Die Last des Alters (Neuspielerplot 2024 - Prolog)

TRIGGERWARNUNG: In dem Text geht es um Demenzthemen und kann ggf. eigene Erlebnisse anstoßen. Bitte lies den Text mit bedacht und wäge sorgfältig ab, ob du ihn weiterlesen möchtest.



27. Efferd 1046 BF
Isavena saß auf oder viel mehr in einem alten Baum, dessen ausladende Krone sich in mehreren starken Armen aus dem Hauptstamm heraus verästelte.
Hier war ein perfekter Platz, den die Junkerin schon vor etlichen Götterläufen für sich entdeckte, um einen guten Überblick über den Großen Fluss und dessen Uferlandschaft zu erhalten.

Einige Schafe grasten friedlich auf einer Aue und hoben hin und wieder den Kopf, um die nähere Umgebung zu beäugen.
So tat es auch Isavena, die es sich im Übergangspunkt des Baumstammes zur Krone hin gemütlich gemacht hatte und ihr Skizzenbuch sorgfältig in Arm hielt.
Mit geübten Bewegungen skizzierte sie die sich vor ihr ausbreitende Flusslandschaft.

Das Bild hatte sich seit ihrem letzten Besuch etwas verändert und so fügte sie Blumen und Wolken hinzu, die ihrer Meinung nach das angefangene Bild gut ergänzten.

Versunken hing Isavena ihren Gedanken nach und sie ließ einige Erinnerungen Revue passieren, die sich seit ihrem letzten Besuch hier am 02. Efferd, ihrem 29. Tsatag, zugetragen hatten.

Der Baron von Kyndoch hatte zur Herbstjagd geladen und ihre Zofe Irmin versuchte seitdem immer wieder das Gespräch auf diese Einladung zu bringen, um mit Isavena darüber zu spekulieren, was den Baron veranlasst haben könnte, die Junkerin von Knechtstett von dieser Herbstjagd zu unterrichten und einzuladen.
Die alte Zofe war felsenfest davon überzeugt, dass er sicherlich aus Gründen der Familienplanung eine Einladung schickte und begann dann regelmäßig über höfisch korrekte Kleidung zu fantasieren. Wenn es nach Irmin ginge, sollte Isavena am liebsten nur in teuer geschneiderten Kleidern das Haus verlassen. Unbequem, aber edel und repräsentativ.
Isavena schmunzelte gleichmütig beim Gedanken an die ewig gleiche Diskussion. 'Die gute Irmin ist halt von anderem Schlag' dachte sie bei sich und fügte mit einigen kleinen Strichen dem Bild vor ihr das Glitzern des Wassers hinzu.


Dann sprangen ihre Gedanken abrupt zu einer anderen Erinnerung und ihr Lächeln schwand.
Als sie die Striche betrachtete und dann ihren Blick auf den Großen Fluss lenkte, sah sie vor ihrem inneren Auge ihren Vater Basileo, der unlängst an einem regnerischen Tag meinte, mal wieder türmen gehen zu müssen. Wie so oft schon wollte er 'einfach heim gehen, um Vater und Mutter nicht zu besorgen'. Dass seine Eltern seit langem bereits zu Boron gegangen waren, verstand er nicht mehr. In seiner Welt lebt er als Lehrling eines Scriptors in Ausbildung, der mient, dauernd seine Eltern vom Stand seiner Fähigkeiten in Kenntnis setzen zu müssen.

Etliche Male konnte Isavena ihn in solch einem Fall überzeugen, seinen so gedachten Eltern einfach zu schreiben, wie er sich in seiner Ausbildung schlägt. Schließlich war das doch die Grundessenz seines ausgeübten Berufes gewesen - zu schreiben.
Doch in den letzten Wochen schien sich sein Wahn zu vertiefen und er war nicht einfach mehr damit zufriedenzustellen, in seinem Zimmer nach Federkiel und Tinte zu greifen und seine Vorstellungen auf Papier zu bringen. Immer vehementer verlangte er, gehen zu wollen und protestierte laut schreiend, dass sein Lehrmeister ihn wie Vieh einsperrt und er von früh bis spät sich die Finger wund schreiben müsste. Isavena agiert dabei regelmäßig in seinen Augen als böse Matrone des Lehrmeisters, die den hinterhältigen Befehl des Gefangenhaltens ausführt.

Dieser Gedanke von ihrem Vater schmerzt die Junkerin beständig und ebenso schämt sie sich jedes Mal, wenn sie sich an seine Hilfe-Schreie und die unflätigen Beschimpfungen erinnert, die er ihr durch die zugeschlossene Tür zuwirft, wenn sie ihn zu seiner Sicherheit im Zimmer festsetzen muss.

Sie seufzte und fühlte sich innerlich bestätigt, dass das Einsperren zu seinem eigenen Schutz ist, als sie auf die Ereignisse von vor einer Woche zurückblickte.
Der Große Fluss rauschte in einiger Entfernung leise, doch in des Junkerins Erinnerung hörte sie den Regen rauschen, der am 20. Efferd den ganzen Tag über auf dem Land lag.


Das Mittagessen eskalierte mal wieder an jenem Tag, als ihr Vater unvermittelt und in einem Anflug aufsteigender Kraftreserven sich erhob, artig fürs Essen bedankte, sich aber im gleichen Atemzug empfahl, um nach Hause zu gehen. Irmin und Isavena tauschten besorgte Blicke, da die beiden genau wussten, was dies bedeuten würde. Schnell versuchte Isavena ihrem Vater an die Seite zu eilen, während Irmin bereits beschwichtigend und Zeit aushandelnd auf ihn einredete.

Nach einigen mürrischen Worten konnten die beiden Frauen ihn davon überzeugen, zu seinem Zimmer begleitet zu werden, damit er noch seine Sachen packen könne. Auf dem Weg dorthin fiel ihm ein, lieber nochmal den Donnerbalken zu besuchen, bevor er die lange Reise antreten würde.
In ihrer beider Sorge erleichtert befanden Junkerin und alte Zofe dies als gute Idee, verschaffte es Zeit.
Da Isavena nicht mit Irmin vor der hölzernen Tür des Abortes warten wollte, entschied sie kurz in der Küche dem Knecht Bescheid zu geben, dass er eine Brotzeit als Ersatz für das stehengelassene Mittagsmahl richten sollte.

Noch während sie in der Küche war, hörte sie Irmin und ihren Vater quer durch alle Flure streiten. Und als sie es dann endlich zurück zu den beiden geschafft hatte, war der alte Mann bereits auf der Flucht.

Die beiden Alten waren nicht mehr in der Nähe des Abortes und Isavena hörte Irmin aus Richtung der Haustür nach einem Regenmantel schreien.
Eilig rannte sie in Richtung des Eingangsbereiches und dann schnurstracks an Irmin vorbei, hinaus in den Regen, wo Basileo bereits über den Hof zockelte in Richtung Hoftor.
Als der alte Mann merkte, dass jemand hinter ihm her war, beschleunigte er seine Schritte und konnte sogar unerwarteterweise die Distanz zwischen sich und seiner Tochter wieder vergrößern.

'Ich frage mich, wo alte Leute so viel Kraftreserven hernehmen, wenn sie sonst schon mit Beistand eher auf ihren Beinen umher wackeln, als richtig zu laufen' dachte die Junkerin kurz bei sich, während sie die erlebten Bilder aus dem Innenhof im Kopf weiter betrachtete.
Sie sah sich laufen und ihren Vater verfolgen, der wie zu neuer Blüte gekommen auf das Hoftor zueilte.
Der Regen fiel in Strömen und beide waren ziemlich schnell durchnässt. Im Hintergrund hörte Isavena noch, wie Irmin nach Unterstützung schrie, sonst aber ziemlich untätig in der Haustür verharrte.

Dann passierte, was passieren musste. Mit einer ungeschickten Bewegung glitt Basileo auf den nassen Steinen aus und fiel zur Seite. Mit einem recht lauten, unangenehmen Klatschen landete er in einer Pfütze und begann panisch um sich zu greifen. Isavena war zügig heran und reichte ihm einen Arm in der Absicht ihm aufzuhelfen.

Er schlug das Hilfsangebot fort und keifte seine Tochter an. "Ich lasse mich hier nicht wie ein Sklave festhalten. Meine Eltern besitzen Einfluss am horasischen Königshof. ... Ich werde euch alle vor Praios seiner Gerechtigkeit beugen lassen! ... Was bildet ihr euch ein, Weib? ... Lasst mich gehen! ... Finger weg!"
Ein Gerangel entstand, in dem Isavena versuchte ihren Vater zu helfen, dieser sich aber vehement weigert Hilfe anzunehmen und beide mehr oder minder im Dreck einer Pfütze umherplanschten. Irgendwann kam Fredo angelaufen und griff beschwichtigend in die Situation ein.

Der Alte Mann verhielt sich dem Stallmeister gegenüber zugänglicher, als zu seiner eigenen Tochter und begann sich lautstark bei Fredo über Isavena zu beschweren.
Fredo schenkte der Junkerin einen fragenden Blick und sie nickte kurz einvernehmlich, bevor er dann den alten Leuenstolz zu seinem Zimmer führte.
Isavena blieb zurück im Regen und war froh über Efferds Gabe, die vom Himmel fiel, verschleierte das über ihr Gesicht laufende Wasser die Tränen, die aus ihren Augen quollen.


Von den Erinnerungen mitgenommen, wischte sie sich die feuchten Augenränder trocken und richtete den Blick wieder im Jetzt und Hier auf das begonnene Bild.
'Wie lange wird das noch so weitergehen?' fragte sie sich verzweifelt selber und versuchte ein paar Striche zu ergänzen. Doch der Schrecken des Erlebten keimte so düster und beklemmend in ihr auf, dass ihr kein Sinn mehr nach der Malerei stand. Traurig und matt packte sie ihre Utensilien wieder in die Umhängetasche und begann den Abstieg aus dem Baum.