Feldzug Rabenmark, Kapitel 16: Und der Beginn einer Neuen

Und der Beginn einer Neuen

Offene Worte

Nachdem das Heer ihre Toten und die gefallenen Feinde verbrannt und die Götter angerufen hatten, um ihnen zu ewigen Frieden zu verhelfen, kehrten die Streiter zurück zur Talbruck in ihr Feldlager.
Eine Abordnung jedoch, darunter der Baron von Hlûtharswacht, aber auch die Mitglieder der Familie Galebfurten reiteten weiter, um in Trutzenhain die einzelheiten des Sieges zu erörtern. Einen Boten indes hatte man bereits noch in der Nacht, unmittelbar nach dem Ende der Schlacht an den Hof von Aldare von Fold- Galebfurten entsandt.
Groß war dann die Bestürzung, als man im Wehrdorf und sitz der Baronin erfahren musste, dass die alte Herrscherin Tälerorts friedlich eingeschlafen war, nachdem sie erfahren hatte, dass der Feind besiegt und ihre Kinder am Leben waren.
Trauer erfüllte da auch den Baronet, auch wenn er seine Großmutter kaum gekannt hatte, da er mehr als sein halbes Leben in der Fremde, in den Nordmarken verweilt hatte. Überfordert war er dann, als die Mitglieder des versammelten Hofes vor ihm, dem designierten Nachfolger Aldares niederknieten, um ihm Ehrerbietung zu erweisen. Auch seine eigene Mutter, sein Vater, ebenso wie sein Onkel taten dies und boten für Wunnemar ein verstörendes Bild. Hierfür hatte er so lange gekämpft, dies war sein großer Traum gewesen und doch fühlte es sich falsch, nein- einfach nur nicht richtig an.
Noch unter den Eindrücken einer blutigen, grauenvollen Schlacht stehend, brachte Wunnemar keinen Ton raus, fühlte sich kaum imstande zu Atmen. Als die Stille schließlich unangenehm wurde, zog er seine Mutter bleich und mit zitternden Händen auf die Füße und umarmte sie.
Längere Momente vergingen, dann löste sich Wunnemar von Madalbirga und drehte sich zum versammelten Hof. “Ich möchte euch danken”, begann er mit kratziger, unsicherer Stimme.
“Ihr habt meiner Großmutter Jahre, teilweise Jahrzehnte treu gedient und damit ermöglicht, dass Tälerort inmitten des Schreckens bestehen konnte, ja das es möglich war, dass sich hier Menschen ansiedelten, um die Felder zu bestellen und um aus fast schon toter Erde wieder Leben sprießen zu lassen. Hart und entbehrungsreich war jede Zeit.”
Wunnemars Stimme, die im Verlauf seiner Worte fester, selbstsicherer geworden war, wurde nun eine Spur leiser. “Ich weiß, dass viele von euch mich nicht, oder nur kaum kennen. Viele werden sich fragen warum ich so lange fern war von meiner Zuhause von diesem Ort.”
Er schüttelte den Kopf. “Zurecht fragt ihr das. Doch es war nicht meine Entscheidung. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre ich stets in Tälerort geblieben, bei meinen Eltern, meiner Familie, wo ich hingehöre.”
Wunnemar holte tief Luft. Die Erinnerungen an Heimweh und Sehnsucht nach der Nähe seiner Eltern sorgte für einen Kloß in seinen Hals. Mühsam rang er die Gefühle nieder.
“Meine Großmutter, jene starke, eiserne Frau entschied, dass ich beim Baron von Galebquell, in den fernen Nordmarken Page werden sollte und auch meine Knappenzeit dort zu verbringen hatte. Was habe ich mit ihrer Entscheidung gehadert”, stellte er ehrlich fest, nur aber um sogleich fortzufahren.
“Heute habe ich ihre Worte- ‘es geschieht, weil die Zukunft sicher bewahrt werden muss, weil ein Schicksal sich dem vieler unterordnen muss’ verstanden.
Ich stehe nun vor euch und werde, so war es Aldares, meiner Großmutters Wille bald neuer Baron sein, ihr in dieser Würde folgen. Ich kann und werde nicht verlangen, dass ihr mich in derart liebt, wie ihr es bei ihr getan habt. Liebe muss man sich erarbeiten. Aber ich habe eine Bitte an euch.”
Wunnemar ließ seinen Blick gemächlich schweifen, ließ seine Worte ein wenig wirken, bevor er fortfuhr. “Lehnt mich nicht ab, nur weil ich ‘der Fremde’, oder ‘der Nordmärker’ bin.
Lasst mir Zeit mich einzufinden, euch kennenzulernen. Gemeinsam können wir dieses Land zu jenem Ort machen, von dem ich immer in Erinnerungen an meine Frühe Kindheit geträumt habe- einen Ort des Friedens, der uns alle ernährt und uns Heimat ist, der Geberin des Lebens und der Hüterin des Heims zum Gefallen.”

Dienstherr und Gefolgsmann

Einige Stunden später dann trat Wunnemar ins Zimmer von Jost- Verian von Sturmfels Maurenbrecher im Herrenhaus der Hochmotte, nachdem ihn dieser auf sein Klopfen hin dazu aufgefordert hatte. Der Raum, in dem die Begegnung zwischen Dienstherr und Gefolgsmann stattfand, war nicht sonderlich groß, aber mit kunstvoll gedrechselten Einrichtungsgegenständen möbliert und recht gemütlich.
Wunnemar fand Jost, wie beinahe jeden Abend während des Feldzuges, an einem kleinen Schreibtisch sitzend vor. Der Stapel an beschriebenen Pergament war stetig gewachsen und füllte bereits mehrere, nur mühsam von Lederriemen gebändigte Kladden. Stets hatte Jost akribisch jede Kampfhandlung, jeden Ablauf und jede Begegnung festgehalten. Oft waren Wunnemar und Jost noch bis tief in die Nächte zusammengesessen um keine Details zu vergessen, Züge und Gegenzüge zu diskutieren und anhand kleiner Figürchen die Taktiken zu verfeinern. Mittlerweile kannte Wunnemar auch den Titel, den Jost seinem Werk zu geben gedachte:
„Interdisziplinäre Strategie und Taktik im Krieg. Der effiziente und effektive Einsatz von göttlichen, magischen und ausgebildeten Streitern nach Beseitigung ideologischer Schranken.“
“Hochgeboren”, sprach der Baronet ein wenig kleinlaut. Immer noch war die Farbe nicht vollständig in sein Gesicht zurückgekehrt. “Kann ich mit euch sprechen?”
Jost blickte auf, legte den Federkiel zur Seite und klopfte zufrieden, ja beinahe erlöst auf eine der übervollen Lederkladden.
„So, beinahe fertig. Ich hoffe ja, dass ein Skriptor auch mein Gekritzel entziffern kann.“
Dann fiel dem Baron die doch etwas blasse Hautfarbe seines Hauptmanns auf, und er wendete sich vollständig Wunnemar zu.
„Was ist geschehen?“
Der Baronet schüttelte nur flüchtig mit dem Kopf. Das ihn die Eindrücke der Schlacht noch nicht losließen und sich dies in seinem Gesicht wiederspiegelte, hatte keinen Anteil daran, dass er seinen Dienstherren aufsuchte.
„Ich wollte euch in Kenntnis setzen, dass der Markgraf auf dem Weg hierher ist. Der Bote, der ihn vom Tod Aldares berichten sollte, ist gerade mit einer Botschaft aus Altzoll zurückgekehrt.“ Wunnemar ließ eine Pause entstehen. Nein, er überlegte, wie er den nächsten Satz formulieren sollte.
„Der Mersinger wird meiner Großmutter die letzte Ehre erweisen und mir danach den Lehnseid abnehmen.“ Der junge Rittersmann schluckte, Veränderungen standen bevor.
Jost war sichtlich überrascht, den Markgrafen (wieder) zu sehen, bevor er selbst weiterziehen wollte. Doch als die Bedeutung der Worte „Lehnseid abnehmen“ in Josts Verstand einschlug, entgleiste dem Baron kurz die Kontrolle über seine Gesichtszüge und er riss entgeistert die Augen auf.
„Oh.“
Er rang nach Fassung, faltete die Hände in seinem Schoß.
„Lehnseid abnehmen? Bedeutet es das, was ich fürchte, was es bedeutet? Du bleibst hier? Ich meine, nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber es schmerzt mich, einen treuen Dienstritter, einen guten Freund zu verlieren.“
Wehmut machte sich in Josts Brust breit. Er hatte Wunnemar schätzen und vertrauen gelernt, sah ihn ihm seinen Capitaneus Militium.
Der Galebfurtener seufzte schwer und schloss kurz die Augen. Jost erkannte Trauer, aber auch Last, die bereits jetzt auf Wunnemar Schultern lag.
Gegenüber Jost hatte der Baronet immer von einem tiefen Respekt vor der Aufgabe gesprochen einst selbst Baron zu werden. Der Hlûtharswachter erkannte nun da es Wirklichkeit wurde, dass es mehr war als das. Es war auch eine Spur von Angst- Angst davor von der Situation überfordert zu sein, nicht das richtige zu tun, zu versagen.
Als Wunnemar daraufhin die Augen wieder öffnete, straffte er sich. Seine Wangenknochen traten hervor, ein Minenspiel, dass Jost inzwischen kannte. Er riss sich zusammen.
„Hochgeboren, glaubt mir, ich bedaure das zutiefst, aber ich kann nicht mit euch in die Heimat…“, Wunnemar schluckte, „… in die Nordmarken zurückkehren. Die Menschen hier bedürfen Führung. Und ich… muss mich dieser Aufgabe stellen.
Es wird einige Götternamen dauern bis ich mit allem hier soweit vertraut bin, dass ich meine Mutter guten Gewissens als Vögtin einsetzen kann. Dann jedoch werde ich in die Nordmarken reisen. Mein erstes Ziel auf dem Weg wird St. Boronia sein. Das heißt wenn ich vorher keine Nachricht von dort erhalte.“ Wunnemar schluckte.
„Ich bete dafür das Jolenta noch lebt und ich sie in ihre Heimat geleiten kann. Für den Fall, dass sie Tod ist, werde ich ihre sterblichen Überreste nach Galebfurten bringen, damit sie dort auf den Ländereien unserer Familie bestattet werden kann. Dann ist es auch an mir den Heiratsvertrag zwischen meinem Haus und dem Hause Leihenhoff auszuhandeln, denn dann wäre ich das Oberhaupt der Familie und würde schon deswegen oft in den Nordmaken weilen.
Jost“, Wunnemar wurde vertraulich. Dies tat er selten, äußerst selten. Der Baronet, der sonst so penibel auf die Korrektheit seines Umgangs achtete, stockte und suchte einen Moment nach Worten. „Ich würde gern in engem Briefkontakt bleiben, so weit das möglich ist über diese Distanz. Und ich würde gern nach Hlûtharswacht kommen, wenn ich die Belange hier und gegebenenfalls auf die meiner Familie geregelt habe. Ich verdanke dir viel und das weiß ich. Mir bleibt nur zu hoffen, dass einst der Tag kommen wird, an dem ich dir einen Teil davon vergelten kann.“
Die Worte des Galebfur… nein, des Tälerorters berührten und bewegten Jost; mehr als er erwartet hätte. So griff er nach einem Federkiel, um sich ein wenig Zeit zu verschaffen und nachzudenken. Versonnen zwirbelte er diesen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her, als er schließlich Wunnemars Blick suchte.
„Wunnemar, es geht nicht um vergelten, um schulden oder verdanken. Es geht um Freundschaft, die auch über die Entfernung zwischen Hlûtharswacht und Tälerort hinauswachsen und auf ein starkes Fundament bauen kann. Jeder Brief von dir wird mich mit Freude erfüllen und jeder Besuch in deiner alten Wirkungsstätte wird ein Freudenfesttag sein. Und dennoch wird unser Abschied ein bitterer sein.“
Jost stoppte das hin und her wirbelnde Federkielspiel und legte ihn zurück auf den Tisch.
„Sei nur stets überzeugt von deinen Taten als Baron. Zumindest musst du so wirken, als ob. Deine Leute werden dir folgen, du musst nur führen. Und umso sicherer du auftrittst, umso mehr vertrauen haben sie in Dich. Zweifel kannst du, nein, sollst du haben. Aber stets nur zu ausgewählten Menschen in einer kontrollierten Umgebung. Und dann, und das ist mein wertvollster Rat an dich: Höre auf die Menschen, die mehr Hirn und Wissen haben als du!“
Er lachte. “Das ist das eigentliche Geheimnis.”
Der zukünftige Baron rang sichtlich um Fassung bei den Worten des Hlûtharswachters, des Mannes, von dem er so viel gelernt hatte und der ihm weit über diesen Umstand hinaus ein echter Freund geworden war. Jost sprach Wunnemar aus der Seele und so war es wenig verwunderlich, dass auch ihm die Situation nah ging.
Erst der letzte der Ratschläge seines Dienstherrn, eben weil er eine gewisse Komik in sich barg, deswegen aber nicht weniger ernst gemeint war, vermochte die traurige Stimmung zu durchbrechen und brachte auch den Baronet zum Lachen.
Die einzelne Träne, die Wunnemar dabei dennoch die Wange herunterlief und sich dann in seinem Bart verfing, wischte sich der Baronet nicht weg. Nein, er hatte gelernt, dass solch positive Gefühle eine Stärke waren und dass man sie den Menschen zeigen sollte, denen man vertraute.
“Ich werde mir diese Ratschläge zu Herzen nehmen Jost.” Er schmunzelte unwillkürlich. “Alle!”

Der Lehnseid

Nach dem letzten Willen von Aldare von Fold- Galebfurte, würde nicht ihre Tochter Madalbirga, ihre Erstgeborene, oder gar ihr Sohn, der mittlerweile in der Rabenmark in Amt und Würden stand, Baron von Tälerort werden, um ihr so im Amt zu folgen. Nein, sie hatte unlängst Wunnemar, den ältesten Sohn Madalbirgas zum Erben bestimmt. Auf die Frage warum, hatte sie stets nur eine vage Antwort gegeben. Es sei ihr eine göttliche Vision zuteil geworden, wonach es ein Geschwisterpaar wäre, in deren Hände die Geschicke ihrer Heimat gelegt werden solle - gelegt werden müsse.
Für sie waren ‘der Weiße’ und ‘der Dunkle’, die bedeutenden, handelnden Figuren aus ihrer Vision niemand andere als Wunnemar, der mittlerweile den Beinamen ‘der weiße Witwer’ im einfachen Volke trug und Koradin, den Aldare selbst die vielen Jahre, die der jüngere Sohn Madalbirgas verschollen war, ja als tot galt nicht aufgab. Sie hatte immer behauptete er würde zurückkehren.
Dass sie am Ende recht behielt und Koradin tatsächlich als Druide nach Tälerort zurückkehrte, ließ einige Zweifler an ihrer Entscheidung verstummen, einigen jedoch war der Diener des Landes, so wie er sich selbst nannte unheimlich, weckte er doch den Aberglauben in den Menschen.

Nun aber war es soweit, Wunnemar Thankmar von Galebfurten würde den Lehnseid vor dem Markgrafen ablegen, der nach Tälerort gekommen war, um Aldare, einer langjährigen Weggefährtin, die letzte Ehre zu erweisen, aber auch, um einen Vasallen auf sich einzuschwören.

Gernot von Mersingen war niemand, der einen Baron schlicht bestätigte, weil es sein vermeintliches Erbe war. All die, die sich in den Zeiten der Warunkei nicht um ihre Heimat bemüht hatten, hatte er entlehnt. Auch in den Jahren danach hatten schon Junker ihr Lehen wieder verloren, weil sie lieber in der Ferne weilten und auch von dort nichts für die geschundene Heimat taten. Dass keine der Klagen vor dem Reichsgericht erfolgreich gewesen war, zeigte, dass er dabei das Wohlwollen der Kaiserin genoss.

Ganz offenbar hatten Wunnemar von Galebfurten und sein Haus dies nicht zu befürchten. Seine Erlaucht war mit etwa einem Banner nach Trutzenhain aufgebrochen. Doch die gut 30 Streiterinnen zu Fuß zogen direkt weiter gen Rotenzenn, um die Burg und das Umland weiter zu säubern. Hierin würde auch der Markgraf selbst mit Praigunde von Beilunk an seiner Seite weiter ziehen. Die Feder um die Landmeisterin war bereits dort verblieben.

Doch sein Ziel war zunächst direkt das Grab seiner langjährigen Lehnsfrau. Eine Leiche aufzubahren und die Bestattung zu verschieben, traute sich niemand in diesen Landen. Stumm hielt er Zwiesprache mit dem Schweigsamen und betete dann vernehmlich an dem Grab, in dem er den Choral des Abschieds sprach.

“Am Lebensende geh’ in Frieden
ein in des Raben stilles Reich

Wisse sicher seine Gnade
Schlafes Bruder bettet weich

An einem dunklen, sichern Ort
frei jeder Mühsal und Gefahr

In tiefen Träumen weich geborgen
schlaf friedlich endlos lange Zeit

Vergiss des Lebens Plag’ und Müh,
erfahr’ des Schweigens Ewigkeit”

Danach zog er sich mit Wunnemar und dessen Mutter zu Beratungen zurück, in denen er den künftigen Baron über dessen Pläne ausfragte. Er war sich sicher, dass das Haus Galebfurten auch weiterhin alles für den Aufbau des Lehens tun würde.

Am nächsten Tag sollte es dann soweit sein. Zur Mittagsstunde versammelten sich alle auf dem kleinen Platz von Trutzenhain. Die beim Markgrafen verbliebenen Kämpferinnen bildeten einen Halbkreis um den Markgrafen, neben dem die Prätorin das Praiostempels von Altzoll stand. Hinter ihnen war der Zugang zum Wehrhof. Die Rabenmark war kein Ort für großen Pomp und ausufernde Zeremonien. Weit wichtiger war, sich die Treue der Menschen durch Taten zu verdienen und sich im steten Ringen um den Wiederaufbau zu beweisen.

Der Markgraf blickte über die versammelte Schar und wandte sich dann schließlich Wunnemar zu, der in gebührendem Abstand vor ihm stand. Die Stimme des Markgrafen trug weit und war gut zu vernehmen.

“Diese Lande haben viel Düsternis gesehen und doch immer gab es Hoffnung. Aldare von Fold-Galebfurten hat ihre Heimat nie aufgegeben. Immer galt Ihr Denken ihrer Heimat und mehr noch den Menschen von dort. Den Menschen die damals fliehen konnten und denen, die unter der Herrschaft der grausamen Dämonenknechte litten. Und als wir den Wall nahmen, als wir Schritt um Schritt vordrangen, da gehörte sie zu denen, die als erstes zurückkehrten.” Der Mersinger machte eine Bewegung, die dem Ort und umgebenden Land galt. “Viel hat sie erreicht und immer werden sich die Menschen an sie erinnern.
Groß sind ihre Taten und groß die Herausforderung an ihren Nachfolger sich zu beweisen. Wunnemar von Galebfurten ist bereit sich ihnen zu stellen. So soll es sein und wir wissen, dass ihr ihm beistehen werdet, so wie er Euch beistehen wird. Denn Treue ist mehr als bloße Gefolgschaft. Treue wird nicht befohlen, Treue will errungen werden.”

“Seid Ihr bereit, Eurem Herrn und Markgrafen Gernot von Mersingen den Lehnseid zu leisten?” Die kleingewachsene Praiotin hatte das Wort ergriffen. “So tretet vor und kniet nieder vor seiner Erlaucht. Doch seid gewahr, der Eid, den ihr leisten werdet, ist heilig und Euer Blut wird ihn besiegeln. Einmal geleistet bindet er Euch und der strafende Blick das Herrn der göttlichen Gefilde Alverans wird Euch treffen, wenn ihr Euch an ihm versündigt.” Milder fuhr sie fort. “Doch sein Blick wird immer bei Euch sein. Seid Euch dessen gewahr, er wird Euch stärken, wird auch Kraft geben, wenn ihr sie braucht.”

“Ich bin bereit”, bestätigte der Baronet mit ernster und zugleich feierlicher Stimme.
Dies war der Moment von dem Wunnemar schon so lange geträumt hatte. Er wünschte Talina wäre nun an seiner Seite, sie wäre stolz. Tälerort hätte ihre gemeinsam Zukunft sein sollen.

Als der junge Ritter vor Gernot trat und sich dort nieder kniete, trat auch die Geweihte vor und ließ sich einen vergoldeten Dolch und eine güldene, mit Symbolen des Götterfürsten verzierte Schale reichen. Sie nahm vom Blut des Lehnsherren und seines zukünftigen Gefolgsmannes und mischte es in der Schale. Dann rief sie ihren Herren an und die Wolkendecke am Himmel riss etwas weiter auf. Ein gutes Omen!
Wunnemar legte seine gefalteten Hände in die des großgewachsenen Mersingers. Praigunde fuhr fort und erinnerte beide an ihre Pflichten, die durch den Heiligen Eid beidseitig besiegelt würden. Sie erinnerte den Galebfurten daran, dass es einfach sei, einen Eid zu erfüllen, wenn es keine Not gebe. Doch in den Stunden der Düsternis offenbarte sich erst, ob ein Eid wahrlich geehrt wurde.

Der junge Galebfurtener ging in sich und und rief sich die Schwurformel in den Sinn, die er so oft gelesen hatte, um im rechten Moment zu Wissen was er zu sagen hatte. Doch in diesem Moment bewegten sich seine Lippen wie von selbst, er brauchte sich nicht zu erinnern.
“Hiermit schwöre ich, Wunnemar Thankmar von Galebfurten, Baronet von Tälerort, all das gehörte”, intonierte er feierlich.
“Euch, meinem Herrn Gernot Aiwulf Lahîris von Mersingen aus dem älteren Haus, treuer Vasall des Raulschen Reiches und Markgraf der Rabenmark, gelobe ich Gefolgschaft im Felde und zu Hofe, wahrhaftigen Rat und Lehnstreue. Dies schwöre ich bei dem Götterfürsten, der allzeit Treuen und ihren zwölfgöttlichen Geschwistern, und gelobe Euch zeitlebens ein ergebener Vasall zu sein.”

Nach Wunnemars Worten schloss die Geweihte mit der althergebrachten Formel den Eid ab:

“Heiliger Herr Praios, blicke hernieder und segne diesen Schwur.
Seine Worte, ihr Sinn und ihre Bedeutung sollen heilig sein.
Er wird aus freien Stücken geschworen, ohne Dunkelsinn oder Tücke im Geist, und dir als Hüter anempfohlen. Wer jedoch diesen Schwur tut, um seine Bedeutung zu verzerren, wer den anderen gegen seinen Willen zwingt oder wer den heiligen Eid schließlich bricht, den möge deine göttliche Strafe ereilen!”

“So sei es!” erklang laut vernehmlich die Stimme Gernot von Mersingens, dessen Blick währenddessen den Augen Wunnemars galt.

Entschlossen stand der Galebfurtener dem Blick des Mersingers stand, auch wenn er ihm viel innere Stärke abverlangte diesem Mann standzuhalten.
“Es sei”, erwiderte Wunnemar die Worte seines Lehnsherren. Dann war es vorbei. Fürwahr, es hätte schlechter laufen können. Der Markgraf war nicht gerade für seine Milde bekannt. Das Fällen von unliebsamen Entscheidungen war bei ihm eher die Regel als die Ausnahme. Doch nicht bei ihm. Gernot von Mersingen hatte die Wahl seiner Großmutter, hatte ihn bestätigt.
Wunnemar atmete tief durch. Er hatte sein Ziel endlich erreicht: er war nun Baron in seiner Heimat und doch wollte sich keine rechte Befriedigung einstellen. Die Anspannung blieb und würde wohl noch eine Weile anhalten.
Viel war passiert, seitdem sie die Nordmarken verlassen hatten. Viele waren gestorben für diesen, für seinen Traum. Verantwortung lastete nun mehr den je auf seinen Schultern. Sie durften nicht umsonst gestorben sein.