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Der Hort der Stille

Im Hort der Stille

Allein kniete sie in der Dunkelheit auf dem kalten Steinboden. Ihr blondes Haar war gekämmt, doch nicht frisiert. Entgegen ihrer Art fiel es ihr in leichten Wellen über die Schultern. Außer des weißen Untergewandes, wie es die Novizen der Praioskirche trugen, hatte sie nichts am Leib. Die prunkvolle Robe, die ihr zustand, hatte sie bereits am Tage ihrer Ankunft abgelegt. Hatte sie eigenhändig gewaschen, getrocknet, akkurat zusammengefaltet und in der schmucklosen Holztruhe, die ihr, neben dem einfachen Bett, in ihrer Cella zur verfügung stand, verstaut. Seitdem lief sie barfuß über die Anlage. Die kleinen Steine der Kieswege spürte sie schon nicht mehr, ebensowenig, wie die Kälte, die das Wetter hier mit sich brachte. Es wäre ihr aber auch egal gewesen, denn die Kälte - nein, die Leere in ihr war viel schmerzhafter, als alle Gefahren Deres zusammen.
In den ersten Tagen hatte sie geweint, stumm und von Schmerz gebeutelt. Doch nun flossen keine Tränen mehr. Vielleicht auch, weil sie weder essen noch trinken wollte. Sie aß nicht mehr als einen Kanten Brot oder einen Apfel am Tag. Wenn es nur Brei gab, dann brauchte sie mehrere Stunden, um eine kleine Schüssel zu leeren. Und das tat sie nur, weil die Boronis es so wollten. Auch zum trinken musste sie angehalten werden. Alle zwei Stunden brachte man ihr einen Becher Wasser oder verdünntes Bier und ging erst, wenn sie ausgetrunken hatte.
Wer ihr jetzt begegnete, musste sie für eine lebende Tote halten, was sie innerlich auch war. Das Untergewand wirkte wie ein Leichenhemd, der Glanz ihrer Augen verschwunden, darunter dunkle Ringe und die Wangen schmaler, als sie ohnehin schon waren. Haut und Lippen waren trocken, letztere sogar spröde, rissig, teilweise aufgesprungen.
Zudem wirkte sie meist abwesend oder fahrig, wenn sie im hier und jetzt weilte. Sie war verunsichert. Hatte der Dämon recht behalten und ein Teil von ihm war immer noch in ihr? Seit diesem Vorfall spürte sie ihren Gott nicht mehr. Hatte er sie verlassen? Hatte sie ihn verlassen? Sie wusste es nicht, doch es machte ihr Angst. Wer war sie denn nun, wenn ihr Gott sie nicht mehr wollte? Wie sollte sie denn nun ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wer würde sie denn jetzt noch aufnehmen, oder ehelichen? Wie sollte sie mit dieser Schande leben? Fragen, auf die sie keine Antwort erhielt und auf die sie die Antwort nicht finden konnte, denn zu stürmisch, zu kalt und zu dunkel war es in ihrem Geiste und in ihrem Herzen, als dass sie sich getraute dort danach zu suchen.
Allein kniete sie in der Dunkelheit. Ein einzelner weißer Fleck im Haus des Todes. Allein, wie eine schutzlose Kerzenflamme in der Wind umtosten Nacht.

Sie wusste nicht, wie lange sie bereits hier war. Zeit war nicht mehr wichtig und so hatte sie aufgehört die Stunden und Tage zu zählen. Hier, in den Mauern von Sankta Boronia, gab es keine Zeit. Es war wie ein Vorgeschmack auf die Ewigkeit. Jeder vergangene Moment glich dem vorangegangenen und bereitete den Weg für den Folgenden. Der Sturm ihrer Seele hatte sich gelegt und war zu einem glatten, grauen See unter einem windstillen, grauen Himmel geworden.
Ein Schatten fiel auf die Praiosdienerin. Laute drangen dumpf an ihr Ohr, doch erst als eine Hand sich auf ihre Schulter legte, blickte sie auf. Eine junge Boroni mit kahl geschorenem Schädel blickte sie aus dunklen Augen an. “Kommt. Golgari ist unterwegs”, waren ihre einzigen Worte, doch Praiodara verstand: Jolenta stirbt.
Die Boroni führte sie durch die Gänge der Tempelanlage zum Infirmarium. Der Raum war nicht sonderlich groß, doch war er nicht ganz so düster gehalten. Es roch nach Kräutern, Salben und Räucherwerk. Doch, als sie das Bett der Junkerin erreichte, konnte sie auch die Fäulnis und das Siechtum riechen, dass von der schwerverletzten Frau ausging. Sie atmete schwer und schien Fieber zu haben. Etwas in Praiodara rührte sich und der See geriet wieder in Bewegung. “Bitte holt meine Gewänder”, sagte sie zur Boroni. Diese nickte und eilte der Bitte nachzukommen. Praiodara nahm sich einen Schemel und setzte sich an das Bett der Baronin. Sie erblickte eine Schüssel mit klarem Wasser und einem Waschtuch. Sie nahm beides, tauchte das Tuch hinein und strich sanft über die Stirn der alten Frau. Sie wusch das Gesicht, die Hände und die Unterarme. Sie merkte nicht einmal dass die Boroni wiederkam. Erst, als durch eine unbedachte Bewegung die Sphärenkugeln leise klirrten wurde sie ihrer gewahr. Die Dienerin des göttlichen Raben lächelte und half Praiodara sich anzukleiden.

Trotz der Tatsache, dass Jolenta von Galebfurten immer wieder von Krämpfen geschüttelte wurde, lächelte sie die Dienerin des Götterfürsten an, als diese im vollen Ornat vor sie trat. Schmerzen verspürte die Junkerin offenbar nicht mehr, der Mohn, den die Boronis ihr als Tee einflößten, schien sie von körperlichen Leiden zu befreien. Trotz dieser Tatsache war ich noch einmal ein wacher Moment vergönnt.
“Ich bin bereit”, flüsterte sie mit schwacher Stimme und streckte unter großer Kraftanstrengung einen Arm nach der Geweihten aus. Ihre offene Hand zitterte.
“Ich höre das Raschen seiner Schwingen. Eine letzte Bitte habe ich noch.
Sorge dafür, dass meine Überreste zu den Ufern der Galebra, in meiner Heimat gebracht werden. Dort will ich ruhen und frieden finden.”

Praiodara ergriff Jolentas Hand. Kalt war sie und fühlte sich zerbrechlich an. Auch sie lächelte. „Ich werde Euch persönlich zu den Ufern bringen, die Ihr so liebt.“ Sie strich der Todgeweihten nochmal über den Kopf, nahm ihr die Beichte ab und blieb bei ihr, bis Golgari sich ihrer annahm.
Während dieser Zeit der Kontemplation wurde ihr bewusst, dass der Herr Praios sie erwählt hatte sein Werk zu tun. Und dass es nicht an ihr war sich zu verweigern. Wenn Er sie verstoßen wollte, so würde sie das sicherlich erfahren. Bis dahin aber hatte sie ihm zu dienen. Und auch, wenn es ihr eine Last werden würde, so war auch Trost in diesem Gedanken. Denn der Herr ist nicht nur ein strenger Richter, sondern auch ein liebender Vater, der sich um seine Kinder sorgt.

-- Main.RekkiThorkarson - 26 Jan 2021