre Zähne in die Unterlippe, ehe sie hinzusetzte. “Ich vermute, dass der Baron mich angefordert hat. Warum ausgerechnet mich, weiß ich aber nicht. Meine erste Diensthandlung war, ihn auf dem Feldzug zu begleiten.” “Und er hat wirklich Euch angefordert oder einen Priester des Totengottes?” “Mich.” “Liegt Punin nicht weit weg von Rabenstein, wie kommt der Baron denn gerade auf Euch?” Marbolieb hob die Schultern “Er ist jeden Götterlauf einige Wochen in Punin - aber warum er mich ausgesucht hat, weiß ich nicht.” “Aber Ihr wart nicht die einzige Geweihte, die zu diesem Zeitpunkt in Punin zur Verfügung stand, oder?” Die kleine Boroni schüttelte stumm den Kopf. “Ich kann mir keinen Reim darauf machen.” “Stammt Ihr aus Punin oder seid Ihr hier geboren?”

“Ich komme vermutlich aus Punin.” gab die Menschenfrau zur Antwort. Erstaunt zog die Angroschna eine Augenbraue hoch. “Wie meint Ihr das ‘vermutlich’?” “Ich bin ein Findelkind und im Tempel aufgewachsen.” “Ihr wurdet in Punin gefunden und meint den Tempel dort? Und niemand hat Nachforschung zu Eurer Herkunft angestellt?” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Es gibt viele Waisen und Findelkinder, die im Borontempel in Punin aufwachsen. Die meisten werden auf die Tempeltreppen gelegt oder im Tempel abgegeben. Ich weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin - ich war noch sehr klein.” Sie atmete einige Male ruhig durch, ehe sie hinzufügte. “Ich bin bis zu meinem siebten Götterlauf bei Pflegeeltern aufgewachsen, zusammen mit elf anderen Tempelwaisen. Wir traten dann ins Noviziat ein, bis auf zwei.”

Das war etwas,  was sich eine Angroschna kaum vorstellen konnte. “Bei uns werden die Kinder von den Eltern umsorgt - vielleicht liegt es daran, dass es weniger Kinder bei uns gibt als bei Euch - die Vorstellung ein Kind wegzugeben, ist etwas was mich erschreckt. Und dann so viele.” “Es gibt sehr viele überzählige Menschenkinder, Euer Wohlgeboren. Ihr findet sie in jeder Stadt.” Die Boroni legte in einer ruhigen und sehr einstudierten Geste ihre Hände locker übereinander. Und verhungert, erfroren oder erschlagen in den Leichenkellern der Tempel. Ein Straßenkind mehr oder weniger scherte in einer Stadt niemanden. “Aber das Leben ist kostbar - auch für Euch als Priesterin des Totengottes, oder etwa nicht? Wieso macht man so etwas?”

“Wenn die Eltern sterben, findet sich oft niemand, der sich um die Kinder kümmert - vor allem in einer Stadt, vor allem unter den Armen, den Bettlern und Tagelöhnern. Die haben selten Verwandtschaft. Manche Kinder laufen harten Lehrherrn davon - oder werden von ihren Eltern ausgesetzt, sei es, dass sie frech sind - oder einfach das Geld nicht reicht, alle Mäuler zu füttern.” Was auch hier im Dorf bei einigen der Ärmsten, den Kätnern und Hirten, so war.

Murla konnte darüber nur den Kopf schütteln. “Viele Tempel nehmen diese Waisen auf - vor allem jene der Travia und der Tsa. Und in Punin das Haus des Raben.” “Nun, das ist auch sicherlich ein gutes Werk, dass die Diener Eurer Götter dort verrichten. Aber wäre es nicht besser die Ursache zu bekämpfen statt der Auswirkung?”

“Aber wie sollten sie das tun? Den Menschen verbieten, Rahjas Gaben zu genießen?” Nun war die Verwunderung an der Geweihten. “Nein!” wieder musste Murla den Kopf schütteln. “So soll es nicht sein. Die Liebe ist etwas wundervolles, das möchte ich niemandem verwehren. Aber es sollte auch die Möglichkeit da sein, dass man seine Kinder - die ja die Frucht der Liebe sind - erziehen zu können.” “Aber die Leute hören doch nicht auf, Kinder zu bekommen, nur weil sie arm sind! Vor allem dann sterben viele und sie bekommen noch mehr, damit ein paar überleben. Und wie sollte ein Paar mit dem Kinder bekommen aufhören .. “ Die Boroni verstummte abrupt, überlegte und fuhr dann mit heißen Ohren fort. “... solange sie zusammen sind?”

“Vielleicht habe ich zu viele Kinder nicht auf die Welt gebracht”, überlegte Murla.  “Ihr habt sie sterben lassen?” Damit besaß die Zwergin die volle Aufmerksamkeit der Borongeweihten. “Nein, sie haben nicht das Licht der Welt erblickt.” “Warum nicht?” Nun war die Verwirrung in Marboliebs Stimme nicht mehr zu überhören, insbesondere, da sie sich darüber hinaus deutlich auf ihrem Gesicht zeigte. “Weil die werdenden Mütter keine Mütter werden wollten”, war die ziemlich orakelhafte Antwort Murlas. Das gab der Boroni einiges zu überlegen. “Aber - das ist nicht tsagefällig.” bemerkte sie nach einiger Weile mit kleinlauter Stimme. “Auch ein ungeborenes Kind hat doch eine Seele.” “Den Müttern war Eure junge Göttin zu diesem Zeitpunkt egal”, meinte Murla ruhig und nachdenklich. “Sie wollten nur kein Kind, keine Schande über sich und die Familie bringen und, und, und. Und manche Kräuter können in der einen Dosis heilen und in der anderen töten.” “Auch ein ungeborenes Kind steht unter Tsas Schutz.” Die Stimme der Boroni war nachdenklich geworden. “Es zu töten ist ein Frevel wider die Ewigjunge. Und es hinterlässt einen Makel auf der Seele derjenigen, die das tut.” Sie schüttelte verständnislos den Kopf. “Mindestens einen Makel. Oft mehr.” Abermals schüttelte sie sich. “Wer tut so etwas und verschenkt dafür sein Seelenheil?” “Jemand, dem sein zukünftiges Seelenheil nach dem Tod nicht so wichtig ist wie das heile Leben vor dem Tod.” Ungläubig schüttelte sich die Geweihte. “Aber so jemand würde den Segen der Götter verlieren.” Und zwar schon zu Lebzeiten. Und jeder dämonischen Heimsuchung weit Tür und Tor öffnen.  Immer deutlicher klang Entsetzen aus Marboliebs Stimme, ehe sie überlegend die Zähne in die Unterlippe grub. “Vielleicht sieht Angrosch das Leben ja auch anders als unsere Götter. Ab wann hat ein Kind in eurem Glauben eine Seele?” “Oh nein!” meinte Murla jetzt vehement. “Es waren keine Angroschax, es waren ausschließlich Menschenfrauen. Wir Angroschax sind über jedes Kind froh.” “Ihr habt Menschenkinder getötet?” Die fassungslose Stimme der Geweihten wurde zu einem rauen Flüstern und sie wich unbewusst, aber deutlich vor der Zwergin zurück, blankes Grauen auf ihren Zügen.

“Nein, jedenfalls nicht direkt”, antwortete die Zwergin. “Ich habe den Frauen ein Kraut gegeben und erklärt, dass es bei geringer Dosis die Übelkeit der Schwangerschaft beseitigt und vor zu hoher Dosis gewarnt, da dieses die Schwangerschaft beseitigt. Was die Frauen mit dem Kraut gemacht haben, war ihre Entscheidung. Die meisten sind aber nicht zur Entbindung gekommen.”

“Aber wie konntet ihr so etwas tun! Hättet ihr sie zum nächsten Tempel geschickt - dort hätten sie dann doch ihr Kind abgeben können.” Ihre Mimik machte deutlich, dass sie noch immer nicht wirklich glauben wollte, was sie soeben gehört hatte. Auch wenn sich die wenigsten Leute die Mühe zu machen schienen, ein ungewolltes Kind den Göttern zu geben, besah man die Bettelkinder, die in jeder Stadt zu finden waren. “Die Frauen wollten aber nicht die letzten sieben oder acht Götterläufe warten.” “Es ist aber nicht die Frage, was sie wollen - sondern was vor den Göttern Recht ist. Ihr Kind will auch nicht vor seiner Zeit in die zwölfgöttlichen Paradiese eingehen und sie tragen die Verantwortung dafür.” “Anscheinend gibt es da sehr große Differenz im Glauben der Menschen und der Angroschim. Aber egal wie Ihr diese Frage seht, die Frauen die zu mir kamen, wollen die Leibesfrucht nicht austragen.”

Die Geweihte schüttelte den Kopf. “Dann hätten sie sich nicht zu einem Mann legen dürfen, wenn sie die Folgen ihrer Taten nicht wünschen.” “Nicht alle Frauen haben sich freiwillig zu einem Mann gelegt …” Diese Worte  ließ Murla einfach im Raum stehen. Noch immer entsetzt rieb sich Marbolieb über die Oberarme. “Aber so viele?” Sie schmeckte der Bitternis nach, die auf einmal auf ihrer Zunge lag. “Aber auch sie hätten ihr Kind dem Traviatempel geben können.” “Es waren nicht soviele wie Ihr denkt, Ihr  müsst bedenken, dass ich über 50 Jahre Hebamme in Albenhus war”, fügt die Angroschna zu. “Dennoch ist es ein Frevel an den Göttern. Niemand würde die Frauen zwingen, ihre Kinder selbst aufzuziehen.” Die Boroni flocht ihre Finger ineinander. “Wie viele waren es?” fragte sie kleinlaut. “In all den Jahre ein Dutzend vielleicht.” Erschüttert schüttelte Marbolieb den Kopf.  “Wie konntet ihr nur!” “Sie haben mich um meine Hilfe gebeten.” “Ihr habt ihnen einen Makel auf ihrer Seele gegeben.” “Nein!” vehement stritt Murla das ab. “Ich habe ihnen eine Wahl gegeben. Sie konnten sich für oder dagegen entscheiden.” “Ihr habt ihnen den Weg gewiesen.” Widersprach die Boroni. “Und ihnen damit mehr Unheil beschert, als ein Kind für sie bedeutet hätte.” “Das mag Eure Sicht sein”, Murla schüttelte den Kopf. “Die Frauen waren glücklich, dass sie keinen Kegel oder Bankert großziehen mussten.” “Dafür tragen sie fortan einen Makel auf ihrer Seele, der sie von den Göttern trennt - und sie zu einem leichten Opfer für die Widersacher der Zwölfe macht. Sie haben nicht nur die Seele ihres Kindes geopfert, sondern können ihre eigene verlieren. Haltet ihr dies für einen rechten Preis?” “Haltet Ihr eine Vergewaltigung für göttergefällig? Dann sind Eure Götter aber keineswegs gerecht.” “Zum einen ist es nicht die Frage, was ich davon halte. Zum anderen, Frau Murla.” Die Boroni holte tief Luft “Ist es keinesfalls recht, eine Frau nach einer solchen Gewalttat auch noch den Dämonen zum Fraß vorzuwerfen.” “Ja, Ihr mögt das aus Euren Tempeln heraus leicht sagen können”, antwortete Murla. “Den Frauen war es wichtiger als ihr Leben nach dem Leben.” “Wir haben nur ein Leben, edle Dame. Ich rede von diesem.”  Marbolieb rieb über ihre eiskalten Hände. “Seid ihr bereits einmal einem Dämon gegenübergestanden?” Mit einem Mal war ihr am ganzen Körper eiskalt, und die Narbe auf ihrem Oberkörper und ihrer Schulter begann zu pochen. “Nein, zum Glück nicht.” “Dann wisst ihr nicht, zu was ihr die armen Frauen verdammt.”

“Wie ich sagte, sie hatten ihr Schicksal selber in der Hand.” “Doch ihr habt ihnen die Mittel gegeben - und sie einem Schicksal entgegengeschickt, das schlimmer ist als jedes ungewollte Kind.” Die Boroni schluckte, fassungslos ob dieser Leichtfertigkeit. “Und es tut euch nicht einmal leid.”

“Nein, es tut mir nicht leid, ich habe den Frauen geholfen.” Marbolieb legte den Kopf schräg und grübelte.

“Ich glaube euch, dass ihr dies so seht.” Doch gut gemeint war selten gut getan.  “Dennoch - sie dauern mich und ich werde für sie beten. Und für euch.” Abermals konzentrierte sie sich auf ihren Atem, und die Ruhe, die sie umgab. “Doch wenn das nächste Mal eine Frau mit einem solchen Anliegen zu euch kommt, solltet ihr einen Geweihten hinzuziehen. Jede schlimme Tat gebiert Unheil aus sich heraus - ihr solltet die Frauen davor bewahren, in ein Schicksal zu geraten, das mehr Grauen verursacht, als das, was sie zu euch getrieben hat.”

Dass hier ein Seelenheiler, wie in vielen Tempeln zu finden, Hilfe schaffen würde, wusste auch die Zwergin, dessen war sich Marbolieb sicher. Und leichter zu finden als ein Exorzist. “Ihr mögt ja recht haben”, antwortete Murla. “Aber die Frauen haben bei den Dienern Eurer Götter kein Gehör gefunden, deshalb waren sie verzweifelt und sahen in mir ihre letzte Hilfe.” “Wenn sie dort überhaupt nachgefragt haben.” zweifelte die Boroni. Doch leider gab es immer ein paar Leichtfertige, die den vermeintlich einfachen Weg suchten. Und würde es immer geben. “Oh, die meisten der Frauen hatten sich erst an die Tempel gewandt”, erwiderte Murla. ”Sie wurden dort aber abgewiesen und kamen zu mir.” “Traurig.”  Die bedrückte Stimme der Menschenfrau nahm den Worten jegliche denkbare Spitze. Sie tastete nach der Kanne auf dem Tisch. “Mögt ihr noch einen Tee?” Froh, das Marbolieb dieses Thema jetzt scheinbar ausreichend diskutiert hatte, nickte die Angroschna. Dann sagte sie: “Bleibt sitzen, Euer Gnaden, ich mache schnell den Tee.”

“Ist er schon leer?” Erstaunt sah die Boroni auf. “Macht euch keine Mühe, Euer Wohlgeboren. Ihr seid mein Gast.” Sie trat an das Feuer und streckte die Hände aus, um zu prüfen, ob die Flammen tatsächlich noch brannten.

Welch eine Schwelgerei, den ganzen Tag Feuer im Herd zu haben! Noch dazu besaß sie so stets warmes Wasser für einen leckeren Tee - auch wenn es immer ein Abenteuer ganz eigener Art war, den Wasserkessel vom Feuer zu angeln.

Murla schaut der blinden Frau beim Teekochen zu. Es war für die Boroni immer eine große Herausforderung und die Fingerspitzen zeigten auch die Misserfolge, aber sie wollte sich ja nicht helfen lassen. Und dass sie stur war, das hatte sie schon zur Genüge gemerkt. Einige Zeit (und nur wenige verschüttete Spritzer) später brachte die Boroni die volle Teekanne an den Tisch. 

Die Mittagsstunde war schon lange verstrichen, doch schien die Frau nicht daran zu denken, ein Mittagsmahl anzusprechen. “Er sollte noch einige Augenblicke ziehen.” gab sie zu bedenken, nicht unglücklich darüber, diesem düsteren Thema für’s Erste entronnen zu sein.

“Wir haben noch etwas von dem Apfel- und dem Nusskuchen”, stellte Murla fest. “Möchtet Ihr auch ein Stück zu Eurem Tee?” ‘Und jetzt sag’ nicht, dass dir der Brei besser schmeckt’, ergänzte Murla aber ohne es auszusprechen. “Aber ich habe doch heute morgen erst reichlich gegessen.” kam die verwunderte Antwort. Auf dem Gesicht der jungen Frau stand aber überdeutlich zu lesen, was die Aussicht auf Apfel- und Nusskuchen in ihr auslöste. 

“Nun, ich will Euch nichts aufzwingen, aber gestattet mir, dass ich mir etwas nehme, unser Spaziergang und das Gespräch hat mich hungrig gemacht.”  Murla schnitt ein Stück vom Apfelkuchen ab, den Nusskuchen wollte sie der Geweihten lassen, denn dass diese eine Vorliebe für Nüsse und Honig hatte, hatte Murla ja schon in Ishna Mur gemerkt. “Aber er ist doch der Eure.” Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Andererseits hatte sie nichts, um ihren Gast zu verköstigen, und für den Abend wartete noch die doppelte Portion Wassergrütze auf sie. Sie seufzte, als Naschsucht mit Bedachtsamkeit rang, und nahm sicherheitshalber einen besonders großen und viel zu heißen Schluck Tee.

“Es war mein Gastgeschenk, daher ist es jetzt Euer Kuchen.” “Bedient euch bitte.” Marbolieb lächelte. Dass Murla keine Grütze mochte, hatte sie heute morgen sehr deutlich gezeigt. Doch zumindest war der Kuchen nach ihrem Geschmack, so dass ihr Gast nicht hungrig bleiben musste. Auch wenn es mehr als beschämend war, dass diese ihr Essen selbst hatte mitbringen müssen. Heute würde aber ganz sicher keine der beiden Frauen Hunger leiden.

Murla aß und trank im Wechsel von dem Kuchenstück und der Teetasse. Der Kuchen war jetzt zwar fast alle, aber zum Glück würden Brot und Schinken beide noch ein paar Tage über Wasser halten. Sie musste Marbolieb nur davon überzeugen weniger von dieser Wassergrütze zu kochen. Währenddessen vernichtete die Boroni den Rest der überaus großzügig bemessenen Grützeportion. Morgen würde sie weniger benötigen.

Abendstund

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“Es wird Zeit für die Abendandacht.” berichtete die Boroni wenig später. Die Geräusche am Brunnen, ein sicheres Kennzeichen, dass die Dörfler für den Abend ein letztes Mal Wasser für Mensch und Vieh holten, brandeten auf und verklangen allmählich, was bedeutete, dass die Dämmerung hereinbrach.

“Wünscht Ihr dass ich Euch begleite?” wollte Murla wissen, wenn nicht würde sie sich dem Abwasch und dem Aufräumen widmen. “Ihr seid herzlich willkommen. Ihr müsst aber nicht.” erklärte die Boroni mit ruhiger Stimme und erhob sich etwas unbeholfen. Den ganzen Tag die Hände in den Schoß zu legen war eine ungewohnte - aber nicht unschöne - Abwechslung. Um so nötiger hatte sie es, ihre Gedanken beim Abendgebet zu sortieren. Viel, fast zu viel, hatte sie heute gesprochen, und sie begann, die Stille zu vermissen. 

“Dann lasst mich hier ein wenig aufräumen solange ich noch etwas sehen kann”, antwortete Murla nach kurzer Überlegung. “Ich würde auch meine Sachen in eins der Gästezimmer bringen. Wir Angroschim brauchen nachts nicht soviel Wärme.” Marbolieb schüttelte entschieden den Kopf. “Bitte bleibt hier.” Die Küche war mit Abstand der behaglichste Ort. “Ihr müsst nicht für mich aufräumen, Euer Wohlgeboren. Das werde ich später machen. Ihr seid mein Gast.” Ob das mit den Angroschim und der Wärme beim Schlafen stimmte? Marbolieb hielt es für eine liebenswürdige Behauptung ihres Gastes, durch nichts belegt. Jedes lebende Wesen mochte Wärme. Sie dachte an Dwarosch und die Hitze, die sein bulliger Leib nachts ausstrahlte, auch wenn sie sich nur an ihn schmiegte, und ihre Wangen röteten sich. Selbst im Schlaf war er noch warm wie ein Schmiedeofen, auch wenn er sich oft genug im Scherz beschwert hatte, dass ihre Hände und Füße wie Eiszapfen seien. Mit einem auf einmal brennendem Gesicht wandte sie sich dem Tempelraum zu, mit deutlich mehr Hast, als sie sonst an den Tag gelegt hatte. Murla bemerkte trotz der hereinbrechenden Dämmerung die leichte Röte und den seligen Ausdruck auf Marboliebs  Gesicht. Grinsend schaute sie der jungen Frau hinterher. Dann begann sie ein wenig Ordnung in der Küche zu schaffen und die benutzten Geschirrteile abzuwaschen. Als sie damit fertig war, setzte sie sich auf einen der Hocker und wartete darauf, dass die Geweihte aus dem Tempel zurückkehrte.

Als die Boroni auf leisen Sohlen wieder in die Küche trat, war die kurze Dämmerung des Winterabends der Dunkelheit der Nacht gewichen. Ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen und ihre gesamte Gestik strahlte Gefasstheit, innere Ruhe aus. “Seid ihr noch wach, euer Wohlgeboren?” flüsterte sie. “Ja”, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit. “Ich wollte auf Euch warten. Waren viele Gläubige anwesend?” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Es kommt nie einer.” stellte sie ruhig fest. 

‘Warum habe ich mir das fast gedacht?’ Murla schüttelte den Kopf. “Dann werde ich beim nächsten Mal mit Euch kommen, damit Ihr nicht alleine seid.” “Ich bin nicht alleine. Mein Herr ist bei mir.” lächelte die Geweihte glücklich. “Wenn Ihr meine Begleitung nicht wünscht …”, Murla zuckte mit den Schultern. “Ich freue mich, wenn ihr mit mir kommt.” wiederholte Marbolieb ihre Einladung vom Abend. Warum wollte die Zwergin denn immer glauben, dass sie nicht willkommen war? “Dann komme ich gerne mit”, meinte Murla versöhnlich. Dann fügte sie gähnend hinzu: “Ich glaube mir steckt noch die Reise in den Knochen, ich glaube ich würde jetzt gerne schlafen.” “Möge Boron euch eine gute Nacht schenken.” wünschte die Geweihte höflich, ehe sie sich auf leisen Sohlen, um ihren Gast nicht zu stören, in ihre Kammer zurückzog. “Habt Dank für den Wunsch, Euer Gnaden. Möge Euer Gott dasselbe für Euch tun!” verabschiedete Murla die Geweihte und legte sich wie auch die letzte Nacht auf den Strohsack in der Küche nieder und war schon nach wenigen Wimpernschlägen eingeschlafen. 

Der neue Tag

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Der nächste Morgen dämmerte grau und schneeschwanger dem Tag entgegen. Kaum Geräusche klangen von draußen, und die Luft war feucht und kalt und kündete von der längst erfolgten Ankunft des Winters, so hoch in den Bergen. Ein leichtes Klappern zupfte an der Aufmerksamkeit Murlas, ein Schwappen und ein unterdrücktes Luftholen. Als sie die Augen aufschlug, sah sie, wie die Geweihte, ein Joch über den Schultern, an dem an jedem Ende ein voller Wassereimer stand, ihre Last vorsichtig in der Küche absetzte, darauf bedacht, nicht zu laut zu klappern, was nur bedingt von Erfolg gekrönt war. Ihre Robe war von den Knien an abwärts durchnässt und klebte ihr an den Beinen, aber sie hatte es dennoch - irgendwie - geschafft, dieses Mal weit mehr als drei Viertel des Wassers in den Eimern zu lassen. Erleichtert und erschöpft holte sie tief Luft. Mit einem Gähnen schlug Murla die Augen auf und sah die begossene Boroni in der Küche stehen. “Oh, Ihr seid schon wach”, war die doch eher überflüssige Feststellung.

Dann sprang sie ausgeruht von dem Strohsack auf und ging auf Marbolieb zu.  “So bleibt stehen, ich nehme Euch jetzt die Eimer ab!” Vorsichtig nicht das Joch aus dem Gleichgewicht bringend versuchte Murla die Eimer auszuhaken. Marbolieb stellte mit einem erleichterten Ächzen die Eimer, die mit Inhalt vermutlich zwei Drittel ihres eigenen Körpergewichts wogen, auf den Boden, was wieder zu einem Überschwappen führte.

“Danke!” “Da nicht für!” meinte Murla. “Hättet Ihr doch was gesagt, ich hätte Euch doch geholfen.” ‘Auch wenn du das nie willst!’ “Hattet Ihr eine gute Nacht? Ich jedenfalls habe geschlafen wie ein Stein.”

“Das freut mich sehr.” Die Menschenfrau lächelte aufrichtig. “Ich ebenso. Soll ich uns Frühstück kochen?” ‘Bei Angrosch, nein!’ durchfuhr es Murla, etwas höflicher sagte sie aber: “Ist doch nicht nötig, Ihr habt noch Euren Kuchen, den Ihr gestern nicht gegessen habt. Und außerdem haben wir ja noch Brot und Schinken.”

“Kuchen zum Frühstück?” Marbolieb kicherte, ließ einmal der jungen Frau die Zügel, die sie war. “Das gab es nicht einmal in Senalosch.” Vorfreudig rieb sie sich die Hände, ehe sie, durch ein dringenderes Anliegen abgelenkt, sich niederbeugte und den Saum ihrer Robe auswrang, der ihr triefnass und eiskalt wie eine zweite Haut an den Beinen klebte. Mit gerunzelter Stirn tastete sie nach der beachtlichen Lache am Boden, ehe sie mit einem leeren Eimer und einem Lappen zurückkam, um das Wasser aufzunehmen.

“Ich könnte uns aber einen Tee kochen.” Bemerkte sie vom Boden aus in Richtung der Bergvögtin. “Ein Tee klingt gut. Soll ich Feuer machen?” “Oh, gerne. Vielen Dank!” Energisch wischte die junge Geweihte weiter, darauf bedacht, jeden Spritzer zu erwischen - und nach Möglichkeit nicht mit den Knien in die nächste Lache zu geraten. Das ganze Vorgehen sprach von viel Übung, erklärte aber auch, weshalb der Boden in der Küche wirklich sauber wirkte. “Aber wenn ihr warten wollt, kann ich das  auch tun.” “Nein, nein, ich mache es schon”, meinte Murla und blickt auf das Anmachholz. “Ich glaube, ich muss erstmal ein wenig Holz klein machen. Ich bin gleich wieder da ...”

Murla ging schnell in den Hof, vorher die Axt von Haken nehmend, dann begann sie eins der Holzstücke vorsichtig in lange, schmale Streifen zu spalten. Nachdem sie damit einige Späne erzeugt hatte, machte sie sich auf den Weg zurück in die Küche und legte die Späne zu dem Reisig in den Korb. Dann nahm sie Feuerstein und Stahl aus der Gürteltasche, schlug ein paar Mal bis die Späne anfingen zu glimmen und blies dann sanft bis die erste Flamme züngelte. Vorsichtig schob sie den brennenden Span unter die aufgestapelten Holzstücke. Wenig später war das Knistern der trockenen Äste zu hören, dann breitete sich auch schon die Wärme im Raum aus. Und wieder ein wenig später blubberte das Wasser im Kessel.

“Gleich ist der Tee fertig!” freute sich Murla. “Herrlich!” Marbolieb wischte nach den letzten Spritzern auf dem Boden, erhob sich und trug den Wassereimer nach draußen, um ihn auszuleeren. Sie kam zurück, wusch sich die Hände und schnupperte neugierig. “Kuchen.” murmelte sie glücklich.

Murla schnitt ein großes Stück vom Nusskuchen ab und legte das von Honig tropfende Stück auf Marboliebs Teller. “Bitte schön! Hätte ich geahnt, dass er Euch sooo gut  mundet, dann hätte ich noch mehr gebacken.”

Dann dachte sie kurz nach: “Habt Ihr eine Backform? Dann könnte ich die Zutaten hier in Calmir einkaufen und ihn hier backen!” Die Geweihte schüttelte, mit seligem Lächeln und vollem Mund kauend, den Kopf. Ihr Herd war eine offene Feuerstelle, in die man eine Backform zwar zwischen die glühenden Kohlen hätte schieben können - aber auf ein großes Essen war die Küche sichtlich nicht ausgerichtet.

Der Einkauf

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Murla belegte sich eine Scheibe von dem Brot mit einem Scheibchen von dem Schinken und setzte sich der Geweihten gegenüber, erfreute sich an der Freude der Boroni über den Kuchen und dachte darüber nach, was nötig wäre um einen Kuchen zu backen. Mit vollen Backen fragte sie Marbolieb: “Gibt es einen Krämer hier in Calmir?” “Zwei.” antwortete die Menschenfrau, nachdem sie den Bissen langsam und voller Genuss geschluckt hatte. “Aber sagt ihnen nicht, dass ihr bei mir wohnt.” Murla musste nach diesem Zusatz lachen. “Ihr meint, dann bekomme ich nichts? Oder habt Ihr Angst, dass Ihr nichts mehr bekommt? Wollen wir mal hoffen, dass der Gänsepriester nicht sehr geschwätzig ist, denn den habe ich nach dem Weg zu Euch gefragt.” “Ich glaube nicht, dass sie mit meinen Gästen Geschäfte machen würden.” meinte die Boroni etwas kryptisch, ehe sie sich mit einem seligen Lächeln dem nächsten Bissen Kuchen widmete. “Dann werde ich nach dem Frühstück einmal die Krämer aufsuchen”, antwortete Murla und biss in ihr Schinkenbrot. “Sagt mir bitte wo ich die Krämer finde, sonst müsste ich noch einmal zu dem Gänsepriester.”

“Sie haben ihre Läden am Marktplatz - direkt nebeneinander.  Ihr könnt sie nicht verfehlen. Fatzmanns haben eine Schere über der Tür, die Wagner einen Hafen.” Marbolieb überlegte einen Moment. “Seid vorsichtig.” Murla kaute noch weiter an ihrem Brot und trank den Tee aus. Dann leerte sie ihren Rucksack. “Oh, ich habe hier noch einen Beutel Tabak, den ich Euch von Borix geben soll. Und noch eine Flasche mit einem guten Brannt.” Sie stellte beides auf den Tisch, dann nahm sie ihren Wanderstab auf und sagte zu Marbolieb: “Ich mache mich jetzt auf und schaue mal, ob ich etwas Gutes für uns ergattern kann.”

“Benötigt ihr noch Barschaft, Euer Wohlgeboren?” Ungläubig tastete die Geweihte nach Beutel und Flasche. “Das ist doch viel zu viel, Frau Murla!” protestierte sie, als sie den großen Beutel Tabak in die Hand nahm und ihn vorsichtig wieder zur Seite legte.

“Ich habe noch einiges hier - vielleicht könntet ihr mir ein Brot mitbringen?” Ganz unterdrücken ließ sich die Sehnsucht in ihrer Stimme nicht. Es war schon über einen Mond her, dass sie das letzte Mal von einem Laib gekostet hatte. “Brot, nein, das brauchen wir heute nicht”, antworte Murla mit einem Lächeln in der Stimme. “Sonst werden die beiden, die auf Eurem Tisch liegen noch älter!” Dann zog sie den Mantel enger um sich und die Kapuze über die grauen Haare. “Bis gleich, Euer Gnaden!”

Dann stapfte sie aus dem Tempel und machte sich mit einem kleinen Umweg in Richtung des Dorfes auf. Schließlich wollte die Geweihte nicht, dass man sie auf den ersten Blick mit ihr in Verbindung brachte. So kam sie dann aus einer anderen Richtung wieder auf einen der Wege nach Calmir hinein. Dieses Mal war es hell und so konnte sie sich das Dorf etwas genauer ansehen. Da Calmir nicht sehr groß war, stand sie nach kurzer Zeit auf dem Marktplatz und wandte sich erst dem Krämerladen mit der Schere zu. Ein kalter Wind strich von den Bergen herab, aber ausnahmsweise war es einmal trocken. Fast zumindest - denn der Wind trug genügend Feuchtigkeit mit sich, um jederzeit mit Schnee zu drohen.

Die Tür des Krämerladens war denn auch geschlossen, öffnete sich aber auf leichten Druck der Zwergin und ließ das Bimmeln eines kleinen, darüber angebrachten Glöckchens hören.

Die Rückwand des Landens bestand bis zur Decke aus einem Regal mit Dutzenden kleiner Schubladen, auf denen der Inhalt - Schnüre, Haken, Nägel und allerlei Kleinigkeiten mehr - angezeichnet war. Die Seitenwände wurden von großen Regalen mit hunderten verschiedenster Tiegel, Töpfe und Kästchen bedeckt. Auf einem Tisch am Rand lagen Stofffetzen und Pergamente sowie leere Tonbecher, die wohl zum Verpacken dienten. Einige Holzlaternen standen auf einem Brett darunter. Von der Decke baumelten Kochlöffel aus Holz, Pfannenwender, Schöpfer, hölzerne Becher, Krüge und Pfannenkratzer, Bündel verschiedenster Kräuter und lange Lederschnüre. Auf Dem Tresen lag ein ordentlicher Stapel Seifenstücke, während aus einem Kästchen geschnitzte Wäscheklammern hervorlugten. Ein älterer Mann mit noch dunklem Haar, einer imposanten Hakennase und einem dicken Muttermal unter dem rechten Auge kam auf das Gebimmel aus einem Hinterraum und beugte sich neugierig über den Tresen. “Was wünscht ihr denn, kleine Frau?”

“Angrosch zum Gruße, großer Mann!” begrüßte die Angroschna den Krämer. “Ich brauche so einiges und hoffe, dass Ihr mir meine Wünsche erfüllen könnt.” “Da bin ich mir fast sicher.” lachte der Krämer. “Schaut euch um - und sagt mir, was eure Wünsche sind.” Also begann Murla mit ihrer Liste: Als erstes die Backformen, dann die Zutaten für den Nusskuchen (in ausreichender Menge versteht sich), zusätzlich etwas Wurst und Käse, ein paar Kerzen und eine große Kiste Zunder, Kräuter für Tee und einen kleinen Beutel Holzkohle.

“So, ich glaube, dass das alles ist”, fasste Murla am Ende ihre Bestellung zusammen. “Das Essen müsst ihr leider beim Wirt besorgen - da kann ich euch nicht helfen.” zuckte Krämer Fatzmann um Verzeihung heischend die Schultern. “Holzkohle kann euch ganz sicher der Schmied liefern. Aber vom ganzen Rest habe ich einiges da … für die Backformen zeige ich euch, was passen könnte, Kerzen hab’ ich auch - da werdet ihr bei noblem Licht speisen. Aber warum wollt ihr den Zunder kaufen? Den sammelt man doch im Wald.” Er grinste. “Ihr scheint einen Hausstand ausstatten zu wollen, gute Frau. Haben wir demnächst Zwerge im Dorf?”

“Natürlich kann man im Wald Zunder sammeln, wenn es warm und trocken ist”, erwidert Murla mit einem freundlichen Lächeln und wich so der letzten Frage des Händlers aus. “Aber seid Ihr heute schon aus der Tür getreten? Es ist kalt und feucht, da kaufe ich lieber bei Euch.” Ich Lächeln wurde immer freundlicher und ihre Stimme einschmeichelnder. “Zeigt mir dann bitte die Formen, ich wähle dann die passende aus.” Der Krämer brachte einige Tonformen mit Deckel zutage, die er vor Murla auf dem Tresen ausbreitete.  Mit sinnend gerunzelter Stirn betrachtete er die Zwergenfrau. “Wollt ihr eine Normalgroße oder eine kleinere?”  Murla hob die unterschiedlichen Formen hoch und begutachtete sie fachmännisch. Nach einigem Hin und Her entschied sie sich für eine der kleineren Formen mit Deckel. “Die bitte.”

“Ich pack’ sie euch gerne ein. Aber mit dem Zunder … ich kann euch ein bißchen was von meinem verkaufen, normalerweise hab’ ich den nicht im Sortiment. Ihr meint schon Zunderschwamm, um die Funken vom Feuerzeug aufzufangen, oder? Habt ihr euren verloren?” Nach und nach wurde die Neugier in seinen Augen wirklich deutlich.

“Wir hatten noch nie eine Zwergenfrau hier, müsst ihr wissen.” “Na gut, wenn Ihr so fragt, dann legt bitte noch etwas Zunderschwamm hinzu. Was bin ich Euch dafür schuldig?” “Wolltet ihr nicht auch noch Kerzen?” Eilfertig holte der Krämer eine Handvoll Unschlittkerzen aus einem Regal.  “Reichen die? Für alles zusammen 10 Silberstücke.” “Ihr meint doch 8 oder?” “Neuneinhalb!” kam sofort und entschieden die Antwort. “Also 9 und wir sind uns einig!” “Einverstanden!” Der Krämer hielt ihr die Hand zum Einschlagen hin, korrigierte ein gutes Stück nach unten und strich dann die Münzen ein, ehe er die Ware in Sackleinen und Stroh verpackte. Murla schlug grinsend ein und packte die Sachen nach und nach in ihren Rucksack. “Bitte verratet mir noch schnell wo ich den Schmied und den Wirt für meine restlichen Einkäufe finde.” “Den Schmied findet ihr, wenn ihr vom Marktplatz aus die Gasse zum Bach geht. Und Wirte haben wir hier drei - geht am besten in die Gans oder den Raben, in die Rebe nur, wenn wenn ihr etwas zum Trinken sucht. Dort könnt ihr zwar auch essen, aber eher kleinere Sachen. Was hat euch eigentlich hierher in unseren schönen Ort verschlagen, Frau Zwergin?” wollte er nach der gewünschten Auskunft neugierig wissen. “Ich bin auf der Durchreise”, war die vage Antwort. “Es wundert mich, dass Ihr bisher keine Angroschim bedient habt, wo doch der Eisenwald direkt hinter Eurem Dorf beginnt. Und dort leben doch genügend meines Volkes. Habt Dank für den guten Preis, ich werde Euch weiterempfehlen.  Angrosch zum Gruße!” “Travia zum Gruße!” klang es ordentlich verdattert zurück.

Mit dem Rucksack auf dem Rücken verließ Murla das Geschäft und blickte sich am Marktplatz nach den Schildern der Wirtshäuser um. ‘Rabe oder Gans?’ überlegte die Angroschna. ‘Die Gigrim haben sich ja zwei tolle Wirtshäuser ausgesucht. Boron oder Travia? Hier sind doch beide nicht wirklich eine Wahl.’ Dann schnupperte sie. ‘Na von wo kommt der beste Duft …’

Und so, sich auf die beste aller Ratgeberinnen, ihre Nase, verlassend, landete Murla vor dem Tor des größeren Gasthauses, über dessen Tür eine Holztafel mit einem Raben, der mit tropfendem Schnabel roten Wein aus einem vollen Kelch trank, baumelte. So machte sie sich dann mit festem Schritt auf und öffnete die Tür zum Raben.

“Angrosch zum Gruße!” rief sie laut als sie eingetreten war und ging dann direkt durch zur Theke. Im Gastraum saßen einige besser gekleidete Handwerker und Händler beiderlei Geschlechts. Auf Murlas Gruß wurde es mit einemmal totenstill im Raum und mit einem Ruck drehten sich ihr sämtliche Köpfe zu. Unnatürlich laut klangen ihre Schritte auf dem hölzernen, dick mit Binsen bestreuten Boden.

Eine äußerst beleibte Wirtin mit peinlich sauberem Kopftuch und schmutziger Schürze beugte sich über die Theke und äugte nach unten. “Travia zum Gruße, Frau Zwergin. Was wünscht ihr und wo kommt ihr her?” “Ich wünsche, dass Ihr mir etwas Wurst und Käse verkauft”, antwortete Murla auf die Frage der Wirtin. Dann deutete sie auf die Tür. “Ich komme von draußen.” “Wohnt ihr hier im Ort?” kam die gemütliche Gegenfrage der Wirtin, die sich, die arme gekreuzt, auf die Theke lehnte und die seltsame Zwergin in aller Seelenruhe musterte. “Nun”, meinte Murla, “ist das Bedingung, dass man hier bedient wird? Wenn ja, dann tut es mir leid, dann bin ich hier wohl falsch.” “Habt ihr denn was zu verbergen, dass ihr nicht mit mir plaudern wollt?” kam es argwöhnisch zurück. Noch immer war nicht der Hauch eines Räusperns im Raum zu hören, und Murla vermochte die gespannte Aufmerksamkeit fast mit Händen zu greifen. “Wir sind hier ein respektables Haus.” “Wenn ich plaudern wollte, dann hätte ich mich an einen Tisch gesetzt und etwas zu trinken bestellt”, war Murlas Antwort von einem freundlichen Lächeln des alten, offenen Zwergengesichts begleitet. “Aber eigentlich wollte ich nur etwas Wurst und Käse. Ist das möglich?” Ganz wollte das Misstrauen nicht aus dem Gesicht der Frau weichen. “Ihr seid ein Zwerg. Habt ihr etwas mit der Boroni zu schaffen?” “Und Ihr seid ein Mensch, mit wem habt Ihr zu schaffen?” “Ihr wollt bei mir kaufen, Frau Zwergin, nicht umgekehrt. Und wir sind ein sauberes Haus hier - mit liderlichem Volk machen wir uns nicht gemein.”

Wortlos drehte sich Murla um und verließ grußlos dieses ‘gastliche’ Haus. Am Platz wandte sie sich jetzt der ‘Gans’ zu. Sie atmete tief durch, murmelte einige leise Flüche in ihrer Muttersprache und trat dann mit einem fröhlichen “Angrosch zum Gruße” in die Gans. Das Bild, das sich ihr dort bot, war deutlich lauter und lebensfroher als im Raben. Auch hier deckte eine dicken Binsenschicht den Boden, doch sämtliche Sitzgelegenheiten waren Bänke, keine Einzelstühle, und sie waren voll von Bauern, Tagelöhnern und Handwerkern in nicht ganz so edler Kleidung wie im Haus zuvor. Dennoch hörte sie ein Raunen - ‘ein Zwerg’ , das sich wie eine Welle vor ihr durch den Raum ausbreitete und ein tiefes, neugieriges Schweigen nach sich zog, während die zum Tresen schritt, an dem ein mittelalter, gut genährter Mann mit Almadanerzopf und Kopftuch gerade zwei Humpen aus einem Krug mit schäumendem Bier befüllte.

“Travia zum Gruß, Frau Zwergin. Was wollt ihr hier?” “Erstmal ein Bier”, begann Murla. Auch hier war die Stimmung deutlich abgekühlt. So blieb sie an der Theke stehen und hoffte auf ein trinkbaren Becher Gerstensaft.

“Bitteschön.” Der Wirt stellte einen der Humpen vor Murla auf den Tresen. Die Schaumkrone, die weit über den Rand des Kruges stieg, floss an einer Seite weiß und schaumig hinab, und ließ einen Ausblick auf ein goldenes, perlendes Innenleben erahnen. “Wohl bekomm’s!” “Baroschem!” antwortete die Angroschna und setzte den Humpen an und trank ihn mit einem Zug leer, dann knallte sie ihn zurück auf die Theke. Für ein Menschengebräu war es ziemlich gut, eigentlich sogar besser als das, was die Erzzwerge brauten, die aber aus eigenem Bekunden keine guten Brauer waren. Mit einem Koscher Bräu freilich war es nicht zu vergleichen. “Noch eins?” Wollte der Wirt wissen, der den Zug der Zwergin mit einem zufriedenen Grinsen betrachtet hatte. “Gerne!” antwortete Murla. “Das Bier ist wirklich gut, Ihr versteht Eure Kunst! Und dann hätte ich gerne etwas Wurst und Käse zum mitnehmen.” “Seid ihr auf der Durchreise?” Erkundigte sich der Wirt, als er ihr das gewünschte zweite Bier einschenkte. “Dann seit ihr aber spät im Jahr noch unterwegs. Nehmt euch in acht - heute wird’s noch Schnee geben.” “Danke für die Warnung”, sagte Murla höflich, trank dann vom zweiten Glas einen kleinen Schluck. “Ich werde es auf meinem weiteren Weg beherzigen.” “Wo wollt ihr denn heute noch hin?” Der Wirt schenkte sich ebenfalls einen Krug Bier ein und nickte der Zwergin zu. “Nun”, erwiderte Murla und stieß ihren Krug mit einem weiteren “Baroschem!” gegen den des Wirtes. “Der Tag ist noch jung und ich gedenke noch ein gutes Stück Weg hinter mich zu bringen.” Da sie den Wirt nicht anlügen wollte, ihm aber auch nicht die ganze Wahrheit erzählen wollte, überlegte sie kurz in welcher Richtung sich von hier der Borontempel befand. “Ich will weiter nach Firun.” “Dann müsst ihr euch aber wirklich noch sputen - es wird heute noch Schnee geben, und nicht nur ein bißchen.” Der Wirt trank seinen halben Humpen aus und stellte ihn dann zur Seite - so einen guten Zug wie ein Zwerg hatte er nicht, und ganz offensichtlich standen da auch die Zwerginnen ihren Männern in nichts nach.

Murla trank ihren Humpen aus. “Wenn Ihr mir noch etwas Proviant verkaufen könntet, dann will ich mich danach auch schnell sputen.” “Was braucht ihr denn, und wieviel davon?” “Ein Stein Käse und drei Würste” war die schnelle Überlegung Murlas. “Wir Angroschim trinken nicht nur gerne, wir essen auch gut und viel.” “Wie ihr wünscht.” lachte der Wirt und kam wenig später mit dem gewünschten zurück. Der Käse hatte eine dicke, dunkelgoldene Rinde, der von langer und guter Lagerung zeugte, und die Würste waren ordentlich groß und geräuchert. Der Preis, den er nannte, war angemessen - und wohl auch ein gutes Stück niedriger, als er in Albenhus gewesen wäre. “Sonst noch was, mit dem ich behilflich sein kann, Frau Zwergin?” “Nein, habt Dank, guter Mann, im Moment ist das genug”, antwortet Murla höflich, packte Wurst und Käse ein, legte den gewünschten Betrag aufgerundet auf den nächsten Taler auf die Theke und verabschiedete sich mit einem “Angrosch zum Gruße!”

Als sie wieder draußen war schaute sie sich noch einmal um, ob ihr hier die neugierigen Blicke der anderen Gäste, die die kurzen Szene ja still verfolgt hatten, folgen würden.  Da sich ein paar Nasen an den Butzenscheiben platt drückten, winkte sie noch einmal freundlich und ging dann in die Gasse Richtung Bach. Jetzt musste sie nur noch beim Schmied vorbei, dann hatte sie alles, was sie für den heutigen (und auch für die nächsten) Tag brauchte. Die Schmiede war ein nach vorn offener Schuppen am Bach, ein Dutzend Schritte entfernt von jedem Nachbargebäude. Auf einer Seite stand ein großer Holzstapel, über dem schindelgedeckten Dach rauchte munter ein Kamin. Emsiges Hämmern erklang, noch ehe Murla einen Blick auf die untersetzte, muskelbepackte Schmiedin erhaschen konnte, die ein Werkstück, das sich bei näherer Begutachtung als Fassreifen erwies, bearbeitete, unterstützt von zwei rußigen, ebenfalls ziemlich kräftig aussehenden Gehilfen.

“Angaruschoromdrosch!” grüßte sie die Schmiedin. “Der Krämer sagte mir, dass ich bei Euch Holzkohle bekommen kann.” Wartend auf ihren langen Wanderstab gestützt sah sie den drei Schmieden beim Arbeiten zu. Sie wusste aus Erfahrung, dass jetzt erst das Werkstück im Vordergrund stand und dann - vielleicht - ihr Anliegen.

Noch eine Viertelstundenkerze lang durfte die Angroschna zuschauen, wie die Schmiedin dem Fassreifen den letzten Schliff gab und ihn dann endgültig zischend in einem Bottich mit Wasser versenkte.

Sie richtete sich mit einem zufriedenen Grunzen auf, drückte die Hände in den Rücken und streckte sich genüsslich, ehe sie sich Murla zuwandte. “Ingerimm zum Gruße, und die anderen Zwölfgötter gleich mit. Wollt ihr etwas von mir?” Murla nickte und wiederholte ihr Anliegen. “Ihr verkauft Holzkohle, sagte der Krämer. Und ich möchte welche kaufen.” “Ich verkaufe keine, ich habe welche.” stellte die Schmiedin richtig. “Wofür um alles in der Welt braucht ihr Holzkohle? Zum Heizen tut’s Holz doch ebenso.” “Ja, nicht zum Heizen”, bestätigte Murla. “Das ist richtig und auch nicht für das Schmiedefeuer, denn das überlasse ich Euch und Angrosch” ‘Und auch Boram, der dir einiges beibringen könnte.’

Dann schüttelte sie den Kopf und begann sich langsam umzudrehen. “Nun, aber da Ihr nichts verkauft, dann entschuldigt die Störung.” “Wenn ihr mir sagt, wofür ihr sie wollt, können wir drüber reden.” schüttelte die Schmiedin verwirrt den Kopf. “Ich brauche sie für eine den Zwölfen gefällige Zeremonie”, war die ausweichende Antwort des Angroschna. “Seid ihr eine Priesterin, Euer Ehren?” Jetzt fand sich definitiv so etwas  wie Ehrfurcht in der Stimme der muskulösen Frau. “Nein”, Murla schüttelte den Kopf, “eigentlich eher so etwas wie eine Gehilfin. Und meine Aufgabe ist es halt einzukaufen.”

Die Augen der bulligen Schmiedin leuchteten auf. “Ich wusste nicht, dass wir einen Priester des Ingerimm hier zu Gast haben. Oder ist es eine Frau? Sagt, werte Dame, wo kann ich ihn finden - oder sie?” Jetzt musste Murla leise lachen. “Den nächsten Priester des Angrosch findet Ihr wohl wenn Ihr drei Tagesmärsche nach Firun wandert.”  “Das will ich gern einmal tun. Aber warum kauft ihr dann hier Holzkohle für ihn ein?” Nun verstand sie gar nichts mehr. “Nein”, wiederum verneinte die Angroschna. “Er ist alt genug, um sich seine Holzkohle selber zu holen. Vielleicht kann ich ihn aber auch überreden, dass er Euch besuchen kommt. Aber das wird wohl erst nach dem Winter was werden.” Damit hatte sie es offensichtlich geschafft, die Schmiedin vollständig zu verwirren. Mit großen Augen glotzte sie Murla an. “Aber wofür wollt ihr dann die Kohle, wenn nicht für ihn?”

Mit der Erkenntnis, dass es doch keinen Ingerimmgeweihten in Calmir gäbe, kroch Enttäuschung in die Stimme der Frau. “Es gibt doch noch andere Geweihte, nicht nur die des Allvaters. Ich werde nach meiner Rückkehr Seiner Gnaden Grimmgasch ans Herz legen, dass er hier ein paar Gläubige findet.” 

“Das ist fein! Da dank’ ich euch sehr! Ja, ist denn noch ein anderer Geweihter hier, der Kohle braucht?” Mit offenen Augen und ebensolchem Mund glotzte die Menschenfrau die Zwergin an. “Ja, natürlich”, antwortete Murla, “es ist für Ihre Gnaden Marbolieb.” “Die!” Die Augenbrauen der Frau zogen sich zusammen, bis sie zu einem dicken Strich zusammenwuchsen. “Das Hurenweib! Die besudelt alles mit ihrer Unzucht.” Geräuschvoll spuckte sie aus. “Keinen Krümel bekommt die von mir! Und wenn ihr zu der gehört, dann packt euch!” “Warum so unhöflich?” fragte Murla noch auf den Stab gestützt. “Ich habe Euch nach Holzkohle gefragt und Ihr beschimpft mich?!” “Ihr wollt es für die Zwergenmetze - mit der hab’ ich nichts zu schaffen, und mit ihren Spießgesellen erst recht nicht. Und jetzt fort mit euch!” Die Frau stemmte ihre Fäuste in die Seiten, während ihre Gesellen, aufmerksam, ob es nur gute Unterhaltung oder tatsächlich Ärger gäbe, langsam zu ihr aufschlossen. “Mir scheint, dass Eure Mutter Euch als Kind zu wenig Höflichkeit beigebracht hat”, Murlas Ton wurde jetzt auch unfreundlicher. “Bekomme ich nun Holzkohle von Euch?”

“Die bekommt ihr nicht. Und nun euch einen guten Tag!” Unwirsch drehte die Schmiedin sich um und stapfte wieder in ihre Schmiede, wo sie das nächste Werkstück nahm und energischer als nötig ins Feuer rammte. Murla  sah, wie die beiden Gehilfen ihre neugierige Blicke zuwarfen und anschließend die Köpfe zusammensteckten. “Möge Eure Esse erkalten!” sagte Murla noch als sie sich ebenfalls umdrehte und zum Borontempel - wie gehabt in weitem Bogen - zurückging.

Zurück vom Einkauf

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Nachdem sie durch den Spaziergang ein wenig abgekühlt war, war sie wieder bei bester Laune.

“Euer Gnaden, ich bin wieder da!” rief sie als sie in die Küche kam. Die Boroni saß am Küchentisch und war mit einer kleinen Handaxt dabei, dünne Streifen Holz von einem Scheit abzuschälen - mit einer Hand am Scheit und der anderen an der Axt, vorsichtig bemüht, am Ende eines Hiebes noch genau so viele Finger zu haben wie zu Beginn.

Als sie Murlas Ruf hörte, legte sie die Axt beiseite und stand auf. “Frau Murla! Habt ihr bekommen, was ihr wolltet? Ist alles gutgegangen?” “Naja”, meinte Murla zögernd, “die Schmiedin ist wohl nicht Eure Freundin, daher habe ich keine Holzkohle bekommen, aber sonst habe ich glaube ich alles, was ich wollte. Und ich habe doch heute Morgen genügend Späne gemacht, dass Ihr Euch nicht die Finger abhacken müsst. Habe ich das falsch weggelegt?” “Aber … “ die Wangen der jungen Frau färbten sich. “Ihr müsst doch keine Kohle für mich beschaffen!” Sie besann sich und trat einen halben Schritt vom Tisch zurück. “Setzt euch. Mögt ihr einen Tee?” Vorsichtig wischte sie die Holzspäne zur Seite. “Ich muss den ganzen Winter über anfeuern, Euer Wohlgeboren. Das benötigt viel Anfeuerholz.” “Das denke ich auch”, bestätigte die Angroschna. “Aber bevor Ihr Euch dabei den einen oder anderen Finger abtrennt, nehmt doch meine Hilfe an. Mir macht das nichts aus. In Albenhus musste ich immer für das Holz sorgen.” ‘Außerdem hast du doch nicht einmal genügend Brennholz in deinem Unterstand für den Winter …’ fügte sie noch in Gedanken hinzu.

“Ich hätte auch Reisig sammeln können.” Marbolieb senkte beschämt den Kopf. “Aber ich habe mich nicht in den Wald gewagt.” “Dafür ist auch später noch Zeit!” meinte Murla und begann ihren Rucksack auszupacken. Die Zutaten für den Nusskuchen und die Form stellte sie auf den Tisch, die Kerzen in ein freies Regal. Als sie dann Wurst und Käse aus dem Rucksack nahm, durchzog ein appetitlicher Geruch die kleine Küche. Der sich kurz danach mit den Kräutern - von denen Murla gleich ein paar in das auf dem Herd blubbernde Wasser gab - mischte. Dann setzte sie sich fröhlich zu der Geweihten und meinte: “Ich glaube jetzt werden wir beide in den nächsten Tagen nicht verhungern. Wenn Ihr den Rest vom Nusskuchen gegessen habt, kann ich uns neuen backen!”

Die Menschenfrau schnupperte und ein glückseliges Lächeln huschte über ihre Gesicht. “Wir werden speisen wie an Travias Tisch!” Sie seufzte vorfreudig. “Aber bitte, edle Dame, sagt mir doch zumindest, was es euch alles gekostet hat, damit ich euch wenigstens das ersetze. Bitte.” “Nein, das werde ich nicht!” antwortete Murla strikt. “Ich komme hier bei Euch im wahrsten Sinne des Wortes hereingeschneit und esse Euch Eure Vorräte weg, da ist es doch das mindeste das ich diese wieder auffülle.” ‘Und ich glaube, dass ich mir das leisten kann.’ “Wenn ihr mir meine Vorräte wieder auffüllen wolltet, hätte ein Beutel Grütze gereicht.” lächelte die Boroni. “Ihr bringt mir hier Kuchen mit, Brot, Käse und Schinken.” Ein Festmahl.

“Ja”, antwortete die Angroschna. “Ihr solltet doch wissen, dass wir Angroschim gut und viel essen. Daher habe ich gut und viel eingekauft. Und Grütze war leider nicht auf meiner Einkaufsliste”, fügte sie lachend hinzu. “Aber ihr seid mein Gast - und habt eingekauft. Ich habe doch genügend Geld dafür.” versuchte die junge Frau verzagt einen neuen Anlauf. Zu gut dufteten die Leckereien und der kräftige Tee, der mittlerweile schon gut durchgezogen sein würde.

Währenddessen verstummten draußen nach und nach alle Geräusche, als im Alveranszelt Ifirn ihre dicken Federbetten ausschüttelte und nach einigen ersten, verzagten Kundschaftern ganze Heerscharen der himmlischen Schwanendaunen zu Boden tanzten und das Dorf binnen kurzem in eine dicke, weiße Decke packten, die mit jedem Stundenglas, das verstrich, dicker wurde. “Nun, vielleicht habt Ihr genügend Geld zum Einkaufen”, erwiderte die Angroschna schelmisch lächelnd, “aber Ihr bekommt hier im Dorf nichts zu kaufen. Euer Ruf ist - nun wie soll ich sagen - etwas schlecht gelitten bei den Nachbarn.” “Das ist wohl so.” erzählte die Boroni ihren Händen, mit einem Mal nicht mehr so glücklich. “Aber ich konnte einkaufen und daher sollten wir das Ganze einfach dabei belassen und das Ergebnis genießen!”

Marbolieb nickte, allerdings nicht mehr ganz so begeistert wie zuvor. “Ich hole uns den Tee.” bot sie an. “Gerne”, antwortete Murla. “Und nun seid mir nicht mehr böse, dass ich Euer Geld nicht nehme. Ich möchte doch nur, dass wir zusammen ein paar schöne Tage verbringen und da müsst Ihr mich einfach machen lassen.”

Die jungen Menschenfrau nickte wortlos und erhob sich, um den dampfenden Wasserkessel vom Feuer zu ziehen, was ihr im dritten Anlauf auch gelang. “Ich bin euch nicht böse, Euer Wohlgeboren. Ich fühle mich schlecht, wenn ihr alle Geschäfte für mich besorgt und ich faul danebensitze.”  Vorsichtig griff sie den Topf mit einem mehrfach gefalteten Lappen und stellte ihn auf den Tisch, um dann mit einem hölzernen Schöpfer, der vor vielleicht drei oder vier dutzend Götterläufen bessere Jahre gesehen haben mochte, achtsam und eine Hand am Krug das Wasser umzufüllen, so dass kaum etwas danebenging. Der Duft von Kräutern und Blüten füllte die einfache Küche und kitzelte die Nase der beiden Frauen, während unter dem Fensterrahmen Firun einen eisigen Luftzug in den Tempel schickte, der wie mit eisigen Fingern über die Gesichter der beiden Frauen strich.

“Der Winter kommt schneller als uns lieb sein kann”, meinte Murla während sie nachdenklich aus dem Fenster blickte. “Was meint Ihr?” “Er kommt immer früh hier in den Bergen.” Unwillkürlich schlossen sich die Hände der junge Geweihten um den heißen Tonbecher und sie zog die Schultern zusammen. “Ihr müsst aufpassen, dass ihr hier nicht einschneit - so weit weg von eurer Familie.” “Es sind drei Tage zu Fuß - bei relativ gutem Wetter”, meinte Murla und schaute auf den fallenden Schnee. “Aber Ihr gestattet mir doch noch ein wenig zu bleiben, oder? Nicht zu lange, wir - Borix und ich - sind noch zu einer Hochzeit geladen, aber so zwei Tage habe ich noch. Hoffentlich ist es dann ein wenig wärmer.” “Ich freue mich, wenn ihr noch eine Weile bleibt.” bekannte die Boroni. “Ich möchte euch aber nicht langweilen. Ich könnt das Wetter besser einschätzen als ich und wisst, wann es Zeit ist, aufzubrechen. Ich vertraue eurem Urteil, Frau Murla.” “Heute auf jeden Fall sieht es so aus als wenn wir den Nachmittag weiterhin gemütlich hier in der Küche bleiben sollten und nicht in der Gegend herumspazieren sollten. Da sonst schon keiner der Bewohner in den Tempel kommt, wird es da heute wohl genauso wenig passieren.”

“Das Abendgebet werde ich halten.” schmunzelte die Geweihte über einem Schluck Tee. “Eine Traviafeier mitten im Winter?”  “Eine Traviafeier im Traviamond”, bestätigte Murla. “In Herzogenfurt. Borix hat den Bräutigam bei der Jagd kennengelernt. Vermutlich seid Ihr ihm auch begegnet.”

“Wer ist es?”  “Die junge Baronin von Schweinsfold und der Herr von Altenberg.” antwortete die Angroschna. “Ich kenne sie leider nicht.” schüttelte die Geweihte den Kopf. Es waren sehr viele Leute auf der Jagd gewesen - aber begegnet war sie bestenfalls einer Handvoll. Doch mit all diesen adligen Herrschaften hatte sie auch kaum zu schaffen gehabt. “Borix sagte ja auch, dass sehr viele Leute bei der Jagd waren und die meisten kannte er auch nicht. Aber der Herr von Altenberg hat sich an Borix erinnert und ihn eingeladen. Ich hoffe nur, dass wir nicht die einzigen Angroschim auf der Hochzeit sind. Da wird man sonst immer nur angestarrt. Und außerdem will Borix die Gelegenheit nutzen und mit Eurem Baron sprechen.” “Oh.” Die Boroni grub die Zähne in die Unterlippe, als sie nachdachte. “Ich wünsche ihm Glück.”

“Er kann sehr überzeugend sein, wenn er etwas will”, meinte Murla optimistisch. “Es geht wohl um die Öffnung der Stollen von Ishna Mur zur Via Ferra.” “Ich bin sicher, die beiden werden zu einer Einigung kommen.” Irgendwie. Sie hatte den Baron auf dem Haffaxfeldzug begleitet und ihn dabei einigermaßen kennengelernt - wenn er nicht der gleichen Meinung war wie der Bergvogt, würde das eine schwierige Verhandlung werden. “Ja, das wäre doch schön, dann könnten wir uns vermutlich auch im Winter besuchen”, freute sich Murla. “Ach die Via Ferra ist im Winter zugeschneit - sehr tief, Euer Wohlgeboren. Dann reist keiner mehr. Ich möchte nicht, dass ihr erfriert.” “Warten wir das Ergebnis ab und dann lassen wir uns überraschen, wo die Tunnel enden. Vielleicht endet ja einer hier in Calmir.” Marbolieb nickte. “Da wäre schön.” Sie schloss ihre Hände fest um die heiße Teetasse und genoss das Gefühl in ihren Fingern. “Werdet ihr einmal wieder hier vorbeikommen?”

“Na, noch bin ich doch hier!” meinte Murla und fuhr scherzend fort: “Oder wollt Ihr mich los werden?” “Ihr wisst, dass ich das nicht möchte.” lächelte die Boroni. “Ihr seid mein Gast.” “Ja, das weiß ich doch”, antwortete Murla aufmunternd. “Und das bin ich auch gerne wieder. Aber wer weiß ob Ihr mich noch sehen wollt, wenn ich Euch meine Tochter auf den Hals gehetzt habe.” “Ihr sagt dies, als sei eure Tochter jemand, vor dem ich mich in Acht nehmen müsse.” Halb Frage, halb Feststellung war dieser Satz. “Nein, aber sie ist noch so jung und unerfahren. Daher wird sie vieles wissen wollen, viele Fragen stellen und vermutlich auch die eine oder andere Dummheit machen.” “Sie ist älter als ich.” bemerkte Marbolieb. “Ich hoffe, sie darf einkaufen.” Jetzt musste Murla lachen. “Sie ist vielleicht älter an Jahren, aber das spielt bei uns Angroschim keine so große Rolle wie bei euch Menschen. Sie lernt aber immer noch und hat auch noch keine Feuertaufe hinter sich. Daher zählt sie für uns noch als Kind.” Dann wurde sie ein wenig nachdenklicher.

“Einkaufen gehen kann sie, ich weiß nur nicht ob sie so gewandt ist den neugierigen Fragen Eurer Nachbarn auszuweichen. Und wenn sie hier anscheinend die Wahrheit sagt, dann bekommt man nichts mehr zu kaufen.” Marbolieb nickte. Das könnte die Versorgung schwierig gestalten. “Sie kann von meiner Grütze haben.” Bot sie mit einem schiefen Grinsen an. “Oh ja, das könnte sie, bestimmt”, nickte Murla. “Aber das wird sie wohl nicht, sie ist schließlich ein ähnliches Süßmäulchen wie Ihr.” “Wenn ihr die Krämer und Gasthäuser hier nichts verkaufen, meine ich.” murmelte die Boroni, über das ‘Süßmäulchen’ nachsinnend.

“Ich denke, ich werde ihr ein wenig Proviant mitgeben”, meinte Murla zuversichtlich. “Sie ist ein kräftiges Mädchen …” ‘... und kann gut einen vollen Schlitten ziehen.” “Wenn ihr dies sagt.” Noch nicht so ganz überzeugt nickte Marbolieb und flüchtete sich in einen weiteren Schluck Tee. Noch war sie nicht überzeugt, dass die junge Zwergin tatsächlich kommen würde - vermutlich würde sich auch ihre Mutter eines Besseren besinnen. Es gab viele Möglichkeiten, die einem Kind eine bessere Ausbildung ermöglichten, als ein einsamer Tempel in den Bergen. “Warum tut ihr das?”  “Aber das habe ich Euch doch gestern schon gesagt.” “Warum hier? Es gibt bessere Orte für den Umgang mit Menschen.” Zumindest mit lebenden.

“Bestimmt, aber hier lernt sie Dinge, die sie woanders nicht lernen würde.” Murla zögerte, fuhr dann aber fort: “Verzeiht Euer Gnaden, wenn ich es so direkt sagen. Hier herrscht Unfrieden und sogar Hass, Einsamkeit und auch etwas Hilflosigkeit. Das sind Herausforderungen denen man sich im Leben stellen muss und nicht immer den einfachen Weg zu gehen wird Murixe ein wichtiger Schritt zum Erwachsenwerden sein. Und außerdem ist geteiltes Leid besser, als dass Ihr hier alleine von allen geschnitten werdet.” “Und deshalb schickt ihr Eure Tochter, damit sie dies lernt? Ihr seid eine hartherzige Frau, Frau Murla. Und eine weise.” Sie flüchtete sich in einen erneuten Schluck Tee. “Ich werde versuchen, ihr das Leben so gut wie möglich zu machen, Edle Dame.” Das arme Kind dauerte sie.

“Nennt mich ruhig hartherzig, aber ich glaube es ist etwas was sowohl Euch als auch Murixe von Nutzen sein wird. Ihr seid den Winter über nicht so einsam und Murixe lernt sicherlich viele neue Erfahrungen kennen.” Murlas Tee was über das Gespräch schon kalt geworden, aber das machte nichts, hoffte sie doch, dass die Geweihte es nicht nur als Hilfestellung ansah, sondern auch als Lehraufgabe. Marbolieb trank den letzten Schluck und nickte nachdenklich. “Ich werde ihr beibringen, was ich kann - und was sie annehmen mag, Frau Murla.” Was hoffentlich das große Lehrgeld einigermaßen wert wäre, das die Zwergin in Form von Proviant für ihre Tochter zahlte. Aber dafür gäbe es nicht mehr jeden Tag ausschließlich Grütze. Und es würde einige Zeit lang Gesellschaft bedeuten. Die Miene der Menschenfrau hellte sich merklich auf.

Als Murla an der Miene der Boroni sah, dass der Gedanke an die Gesellschaft Murixes Marbolieb doch langsam gefiel, freute sie sich. Sie würde nach ihrer Rückkehr Dwarosch eine Botschaft zukommen lassen, dass seine Frau für den Winter nicht allein in Calmir sein würde. Im Gegenzug erhoffte sie sich etwas neues zu Mirla zu erfahren. Die Kleine war ja im Sommer nicht mit in Ishna Mur gewesen, sondern in Senalosch geblieben. “Sagt Euer Gnaden, wann habt Ihr denn die letzte Nachricht von Eurer Tochter erhalten? Geht es ihr gut in Senalosch?” “Ich bin mir sicher, euer Wohlgeboren, dass sie gut umsorgt wird.” Ein liebevolles Lächeln wärmte die hübschen Züge der jungen Frau. “Ich habe sie vor einigen Wochen das letzte Mal gesehen, als ich aus Senalosch aufbrach.” “Schade, dass ich die Kleine noch nicht kennen gelernt habe. Kann sie denn schon laufen?” “Sehr schnell.” Bekannte Marbolieb zwischen Freude und Seufzen. “Sie ist schon zweieinhalb Götterläufe alt.” “Die Zeit verrinnt schnell für Euch Gigrim”, meinte Murla nachdenklich. “Es ist doch noch gar nicht so lange her, da begann Murixe zu laufen …”

Sie stellte den leeren Teebecher in den Spülstein und zog ihre Pfeife aus der Gürteltasche. “Raucht Ihr ein Pfeifchen mit?” Einige Zeit sann die Boroni den Worten der alten Zwergin nach, bis ihr schließlich auffiel, dass noch ihre Antwort fehlte. “Gerne.” nickte sie und begann, auf dem Tisch nach ihrer Pfeife zu suchen, die sie am Tag von Murlas Ankunft hervorgekramt, und dann doch ungenutzt beiseite gelegt hatte. Schließlich fand die das gute Stück - eben jene, die ihr die Zwergin bei ihrem lange zurückliegenden Besuch in Ishna Mur geschenkt hatte - und rieb sorgfältig mit ihrem Ärmel darüber, ehe sie sie unsicher an ihren Gast weiterreichte. Diese nahm die Pfeife der Priesterin und begann sie langsam aber geschickt zu stopfen. Als sie damit fertig war, gab sie diese der Boroni zurück und ging zum Feuer um einen Span anzuzünden. Mit diesem entzündete sie erst Marboliebs Pfeife und dann die ihre. Mit einem wohligen Seufzer ließ sie sich dann auf den Stuhl fallen und paffte ein paar Züge und genoß das Aroma des schwellenden Tabaks. “Habt Dank.”

Genussvoll zog die Boroni an der Pfeife, schloss die Augen und atmete tief durch die Nase aus, ein Bild der vollkommenen Zufriedenheit. “Dwarosch hat versprochen, mich mit Mirla im nächsten Sommer zu besuchen.” bekannte sie hoffnungsvoll. “Das ist ja fast noch ein dreiviertel Götterlauf hin”, rechnete Murla nach. “Bis dahin wird sie mit  Euch nur noch in Rogolan sprechen”, meinte sie grinsend. “Er hat mir versprochen, mit ihr auch Garethi zu sprechen.” murmelte die Boroni, die ein Ähnliches auch schon befürchtet hatte. Des Rogolan war sie nicht einmal ansatzweise mächtig.

“Das wird Dwarosch sicherlich machen, wenn er es versprochen hat”, bestätigte Murla. “Aber ich glaube, dass sie die meiste Zeit bei Topaxandrina ist und die spricht nun mal am liebsten Rogolan.” “Wir werden sehen.” Marbolieb freute sich an der Aussicht, ihr Kind wieder zu umarmen. Selbst wenn sie dann kaum noch ein Wort von dem verstand, was diese sagte. “Sie wird es gut haben in Senalosch. Dort ist es warm, und Topaxandrina ist eine gute Köchin. Sie wird jeden Tag eine warme Mahlzeit haben.” “Ja, sowie ich den Vogt und den Oberst kenne, dann mindestens eine”, bestätigte Murla. “Sie wird schnell groß werden.” Marbolieb lächelte glücklich angesichts dieser Worte. “Ich bin Dwarosch dankbar, dass er sie aufgenommen hat.” Ihre Wangen röteten sich, als sie mit leuchtenden Augen über ihre Tochter nachsann und sich deren Leben vorstellte.  “Sie wird aufwachsen wie eine Prinzessin.” “Ja, das glaube ich auch. Er wird sie verwöhnen als wäre sie seine eigene Tochter.” “Ich wünschte, das wäre sie.” Sehr leise war die Stimme der jungen Frau geworden, und sie hielt ihren Kopf gesenkt. “Das wird sie aber leider nie sein.” Marbolieb nickte, doch ihrer Stimme vertraute sie nicht mehr. Sie schluckte. “Das ist etwas, was selbst die Götter nicht ändern können.” Wieder nickte die Boroni, während ihre Schultern nach unten sackten.

“Aber trotzdem könntet ihr beide noch viele glückliche Jahre haben”, versuchte Murla die Boroni zu trösten. “Gewiss ein oder zwei Dutzend.” flüsterte die Frau. “Ich hier und er in Senalosch.” “Dwarosch findet sicherlich eine Lösung” Murla schossen ein paar Ideen durch den Kopf. “Und wenn die Lorenbahnen erst einmal wieder eingerichtet sind, dann ist es nur eine kurze Reise zwischen Senalosch und der Via Ferra.” “Vermutlich.” Die junge Geweihte nickte, doch ihr Tonfall verriet, dass sie nicht daran glaubte. “Bestimmt, glaubt mir, der Weg durch die Berge ist viel schneller! Wie lange habt Ihr zu Fuß von Senalosch gebraucht?” “Zehn Tage.”

“Und ich glaube, wenn die Lorenbahn wieder vollständig hergestellt ist, dann sollte die Reise unter der Erde in weniger als zwei Tagen zu schaffen sein. Dann könnt Ihr Euch oft besuchen!” Die Frau schüttelte den Kopf. “Der Ausgang des Tunnels ist bestimmt nicht in Calmir - wenn es dort einen solchen gäbe, wüssten das die Leute.” Und selbst wenn - wie hätte sie dorthin gelangen und den Stollen finden sollen? “Die Tunnel sind seit Jahrhunderten versiegelt. Und vermutlich gut getarnt als sie verschlossen worden. Ich glaube selbst wenn hier im Tempel eine Tür wäre, dann hätte sie keiner entdeckt.” Die Geweihte hob die Schultern. “Wir werden sehen.” murmelte sie. “Noch ist der Tunnel nicht bekannt, nicht wahr?”

“Die Tunnel nach Senalosch kennen wir und können sie auch durchlaufen, aber die Schienen sind noch nicht alle wieder repariert. Und wir glauben auch, dass es Tunnel zur Via Ferra gibt, deshalb will Borix mit dem Baron reden. Wir werden sie erst öffnen, wenn wir wissen wie es damit weitergehen kann.” Unverbindlich nickte Marbolieb. Wenn der Baron daran beteiligt war, mochte alles geschehen. Doch Zwerge waren hartnäckig - und hatten Zeit, viel Zeit. 

Da Marbolieb in ihren Gedanken versunken war, lehnte sich die Zwergin zurück und zog gemütlich an ihrer Pfeife. Die Geweihte hing noch eine Weile ihren Gedanken nach, erinnerte sich schließlich an die Pfeife und tat einen genussvollen Zug, befühlte den Pfeifenkopf in ihren Händen und schien mit der unvermittelt entstandenen Ruhe nicht unglücklich. Vielleicht würde es eines Tages wirklich Tunnel nach Rabenstein geben. Vielleicht sogar irgendwo in der Nähe der Via Ferra. Und vielleicht, nur vielleicht, sogar noch zu ihren Lebzeiten. Ihr Herz und ihre Hoffnungen indes würde sie nicht daran hängen. Die Dinge waren wie sie waren, und ihr Leben war jetzt, also musste sie diese so nehmen, wie sich sich anboten Sie tat einen erneuten Zug und blies einen fast perfekten Rauchkringel, die Augen genussvoll geschlossen.

Als dann die Pfeife aufgeraucht war, meldete sich bei Murla der Magen zu Wort und sie fragte leise in Richtung der träumenden Boroni: “Soll ich etwas kochen oder wollen wir erst den Kuchen aufessen - schließlich wird der nicht besser.” Mit einem Ruck fuhr diese aus ihren Gedanken auf. “Oh - der Kuchen wäre wundervoll!” strahlte sie angesichts der Aussicht auf diese seltene Leckerei. Zufrieden lächelnd stand Murla auf und verteilte die Reste der Apfel- und des Nusskuchens auf zwei Teller und reichte den Teller mit dem meisten Nüssen und tropfenden Honig an die Borongeweihte weiter. “Bitte schön, das ist der Rest. Aber ich habe Euch ja versprochen frischen zu backen.” “Ihr verwöhnt mich so sehr, Euer Wohlgeboren. Das habe ich mit nichts verdient!” 

Mit einem glückseligen Lächeln tastete die magere Frau nach dem Kuchen, befand ihn für enorm viel - und steckte sich einen honigklebenden Finger zwischen die Lippen. Sie seufzte zufrieden, wartete, bis auch Murla zu speisen begann und machte sich dann mit einem Löffel nicht besonders geschickt, aber mit glänzenden Augen über das Naschwerk her. Murlas Lächeln verbreiterte sich als sie die Boroni beim Finger abschlecken und Kuchen essen beobachtete. ‘Ja, ich glaube ihr werdet viel Spaß haben, du und Murixe.’

Aber auch der Angroschna schmeckte der Kuchen noch sehr gut, obwohl der Apfelkuchen nach dem Transport und dem bisherigen Aufenthalt schon deutliche Qualitätseinbußen hatte. Der Nusskuchen war relativ unverändert stellte sie fest, der Honig und die gerösteten Nüsse ließen ihn lange halten.  Gründlich leerte die Geweihte den Teller und tastete dann verstohlen mit ihren Fingerspitzen, ob sie wirklich nichts übersehen hatte. “So lecker.” Seufzte sie glücklich. “Habt Dank.” “Es ist mir eine Freude als Gast den Gastgeber zu beglücken.” “Warum macht ihr das? Ihr könntet warm zuhause in Ishna Mur sein.” “Da ist es aber relativ langweilig und ich hatte es Euch doch versprochen, dass ich Euch besuchen kommen würde.” “Mitten im Winter?”  “Aber der richtige Winter ist doch noch fern, das sind doch erst die Vorboten.”  “Ich weiß.” Die Boroni leckte sich verstohlen einen Finger und rieb sich dann über die Oberarme. “Noch gefriert das Wasser in der Küche nicht.”

“Dann werde ich Euch noch ein wenig Holz hacken, dass es diesen Winter nicht gefrieren muss”, schlug Murla vor. “Aber, Wohlgeboren - ihr sollt nicht für mich arbeiten!” schämte sich die Boroni, die zudem eine ungefähre Ahnung von der Menge der Holzlieferung hatte, wie sie diese auch vor zwei Jahren im Winter erhalten hatte.  “Außerdem habe ich nicht so viel Holz hinter dem Tempel.” ‘Und wenn ich mir dich mageres Ding so anschaue, dann hast Du auch nicht viel Holz vor dem Tempel.’

“Kennt Ihr den jemanden im Dorf, der gut auf Euch zu sprechen ist und der ein Stück Wald hat? So dass man von ihm ein wenig Holz kaufen könnte?” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Der Wald gehört dem Landherrn. Das Holz verteilt die Schulzin, sie bestimmt, was die Holzfäller mir bringen.” Irgendwie hing das auch mit dem Holzregal zusammen, dass der Adlige besaß, aber teilweise weiterverleihen konnte - doch die Details dieser Rechte waren sehr kompliziert und in profaner Rechtskunde kannte sie einige Grundlagen, aber nicht mehr. “Und lasst mich raten: die Schulzin gehört auch nicht zu Euren Freundinnen?” Abermals schüttelte die Menschenfrau den Kopf, ein halbes Lächeln auf den Lippen. Eine Freundin besaß sie im Dorf gewisslich nicht - und sie war sich sicher, dass die Bergvögtin dies mittlerweile ebenfalls wusste. “Das heißt es wird schwierig noch mehr Holz für diesen Winter zu bekommen?” vermutete die Angroschna. ‘Oh arme Murixe, dein Schlitten wird immer schwerer. Aber ein Sack Kohle wird Wunder wirken …’

“Vielleicht wenn ihr mit ihr sprecht? Ich könnte euch auch Geld geben, um Holz zu kaufen.” “Wenn Ihr meint, dann könnte ich es ja mal versuchen. Aber Morgen, heute ist das Wetter zu schlecht, da sinkt auch die Laune.” Murla blickte eine Weile still und nachdenklich auf Marbolieb. “Wart Ihr denn nicht schon hier in Calmir bevor Ihr mit Dwarosch zusammen gekommen seid? Und bevor …” sie räusperte sich “... bevor Ihr blind wart?” “Doch. Anderthalb Götterläufe.” Nach der Mendenaschlacht bis zum Winter des darauffolgenden Jahres. “Und da gibt es keine Freundin, keinen Freund hier? Der Euch noch beisteht?” “Im Herbst nach der Schlacht kam Mirla zur Welt. Das Dorf hat meinen Gatten vermisst.”  “Also habt Ihr hier wirklich niemanden außer Dwarosch? Auch in Punin gibt es keine Freunde, da seid Ihr doch groß geworden?”

“Ich habe meine Geschwister im Tempel.” Sehnsucht huschte über die Züge der jungen Frau, ehe sie sich wieder im Griff hatte. “Ich war seitdem nicht mehr in Punin. Und ich habe doch Mirla und Topaxandrina in Senalosch.” “Ja, aber Mirla ist noch fast ein Säugling und Drina ist eine Angroschna, das macht es nicht besser.” Marblieb hob die Schultern. “Sie sind, was ich habe.”

“Ja, das stimmt, genau wie Dwarosch. Aber genau das macht Euch das Leben schwer. Und ich bin vermutlich auch keine Hilfe, sondern verschaffe Euch noch mehr Ärger.” Die Menschenfrau tastete nach der Hand Murlas und drückte sie. “Ihr seid hier.” “Ja, ich bin hier”, nickte Murla und drückte die Hand der Geweihten fest. “Aber ich muss auch wieder gehen.” “Ich weiß.” Tröstend strich die Boroni über die schwielige Hand der Zwergin.

“Aber dann kommt Murixe, sie wird wie eine Freundin zu Euch sein.” Marbolieb nickte. Sie war dankbar für die Großherzigkeit der älteren Zwergin. Auch wenn sie bezweifelte, dass der kleine Ort schnell genug einschneien würde, dass die junge Zwergin tatsächlich den ganzen Winter über blieb. “Der Schnee will heute gar nicht aufhören”, meinte Murla nach einem langen Blick aus dem Fenster. “Da kommen vermutlich noch weniger zur Abendandacht.” “Das glaube ich nicht.” erklärte die Boroni mit dem Brustton der Überzeugung. “Es ist bald so weit.” “Was glaubt Ihr nicht? Das der Schnee aufhört?” “Dass weniger zur Andacht kommen.” schmunzelte Marbolieb.

“Na, dann wird heute wohl eine mehr als sonst dabei sein”, nun war es an Murla zu schmunzeln. “Na dann - gehen wir?” “Gehen wir!” stimmte Murla zu und erhob sich. “Führt Ihr mich? Dann brauchen wir kein Licht anmachen.” “Ist es schon so dunkel.” Die Geweihte erhob sich und reichte Murla die Hand, um sie mit traumwandlerischer Sicherheit in Richtung Tempel zu führen. Nach der Wärme der Küche war es dort doppelt kalt. Die Geweihte bugsierte ihren Gast vorsichtig auf einen Stapel Decken, ehe sie sich selbst auf einer gefalteten Decke auf die Knie niederließ und einige lange Minuten sich in ein schweigendes Gebet versenkte. Die Dunkelheit und Stille in dem Tempel gewann eine fast körperliche Präsenz, wurde mehr, dichter, und legte sich wie eine zu dicke Decke über die Brust der Zwergin.

Die Ruhe überkam die Angroschna und die Stille und die Dunkelheit ließen vor ihren Augen den Tag vorüberziehen. Aber die Aufregung über den Einkauf und das in Murlas Augen ungerechte Verhalten verschwand in der Ferne und machte der Ruhe des Abends und der kontemplativen Stille des geweihten Ortes Platz. Mit jedem Atemzug wurde sie ruhiger, entspannter und jedes Aufbäumen und Anspannen der Muskeln wurde weich und sanft. Die Kälte war nur noch eine Empfindung am Rande, weit weg und unwichtig. Murla spürte, wie ihre Glieder schwer wurden und ihr die Augen zufielen. Kurz vor dem Einschlafen holte sie die sanfte Stimme der Geweihten wieder zurück. “Herr, sende Deinen Boten und gewähre uns heute eine ruhige Nacht. Schenke Deine Gnade denen, die ihrer bedürfen. So sei es.” Mit einem unterdrückten Gähnen fügte auch Murla ein “So sei es” hinzu. Nicht mehr viel wacher führte die Boroni ihren Gast wieder in die Küche. Das Feuer war fast vollständig heruntergebrannt und nur noch das Glühen der Kohlen erhellte den Raum unvollständig.

Marbolieb gähnte. “Darf ich noch etwas für euch tun, Frau Murla?” “Nein, vielen Dank.” verneinte Murla. “Ich wünsche Euch eine gute Nacht!” “Euch ebenso. Möge Boron seine Schwingen über euch breiten.” wünschte die Geweihte, ehe sie sich, in vollkommener Dunkelheit und mit sehr leisen Schritten, aus der Küche verabschiedete. Die Kälte auf dem Gang hüllte sie ein und ließ sie wehmütig an das warme Feuer denken, das aber nun ihr Gast genießen durfte. Und noch war es nicht richtig kalt - sie war in diesem Winter noch kein einziges Mal mit Reif auf ihrer Bettdecke erwacht. Mit einem leisen, zufriedenen Lächeln fand sie auch ihren Strohsack, zog die Decke und ihre beiden Wintermäntel, den alten und den neuen, über sich und war rasch in die Obhut ihres Herrn hinübergeglitten. Wäre Marbolieb noch etwas länger wach geblieben, dann hätte sie noch das zufriedene Schnarchen der Angroschna vernommen.

Ein neuer Morgen

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Ein gleichmäßiges, lautes Rauschen und Plätschern weckte die Angroschna.

Der Herr Efferd hatte sich seines Mondes besonnen und wusch den Gruß Bruder Firuns mit kraftvollen Wassermassen hinweg. Das Wasser rann über die Schindeln des Tempels, klatsche an Läden und Außenmauern und fand seinen Weg durch den Dachstuhl keine fünf Handbreit vom Haupt der Angroschna entfernt, wo es mit einem glückseligen Plitschen als dicker Tropfen zu Boden fiel und mit einem hellen, platschenden Geräusch zerbarst.

Von der Boroni war noch nichts zu sehen.

‘Hmm, ich kann zwar Wunden heilen, aber mit Dächern kenne ich mich nicht aus’ kicherte sie in sich hinein, froh das der Schlafplatz gut gewählt war und sie nicht von den Tropfen im Gesicht geweckt wurde. Dann setzte sie sich auf und versuchte zu erkennen wie spät es war.

Es war wohl früher Morgen, soweit man dies durch das Zwielicht unter den dicken Regenwolken und die geschlossenen Läden erkennen konnte. Auch nicht später als die Zeit, an der sie gestern erwacht war. Halb wach verfolgten ihre Augen ein dünnes Rinnsal, das sich gemütlich seinen Weg an der Innenwand der Küche suchte und über dem Spülbottich in den Fugen versickerte. Neugierig schaute sie sich nach weiteren Quellen in der Decke um. 

Ihre Suche wurde belohnt, als sie eines weiteren, unheilvoll dichten Tropfens ansichtig wurde, der genau über dem erkalteten Herd hing und, dicker und dicker anschwellend, zu überlegen schien, ob er fallen solle - oder nicht.

‘Ich glaube, ich sollte Murixe eine handwerklich begabte Bedeckung mitgeben’, merkte sich Murla. Dann begann sie langsam in der Feuerstelle zu stochern, ob dort noch etwas Glut vorhanden war. Doch die war - nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass niemand mehr für die Nacht Holz nachgelegt hatte, längst erloschen. Mit einemmal löste sich der Tropfen, des Festhaltens müde, und fiel erleichtert gen Boden - nur um auf der Nase der Zwergin in tausend kleinere Tropfen zu zerschellen.

‘Ja, ich werde wohl Xerberum mitschicken, der ist ein guter Handwerker. Der wird das Dach im Handumdrehen wieder richten.’ Dann begann sie sich um das Feuer zu kümmern und schon wenig später kam aus dem Herd eine gemütlich Wärme. Dann setzte sie den Wasserkessel auf und bereite den Tee vor. Marbolieb würde ja sicherlich auch gleich kommen.

Das aber dauerte und dauerte - bis Murla endlich aus dem Gang ein lautes Poltern und Platschen hörte, was zu den fehlenden Wassereimern passte. Augenblicke später schleifte die Geweihte die Wassereimer in die Küche und schüttelte sich. “Es regnet.” bemerkte sie überflüssigerweise. “Ja, es regnet”, entgegnete Murla. “Und sagt doch bitte, wenn das Wasser alle ist, ich bin glaube ich etwas kräftiger als Ihr.” Durch das Blubbern auf dem Herd abgelenkt, fügte Murla noch hinzu. “Der Tee ist bald fertig. Wollt Ihr Euch erst umziehen?”

“Macht es euch etwas aus, wenn ich die nasse Robe hier trockne?” Was für eine seltene Annehmlichkeit, den ganzen Tag Feuer zu haben! Auch wenn sie dann vermutlich die nächsten Wochen nach dem Besuch der Zwergin ohne auskommen würde - was aber auch kein großes Problem war, solange es weiterhin so warm blieb. Zufrieden mit der Aussicht auf einen heißen Tee schlüpfte sie wieder in ihre Kammer, wo sie die patschnasse Robe gegen die nur noch feuchte von gestern wechselte, und kam mit dem triefnassen Kleidungsstück über dem Arm wieder zurück.

“Viel besser.” freute sie sich. “Soll ich Frühstück kochen?” “Aber ich habe doch schon Tee gekocht”, meinte Murla. “Und wir haben doch Brot, Käse, Schinken und Wurst.” “Dann müsst ihr euch aber auch noch jeden Tag um das Frühstück kümmern!” Unschlüssig, die triefende Robe in der Hand, stand die Boroni da wie ein begossener Pudel.

“Das mache ich doch gerne”, erwiderte die Angroschna. “Gebt mir Eure Robe, ich werde sie über dem Herd aufhängen, dann ist sie umgehend wieder trocken.” “Danke.” flüsterte Marbolieb und streckte das patschnasse Kleidungsstück in die Richtung, in der sie die Zwergin hörte. “Was darf ich tun?” bot sie ihre Hilfe beim Frühstück an.

“Moment!” meinte Murla und kletterte auf einen Stuhl um das Kleid an einer Leine über dem Herd aufzuhängen. Dann stellte sie das Frühstück auf den Tisch und antwortete dann Marbolieb: “Jetzt dürft Ihr etwas tun: essen!” Das Aufleuchten in den Augen ihrer Gastgeberin erzählte Murla, dass dies eine perfekt treffende Ansage gewesen war. Hungrig machten die beiden sich über das Frühstück her, was, außer einem sehr kurzen Tischgebet seitens der Boroni, keine überflüssigen Worte mehr benötigte. “Was meint Ihr, sollte ich heute mal mit der Schulzin sprechen?” fragte Murla kauend.

“Wenn jemand bei ihr Erfolg hat, dann ihr. Doch ich kann das schwerlich von euch verlangen.” Hin und hergerissen zwischen der Aussicht auf ein Feuer im Herd und dem Unwillen, ihren Gast für sie in den Kampf zu schicken, knetete die junge Frau ihre Hände. “Wenn die Chancen besser als überhaupt nichts sind, dann werde ich es mal versuchen”, grinste Murla kampfbereit. Marbolieb nickte. “Ich wünsche Euch viel Erfolg.” Sie stand auf und kramte in einer Truhe, die an der Wand unter dem Tisch stand, und zog einen ledernen Beutel hervor, fast so groß wie ihre Faust.

“Nehmt das mit und nehmt euch, was ihr braucht.” Um die Geweihte nicht wieder zu verärgern, nahm Murla den Beutel entgegen und steckte ihn in ihre Gürteltasche.  “Ihr müsst mir nur verraten wo ich die Schulzin finde.” meinte Murla, als sie sich schon zum Gehen gewandt hatte. “Das ist das große Haus am Marktplatz - ihr könnt es kaum verfehlen. Die Schulzin heißt Schwarzmüller.” “Gut! Vielen Dank und wünscht mir Glück!” meinte Murla noch und machte sich wieder auf den Weg zum Marktplatz. Der Regen war heftig, so dass sie sich tief in ihren Mantel wickelte und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte.

Am Ziel angekommen, suchte sie das größte Haus auf und beschloss heute ohne Umschweife ihr Anliegen vorzubringen. Sie ging zur Eingangstür und klopfte. Es dauerte eine Weile, ehe rasche Schritte hinter der Tür ertönten und diese von einem mittelalten Mann in einfacher Kleidung geöffnet wurde. “Ja, bitte?” Sein Blick wanderte nach unten, bis er an der Gestalt der nassen Zwergin unter dem Vordach hängen blieb. “Ihr wünscht?” Murla räusperte sich, dann begann sie: “Angrosch zum Gruße! Mein Name ist Murloschtaxa Tochter der Mokloscha, Bergvögtin von Ishna Mur. Ich würde gerne die Dame Schwarzmüller sprechen.”

“Nun denn, kommt herein.” bat der Knecht, denn um einen solchen musste es sich handeln, die nasse Bergvögtin. Er warf einen stirnrunzelnden Blick auf die tropfende Frau, nahm ihr mit spitzen Fingern den nassen Mantel ab und hing ihm im Gang auf, und führte sie dann in die gute Stube neben der Küche, wo munter ein Feuer in einem Bollerofen brannte.

“Sie kommt sofort.” erklärte er und machte sich von dannen. Murla suchte sich einen Platz am Ofen und setzte sich hin, dann wartete sie auf das Erscheinen der Frau Schwarzmüller. Die erschien kurze Zeit später - eine ältere, wohlbeleibte Frau in den Fünfzigern, deren ergrautes Haar zu einer Flechtkrone am Kopf aufgesteckt war. Sie wischte ihre Hände an einer kunstvoll bestickten und sehr sauberen Schürze ab, ehe sie der Zwergin eine Hand entgegenstreckte. “Frau Bergvögtin, seid mir willkommen. Ich bin Mafalda Schwarzmüller. Sagt, was führt euch zu mir?” Einen Tee indes hatte die Schulzin nicht angeboten. “Einen schönen Tag, Frau Schwarzmüller, ich möchte Euch nicht zu lange aufhalten. Daher komme ich gleich auf den Punkt. Ich brauche Brennholz.” “Für das Hurenweib, bei dem ihr wohnt?” Die Miene der Schulzin kühlte rasant bis auf die Umgebungstemperatur ab.

“Für Tempel des Totengottes”, antwortet Murla ruhig  ohne weiter auf die Beleidigung einzugehen. “Der hat bereits genug Holz bekommen.” beschied die Schulzin sie bestimmt. “Nun, wenn Ihr der Meinung seid, dass das genug ist, dann würde ich gerne etwas zusätzliches Holz kaufen.” Murlas Aufforderung war ähnlich bestimmt. “Das braucht sie nicht.” Die Schulzin schüttelte den Kopf. “Das Weib ist eine Schande für die Geweihtenschaft, sagen ihre Hochwürden. Das Holz, das sie hat, reicht aus, sagen sie.”

“Nun”, Murla bemüht sich höflich zu bleiben obwohl die schon innerlich brodelte, “sie ist aber nicht alleine und mir ist es kalt, daher brauche ich Feuerholz.  Wie gesagt, ich möchte es auch bezahlen.” “Ihr seid im Wirtshaus willkommen, Frau Bergvögtin. Oder auch gerne bei mir. Ihr müsst nicht im Totentempel wohnen.”

“Bitte überlasst es mir, meinen Gastgeber auszusuchen. Ich möchte Euch doch nicht zur Last fallen. Ich möchte nur Holz kaufen.” “Nicht, wenn es dann in den Tempel geht. Wenn ihr wollt, lade ich euch für heute ins Gasthaus ein - dann macht ihr keine Umstände, wirklich nicht.” “Das Holz geht nicht in de Tempel, ich trage es selber!”

Nun musste die Schulzin doch lachen. “Nix für ungut, Frau Bergvögtin. Hättet ihr ein Haus hier, ich würd’ euch alles Holz liefern lassen, das ihr wollt. Aber die Metze im Totentempel, die muss erst einmal Anstand und Benehmen lernen, wenn sie etwas von uns haben will. Sonst macht sie einfach so weiter mit ihrem liederlichen Tun.”

“So meint Ihr also, dass Ihr mich ebenfalls Anstand und Benehmen lehren wollt?” Murlas Stimme wurde jetzt deutlich zornig. “Wenn Ihr Euch den Zorn Eurer Götter holen wollt, indem Ihr die Geweihten nicht mehr achtet, dann ist das allein Eure Sache. Aber wenn Ihr meint, mich hier beleidigen zu wollen, dann geht Ihr wohl ein wenig zu weit!” Abwehrend hob die Frau beide Hände. “Ich hab’ keinen Ärger mit Euch, Frau Bergvögtin. Aber es hat euch auch keiner geheißen, im Totentempel zu wohnen, wo wir doch zwei saubere, anständige und gute Gasthäuser hier haben.”

“Ihr wollt mir also sagen, dass Gäste sich nicht aussuchen können wo sie wohnen wollen?” “Natürlich dürft ihr das, solange euer Gastgeber euch einlädt. Aber dann braucht ihr euch nicht bei mir beschweren, dass es euch dort nicht gefällt.” “Nachdem Ihr mich jetzt genug beleidigt habt, könnt Ihr mir auch endlich das Holz verkaufen.” beharrte Murla. “Das werde ich nicht tun, Frau Bergvögtin.” schüttelte die Schulzin ihren Kopf. “Ihr habt hier keine Wohnstatt und die Borongeweihte hat ihren Teil erhalten.” Sie seufzte, holte Luft und setzte dann ein allerletztes Mal zu einer Erklärung an. Zwergen waren dickköpfig.

“Ihr seid eine Fremde hier und wir sind ein gastfreundliches Dorf, aber, Frau Zwergin, wir regeln unsere Angelegenheiten unter uns. “ “Wenn Sie das so meint”, erwiderte Murla nun, “dann bleibt mir wohl keine andere Wahl als mich an höherer Stelle über Sie zu beschweren.” Die Bergvögtin stand auf und ging zum Flur und nahm ihren Mantel vom Haken. “Die Zwölfe mit euch!” rief ihr die Schulzin noch hinterher, sah es aber auch nicht ein, sie zur Tür zu geleiten. Unverschämtes Pack, diese Kurzen! Hatten keine Ahnung von der Welt der Menschen, meinten aber, immer ihren Kopf durchsetzen zu können.

Kopfschüttelnd hörte sie, wie ihre Tür wieder krachend ins Schloss fiel.

Wütend schnaubend zog Murla von dannen. Gut, wenn sie hier keine Unterstützung bekommen würde, dann würde sie zu anderen Mitteln greifen müssen, damit Marbolieb einen angenehmen Winter erleben würde. Die Geweihte brauchte Ruhe und Wärme, um sich zu stärken und die würde sie bei dieser Bagage nicht bekommen.

Leise vor sich hin fluchend kam die Angroschna dann wenig später nass und durchgeweicht vom Regen wieder bei Marbolieb im Tempel an. “Ich bin wieder da”, begrüßte sie die Boroni. “Aber ich habe kein Holz bekommen.” fügte sie ein wenig kleinlaut hinzu. “Und anscheinend weiß auch schon das ganze Dorf, dass ich hier bei Euch bin.” ‘Was es die nächsten Tage bestimmt nicht einfacher macht. Und wenn ich weg bin, für dich erst recht nicht.’

“Ihr seid ja auch schon zwei Tage hier.” schmunzelte die Geweihte und streckte die Hand nach der patschnassen Zwergin aus. “Vielen Dank, dass ihr es versucht habt.” Stolz reichte sie ihrem Gast eine noch nicht allzuoft geflickte Decke, die sie für genau diesen Moment am Feuer gewärmt hatte. “Danke!” freudig ergriff Murla die Decke und begann ihre nasse, durchgeweichte Kleidung auszuziehen und nach und nach über die Leine am Herd zu hängen. Als sie damit fertig war, wickelte sie sich in die Decke, immer noch leise auf Rogolan fluchend.

“Was schimpft ihr so, Frau Murla?” Auch wenn sie die Worte nicht verstand, so war der Tonfall doch eindeutig. “Mögt ihr einen Tee?”

“Ich ärgere mich, dass ich es nicht geschafft habe, die Schulzin zu überreden”, maulte Murla. “Und einen Tee nehme ich gerne, etwas Warmes wäre jetzt genau das richtige.” Schweigend schenkte Marbolieb Tee in einen Becher, tastete nach der brummenden Zwergin und reichte ihn ihr. “Ihr habt es versucht.” tröstete sie.

Murla nahm ihr den Becher dankend ab und wärmte sich es ihre Hände auf und trank dann in großen Schlucken. “Das ist gut, sehr gut.” 

Dann meinte sie nachdenklich. “Hoffentlich habe ich Eure Situation durch mein Handeln nicht verschlechtert.” Entschieden schüttelte die blinde Menschenfrau den Kopf. “Was sollen sie denn noch tun?” fragte sie. “Jeder Schritt mehr wäre einer in Richtung Götterlästerung - und das werden die Traviageweihten nicht zulassen.”

“Meint Ihr nicht, dass sie diesen Schritt schon längst getan haben?”  Erneut schüttelte die Frau den Kopf, nachdenklicher diesesmal. “Aus ihrer Sicht sind sie im Recht. Und mein Verhalten ist nicht traviagefällig.” Murla schüttelte den Kopf, ihrer Meinung gingen sie deutlich zu weit und würden von den Gänsepriestern auch noch unterstützt. Aber egal was sie dazu sagen würde, Marbolieb würde die Schuld doch immer nur bei sich selbst suchen. Daher nahm sie wieder den Teebecher in die Hände und trank stumm noch ein paar Schluck.

“Heute ist das Wetter ja noch lausiger als gestern. Er ist zwar etwas wärmer, aber der Regen verwandelt Calmir in ein Schlammloch.” “Er wird wieder aufhören.” Spätestens in ein paar Tagen. Die Geweihte hatte sich selbst einen Becher eingeschenkt - mit einem Finger in selbigem, um die Füllhöhe zu prüfen, was indes bei dem heißen Tee eine zwiespältige Sache war und wärmte zufrieden ihre Finger, schnupperte an dem Kräutersud und schloss genießerisch die Augen. “Ich bin froh, dass ich heute nicht mehr vor die Türe muss.”

“Ja, ich auch, hoffentlich trocknet alles bevor wir wieder raus müssen.” Der Tee war wohlig warm und wärmte die Angroschna von innen. Die Decke alleine war bei dem kleinen Feuer in der Küche nicht wirklich ausreichend. “Habt ihr Ersatzkleidung?” 

Wenigstens war das Feuer so groß, dass die nasse Kleidung schnell trocknen würde. “Ich habe noch etwas Leibwäsche dabei, mehr aber nicht.” antwortete Murla. “Die Decke reicht erstmal.” “Ihr könnt ein oder zwei Roben von mir haben.”  Murla musste laut lachen. “Oh, ich glaube nicht, dass die mir passen würden.” Betreten senkte die Geweihte den Kopf. “Vielleicht meinen Mantel? Er ist sehr warm.” “Nein, vielen Dank, die Decke reicht. Ich habe ja auch den Tee.”

Marbolieb nickte - mehr als anbieten konnte sie es nicht, und so sehr viel kleiner als sie würde Murla gewiss auch nicht sein - höchstens zwei Köpfe, so dass sich eine Robe auch aufbinden oder raffen ließe. Sie roch an ihrem Tee, trank vorsichtig einen Schluck und genoss den Frieden am Feuer. So saßen die Frauen einige Zeit still und wärmten sich an ihrem Tee. Das Knistern der Scheite im Ofen war das einzige Geräusch das zu hören war. Bevor Murla aber fast weggenickt war, fragte sie: “Ich habe schon wieder Hunger, mögt Ihr etwas Deftiges oder etwas Süßes?” Marbolieb fuhr aus ihrem Sinnieren auf und benötigte einige Augenblicke, um die Frage zu sortieren. “Entscheidet ihr, Frau Murla. Es sei denn, ihr wünscht Grütze - die werde ich euch gerne kochen.” “Ihr wollt lieber Grütze essen statt Brot oder Kuchen?” Murla zog erstaunt die Augenbraue hoch. “Das ist alles, was ich euch anbieten kann, Edle Dame.”

“Aber nicht doch, wir können doch noch aus dem Vollen schöpfen. Und daher sollten wir das Ganze genießen. Also wollt Ihr etwas Deftiges oder etwas Süßes?” “Etwas Deftiges wäre wundervoll!” Schon bei der Aussicht darauf begann Marboliebs Magen zu knurren. Murla nickte zustimmend, dann begann sie ein paar Scheiben Brot in der Pfanne zu rösten, da das Brot nun doch schon ein wenig hart wurde und so viel besser schmeckte. Auf diese Brotscheiben schnitt sie ein paar dicke Scheiben von dem Schinken ab und krönte das ganze mit einem Spiegelei. Der Duft von gerösteten Brot und den knusprigen Eier ließ Murla das Wasser im Munde zusammenlaufen und sie konnte es kaum erwarten, dass der ‘stramme Alrik’ endlich auf den Tellern lag. Eine Portion für Marbolieb und eine für sich.  Sie schob der Boroni den Teller vor die Nase und meinte dann: “Wohl bekomm’s, Euer Gnaden! Ein bißchen was Warmes ist doch genau das richtige bei diesem Wetter.”

“Herrlich!” freute sich die Geweihte, die mit glänzenden Augen dem Hantieren der Zwergin gelauscht hatte und nun die köstlichen Düfte, die das Ergebnis verströmte, einsog. Sie strahlte glückselig und spürte, wie sich das Wasser in ihrem Mund sammelte. Sie legte die Hände aneinander und sprach mit leiser Stimme - immerhin war heute ein Gast am Tische - das Tischgebet. “Für unser täglich Speis und Trank sei Dir, Frau Travia, unser Dank.” was sie mit einem leisen ‘so sei es’ beschloss. “Wohlschmecken, Frau Murla - und herzlichen Dank” wünschte sie. Während des Gebetes blieb Murla auch stumm und still sitzen, aber nachdem ihr die Boroni einen guten Appetit gewünscht hatte, bedankte sie sich mit “Euch auch, Euch auch!” und ließ sich das Mittagsmahl schmecken.

“Was kann man bei dem Wetter auch schöneres machen”, kam es von leichtem Schmatzen immer wieder unterbrochen während des Essen von der Angroschna. “Außer gut essen und danach ein Pfeifchen rauchen!” Marbolieb nickte begeistert, ehe sie sich glückselig in das Festmahl vertiefte und mit dem Spiegelei kämpfte, das ein Eigenleben zu entwickeln schien versuchte, sich seinem Schicksal durch sofortige Flucht zu entziehen, was aber am äußerst entschiedenen Widerstand der Verursacherin desselben scheiterte. Als Murla den ungleichen Kampf sah, musste sie erst einmal ein wenig schadenfroh lächeln. Aber dann besann sie sich auf ihre gute Kinderstube und fragte: “Soll ich Euch mit dem Spiegelei helfen? Mir scheint, es wehrt sich vehement.”

“Mmmpf!” wehrte die Boroni dankend ab, die, wenig elegant, aber höchst effektiv, der Hälfte des aufsässigen Eis ein jähes - und auf ihrer Seite glückseliges - Ende bereitete. Besonders ansehnlich war es nicht, wie die blinde Frau den strammen Alrik verspeiste, und rasch zog sich über ihr Kinn eine lange Spur Eidotter. Doch das begeisterte Strahlen in ihrem Gesicht wog viel auf.

Dieses glückliche Gesicht ließ auch Murla zufrieden schmunzeln. Glückselig beendete Marbolieb das reichhaltige Mahl und leckte sich verstohlen die Finger.  “Wundervoll.” Sie seufzte zufrieden und faltete die Hände über dem Bauch. “Das freut mich, wenn Euch meine Kochkunst zufrieden stellt.” Murla war sichtlich froh über den guten Appetit der Geweihten. “Und was meint Ihr zu einem Pfeifchen? Soll ich es für Euch stopfen?” “Großartig.” bedankte sich Marbolieb. So satt und vollgefressen, wie sie war, mochte sie sich am liebsten gar nicht mehr bewegen. Sie schnaufte glücklich, ehe sie sich weniger zufrieden erhob und begann, tastend den Tisch abzuräumen, um die benutzten Teller und das Kochgeschirr zu waschen. Das Waschwasser war eiskalt und biss in ihre Hände. Innerlich schaudernd warf sie eine Handvoll Asche in den Bottich und begann, in der Lauge die tönernen Tiegel und Teller zu säubern.

Während Marbolieb abwusch, stopfte Murla die beiden Pfeifen und als dieses erledigt war, begann sie das saubere Geschirr abzutrocknen und wegzuräumen. Bald war das Geschirr erledigt und die Boroni wärmte sich ihre roten Hände am Feuer. Friede kehrte in der Küche ein. Als Marbolieb sich dann nach dem Abwasch hingesetzt hatte, zündete Murla ihre Pfeife an und reichte der Boroni die ihre. “Ich komme gleich mit einem Span.” Dankbar nickte die Geweihte und wartete, bis die Zwergin wieder zu ihr trat. Glücklich tat sie den ersten Zug, schmeckte dem Rauch hinterher und atmete tief aus.

“Ich habe zwei Bücher hier.” erklärte sie fast zusammenhanglos. “Ihr fragtet gestern danach.” “Darf ich die beiden einmal sehen?” Schweigend nickte die Boroni, legte die Pfeife auf den Tisch und holte die kleine Truhe, aus der sie am Vormittag auch den Beutel genommen hatte, den sie Murla gegeben hatte, und der sich sehr nach einem münzenreichen Inhalt angefühlt hatte.

Sie stellte die Truhe - zwei Spann mochte sie lang sein, anderthalb breit und anderthalb hoch - auf den Tisch, verfehlte die tönerne Pfeife nur um Weniges und klappte den Deckel auf. Zum Vorschein kam ein sorgfältig gefaltetes Stück schimmernden schwarzen Stoffes, bei dem es sich nach Murlas Einschätzung um Spinnenseide handelte, ein zweites Stoffbündel, wohl ebenfalls eine gefaltete Robe, aus sehr zerschlissener und dutzendfach geflickter Wolle, ein Bündel unbeschriftetes Pergament, einige Federkiele, ein Federmesser, eine Wachstafel samt Griffel, eine mit einem Faden zusammengehaltene tiefschwarze Haarsträhne, ein Tintenfässchen, ein Beutel mit Löschsand und zwei in dunkles, abgegriffenes Leder gebundene Oktavbände, eines davon mit einem geprägten Boronsrad auf dem Umschlag. Beide reichte die Geweihte weiter. 

Eines davon trug auf dem Deckblatt in Kapitälchen den Titel ‘Boron-Vademecum’, das zweite schien ein handschriftliches Tagebuch zu sein. Marbolieb hatte eine sehr klare, schwungvolle Schrift besessen, zeigte das erste Blättern der Zwergin. Und sie hatte viele ihre Aufzeichnungen in Bosparano, einige auch in einer unbekannten Schrift gemacht. “Eines ist mein Traumtagebuch.” erklärte die Geweihte, als das Rascheln kurz endete.

Sie griff nach ihrer Pfeife und tat einen vorsichtigen Zug - glücklicherweise war sie nicht ausgegangen. Als Marbolieb ihr Schatzkistlein geöffnet hatte, fiel Murla ein, dass sie noch das Geld der Geweihten in ihrer Gürteltasche hatte. Flink griff sie hinein und holte den Beutel heraus.

“Bevor ich es noch einmal vergesse”, sagte sie und stellte den Beutel neben das Kästchen. “Ich konnte nichts ausgeben, so bekommt Ihr es unberührt zurück.” Dann nahm sie sich das Tagebuch und sie blätterte ein wenig hin und her. Verlegen hustete sie und meinte dann: “Ich hätte daran denken sollen, dass Ihr natürlich in Kusliker Zeichen schreibt. Ich lebte zwar lange in Albenhus und spreche Eure Sprache auch wohl ganz gut, aber  ich habe nie Eure Kusliker Zeichen gelernt.

Naja, so ein wenig erkenne ich die einzelnen Zeichen, aber lesen ist etwas anderes.” Sie legte das Buch vorsichtig wieder auf das Stück Stoff, in dem es eingewickelt war. “Schreibt Ihr noch weiter in Eurem Tagebuch?” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Ich sehe die Zeichen ja nicht mehr.” Und die Seite auch nicht.

“Träumt Ihr denn nicht mehr?” fragte Murla. “Oder merkt Ihr Euch das alles?” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Ich habe dort auch die Träume meiner Gläubigen notiert. Bevor ich hierher kam.” “Vielleicht kann Murixe für Euch die Aufzeichnungen übernehmen, so könnte sie Eure Schrift lernen und Euch zur Hand gehen.” “Ich kann ihr meine Schrift aber nicht zeigen.” lächelte die Boroni. “Außerdem kommen keine Gläubigen mehr.” Was das Aufkommen an zu deutenden Träumen drastisch reduziert hatte.

“Bei Angrosch!” fluchte Murla. “Stimmt, das geht gar nicht. Tut mir leid, ich wollte Euch nicht beleidigen.” Marbolieb schüttelte den Kopf. “Womit hättet ihr das tun sollen? Es tut mir leid, dass ich das eurer Tochter nicht beibringen kann.”

“Dass ich vergaß, dass Ihr blind seid. Es ist nicht immer so präsent, wenn man Eure Augen sieht.” Die Geweihte schmunzelte und hob die Schultern. “Wartet, bis ich das nächste Mal gegen die Wand laufe.” schlug sie vor.

Daraufhin musste Murla laut lachen. “Ich vermute, dass ich es hören würde.” Das Grinsen, das über das Gesicht der jungen Frau flackerte, war dazu Antwort genug.

Sie begann, mit vorsichtigen Fingern ihre Habseligkeiten wieder zu sammeln und in die Truhe, in der sich darüber hinaus nichts befand, zurückzusortieren. Liebevoll strich sie über den Stoff der beiden Roben, eine alt und verbraucht, die andere offensichtlich ungetragen, und schichtete über diese das Haarbüschel und den Geldbeutel, ehe sie sorgsam nochmals prüfte, dass alles seinen Platz gefunden habe.

“Sind die Haare von Eurer Tochter?” fragt Murla als sie sah wie vorsichtig und behutsam Marbolieb die dunkle Locke wieder in die Kiste legte. Die Geweihte nickte, und ihre Fingerspitzen liebkosten zärtlich die feinen Strähnen.

Murla verstand den Kummer und die Einsamkeit Marboliebs. Sie sollte nicht von ihrer Tochter getrennt sein, aber hier konnte die Kleine nicht leben. In dieser Eishöhle mit einer Blinden und einem ganzen Dorf voller Menschen die sie verachteten und hassten. Schweigend räumte die Geweihte die Truhe wieder an ihren alten Platz und tastete nach ihrer Pfeife, prüfte, ob noch Glut vorhanden sei und tat einen vorsichtigen Zug. So saßen die beiden Frauen schweigend und Pfeife rauchend zusammen und dachten an ihre jeweiligen Töchter. Nach einer Weile durchbrach Murla das Schweigen: “Kennt Ihr das Buch Eures Totengottes auswendig?”

Marbolieb schüttelte den Kopf. “Einen Teil des Vademecums, nicht alles.” Sie tat einen nachdenklichen Zug und erfreute sich an der Ruhe und dem Frieden, der die Tempelküche erfüllte - und an dem das fröhlich brennende Feuer seinen Teil hatte. Dass sie dafür einige Tage ganz auf ein Feuer verzichten würde, später, wenn die Zwergin wieder abgereist war, das war eine Sache, die sie dann bedenken würde, wenn es so weit war. Jetzt war es warm.

“Das ist schade, dann hätte Murixa das Lesen der Kusliker Zeichen lernen können. Aber vielleicht reicht es ja, wenn Sie Euch die Stellen vorliest, die Ihr auswendig könnt.” Marbolieb zuckte bedauernd die Schultern. Wenn die Zwergin die Zeichen nicht kannte, würde es ihr auch schwer fallen, vorzulesen. Zumal sich die Boroni noch nicht so sicher war, ob sie die Idee, die Zwergin in Kirchentexten schmökern zu lassen, so gut fand.

Murla erkannte die Skepsis der Boroni und lenkte ein: “Vielleicht ist die Idee doch nicht so gut …” Dann als sie sich gerade wieder eine Tasse Tee holen wollte, fiel ihr wieder ein Tropfen von der Decke auf die Nase. “Sagt bitte, wo überall ist denn Euer Dach noch kaputt?” Marbolieb runzelte überlegend die Stirn. “In der Sakristei an zwei Stellen, im Waschraum an dreien - und in zwei der Gästekammern. Und im Flur.” Mit einem erneuten Zischen zerschellte ein weiterer Tropfen im Feuer.

“Und hier aus dem Dorf erklärt sich natürlich keiner bereit Euch das zu reparieren? Im Gegenteil, die würden vermutlich feiern, wenn Euch das Dach auf den Kopf fällt!” grummelte Murla erzürnt. “Es ist ja nicht arg.” beschwichtigte die Geweihte. “Nur ein paar Tropfen.” “Aber das macht man nicht! Wenn jemand blind ist und es nicht selber reparieren kann und die Blinde dazu noch eine Geweihte ist! So etwas geht einfach nicht!”

“Sie würden es mir ganz sicher richten, wenn ich vor den Geweihten der Travia meine Verfehlungen bereuen und Besserung geloben würde.” erklärte die Boroni aufrichtig. “Oh, diese falschen aufgeblasenen Gänsepriester!” flucht Murla jetzt recht lautstark. “Wenn etwas nicht nach ihren Wünschen geht, dann stellen sie sich quer und hetzen alle auf!”

“Sie haben doch recht, Euer Wohlgeboren.” beharrte Marbolieb. “Ich führe kein traviagefälliges Leben - und ich habe mich auch keines Besseren besonnen, als sie es mir anboten. Dwarosch meinte das auch und hat mich deshalb gescholten.” Sie senkte den Kopf und verfiel in Schweigen, und auf ihrem Gesicht spiegelten sich keine schönen Erinnerungen.

“Diese Gänsepriester sind meiner Meinung nach vernagelt und haben einen Stock im Arsch - verzeiht mir die harten Worte.” “Sie folgen der Leitung der Gütigen und schwanken nicht.” “Ihr nennt sie die Gütige Göttin?” meinte Murla kopfschüttelnd. “Wo ist sie gütig, wenn sie Eure Liebe zu Dwarosch verbieten will? Wo ist sie gütig, wenn deswegen ihre Priester das ganze Dorf gegen Euch aufhetzen? Wo ist sie gütig, wenn man Euch den Abfall und die Reste gibt, während ihre Priester aus dem vollen leben?”

“Sie hütete die Familie und die Gemeinschaft - und verteidigt sie gegen alle, die sie in Gefahr bringen.” seufzte die Boroni unglücklich. “Ihr, Mirla und Dwarosch seid eine Familie, in meinen Augen eine bessere Familie als sie manches Menschenpaar sind.” versuchte Murla die Boroni zu trösten.

“Wir haben den Segen keines Gottes.” schüttelte die Geweihte betrübt den Kopf. “Und die Traviageweihten haben recht - ich bringe das Dorf in Unfrieden.” Obwohl sie dies weder gewünscht noch beabsichtigt hatte. Was vermutlich der Preis ihres Lebenswandels und die Strafe Heimeligen dafür war. Über den Fatalismus der Geweihten konnte Murla nur den Kopf schütteln. In ihrer Meinung, dass sie an allem selbst Schuld sei und das es keinen Weg aus diesem Dilemma gab, war etwas wo Marbolieb schon den gleichen sturen Dickschädel entwickelte wie die Angroschim.

“Es ist nicht Eure Schuld!” “Dass mir die Männer hinerhergeschaut haben, als ich das erste Mal ins Dorf kam, und dass ich keinen Mann an meiner Seite mitbrachte, das liegt an mir, Frau Murla. Wäre ich ein Mann oder eine alte Vettel, wäre das nicht geschehen.” “Das Euch Männer nachschauen, liegt eigentlich in der Natur. Und dazu gehören zwei, Ihr und die Männer! Warum seht Ihr also die Schuld nur bei Euch? Und es ist doch nicht notwendig, dass eine Frau Eures Alters einen Mann hat, oder?” “Wenn sie ein Kind hat, halten meine Brüder und Schwestern in Travia es für angemessen.” Sie seufzte. “Und es für höchst unangemessen, dennoch mit einem Mann … zusammenzusein, ohne den Segen der Travia dafür zu haben. Noch dazu, wenn es nicht einmal ein Mensch ist.”  Sie biss sich in ihre Unterlippe und knotete ihre Finger ineinander.

Kopfschüttelnd schimpfte Murla auf Rogolan weiter über den Starrsinn beider Seiten - der bigotten Gänsepriester und der Boroni. Die Boroni senkte beschämt den Kopf und schwieg auf das unzufriedene Gebrummel ihres Gastes. Nachdem Murla sich einigermaßen wieder beruhigt hatte, meinte sie zur der Boroni: “Aber es ist wie es ist und wir dürfen uns von diesen Dingen nicht unterkriegen lassen!  Weil das nämlich genau das ist, was sie wollen. Wenn sie merken, dass es uns schlecht geht oder wir traurig sind, dann geht es ihnen gut und sie freuen sich. Und diesen Erfolg wollen wir ihnen nicht gönnen, oder?”

“Ich denke nicht, dass die Traviageweihten schadenfroh sind.” sprang die Boroni für ihre Glaubensgeschwister in die Bresche. Murla zuckte nur mit den Schultern. “Vielleicht sind sie nicht schadenfroh, aber sie sind auch nicht bereit Euch in irgendeiner Form zu unterstützen.” “Da ich auch nicht auf sie zugehe, Frau Murla.” “Ihr seid alle Geweihte Eurer Götter, da solltet Ihr doch zusammen und nicht gegeneinander handeln. Ist das nicht der Sinn der Zwölfe, dass sie alle gemeinsam stehen und den Menschen Hilfe gewähren?”

“Vergleicht es mit einer Familie.” Die Boroni hielt den Kopf gesenkt und atmete einige Male kontrolliert ein und aus, ehe sie mit ruhiger Stimme fortfuhr. “Sie sind eins, dennoch sind Geschwister und Eltern manchmal unterschiedlicher Meinung und streiten gar.” “Ja, sie mögen untereinander streiten, aber nach außen sollten sie eine Familie sein. Aber hier in Calmir wird der Streit nach außen getragen.”

“Der bleibt im Dorf - wenn keine Gäste kommen. Und natürlich unterstützen die Dörfler die Geweihten der Heimeligen - diese waren fast zwei Dutzend Götterläufe die einzigen, die sich um sie gekümmert haben.” Ein lautes Seufzen zeigte Marbolieb, das Murla mit ihrem Einwänden am Ende war. Genickt hielt Marbolieb den Kopf gesenkt und tastete schließlich schweigend nach ihrer Pfeife, die längstens ausgegangen war. Erneut eroberte Schweigen den Raum.

“Lasst sie mich neu stopfen” forderte Murla und griff vorsichtig nach der Pfeife. Dankbar nickte die Boroni, ohne indes den Kopf zu heben. Sie blies sichtlich Trübsal ob des vorausgegangenen Gesprächs. Murla paffte und blies Ringe in die Luft. Sie hoffte, dass sie Boroni durch ihre Ansichten nicht verärgert oder gar beleidigt hatte. Sie hatte doch nur versucht ihre Wahrnehmung zu schildern, aber anscheinend gingen dabei die Vorstellungen von Göttern, Familie und Zusammenhalt zwischen den Menschen und den Angroschim weit auseinander.

“Wenn ich meine Kirche bitte würde, mich zu versetzen” abgesehen davon, dass sie gerade keine Möglichkeit gewusst hätte, einen Boten nach Punin zu schicken “weiß ich nicht, wohin ich komme. Dwarosch wird mich hier suchen.” Wenn er nächsten Sommer zu seinem versprochenen Besuch kam.  “Ja, das wäre ein Problem”, meinte Murla. “Aber sagt wohin könnte man Euch denn versetzen? Gibt es Grenzen?” “Überall in den Zwölfgöttlichen Landen - wo ich gebraucht werde.” war die nicht besonders ermutigende Antwort.

“Wenn ich hierbleibe, werde ich Dwarosch wiedersehen.” Eine bloße Feststellung.

“Ja, wenn Ihr dann noch nicht von diesen Irren vertrieben worden seid.”

Das entlockte der bedrückten Boroni ein energisches Kopfschütteln. “Ich bleibe.” “Dann wird Euch Dwarosch hier finden, bestimmt!”

Marbolieb nickte, nicht vollständig überzeugt. “Ich liebe ihn.” flüsterte sie leise zu ihren Händen. “Ja, das habt Ihr auch schon in Ishna Mur deutlich gezeigt. Ihr beide!” meinte Murla jetzt wieder deutlich fröhlicher.

Die Wangen der Geweihten röteten sich deutlich, und sie räusperte sich mehrfach, ehe sie ein verschämtes ‘oh’ hervorbrachte. “Und ich habe es Euch doch auch bei unserer ersten Begegnung gesagt. Es war Euch beiden so klar ins Gesicht geschrieben.” Daraufhin wurde das Gesicht Marboliebs nochmal eine Schattierung dunkler und sie wusste mit einem Mal nicht, wohin mit ihren Händen. Fahrig griff sie nach der Pfeife und hätte sie fast fallen lassen, ehe sie das Tongebilde jäh, als sei es in ihren Fingern heiß geworden, wieder auf den Tisch zurücklegte. Sie räusperte sich erneut und senkte den Kopf. “Er ist kein Zwölfgöttergläubiger.” flüsterte sie kratzig.

“Kann Liebe nicht über so etwas hinwegsehen? Und selbst Bruder Grimmgasch hat es schließlich getan.” “Ich tue es.” bekannte die junge Frau mit nun feuerroten Wangen. “Aber gleichzeitig frage ich mich, ob das nicht auch Götterlästerung ist, wenn ich mein … “ sie räusperte sich erneut, ehe sie mit sehr leiser Stimme fortfuhr “mein Bett mit einem Ungläubigen teile.” Sie holte tief Luft. “Und ich werde es trotzdem mit Freunden wieder tun … wenn er das will.”

“Es gibt Strömungen unter den Menschen und auch schon unter den Angroschim, die sagen, dass Angrosch und Ingerimm zwei Seiten der gleichen Entität sind. Nach dieser Lesart begeht Ihr keine Gotteslästerung.” “Ich weiß. Aber Bruder Grimmgasch sieht das anders - und viele Menschen ebenso.”

“Bruder Grimmgasch wird noch viel lernen. Und vermutlich hat er es Euch nicht gesagt, aber der Tempel des Angrosch in Senalosch ist auch ein Ingerimmtempel und er wurde in beiden Tempel über und unter der Erde geweiht.” “Dwarosch hat es erzählt.” murmelte die junge Frau, noch immer mit leuchtend roten Wangen und Ohren und mit ihren Gedanken teilweise merklich anderswo.  “Ich hoffe, der Winter ist bald vorbei.”

“Naja, er fängt erst an.” meinte Murla. “Aber die Zeit wird Euch bestimmt nicht lang vorkommen.” “Ich vermisse ihn so sehr.” flüsterte die junge Frau mit leuchtend roten Wangen und Ohren. “Ich hätte nie gedacht, dass mir einmal so etwas passiert.”

“Das ist doch zum einen etwas sehr schönes”, meinte Murla, “zum anderen natürlich etwas sehr trauriges. Ich kenne das Gefühl sehr gut, schließlich habe ich lange Zeit auf Borix warten müssen, wenn er in irgendwelche Kriege gezogen ist und ich ganz alleine oder nur mit den Kindern zuhause auf ihn gewartet habe.” Sie zog ein paar Züge an der fast schon ausgebrannten Pfeife. “Aber im Moment könnt Ihr eigentlich fast sicher sein, dass Dwarosch nicht in den Krieg zieht. Die dunklen Bedrohungen sind zwar noch nicht alle geschlagen, aber es sind auch wieder ruhigere Zeiten.”

“Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einen Liebsten haben würde.” bekannte die Geweihte.  “Ich fürchte nicht, dass er in einem Krieg ohne mich stirbt. Ich würde ihn begleiten.” “Das wollen wir für alle nicht hoffen!” meinte Murla zuversichtlich. “Und ja, Liebe ist etwas schönes und wichtiges, das man hüten muss.”

“Jeder stirbt irgendwann, Frau Murla. Ich wünsche für uns, dass wir nicht alleingelassen und einsam sterben.” Sie hob den Kopf in die Richtung der anderen und schenkte ihr ein unsicheres Lächeln.  “Doch bis dahin bin ich mit meinem Mann glücklich, der verrückt genug ist, sich mit einer Boroni einzulassen.”  Bei diesem Gedanken grub sich ein entschiedenes Schmunzeln in ihre Mundwinkel. “Doch bis zum Sommer ist es noch so sehr lange hin.” Angesichts dieser Aussicht verfinsterte sich ihre Miene erneut.

“Den Winter über werdet Ihr Euch wünschen, dass der schnell vergeht”, versuchte Murla die Geweihte aufzuheitern. “Natürlich werde ich das - aber das wird er nicht.” seufzte die junge Frau, die ihre Befürchtungen von Murla untermauert sah. Murla musste lachen, denn sie dachte dabei an die Anwesenheit ihrer Tochter in Calmir und nicht die Wartezeit. “Lustig ist das nicht.” murmelte die Geweihte. “Nein, nicht wirklich, verzeiht!” meinte Murla. “Aber nach dem Winter kommt der Sommer, dann wird es wieder gut.”

Ein herzzerreißendes Seufzen war alles, was sich der Boroni zu dieser ungeheuer langen Zeitspanne entrang. “Er wird dann bestimmt Mirla mitbringen. Dann könnt Ihr  eine schöne Zeit zusammen verbringen”, versuchte die Angroschna die Geweihte ein wenig aufzumuntern. Die schluckte und nickte. “Vielleicht kann er dann eine Woche bleiben.” hoffte sie mit verzagter Stimme. “Warum sollte er den nicht länger bleiben können?”

“Das konnte er noch nie - zwei, drei Tage waren bislang das Längste.” “Er kann sich bestimmt länger frei machen! In seinem Alter muss man ihm auch eine längere Zeit ohne Dienst zugestehen.” “Ihr wisst, wie er ist. Zuerst kommt der Dienst.” seufzte Marbolieb.

“Eben!” bestätigte Murla. “Und da sollte er sich selber nicht so wichtig nehmen, es geht auch längere Zeit ohne ihn. Ihr müsst ihm nur gut zureden!” “Ihr überschätzt meinen Einfluss bei ihm.” schüttelte die junge Frau den Kopf. “Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt und eine Zeit vereinbart hat, hält er sich daran.” Jetzt musste auch Murla seufzen. “Ja, die Angroschim sind stur und in manchen Dingen nicht zu beeinflussen.” Dann überlegte sie kurz.

“Wie war das mit Euren Augen. Die Blindheit ist eine Folge des Giftes, nicht wahr?” Die sowieso schon betrübte Miene der jungen Frau fiel weiter in sich zusammen. Sie hob die Schultern. “Vielleicht. Oder der dämonischen Berührung.” Sie war keine Heilkundige - und auch der Gebirgsbock hatte sich nicht sehr darüber ausgelassen. “Nun, wenn es wie wir glauben ein Gift ist, dann kann die Wirkung auch nachlassen.” meinte die Angroschna. “Stellt Euch vor, dass Ihr wieder sehen könnt, wenn Ihr Dwarosch das nächste Mal in die Arme schließt!” “Das wird nichts ändern - und verkürzt die Zeit zum Sommer nicht.” Die Stimme der jungen Frau wurde immer leiser und ihre Augen glänzten verdächtig.

“Ihr müsst es Euch vorstellen!” versuchte Murla noch einmal die blinde Priesterin aufzumuntern. “Und seid bitte nicht so traurig!” Marbolieb schluckte und drehte den Kopf zur Seite, weg von Murla. Sie schniefte. ‘Och diese Jugend …’ dachte die alte Angroschna und stand auf und legte Marbolieb behutsam ihren Arm um die Schultern. “Er wird schon kommen. Und alles wird gut. Und so lange ist das doch gar nicht.” “Mehr als ein halber Götterlauf.” flüsterte die magere Frau erstickt. Wie sehr sie die Wärme und die Umarmung ihres Liebsten jetzt schon vermisste! Für einen Zwergen indes war diese Zeit ein Nichts. Und ihre Pflicht und Schuldigkeit war es, sich nicht an Dinge zu klammern. Auch nicht an Hoffnungen. Auch nicht, und insbesondere, wenn es ihr so schwer fiel wie jetzt.  Sie seufzte tief.

Tröstend strich die Angroschna Marbolieb über den Kopf. Was konnte sie schon sagen, sie wusste, dass es im Leben immer anders kam als man es sich wünschte. Aber dass das Schlimme sich auch meist in Gutes verwandelte. Oder das man sich später nur an das Gute und Schöne erinnerte. Aber das waren Aussagen, die sich vermutlich für die junge, verliebte Frau nur einfach platt und falsch anhören würden, obwohl sie sie selber vermutlich in ein paar Jahren ihrer Tochter ebenso erzählen würde. Daher blieb ihr nicht viel mehr als stumm der traurigen Frau über die Haare zu streicheln und ihr so ein wenig Trost zu spenden. Die nicht einmal halbfingerlangen, schmerzlich kurz geschorenen Haare der Frau lagen wie ein dichtes, kurzes Fell an ihrem Kopf. Sie schluckte erneut, doch Murla spürte an ihren angespannten Muskeln, wie sehr sie um ihre Beherrschung rang und bitter entschlossen war, Sieger zu bleiben.

Es fühlte sich schon etwas komisch an über den Kopf der Geweihten zu streichen, aber für Murla war die Geste der Tröstens und des Verständnisses über den Kummer der schwer verliebten Boroni wichtiger. Die holte nochmals tief Luft, genoss noch einen Atemzug lang die Umarmung der älteren Frau und raffte sich dann zusammen. “Danke, Frau Murla. Doch ich sollte euch nicht mit meinen kleinen Problemen behelligen. Das tut mir leid.”

“Ach was, das ist doch alles nur natürlich. Und ich kann Euch nur zu gut verstehen …”, sagte Murla ohne mit der tröstenden Geste aufzuhören. Die junge Frau genoss schweigend die wohlwollende Umarmung. Ein Luxus, der ihr wahrlich nicht zustand - doch wer würde davon je erfahren? Sie schloss die Augen, und ganz langsam entspannten sich ihre verkrampften Muskeln. Murla spürte wie sich die Boroni entspannte, aber trotzdem wollte sie sie noch nicht auslassen. Ein wenig würde sie die größere, junge Frau noch halten. Zeit verging, und die Pfeifen der beiden Frauen erloschen, während das Herdfeuer zu glühenden Kohlen zusammensackte.

Nun ließ Murla die Geweihte langsam los. “Seid nicht mehr traurig. Was wollen wir an diesem regnerischen, trüben Tag noch machen?” Ratlos hob die Geweihte die Schultern. “Holzspäne schlagen?” grübelte sie. “Hmm”, antwortete Murla mit einem Blick auf den vollen Korb mit den Spänen. “Ich glaube mit den Spänen kommen wir noch eine Weile aus.” Dann fiel ihr der Brief ein, den ihr Grimmgasch mitgegeben hatte. “Aber halt, da fällt mir etwas ein!”

Sie stand auf, ging zu ihrem Rucksack und holte das Schriftstück heraus. “Ich habe doch von Grimmgasch einen Brief für Euch mitbekommen. Soll ich ihn Euch vorlesen?” “Gern.” nickte Marbolieb. Eine Ablenkung war ihr hochwillkommen - und ihr Bruder im Glauben hatte ihr eine Nachricht versprochen. Murla setzte sich auf den Stuhl nachdem sie ihn so vor das Fenster geschoben hatte, dass noch etwas des trüben Tageslichtes auf den Bogen fiel, faltete den Brief auseinander und begann vorzulesen. Grimmgasch berichtete in seinem Schreiben - so wie er es Marbolieb bei dem Besuch in Ishna Mur versprochen hatte - von seinen Entdeckungen auf den alten Stelen in der Bergwacht. Ihr hatte schon einen kleinen Teil der vielen Stelen, die in seinem(!) Tempel stand entziffern können. Und es schien sich zu bestätigen, dass von diesem kleinen Teil ein kleiner Teil der Inhalt nicht von den Taten und Ereignissen der Angroschim im vergangenen Ishna Mur handelten, sondern wie er es mit Marbolieb diskutiert hatte, scheinbar die Aufschriebe der Träume der Altvorderen waren.

Die lauschte schweigend und schien gut damit beschäftigt, sich den Inhalt des Schreibens bestmöglichst zu merken, um später ausgiebig darüber nachzusinnen. Außerdem berichtete er davon, dass er sowohl vom Hochgeweihten des Tempels in Senalosch als auch von seinem Mentor Torod als Priester von Ishna Mur bestätigt wurde. Und von seinem Briefwechsel mit Torod, dem er die These, dass die Träume der Angroschim auf vielen der Stelen aufgeschrieben wurden, mitgeteilt hatte. Das dieser die Idee sehr interessant fand und mit weiteren Geweihten dieses Thema diskutieren würde. Zu diesen Diskussionen würde dann Grimmgasch eingeladen und so als junger Geweihter seine Meinung vor den alten, ehrwürdigen Priestern seines Volkes darlegen können. “Das freut mich für ihn. Bitte richtet ihm meine besten Wünsche und meinen Dank aus.”  sinnierte die Geweihte.

Ihr Bruder im Glauben schien damit wahrlich seine Berufung gefunden zu haben - und seinen Platz. Eine überaus erfreuliche Sache, die sie ihm von Herzen gönnte. “Das werde ich machen”, freute sich Murla. “Wollt Ihr ihm auch ein paar Zeilen mitgeben? Ich kann sie für Euch schreiben, wenn Ihr wollt. Er würde sich sicherlich sehr freuen.”

Die Geweihte schüttelte mit einem vorsichtigen Lächeln den Kopf. “Es sind die gleichen Grüße, die ihr ihm ausrichten mögt, Edle Dame.” “Ja, da habt Ihr vermutlich recht”, nickte Murla. Nach dem Vorlesen des mehrseitigen Briefes war es dann draußen auch schon sehr dämmrig geworden und Murla wollte keine der Kerzen, die sie gekauft hatte, verschwenden. “Heute wäre es auch für so etwas zu dunkel. Ich glaube, es ist dann auch schon fast wieder Zeit für Eure Abendandacht, Euer Gnaden?” Marbolieb nickte. “Kommt.” bot sie an, und machte sich abermals auf in den Tempel. zu einer Andacht, sie fast gleich zu jener vom Vorabend verlief. Murla nickte und stand auf und folgte der Geweihten in die Dunkelheit des Tempels.

Mehr als am Vortag umfing die Stille und schläfrige Ruhe die Zwergin, während sich die Geweihte in ein schweigendes Gebet versenkte. Der einzige Klang war der Schlag von Murlas Herzen, einlullend, gleichförmig, von einer dem Leben verbundenen Unendlichkeit, die ihre eigene Erfüllung bereits in sich trug. Diese Stille im Tempel, die Dunkelheit, die Einsamkeit neben der Geweihten ließen Murla in sich versinken. Ihre Gedanken kamen zur Ruhe. Alles was den Tag passierte verlor seine Bedeutung, nur die Stille erfüllte nach einiger Zeit ihre Gedanken, legt sich weich wie eine Decke auf sie. ‘Nicht einschlafen!’ schalt sie sich, aber dieses Vorhaben war leichter gedacht als getan und Murla musste sich in diesen Momenten stark zusammenreißen um nicht dem Drang nachzugeben und einfach einzuschlafen.

Gerade, als ihr wirklich die Augen zufielen, hörte sie, wie sich die Boroni leise erhob und sie sanft an der Schulter berührte. “Mögt ihr noch bleiben?” flüsterte sie. Murla schüttelt den Kopf. “Nein”, antwortete sie und versuchte dann aufzustehen. Dabei stellte sie fest, dass sie wohl doch länger in der Andacht verharrt war, denn ihre Beine waren von der unbequemen, unbeweglichen Haltung eingeschlafen und sie hatte jetzt ein wenig Mühe nicht einfach weg zu knicken. “Ich komme mit Euch mit, Euer Gnaden. Ich brauche nur etwas, mir sind die Beine eingeschlafen.” Vorsichtig tastete die Geweihte nach ihrem Gast und gab ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Dass die Beine einschliefen, passierte neuen Gläubigen immer - selbst Dwarosch, der recht hartgesotten war, hatte sich zu Anfang darüber beklagt - zumindest, als er wieder soweit er selbst war, um solche Kleinigkeiten wahrzunehmen. Dankend nahm die Angroschna die Hand entgegen und hielt sich an der schlanken Geweihten fest. Nach ein paar Schritten ließ das Taubheitsgefühl und das starke Kribbeln in den Beinen nach, aber da waren sie auch schon in der Küche angelangt.

Seufzend ließ sich Murla auf den Stuhl fallen. “Mögt ihr noch ein Glas Wasser?” Vermutlich war der Tee längst leer. “Ja, gerne, meine Zunge ist trocken”, bedankt sich Murla.

Schweigend schöpfte die junge Frau einen Becher voll und reichte ihn ihrem Gast. “Gibt es heute noch etwas, das ihr tun mögt?” Sie merkte, wie die Müdigkeit - sicher auch gerufen von der langen Andacht, der ungewohnten Wärme und dem reichhaltigen Essen - langsam Besitz von ihr ergriff und verbiss sich ein verschämtes Gähnen. “Nein”, meinte nun auch Murla gähnend. “Man merkt, das Euer Gott nicht nur der Gott des Todes, sondern auch des Schlafes ist.” “Gute Nacht. Möge Bishdariel heute seine Schwingen über euch halten.” Einer Zwergin Träume zu wünschen wäre fast schon gemein. Kein Zwerg träumte gerne. Mit einem leisen, wehmütigen Seufzen machte sich die Boroni auf in ihre Kammer.  Es war noch äußerst lange bis zum Sommer.  Doch auch diese Zeit würde vergehen.

“Euch auch eine gute Nacht!” grüßte die Angroschna und legte sich gähnend auf den ihr überlassenen Strohsack. Ein weiterer Tag im Herbst Murla wachte am nächsten Morgen nach einem tiefen und traumlosen Schlaf erholt auf. Draußen war noch die Dämmerung nicht gewichen und sie hörte auch noch nicht Marboliebs Stöhnen und Klappern. Also erhob sie sich schnell von ihrem Strohsack und eilte mit den Eimern und dem Joch raus zum Brunnen und begann Wasser zu schöpfen. Dann trug sie die Eimer zurück in die Küche und freute sich schon, dass die Geweihte heute früh nicht halbnass in die Küche hasten würde.

Durch die frühe Morgenstunde - die freilich für einige der Bauern im Dorf schon wieder eine späte war, immerhin war die Sonne bereits aufgegangen - war am Brunnen nicht viel los gewesen. Einige Mägde und Knechte schöpften Wasser, bedachten Murla mit argwöhnischen Blicken und tuschelten untereinander, nicht so leise, dass die Zwergin nicht einen Wortfetzen ‘Magd der Zwergenhure’ und ‘neu hier’ aufgefangen hätte. Er nieselte, und der Dorfplatz lag fast knöcheltief in eiskaltem Schlamm. Eher widerwillig machten die Dörfler Platz für die Zwergenfrau, achteten aber auch noch darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Die beiden vollen Eimer wogen zusammen deutlich  über zwanzig Stein, sollten aber auch, wenn die Frauen sparsam damit umgingen, für den Tag reichen. Es dauerte vielleicht noch ein Viertel Wassermaß, bis Marbolieb gähnend in die Küche trat, sich an der Wand bis zu den Eimern entlangtastete und dann mit einem erstaunten ‘Oh’ zur Kenntnis nahm, dass diese bereits gefüllt waren. “Guten Morgen Euch, Frau Murla.” Grüßte sie daraufhin auf’s Geratewohl in den Raum. “Euch auch einen guten Morgen, Euer Gnaden”, kam es fröhlich vom Stuhl auf dem Murla saß. “Ich war heute schon vor Euch wach und habe mir erlaubt ein wenig Wasser zu holen. Ich hoffe, dass Ihr mir deswegen nicht böse seid. Eure lieben Mitbewohner haben auf jeden Fall sehr interessiert geschaut.” “Ich hoffe, sie waren nicht unverschämt.” Glücklich fischte Marbolieb einen Krug Wasser aus den Eimern und füllte ihn in den Topf über dem Herd, ehe sie begann, Feuer zu schlagen. “Vielen Dank für das Wasser, edle Dame. Das müsstet ihr doch nicht tun.” “Ich war doch schon wach”, antwortete die Angroschna. “Und da Ihr Euch mit den Eimern immer schwer tut, habe ich es gemacht. So schlimm ist es nicht, wenn man etwas Kraft hat. Und naja, sie haben nicht direkt mit mir gesprochen, sondern eher über mich …” “Das tun sie zumeist.” Marbolieb seufzte. “Dafür werden wir gleich einen warmen Tee haben.” freute sie sich.

“Was möchtet ihr heute unternehmen?” “Oh, ich weiß nicht”, überlegte Murla. “Ich könnte Euch den versprochenen Kuchen backen. Die Zutaten haben wir ja alle.” “Ooh…” der sehnsüchtige Blick der Boroni sprach Bände. “Ihr verwöhnt mich sehr, Euer Wohlgeboren.” “Es macht mir aber Spaß zu kochen und zu backen”, freute sich Murla. “Daher ist es nicht schlimm und wenn ich damit Euch eine Freude machen kann, dann ist es umso besser.” Marbolieb strahlte dankbar. Sie konnte nicht so gut backen, dass sie sich einen Nusskuchen zugetraut hätte - und selbst wenn, so würde ihr die jahrzehntelange Meisterschaft der Zwergin noch lange entgleiten. “Kann ich euch helfen?”

“Könnt Ihr Nüsse knacken?” fragte Murla. “Aber so, dass Eure Finger heile bleiben? Oder wollt Ihr lieber den Teig rühren?” “Ich rühre.” Das hatte sie in Senalosch auch immer getan - oder geknetet, je nachdem, was Topaxandrina auf den Tisch zu bringen wünschte. “Gut, dann werde ich ein wenig den Teig zusammenstellen. Es ist ein Mürbeteig, vielleicht kommt Ihr mit rühren nicht weiter, dann müsstet Ihr kneten.”

So begann die Angroschna Butter, Mehl und Zucker mit Hilfe eines Bechers abzuwiegen und in ein der vorhandenen Schüsseln zu füllen und diese dann vor Marbolieb hinzustellen. “Wenn Ihr mögt, die Schüssel steht vor Euch”, forderte sie die Geweihte auf. Sie selber setzte sich auf den Stuhl gegenüber und begann die eingekauften Wal- und Haselnüsse zu knacken und die Kerne in nicht zu kleine Stücke zu zerbrechen. So arbeiteten die Frauen eine ganze Weile lang konzentriert vor sich hin. Die schwarze Robe der Boroni, an der sie sich die Ärmel weit aufgekrempelt hatte, war schnell mit einer dünnen Schicht Mehl überstäubt, die auch ihre Arme bis weit über den Ellbogen überzog und die zwei deutlichen Narben knapp über ihrem Handgelenk an ihren mageren Armen fast überdeckte. “Ich fürchte, ich bin nicht so geschickt wie ihr.” bekannte die junge Frau mit einem Lächeln, als ihr der Mehlstaub in der Nase kitzelte. “Oh, Ihr macht das schon ganz gut”, freute sich Murla während sie der Geweihten bei der Kneterei zusah. “Ein bißchen noch, dann sollte der Boden schon gut sein.” Schweigend kämpfte die Boroni weiter. Teig war eine dankbare Sache - irgendwann gab er immer nach, und am Ende stand ein leckeres Essen. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben. “Ja, jetzt sieht der Teig richtig gut und geschmeidig aus!” lobte Murla Marbolieb. “Ist er Euch auch süß genug? Habt Ihr schon gekostet?” “Vor dem Backen?” Verwundert ob dieses Ansinnens hob die Menschenfrau den Kopf.  “Sagt bloß, dass Ihr das noch nie gemacht habt?” fragte Murla jetzt erstaunt. “Ich muss meinen Männern immer auf die Finger klopfen, dass überhaupt noch etwas in den Ofen kommt.” “Ich kann doch nicht einfach vom Teig naschen! Topaxandrina würde das sicher nicht mögen. Außerdem ist es … seltsam, von dem zu kosten, was man anrührt.” sagte die Frau, die selten einmal in der Küche gestanden hatte … bis. Bis sich vor zwei Götterläufen alles änderte.

“Wie Ihr meint, aber wie könnt Ihr Euch sicher sei, dass alle Zutaten in der richtigen Menge enthalten sind, wenn Ihr vorher nicht kostet?” fragte Murla und nahm sich mit zwei Fingern eine Teigkugel und steckte sie in den Mund. “Hmm!” meint sie darauf. “Der  ist gut geknetet, ganz weich und keine Klümpchen. Wenn Ihr Euch nicht mehr hier im Tempel verdingen wollt, so würdet Ihr eine gute Bäckerin abgeben.” Dann nahm sie die große Teigkugel und drückte sie in die Form, platzierte die Nüsse drauf, die sie nach dem Knacken noch schnell angeröstet hatte und übergoss das Ganze mit einer Schicht Honig. Dann stellte sie die Form in den Ofen. “In einem guten Wassermaß ist der Kuchen fertig!” Marbolieb schnupperte und seufzte glücklich.

“Und nun? Müssen wir auf den Kuchen aufpassen?” fragte sie, während sie sich vorsichtig die Hände wusch, was zwar diese, aber nicht ihre inzwischen graue Robe vom Mehl befreite. “Ja, ich werde darauf achten, dass er uns nicht verbrennt. Ich kenne Euren Herd ja nicht und jeder ist da etwas anders. Und wenn er fertig ist, dann muss er nur kurz auskühlen, dann können wir ihn probieren!” Zustimmend nickte die Geweihte und versank - vorerst - in andächtiges Schweigen. Ein knappes Wassermaß später zog der Duft von gerösteten, karamellisierten Nüssen und würzigem, warmem Honig durch die Küche, als Murla meinte, dass es jetzt wohl gut sei. Sie nahm die Form aus dem Herd und stellte sie zum Abkühlen auf ein Brett. “Riecht Ihr schon wie lecker er  sein wird? Nur ein wenig Geduld, dann können wir uns an ihm erfreuen.” Er roch köstlich. Marbolieb schnupperte und das Lächeln in ihren Mundwinkeln vertiefte sich.

“Was werdet ihr tun, wenn ihr wieder zurück seid, Euer Wohlgeboren? Außer dem Traviabund?” “Ich weiß nicht, vermutlich werde ich mich im Winter einfach in Ishna Mur vergraben und ein wenig schauen, dass die Ordnung der Männer nicht überhand nimmt. Sollte es irgendwie möglich sein, will ich vielleicht zu meinen Söhnen nach Senalosch. Ihr wisst doch, der Hauptmann und der Schmied.”

Versonnen saß Murla nun da und dachte an ihre Familie. “Mitten im Winter? Das ist sicher nicht angenehm zu reisen.” Doch die Familie zu besuchen, das war etwas, das sie ganz und gar verstehen könnte. “Haben eure Söhne noch keine eigene Familie?” “Im Winter durch den Berg zu reisen ist nicht anders als im Sommer”, meinte Murla optimistisch. Wenn die Reise nur über die Berge ginge, ja dann sehe das Ganze deutlich anders aus. Und nein, die beiden haben keine Familie, sie sind ja auch noch jung und Ihr wisst doch, dass er sehr schwer ist für einen jungen Angroscho eine Frau zu bekommen.“ “Aber sie sind doch gewiss erfolgreich in dem, was sie tun?” wunderte sich die Geweihte. Selbst wenn auf eine Angroschna vier oder fünf Angroschim kamen, gab es dafür enorm viele unversprochene Zwergenmänner. “Hat eure Tochter bereits einen Liebsten?”

“Nun, Borix, mein Sohn nicht der Bergvogt, ist ebenfalls Hauptmann wie sein Vater. Das ist schon etwas, mit dem er die Frauen beeindrucken könnte. Und Boram hatte es schwer in Senalosch Fuß zu fassen. Er musste ja erst in die Gilde aufgenommen werden. Das hat ein wenig gedauert, aber nun ist er sein eigener Meister und hat die Werkstatt in unserem Haus in Senalosch.  Sein Meisterstück ist im Angroschtempel, wie so viele andere auch. Aber auch er hat noch keine Angroschna gefunden. Und Murixe soll erst einmal etwas lernen. Natürlich gibt es in Xorlosch viele junge Burschen, die sich an sie heranmachen, aber ob sie einen davon erhört hat, hat sie uns noch nicht geschrieben. Vielleicht erfahrt Ihr ja mehr, wenn sie hier bei Euch ist.”

“Meint ihr, sie würden es euch sagen?” Nachdenklich war die junge Frau geworden. “Wenn sie eine Liebste oder einen Liebsten haben?” “Bislang hat sie uns eigentlich immer alles geschrieben”, überlegte Murla. “Ich hoffe doch, dass sie auch weiterhin keine Geheimnisse vor uns hat. Aber sie ist noch so jung, und da weiß man nie … .” “Ein jeder hat Geheimnisse … und braucht sie auch.” Ein kleines, rätselhaftes Lächeln lag auf den Lippen der jungen Frau. “Wie sieht es mit euch aus?”

“Mit mir? Wie meint Ihr das?” “Was sind die Euren?” Nun war das Lächeln entschieden verschmitzt. “Die kleinen.” Murla musste lange überlegen. “Hmm, eine wirklich schwierige Frage.” Dann aber meinte sie ernst: “Ich habe Borix als junge Frau kennen und lieben gelernt und wir waren seitdem zusammen. Daher gibt es da keine kleinen Geheimnisse.” “Ich fragte euch nicht nach einer Lebensbeichte.” schüttelte die Boroni entschieden den Kopf. “Wenn ihr der Meinung seid, ihr besäßet so etwas nicht, so wird das so sein.”  Die ältere Zwergin war nicht ihr Beichtkind - und wenn sie einer vollkommen Fremden nichts erzählen wollte, war dies ihr gutes Recht. Dennoch besaß jedes Wesen seinen kleinen Schatz an Dingen, die es tief in seinem Herzen verwahrt hatte, und die es doch schlussendlich ausmachten. Kleine Geheimnisse eben. Und manchesmal große. Belanglose. Und jene, die machtvoll genug waren, eine Existenz - und oft genug seine eigene - zu zerschlagen.

“Oh, ich dachte , da wir gerade über Murixes möglichen Liebsten gesprochen habt”, antwortete Murla immer noch leicht irritiert. “Und ja natürlich habe auch ich wohl ein Geheimnis, aber das habe ich Euch gestern schon gebeichtet.” Murla wurde stiller. “Das mit den Frauen und den nicht gewünschten Kindern.” Die Geweihte nickte - viel hatte sie auch ihrerseits der Zwergin erzählt. Und doch schien diese nach wie vor ihre Handlung nicht zu bereuen. “Wie sieht es denn mit Euren Geheimnissen aus? Habt Ihr sie alle mit Dwarosch geteilt?” wollte die Angroschna nun wissen. “Er fragt nie nach etwas.” Marbolieb schüttelte den Kopf, nicht sicher, ob Dwarosch sich überhaupt für ihr Leben, bevor sie nach Senalosch gekommen war, interessierte. “Und langweilen möchte ich ihn nicht.” “Er ist ein Angroschim - er wird bestimmt nicht von alleine kommen und fragen”, meinte Murla aus eigener Erfahrung. “Das müsst Ihr es ihm erzählen oder aber es bleibt Euer Geheimnis.” “Ich werde ihm alles erzählen, was er hören möchte. Aber ich werde ihm nichts aufdrängen.” Nichts von ihrem Leben qualifizierte sich als Geheimnis. “Bis auf eine Sache - aber davon weiß er.” “Er wird genauso wenig anfangen zu fragen wie Ihr es ihm nicht aufdrängen wollt” mutmaßte Murla. ”Und wenn es Euer eines Geheimnis kennt, dann ist es auch sicher bei ihm.” “Aber genau da habe ich ihm die Antwort verweigert.” Die Boroni senkte den Kopf. “Ich musste es tun.” “Ihr macht mich mit Euren Andeutungen  schon neugierig, aber da Ihr es nicht einmal Eurem Liebsten erzählt habt, braucht Ihr es mir natürlich auch nicht erzählen.”

“Er hat mich nach Mirlas Vater gefragt.”  “Oh, das ist vermutlich etwas, was keine gute Unterhaltung ergibt. Ich hatte gehört, dass es während des Feldzugs passiert sei?”  Marbolieb nickte. Murla kribbelte es förmlich weiter nachzufragen, aber da die Geweihte es nicht einmal Dwarosch erzählt hatte, würde sie es ihr sicherlich schon lange nicht erzählen. Um das Thema zu wechseln, schaute sie den Kuchen an, der war jetzt schon recht gut abgekühlt.

“Ich glaube, wir können uns jetzt an unserem gemeinsamen Backwerk erfreuen. Soll ich dazu noch schnell einen Tee kochen?” Abermals nickte die Boroni. Es war eben einfach so, dass sich die Zwerge nicht für ihr im Grunde vollkommen belangloses Leben interessierten. Warum auch? Verglichen mit ihrer Lebensspanne war es nicht mehr als ein Wimpernschlag, und es besaß auch keine Berührung zu dem Ihren, die mehr war als eine flüchtige Berührung.

Ein Tee indes war immer eine verlockende Idee. Also stand Murla auf und kochte das Wasser im Kessel auf, um es in die Becher mit den Kräutern zu gießen. Dann stellte sie einen Becher vor Marbolieb und legte ihr daneben eines der frischen Stücke des Kuchens daneben. Der Kuchen duftete nach knusprigen Nüssen umhüllt mit Honig, köstlich, lecker, verführerisch. Marblieb schnupperte, und ein erwartungsfrohes Lächeln zog sich über ihre Lippen, als sie nach dem honiggetränkten Kuchen tastete. Noch warm war er - und erfüllte die gesamte Küche nach dem Duft von gerösteten Nüssen und Honig. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

“Habt Dank!” flüsterte sie glücklich, als sie darauf wartete, dass ihr Gast das erste Stück nahm. “Nun, es ist mir eine Ehre!” antwortete Murla und biss in ihr Stück. “Oh! Der ist gut geworden!” “Lecker!” seufzte die Boroni, die sehr andächtig und deutlich langsamer und genießerischer als noch vorgestern das Kuchenstück verspeiste. Ihre Augen strahlten, und ihr Gesicht leuchtete vor Wonne.

Dieser Anblick erfreute auch Murla, die der jungen Frau von ganzem Herzen ein glückliches Leben wünschte, aber auch mitbekommen hatte, dass es mit ihr und Dwarosch kein leichtes Leben in dieser Umgebung werden würde. Aber da Marbolieb an ihrer Aufgabe und damit an diesem Ort hing und auch Dwarosch nicht bereit war, sein Amt aufzugeben, würden die beiden weiterhin umeinander fliegen wie die Motten um das volle Madamal, aber es nie erreichen. Und so war jeder Moment der Freude und des Glücks wichtig.

Marbolieb ging für einige Augenblick ganz in dem Genuss der Süßigkeit auf - zumindest war Murla geneigt, das selige Lächeln so zu deuten. Doch viel zu schnell war das Kuchenstück aufgezehrt und die junge Frau sammelte zufrieden die letzten Krümel ein. “Wollt Ihr noch ein Stück?” fragte die alte Zwergin fröhlich.

Glückselig nickte die Geweihte. Sie würde morgen bestimmt Leibgrimmen haben - doch zu lecker war der noch warme, honigtriefende Kuchen. Also schnitt Murla noch zwei Stücke von dem Kuchen auf und verteilte sie auf die beiden Teller. “Bitte schön, lasst es Euch noch einmal schmecken!” Irgendwann war auch dieses Kuchenstück aufgezehrt und der Tee leergetrunken. Die junge Frau lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer an die Wand hinter ihrem Hocker und verschränkte einige Augenblicke lang die Händen über ihrem Bauch, ehe sie mit einem weiteren, diesesmal eher resignierten Seufzer, sich aufrappelte und die Teller und Becher vom Tisch räumte und zum Spülzuber trug. Einige Zeit war das Klirren und Klappern der in der kalten Aschelauge gereinigten Tongefäße das einzige Geräusch.

Draußen zischte der Wind um die Mauern und rüttelte probehalber an den Läden, welche die Geweihte heute Morgen vergessen hatte zu öffnen, drang aber nur über wenige Ritzen in den heimeligen Raum, befingerte eiskalt die Knöchel der alten Zwergin und kündete draußen davon, dass der Herbst seinen Abschied genommen hatte.

Murla suchte sich einen trockenen Lappen und begann das Geschirr zu trocknen und an die hoffentlich richtigen Stellen wegzuräumen. So arbeiteten die beiden Frauen still in der Küche. “Wenn das Wetter weiterhin so schlecht bleibt, werde ich Euch wohl Morgen verlassen müssen und mich auf einen nassen, langen Heimweg einrichten”, meinte Murla mit Blick durch die Fensterläden. “Schade.” seufzte die Geweihte, die sich an den Besuch und das gute Leben rasch, zu rasch, gewöhnt hatte. “Achtet darauf, dass ihr gesund nach Hause gelangt. Und bestellt Eurem Gemahl und Grimmgasch bitte meine Grüße.” “Nun, ganz so schnell werdet Ihr mich nicht los”, grinste die Angroschna. “Heute ist es schon zu spät, aber morgen früh werde ich was Wetter beobachten und dann entscheiden wir.” “Gut.” nickte Marbolieb, suchte nach einem vergessenen Löffel und befand alles Geschirr für gespült. Sie tastete nach der Stelle, an die sie den Lappen gehängt hatte, fand sie leer und wischte sich die Hände an ihrer Robe trocken, ehe sie ihre klammen, roten Finger aneinanderrieb.  “Ist es schon Zeit für die Abendandacht?”

Die Gesellschaft brachte ihr Zeitgefühl vollkommen durcheinander. Ein Blick aus dem Fenster verriet der Angroschna, dass es noch ein wenig früh war, aber wenn sie langsam los gingen, dann könnte es ja nichts schaden. “Wir sind noch ein wenig früh dran”, meinte Murla daher. “Aber da wir unser Tagwerk bereits getan haben, können wir auch gehen, oder?” Schweigend nickte die Geweihte, wischte sich ein letztes Mal die Finger ab - die Kälte stach trotzdem und machte sich auf leisen Sohlen auf, zu einer Andacht, die dieses Mal etwas länger würde als die Tage zuvor, mit einer Verheißung von Ruhe, Frieden - und sanfter Schläfrigkeit. Wie auch an den Vortagen folgte Murla der Geweihten in den Tempel - heute nahm sie sich vor eine etwas bequemere Haltung einzunehmen, damit ihr nicht wieder die Beine einschliefen.

Und auch wie am Vortag versank sie wieder in der Stille, kam zur Ruhe und Einkehr. Und auch wie am Vortag kroch die Müdigkeit langsam in ihr empor als die Ruhe eingekehrt war.

So wartete sich mit schwerer werdenden Lidern darauf, dass sich Marbolieb wieder erhob und zurück in den Wohntrakt ging. Leise folgte sie der Geweihten und begab sich zur Ruhe.

Der Winter naht

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Der nächste Morgen dämmerte gnädig, nach einer ruhigen, langen und erholsamen Nacht. Vom Brunnen erklangen bereits Stimmen und das Quietschen der Welle, als die schweren Eimer emporgezogen wurden. Im Tempel selbst war alles still.

Als Murla die Auge geöffnet hatte und sie Marbolieb noch nicht mit den Wassereimern vor sich sah, stand sie auf, flocht ihr Haar zu einem festen, langen Zopf, den sie sich dann um den Kopf wickelte, zog ihren Mantel über und ergriff die beiden Eimer und das Joch. Draußen spürte sie, dass es kälter war als gestern, das Madamal stand noch voll und hoch am Himmel und schien der Praiosscheibe hohnzulachen. Die klare Nacht hatte dafür gesorgt, dass die Pfützen die der Regen der letzten Tage hinterlassen hatte mit einer dünnen Eisschicht überzogen waren. Nachdenklich, ob dieses dann der richtige Tag für die Abreise sei oder ob sie noch länger hier bleiben sollte, stampfte die Zwergin zum Brunnen und stellte sich in die Reihe der Wartenden.

“Schau’ mal, da ist sie wieder.” flüsterte eine Männerstimme hinter ihr. “Die neue Magd der Boroni. Der scheint es ja richtig gut zu gehen, wenn sie sich Personal leisten kann - wie eine hohe Dame.” 

Murla überlegte hin und her, ob sie dem Mann eine geeignete Antwort geben sollte. Aber sie entschied sich dann doch dagegen und schwieg. Egal ob sie dem Mann zustimmte oder widersprach, sie würde bald hier weg sein und dann würde Marbolieb wieder alleine zum Brunnen laufen müssen und dann wieder dem Ärger durch die Dörfler alleine ausgesetzt sein.

Dafür hörte sie, wie hinter ihr die angesprochene Frau kräftig schnaubte und auf den Boden ausschneuzte. “Wenn wir wenigstens eine richtige Boroni hätten. So hat gestern Nacht Vater Ganslind beim alten Schuster sitzen müssen, als es ihm so schlecht ging.” “Ja, aber das Hurenweib lass’ ich doch nicht ins Haus - da könntest Du den Schnitter gleich selbst einladen.” bestätigte eine dritte Stimme. Mit einem unzufriedenen Murmeln rückten die Sprecher einige Schritt von der Zwergin ab, als diese am Brunnen an der Reihe war, und beobachteten sie mit unzufriedenen Augen, wie sie das Wasser einholte.

Murla hörte sich das Gerede der Dörfler an, als sie dann dran war, füllte sie ihre Eimer und ging dann damit wieder zurück zum Tempel. Dort stellte sie die Eimer ab und begann dann das Feuer zu entfachen und setzte den Kessel für das Teewasser auf. Anschließend setzte sie sich auf ihren Stuhl und wartete bis Marbolieb erschien.

Es dauerte einige Zeit, bis die Boroni verschlafen und gähnend aus ihrer Kammer schlich. Sie schnupperte und ihre Miene hellte sich angesichts des prasselnden Feuers auf. Glücklich trat sie näher und rieb sich ihre kalten Hände. “Einen guten Morgen euch, Frau Murla.” grüßte sie auf’s Geratewohl in den stillen Raum.  “Habt Dank für das Feuer!” Es war eine ziemliche Schinderei, selbst Feuer zu schlagen und dann nur durch Schnuppern und Tasten feststellen zu können, ob der Zunder den Funken aufgenommen hatte. Einmal hatte sie den Ärmel ihrer Kutte damit versengt, bis sie bemerkt hatte, dass diese ebenfalls Feuer gefangen hatte. Marbolieb schüttelte sich angesichts dieser Erinnerung. Es wäre wirklich schön, über Nacht die Glut im Herd bewahren zu können - aber das würde eine ganze Menge Holz benötigen, die dann nachts verbrannte, wenn niemand es bemerkte - und war somit kein gangbarer Weg. “Habt ihr gut geschlafen?” “Ausgezeichnet!” bedankte sich die Angroschna für die Nachfrage. “Und Ihr? Ich war schon Wasser holen, dabei habe ich festgestellt, dass es heute Nacht gefroren hat. Es wird immer kälter, der Winter kommt schneller näher.” Traurig seufzte sie.

“Ich glaube, dass ich aufbrechen muss, wenn ich noch einigermaßen sicher wieder nach Ishna Mur kommen will.” Unglücklich nickte die Menschenfrau. “Schade.” wiederholte sie ihre Aussage vom Vortag. Wenn Murla aufbrach, würde die einzige Person, der sie begegnete, wieder der Wirt - oder der Koch - der ‘Gans’ sein, wenn sie wie jedes Dutzend Praiosläufe dort ihr Essen abholte.

“Ja, es tut mir auch weh Euch zu verlassen, aber ich habe Borix versprochen, dass ich mit ihm zu dieser Hochzeit reise. Und um dies noch rechtzeitig zu schaffen, muss ich nach Hause. Ich kann ja keine Nachricht nach Ishna Mur schicken, dass ich später käme.” Murla stand auf und goß die Becher mit dem kochenden Wasser voll und streute ein paar Kräuter hinein.

“Was wollt Ihr den frühstücken?” fragte sie die Boroni. “Was ist denn da?” kam die verschüchterte Rückfrage. Hoffentlich etwas anderes als Grütze! “Und selbstverständlich solltet ihr Euren Gemahl begleiten.” Sie selbst hätte dies keinesfalls anders gehalten, hätte sie diese Lage vor sich. Sie seufzte. Müßige Hirngespinste. Dazu würde es niemals kommen.

“Oh, Ihr habt ziemlich ausreichende Vorräte”, meinte Murla, “Brot, Butter, Schinken, Würste, Käse, Eier. Nicht zu vergessen die Reste vom Kuchen von gestern. Aber den könnt Ihr alleine essen. Und dann habt Ihr im Schrank noch ein paar Gewürze, Teekräuter und natürlich einen großen Beutel Tabak.”

“Brot und Schinken?” sinnierte Marbolieb mit träumerischem Blick. “Oder halt! Lieber ein Ei!” Was eine sehr seltene Köstlichkeit war - vor allem nun, im Herbst, wenn die meisten Hühner nicht mehr legten und sich der Wirt die letzten Eier mit Silber aufwiegen ließ. “Die müssen euch ein Vermögen gekostet haben!” schalt sie. “Nur ein wenig guter Zurede und ein paar Münzen”, lachte Murla. Dann suchte sie einen Topf, füllte Wasser hinein und begann zwei Eier zu kochen. Sie deckte in der Zeit den Tisch und als es dann soweit war, stellte sie Brot und die Eier auf den Tisch. “Es ist soweit, kommt bitte.”

“Vielen Dank.” Sogar das Essen bekam sie serviert. “Ihr verwöhnt mich so sehr.” freute sich Marbolieb, nahm vorsichtig Platz und betastete das Essen auf ihrem Teller - wobei das Ei so heiß, war, dass sie sich fast die Fingerspitzen verbrannte. Rasch zog sie die Hand zurück und faltete sie auf ihrem Schoß. “Wohlschmecken, Frau Murla.” wünschte sie leise. Immerhin war es die Zwergin, die das Essen bereitet hatte. “Das wünsche ich Euch auch, Euer Gnaden”, meinte Murla und pellte sich vorsichtig das hartgekochte Ei. Sie aß noch schweigend eine Butterstulle zu dem Ei.  “Euer Gnaden”, sprach sie kauend die Geweihte an.

Die Geweihte legte ihr Brot, von dem sie gerade abbeißen wollte, wieder zurück und hob den Kopf. “Was ist, Euer Wohlgeboren?” “Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr Murixe aufnehmen wollt?” fragte Murla vorsichtig. “Es war meine Idee und ich will Euch nicht mit meiner Tochter belasten.” “Sie ist willkommen. Doch seid ihr sicher, Frau Murla, dass ihr eure Tochter wirklich hierher schicken wollt?” In dieses Leben, ergänzte ihre Mimik. “Ja, ich bin mir sicher”, antwortete Murla. Sie saß traurig auf ihrem Stuhl und blickte in den Tee. Sie bedauerte die Geweihte, die sich die nächsten Götterläufe wieder alleine und ohne Unterstützung mit den Gänsepriestern und den Dörflern herumschlagen musste. Aber das Wetter duldete keinen Aufschub. Langsam trank sie die Tasse aus.

“Ich werde Euch dann wieder alleine lassen”, klang es leise und traurig von dem Stuhl herüber. Marbolieb tastete nach Murlas Händen und nahm sie liebevoll in die ihren. “Ihr habt mich besucht, Frau Murla. Danke.” Sie legte den Kopf schief und dachte einige Augenblicke nach. “Macht euch keine Sorgen um mich. Ich werde gut auf eure Tochter acht geben.” Jetzt musste Murla die junge Geweihte einfach in die Arme nehmen und fest an den großen Busen drücken.  Die ließ die unerwaretete Umarmung vollkommen verdattert über sich ergehen, schlang ihrerseits die Arme um die ältere Frau und drückte sie mit ihren dürren Armen fest an sich.

So standen die beiden Frauen einige Zeit still in der Küche. Dann ließ Murla ihre Arme sinken und meinte dann zu der Geweihten: “Es ist Zeit. Ich gehe nun. Ich werde Bruder Grimmgasch von Euch grüßen.” Dann packte sie ihre Sachen zusammen, wickelte sich fest in den Mantel, setzte den Rucksack auf und drückte dann Marbolieb noch einmal fest die Hand. “Wir sehen uns wieder.” “Die Götter mit euch, Frau Murla.” flüsterte die Boroni mit kratziger Stimme. “Lebt wohl.” “Angrosch möge Euch schützen!” antwortete die alte Angroschna. “Lebt wohl und lasst Euch nicht unterkriegen!” Dann nach einem weiteren Seufzer machte sich die Angroschna auf den Weg. Draußen zog sie sich die Kapuze tief über den Kopf und stapfte über den Boronacker davon. Am Tor zum Weg sah sie sich noch einmal um und dann ging es wieder Richtung Firun.

~ Ende ~

-- Main.IseWeine - 09 Nov 2020