Feldzug Rabenmark, Kapitel 3: Die Heerschau

Die Heerschau

„Lanze Waldwacht! … Lanze Flusswacht! … Lanze Hlûtharsruh” - Dies waren, ausgerufen und angekündigt von stolzen Knappen, die am Feldzug teilnehmenden Ritterlanzen des besagten Barons von Hlûtharswacht. Mit glänzenden, funkelnden Rüstungen und auch mit nicht wenig Stolz in den Augen ritten die Lehensnehmer Josts vor diesem auf die Wiese.


Haus Albenholz auf Waldwacht, die Zahlreichen. An ihrer Spitze ein Duo. Adalhard, der Edle, ein Mann in den späten 50er, der aber noch wie Mitte 20 aussah - Gerüchten zufolgen lag das an einer guten Portion Elfenblut, was in den Adern derer von Albenholz fließen sollte, denn das Haus gebot seit Urzeiten schon über einen Forst, in dem sich angeblich noch Reste einer Hochelfensippe vor den Augen der Welt verbarg, und nur Eingeweihte aus den Reihen derer von Albenholz war es gestattet, sie zu besuchen. Freilich nur ein Märchen. Aber steckte nicht in jeder solchen Geschichte auch ein Funken Wahrheit? An Adalhards Seite ritt sein Erstgeborener Firman, ein Ritter im besten Mannesalter, ebenso makellos und gutaussehend wie sein potenter Vater. Dessen Lenden waren nicht weniger als 16 Kinder ensprungen (von 2 Ehefrauen wohlbemerkt), von denen einige sogar mit auf diesen Heerzug gingen. Adalhard selbst würde nicht mit in die Rabenmark ziehen und die Führung der Lanze stattdessen Firman überlassen, weil Adalhard die Ehre zugefallen war, Odelia von Keyserring, die Baronsgemahlin von Hlûtharswacht später am Tag nach Hause zu geleiten.


Das Haus Flusswacht war ebenfalls mit stattlicher Zahl erschienen. Flusswacht, die Treuen. Angeführt wurde die über Soll stehende Lanze vom alten Gundeland, dem Junker zu Flusswacht, welcher schon ein Freund Baron Ulfrieds gewesen war und dessen Sohn Sigiswolf zu den engsten Vertrauten Josts zählte. Das Haus Flusswacht war schon immer ein enger Verbündeter des Baronshauses gewesen. Wenn nicht der engste. So war es nicht verwunderlich, dass der Ritter Gundeland den silbernen Drachen als handtellergro0e Brosche auf der Brust trug: Zeichen seines Amtes als Erstes Schwert des Barons. Er war nach Baron Jost und dem jungen Trossmeister der ranghöchste Befehlshaber, denn ihm unterstanden die gesammelten Truppen Hlutharswachts. An seiner Seite ritt ebenso stolz sein Knapppe Berenz von Guglenberg, ein junger Mann kurz vor der Schwertleite, der die Farben Flusswachts würdevoll zur Schau trug, aber auch das Wappe derer von Guglenberg auf seinem Schild, jenem hlutharswachter Edlengeschlecht, dem Berenz nach seiner Reife nicht nur vorstehen, sondern, der auch als Edler von Guglhof alsbald vor Baron Jost knien durfte. Worauf der junge Mann sich schon außerordentlich freute.


Hlûtharsruh, die Hauptstadt jener Baronie unter dem Wappen des Heiligen Hlûthars von den Nordmarken, war mit der gleichnamigen Ritterlanze Hlutharsruh vertreten, die traditionsgemäß durch ein Familienmitglied des Hauses Sturmfels-Maurenbreche befehligt wurde. Seither die Aufgabe von Josts Tante Thalina von Sturmfels-Maurenbrecher, der jüngeren Schwester Altbaron Ulfrieds. Nun hatte mit Thalinas Tochter Mersea die jüngste Ritterin der Familie das Kommando übernommen. Die Cousine Josts führte die Hausmacht der Familie zum ersten Mal in die Ferne. Ähnlich gut aussehend wie Jost, wirkte sie womöglich noch selbstsicherer und imposanter als dieser. Doch konnten geübte Augen in den durchgedrückten Schultern und dem gen Alveran erhobenem Kinn mehr Aufregung als tatsächliche Abgebrühtheit erkennen. Für sie stand durchaus einiges auf dem Spiel. Sie vertrat nicht nur ihr Haus, sondern durfte sich sicher sein, dass eine jede ihrer Entscheidungen später von ihrer Mutter auf eine Goldwaage gelegt und kritisch geprüft würden. Ihr zur Seite stand eine junge Knappin aus dem Hause Albenholz: Hetta, die älteste Enkelin des Albenholzer Edlen.


Das Haus Pruch zu Talwacht hatte nur einige Waffenknechte geschickt, denn der junge Rittersmann Willard von Pruch hatte sich dem Baron gegenüber empfohlen - aus finanziellen Gründen freilich - lieber zuhause in der Baronie für Sicherheit zu sorgen. Die Lanze Talwacht war also nicht anwesend.


Auch die Lanze Finstertann mit dem gleichnamigen Ritter zu Finstertann fehlte. Es gab gute Gründe hierfür. Schädliche. Durch und durch unverzeihliche. Wer auf der Hochzeit des Barons gewesen war, musste nicht erst an das blutige Massaker erinnert werden, dass die Familie von Finstertann verursacht hatte - oder besser ausgedrückt: das, was nach ihrer Verwandlung zu Vampiren von dieser übrig war. Das junge Baronspaar war dank beherztem Einsatz Mutiger mit dem Leben davongekommen. Der grauenvolle Überfall auf die wundervolle Travienbundfeier hatte jedoch nicht nur die gesamte Edlenfamilie ausgelöscht, sondern auch etlichen Gästen und Familienmitgliedern einen grausamen Tod beschert. Ganz zu schweigen davon, dass in den Köpfen derer, die dabei gewesen waren, immer noch das Entsetzen sprachlos machte, mit wie viel Grausamkeit und Hinterlist die Familie von Finstertann vorgegangen war, wie viel Leid und Angst verursacht wurde, selbst im Nachhinein, und wie plötzlich alles passiert war. Diese Monster. Hatten zuvor unerkannt zwischen den Gästen gesessen, munter mit ihnen geplaudert. Und dann eiskalt zugeschlagen. Jeder einzelne von ihnen. Mit tödlicher Wut. Und der Präzision, wie sie nur lange Planung möglich machte.


Jost hatte daher lange mit sich gerungen. Sollte er Odelia mit zur Heerschau nehmen? Oder sie zuhause in Hlutharswacht lassen? Konnten sie denn ihre geplante Hochzeitsreise vor dem Hintergrund, dass so viele gestorben waren, überhaupt durchziehen? Genießen? Er hatte sich für Flucht entschieden - für Weltflucht. In der Hoffnung, dass er an der Seite seiner geliebten Odelia wenigstens für manche Momente vergessen konnte, das aus dem “Schönsten Tag im Leben” ein Trauertag geworden war. Doch so einfach stellte sich die Ablenkung dann doch nicht ein.

Die Tage der Anreise waren mehr als schwierig für das junge Ehepaar gewesen. Erst durch Hilfe einiger Rahjapriester hier in Gareth hatten beide Ruhe und Muße füreinander finden können. Zu sehr belastete die „Rote Hochzeit“ den Schlaf und die Momente geschlossener Augen die beiden Verliebten. Er hatte Familienmitglieder verloren – bestialisch ermordet durch wahnsinnige Vampire. Und sie musste den schönsten Tag ihres Lebens in Trümmern, Todesschreie und Waffengeklirre in Scherben gehen sehen.

Müde sahen sie aus in diesen Tagen, der Baron und seine Angetraute. Tiefe Augenringe und bleiche, fahle Haut ließen vielleicht so manchen an wilde Nächte und Bettlakenkämpfe des Hochzeitspaares denken. Aber weit gefehlt. Die Schreie aus ihren Zimmern im Seelander zeugten von Alpträumen, von Erinnerungen an Tod, Schrecken und Furcht.

Er wollte sie eigentlich vor den glotzenden und gaffenden Bewaffneten bewahren und hatte lange mit ihr darüber diskutiert. Und doch ritt sie nun neben ihrem Gemahl. Erfüllte ihre Pflicht, wie es ihr als Baronin zustand und zukam. Und wie sie sie eingefordert hatte. Sollten doch alle sehen, dass sie wusste, was man von ihr erwartete und dass sie stets mehr als bereit war, ihre Rolle auszufüllen.

Odelia hatte der Tod ihrer eigenen Verwandten weniger zugesetzt als sie zugab. Da es “ihr Tag” hätte sein sollen, nahm sie es den Toten vielmehr übel, gestorben zu sein. Oh, nicht nur, dass sie einfach gestorben wären, das wäre schon schlimm genug gewesen. Nein, nein! Sie mussten sich grausam hinrichten lassen! AN IHREM HOCHZEITSTAG!

Aber ihre ältere Schwester hatte ihr sehr vehement geraten, dies nicht allzu laut zu sagen. Zwar hatte Odelia die Augen verdreht, aber dann doch den Ratschlag der Älteren angenommen. Ihr Name, der ihres Gatten und ihrer Kinder würde auf ewig mit diesem unrühmlichen Tag in Verbindung gebracht werden. Das war schlimm genug.

Und dieser Gedanke hielt sie wach. Nacht für Nacht. Während Jost sich neben ihr hin und her warf und von Albträumen geplagt wurde. Dann strich sie zärtlich über seine Stirn bis er sich beruhigt hatte oder erwachte. Dann lächelte sie ihn stets an. Mit warmen Herzen, denn sie wusste seine Traviagefälligkeit zu schätzen. Er würde sie nicht betrügen, sein Herz war das ihre, und das ihre gehörte ihm. Daher hatte sie sich auch nicht abhalten lassen, ihn hierher zu begleiten, vor das versammelte Heer. Sollten ruhig alle sehen, dass sie und er zusammen gehörten! Und da würden auch diese namenlose Geschöpfe nichts dran ändern.

Daher ritten nun beide – Jost Verian von Sturmfels-Maurenbrecher und seine Odelia – die Reihen der treuen Gefährten und Verbündeten ab, nickten, grüßten und schüttelten viele Hände.

Und gähnten…


Was vor ihnen aufmarschiert war, stellte wahrlich eine stolze Anzahl an Männern und Frauen unter Waffen dar, wenn auch die Zusammensetzung der einzelnen Einheiten eher als ‘abenteuerlich’ zu bezeichnen war. Das bunte Fußvolk aus Soldaten, Söldnern und Waffenknechten bildete den großen Kern des Heeres, wohingegen die schwere Reiterei der Ritterschaft sicher die durchschlagskräftigste und gefürchtete Gruppe darstellte. Schützen hingegen gab es in verschwindend geringer Kopfzahl, Sappeure zumindest eine Handvoll.

All waren sie nun angetreten, in Summe gut zweihundertfünfzig Streiter. Und, wie Jost durch seinen fleißigen Dienstritter Wunnemar, den Planer und Heerführer, wusste, würden sich noch einige Einheiten unterwegs anschließen.

Viele, bunte Banner und Fähnchen wehten im seichten Wind auf der Wiese vor der Kaiserstadt. Das Spektakel war natürlich nicht unentdeckt geblieben. So fanden sich jede Menge neugieriger Augen aus Volk und Adel zusammen, die vom Rande zusahen, wie der junge Nordmärker ‘seine’ Truppen inspizierte.


Dem Baron und seiner Gemahlin folgten in angemessenem Abstand Josts Zöglinge auf ihren Pferden: sein Knappe Ado von Zweigensang trug mit stolzgeschwellter Brust die Fahne des Hauses Sturmfels-Maurenbrecher, während der kleine horasischen Page Hesindio di Piastinza, nicht minder stolz, doch wesentlich aufgeregter den güldenen Heiligen Hlûthar über silberner Burg auf Rot an den aufgereihten Streitern vorbeitrug.


Als Jost am Ende seines Rittes mit seiner Gemahlin vor dem versammelten Heer stand, sein Knappe links, sein Page rechts von ihnen, erhob er laut die Stimme, damit es auch in der hintersten Reihe zu vernehmen war:


“Verbündete. Freunde. Familie.

Ich danke euch für euer zahlreiches Erscheinen und eure Absicht, mit mir in die Schwarzen Lande zu ziehen. Gen Tälerort.

Zur Erfüllung freundschaftlicher Bande, zum Wohle des Kaiserreiches und der Nordmarken

wollen wir dort das Licht zurück in die Finsternis bringen.

Und Hoffnung für das befreite Land.

Travias Herdfeuer soll wieder hell erleuchten in der Mark.

Der Schein von Sicherheit und Zukunft soll sich ausbreiten in die Herzen derer, die neu oder wieder in den Landen jenseits der alten Grenze leben.

Das ist unsere göttergegebene Pflicht.

Wir werden den Frieden und die Freiheit, den unsere Kaiserin vor noch nicht langer Zeit mit flammendem Herzen gen Mendena trug, weitertragen.

Besonders freue ich mich darauf, mit euch, liebe Freunde, auf dieser Reise an neuen, bisher nicht erprobten Kampftaktiken zu feilen, um in Zukunft unserer aller Feinde noch effizienter bekämpfen zu können.”


Man konnte Jost durchaus Pathos für diese, seine Sache anmerken. Mit loderndem Blick wandte er sich zu seiner Frau und streckte seine Hand nach ihr aus. “Travia zu Ehren und für die sichere Zukunft unserer Familien,” ergänzte er mit einem liebevollen Blick auf seine junge hübsche Gemahlin, während er ihre Hand zärtlich drückte.

Dann wandte Jost den Blick wieder den Streitern zu:

“Morgen zur 9ten Morgenstunde brechen wir auf! Rüstet euch, Gefährten. Die Rabenmark erwartet uns! Gareth - bis morgen sind wir noch deine Gäste.”


Missgelaunt schaute Anselm von Eschengrund sich die Selbstdarstellung dieses Gockels an. Insgeheim hatte er sich gewünscht, selbst die Tochter seines Dienstherrn zu ehelichen. Freilich war aber sogar dem tumben Eschengrunder klar gewesen, dass sie viel zu gut für ihn war. Viel zu gut. Aber schön wäre es schon gewesen. Er seufzte. Stattdessen hatte sie diesen weibischen Baron aus dem Osten geheiratet. Der schöne Reden schwang und an dem der Eisensteiner einen Narren gefressen hatte.

An seinen Kampftaktiken feilen wollte also dieser aufgeblasene Schönling. Er hatte die großartigen Taktiken schon auf der blutigen Hochzeit bewundern können. Weibisches Getänzel wie es die Horasier so liebten - kein Wunder, hatte der Hlutharswachter ja auch dort gelebt. Hätte der großmäulige Wicht dort einfach einen angemessenen Kampf, mit Mut und Rondra zum Gefallen, geführt, wäre das Gemetzel schneller vorbei gewesen. Aber er musste sich ja hinter Rittern, die kaum dem Knappenalter entwachsen waren, verstecken. Er würde noch sehen, wohin er sich seine nicht erprobten Kampftaktiken stecken konnte. Zumindest wenn es nach ihm ginge, was es sehr selten tat.


Dem breitschultrigen Hünen, der nicht weit von Jost in seinem Sattel saß, hatten dessen Worte hingegen gefallen. “Wohl gesprochen”, kommentierte der Große Schröter daher mit seiner wohlklingenden, tiefen Stimme und nickte in Richtung des Barons.

Dies war die große Chance den Anspruch der Familie seiner geliebten Frau auf Tälerort zu festigen. Viele der alten, mittelreichischen Häuser redeten klug daher oder klopften Sprüche, wenn es um die Ländereien der Rabenmark ging. Alle wollten sie zurückkehren, doch geschehen tat noch zu wenig. Sie hingegen würden mit diesem Heerzug beweisen, dass sie nicht alleine standen, auch wenn das Haus Galebfurten noch eine junge Familie war. Der Markgraf würde diese Tatkraft, die Entschlossenheit anerkennen. Damit, so hoffte Thankmar, wäre das Erbe seines Sohnes gesichert.


Jolanta von Galebfurten, Oberhaupt des normärkisches Zweiges der Familie genoss jene Momente der Ansprache in vollen Zügen. Viel zu lange nach ihrem Empfinden war sie gezwungen gewesen abseits der Wege der Leuin zu wandern, hatte den Baron von Galebquell, Roklan von Leihenhof als Erbvögtin vertreten, während dieser fern der Heimat gekämpft hatte. Und sie war wahrlich keine Frau der höfischen Gepflogenheiten, der Ränke und Intrigen. Jolenta verehrte die Sturmherrin aus vollem Herzen.

Lucilla von Galebfurten, ihre Nicht, würde bald Aureus von Leihenhof heiraten, den Bund der Häuser erneuern und ihre Nachfolge als Erbvögtin antreten. Alles war arrangiert und bestellt.

Nun war ihre Stunde gekommen, die Stunde des Schwertes, vermutlich die letzte Chance sich vor Rondra noch einmal zu beweisen, denn sie zählte bereits fünfundvierzig Sommer. Die gepanzerte, rechte Faust zum Herzen führend grüßte sie Baron und Trossmeister.


Rhys Gwenlian hingegen verdrehte die Augen und hatte Mühe an sich zu halten. Hochtrabendes Gewäsch, eine andere Bezeichnung wollte ihm für all die Worte beim besten Willen nicht einfallen. Was brachte all das gute Zureden, wenn sich doch die Hälfte einscheißen würden, sobald sie in die Schlacht ritten, oder es mit Gegnern zu tun bekamen, die danach trachteten das reine Chaos ihrer eigenen Sphäre nach Dere zu bringen. Doch der Hofmagus des Barons von Hlutharswacht behielt solche Dinge lieber für sich, meistens jedenfalls. In diesem Moment jedenfalls lächelte er entzückt und klatschte demonstrativ zwei Mal in die Hände. Mehr konnte wahrlich niemand von ihm verlangen.


Josts erste Knappin hatte ihn beim Vorüberreiten mit ihrem neuen glänzenden, noch jungfräulichen Schwert vor dem Gesicht gegrüßt. Sie saß auf Pirmin (Ira hatte sich dann doch gegen ihre rossige Stute und für ihren besonnenen Gallyser Wallach entschieden, nachdem die Stute ihr mit dem Balzverhalten dermaßen auf den Geist ging, dass sie sogar ihren Knecht dazu abstellen musste, um das umtriebige Tier zu beaufsichtigen) und auf noch ungewohnte Weise nicht im Kreise der Hlutharswachter, sondern im Verbund der Eisensteiner Ritter, weil sie jetzt eine von ihnen war: eine Eisensteiner Ritterin. Es gab jedoch etwas, was Ira und Jost immer verbinden würde, selbst wenn sie am anderen Ende Deres lebte. Genau das erklärte das Schmunzeln im Gesicht der Plötzbogen, denn was für ‘unerprobte Kampftechniken’ ihr Freund meinte, waren ihr ganz klar. Wobei ‘neu’ eigentlich nur hieß, dass sie vor allem der heutigen Zeit und den Nordmarken neu erschienen. Damals, zu Zeiten Bosparans, waren diese Kampftechniken praktiziert worden. Mit Erfolg auch während des jüngst vergangenen “Drachenkriegs” im Horasreich, wie Jost immer wieder begeistert aus seiner Knappschaft beim Anführer der Goldenen Legion, dem Condottiere Zandor von Nervuk, erzählte. Ira war ebenfalls klar, dass sie für das Mittelreich, für die Nordmarken nutzbar zu machen bedeutete, dass die Sache auf der einen Seite Fingerspitzengefühl, auf der anderen Seite Mut erforderte und - noch wichtiger! - Erfolg! Erst dann würden die Spötter verstummen. Sie wünschte sich das. Für Jost, für diese Unternehmung, und für den Schwarm. Was Ira sich auch wünschte, war, dass sie vielleicht im Osten bei den Erprobungen herausfinden konnte, warum sie das Monster nicht hatten bezwingen können, oder besser: wie sie beim nächsten Mal besser reagieren und ein weiteres Fiasko verhindern konnten. Sie ritten also nicht nur aus für Tälerort und Wunnemars Erbe, sondern sie gingen hier auf einen Erprobungsritt für die Sache des Goldenen Heerführers. Natürlich im Namen Hesindes und für die Ordnung Praios’ mit Segen des Rondraheiligen Hlûthars! Klar.


Mersea stutzte etwas. Die Ritterin aus Hlutharsruh wusste ja, dass ihr Vetter Jost einen etwas seltsamen Lebensstil führte, den er aus seiner Knappschaft im Horasiat mitgebracht und seitdem auch in seine Art zu Streiten einfließen hatte lassen. Aber diese Sache mit den ‘Kampftechniken, an denen es zu feilen galt’ kam ihr komisch vor. Vor allem, warum sprach er von ‘bisher nicht erprobten’ Techniken? Was nur hatte Jost vor? Welcher Mittel wollte er sich hierfür bedienen? Sie würde den eloquenten Redner mal abseits unter vier Augen befragen, denn sie wollte ungern die ihr Anvertrauten in Manöver schicken, die ihr zuwider liefen. Ihre Heimat hatte schließlich schon zu viele Tote zu beklagen. Jost war Familie - aber alles hatte Grenzen.


Hane von Ibenburg-Luring nickte bei jedem Wort. Licht in die Finsternis bringen - das war auch sein Ansinnen und dem Herre Praios mehr als wohlgefällig. Die Schwarzen Lande waren noch immer schwarz, daran gab es keinen Zweifel. So viel Verderbnis konnte nicht durch einen einzigen Streich ausgelöscht werden. Man entwurzelte ja auch keinen Baum, in dem man ihm die Äste abschnitt, und auch nicht, wenn man ihn am Stamm kappte. Man musste dem Boden mit Werkzeug zu Leibe rücken, und diesem das Wurzelwerk regelrecht entreißen. Anders ging es nicht. Die Kaiserin wusste mit Sicherheit um die Notwendigkeit solcher Unternehmungen, wie sie Jost von Sturmfels-Maurenbrecher vorhatte, das lag für Hane auf der Hand. Er sah sich um, spähte in die Reihen der Zuschauer. Einen kaiserlichen Abgesandten suchte er jedoch vergebens und das wunderte Hane sehr. Denn immerhin taten diese vielen geeinten Nordmärker das Ihrige für ein friedliches Kaiserreich unter Praios’ Gnaden.

“Was schaust du so verbissen, Liebster?” hörte er neben sich seine Frau flüstern.

“Die Kaiserin hat niemanden zu dieser Heerschau geschickt.”

“Nicht?” Jetzt spähte auch Turi in die Zuschauermenge. “Das ist ….”

“... ja nicht zu fassen.”

“Ich wollte eigentlich sagen ‘bestimmt ein Versehen’. Und doch scheint es wahr zu sein.” murmelte die einarmige Magierin und seufzte. “Das ist schade für den Baron.”

“Das ist ungeheuerlich! Sie hätte ja wenigstens einen schicken können, der ein paar Worte sagt. Mehr nicht. Nun ja.”

“Wer weiß, vielleicht kommt er oder sie ja noch.”

“Es hätte sich gehört, dass ein Abgesandter des Kaiserhauses bei dieser Heerschau zugegen ist.”

“Ach, was sich nicht alles gehört.” Turi seufzte lächelnd. Manchmal konnte ihr Geliebter einfach nicht aus seiner Haut. Er war ab und zu mehr ein Ibenburg-Luring, als ihm selbst bewusst war. Bekräftigend suchte sie Hanes Hand und drückte diese sanft. “Vielleicht war der Abgesandte ja schon bei ihm. Ist das so wichtig?”

“Für uns nicht. Für ihn schon. Er verdient es. Dieser Heerzug verdient es. Ein jeder Heerzug, der das derische Geschwür der Niederhölle angeht, verdient es, Turi. Wir alle, die wir hier stehen, verdienen es. Unser Mut. Unser Einsatz. Unser Opfer.”

Turi versteifte sich, als sich Hanes Arm um sie schlang und die Stelle an ihr berührte, an der ihr Arm gewesen war. Sofort ließ er seine Frau los. “Tut mir leid, mein Herz, das wollte ich nicht.”

“Ach, Hane, das…” Ihre Stimme, mit der sie sonst so selbstsicher und streng ihr Leben bestritt, versagte. Sie musste erst schlucken, um sie wiederzufinden. “Du liebst diesen jungen Baron, Hane, und ich weiß das, daher bin ich hier. Nicht wegen ihm. Wegen dir und weil ich glaube, dass ich dir eines Tages meine Heimat zeigen kann, wenn es noch mehr solcher Männer und Frauen gibt, die mit anderen in den Osten ziehen, um, wie du so schön gesagt hast, das Geschwür zu entfernen.”

Der blonde Praiosgeweihte lächelte seine schwarzhaarige Frau an. “Also genau genommen doch wegen Jost.” Ungefragt beugte er sich ihr entgegen und küsste Turi gefühlvoll. Doch wieder schmunzelte Turi, denn manchmal war ihr Liebster so gar kein Ibenburg-Luring.


Mit wachsender Aufregung verfolgte Palinor von Wasserthal die Ansprache des Baron. Sein Herz schlug schneller in seiner Brust bei dem Gedanken, dass sie nun schon bald in die Rabenmark aufbrechen würden. Sein Vetter Radulf hingegen schnaubte nur abfällig bei der Erwähnung der 'nicht erprobten Kampftaktiken'. Auch sonst schien der Ritter nicht allzu glücklich mit seiner Aufgabe zu sein, das Meilinger Kontingent anzuführen. Das lag aber wahrscheinlich an seinen 'Truppen'. Mit den Tobriern konnte man ja noch normal reden, die Maraskaner hingegen waren seltsam und zu allem Überfluss war ihr 'Hauptmann' auch einer. Neben der Lanze des Ritters mit den neun gut gerüsteten Waffenknechten wirkte der bunte Haufen aus Tobriern und Maraskanern besonders schäbig. Vielleicht mit Ausnahme des Geschwisterpaares, welches auf der Reise beständig mit Tuzakmessern geübt hatte. Palinor selbst trug ein langes Kettenhemd und den Meilinger Wappenrock darüber. Auf den Helm hatte er verzichtet, auch wenn er diesen unterm Arm trug. Es war ihm schon warm genug. Neugierig schaute sich Palinor um, auf der Suche nach bekannten Gesichtern oder anderen Knappen.


Während der Heerschau standen die Zwerge - bis auf den Fähnrich mit der Standarte - aufgestützt auf ihre schweren Hämmer starr, reglos und eisernen Mienen zwischen den, sie meist um mehrere Haupteslängen überragenden, Fusstruppen der Menschen.

Die Rede schien sie auch nicht weiter beeindruckt zu haben, sie waren hier weil ihr Oberst es befohlen hatte und ihr Hauptmann sie hierher geführt hatte, somit war ihre Aufgabe klar.


Die Liepensteiner standen bei den Truppen der anderen Verbündeten, einige Schritt entfernt von der zentralen Gruppe. Eoban gewährte Hauptmann Borix und seinem Halbbanner die bessere Sicht und saß daher nicht in der ersten Reihe zu Pferd, sondern etwas nach hinten versetzt.

Borix verneigte sich höflich aber kühl als der Albenholzer seinen Angroschim den Platz in der Front der angetretenen Truppen überließ.

‘Na, ob der das wirklich aus Höflichkeit macht?’ ging es dem jungen Hauptmann durch den Kopf. ‘Oder ist es wieder nur Mitleid mit den Kleinen? Das ist doch immer das Gleiche … ’

Die Albenholzer ritten auf die Wiese und sahen prächtig aus, wie zu erwarten. Eoban konnte den Stolz in ihren Augen erkennen und das freute ihn. Dennoch fühlte es sich seltsam an, der Familie nur zuzusehen - und nicht an ihrer Seite zu reiten, ganz davon zu schweigen, in der Heimat für ihren Schutz zu sorgen. Er schnaufte tief, besann sich aber gleich wieder eines Besseren. Schließlich stand er hier bei den ihm Anvertrauten, seinen Freunden, und zum Glück hatte sich auch Liebgardis hinzugesellt.

Da sah er den Baron mit Gemahlin auf die Wiese reiten. Das machte ihn unruhig. Nicht, weil er gleich dem Initiator dieser Unternehmung gegenüberstand, sondern wegen der Gerüchte. Er tippte nervös mit dem Zeigefinger auf seinem Oberschenkel. Als das Paar an ihm vorbeiritt grüßte Eoban den Baron und seine Gemahlin förmlich. Er unterdrückte den Wunsch, sie genauer zu mustern. Vergebens. Wirkte der Baron etwas ... angeschlagen? Oder erschöpft! Hatte er ihn eben ... angegähnt? Eoban presste beide Kiefer fest zusammen um nicht ebenfalls zu gähnen. Dennoch schossen ihm von dem unterdrückten Schnapper Tränen in die Augen, die er sogleich wegwischte.

Die große Ansprache hatte eine angenehme Kürze. Eoban musste seinen Hals bald verrenken, um den Redner mit seinem Blick würdigen zu können. Im Geiste jedoch war er nicht anwesend und sein Blick schweifte ab. Er ertappte sich, wie er die Mitglieder seiner Familie beobachtete, Liebgardis, Adalhard, Firman, aber auch Ossian.

Er hörte etwas von Familie und Pflicht, Herdfeuer und Sicherheit. Familie und Herdfeuer ... Wie konnte er seine Gemahlin mit dem Neugeborenen und dessen drei Geschwistern nur alleine in Liepenstein zurücklassen?! Noch dazu, wo sich die Gerüchte um die grausamen Geschehnisse auf der Blutigen Hochzeit des Barons von Hlutharswacht wie ein Lauffeuer an den Hofe der Baronin Gundela, Eobans Dienstherrin, ausbreiteten!

Zu allem Überdruss erfuhr er am gestrigen Abend etwas von seinem Freund Thobalt, das wie ein Schlag in die Magengrube war. Nach dem Genuss von drei Maß des Zwergen-Bocks entglitt diesem ein Geheimnis. Er biss sich unmittelbar auf die Lippe. Vor gut einem Jahr wurde die Baronin von ihrem Vetter Tsamar niedergestochen, soweit bekannt. Eoban war zu dieser Zeit nicht anwesend, sondern in ihrem Auftrag in der Baronie tätig. Der Übeltäter selbst war danach nicht mehr auffindbar.

Allerdings, und darüber sollte wohl geschwiegen werden, wurde beobachtet, wie der Attentäter im Lichte der Praiosscheibe wie ein brennender Haufen Holzkohle zu rauchen begann…

War Tsamar etwa auch so eine unheilige Kreatur? War er in Flammen aufgegangen wie die Pfalzgräfin von Albengau? Die Geschöpfe des Namenlosen lebten unerkannt unter ihnen und mordeten! Dazu noch die Warnungen seiner Mutter, die er erst jetzt zu verstehen begann. All das nährte den Wunsch in ihm, augenblicklich mit Ross und Schwert aufzubrechen, um die Grafschaft Albenhus und seine Familie zu verteidigen. Aber stattdessen würde er in die Schwarzen Lande reiten. Auf einem Heerzug ohne Wiederkehr…

Zorn und Panik überkamen ihn und er presste beide Hände zu Fäusten, bis sie schmerzten. Seine Gedanken drehten sich auf der Suche nach einem Ausweg. Vergebens.

Der Jubel der applaudierenden Zuhörer holte ihn zurück auf die Wiese der Heerschau. Er klatschte etwas taktlos in die Hände und lächelte müde. Eoban beschloss, im Laufe des Tages den Rat seiner Base Liebgardis einzuholen und anschließend am Abend mit Thobalt und Firman die Reste des guten Zwergen-Bocks zu strapazieren. Sofern überhaupt noch etwas davon übrig war.


Berenz von Guglenberg fühlte sich durch die Worte des Barons sehr angesprochen. Noch war der Erbe eines Hlutharswachter Lehens Knappe beim Ersten Ritter der Baronie, doch nicht mehr lange. Sein Schwertvater hatte dem 21-Jährigen Sohn eines im Haffaxfeldzug gefallenen Baronieritters den Ritterschlag auf diesem Feldzug in Aussicht gestellt. Und Berenz freute sich sehr auf diesen Moment, der ihn nicht nur zum Manne, sondern auch zum Herrn über das kleine Lehen Gugelhof machen würde. Durch den alten Gundeland von Flusswacht hatte er eine recht konservative Ausbildung genossen. Die Worte des jungen Barons erfrischten nun Berenz’ Geist und machten ihn neugierig. Insgeheim konnte er es nicht mehr erwarten, all das zu erleben, wovon der Baron sprach. Diese neuen Kampftaktiken, für die der Baron im Land bereits bekannt war. Und natürlich die dämonischen Schwarzen Lande, von denen Berenz bisher nur gehört hatte, weil er mit seinem Schwertvater während des Feldzugs gegen den Reichserzverräter Haffax zuhause geblieben war, um die Sicherheit der Baronie zu gewährleisten. Stattdessen war sein Vater mit in den Osten gezogen - und gefallen. Ein wenig krampfte sich bei dieser Erinnerung das Herz des Guglenbergers zusammen. Doch vor Scham. Denn nach dem Tod des Vaters hatte seine Mutter nicht nur die Führung des Guts übernommen, sondern sie holte sich seitdem auch einen Freier nach dem anderen in ihr leeres Bett! Aber der Hurerei würde er ein Ende bereiten, gürtete ihn erst einmal das Langschwert seines Standes!

Nach der Rede des Barons maß Berenz die Reaktion seines Schwertvaters. Er selbst hatte kein Problem damit, horasische Kampfkünste zu lernen, wie der Baron und seine Getreuen sie beim Kampf an der Hochzeit demonstrierten, doch war der alte Junker von Flusswacht jemand vom alten Schlag und spannend würde werden, wie dieser darauf reagierte, wenn es hieß, er solle Neues lernen.

Aufrecht lauschte Gundeland den Worten des jungen Barons. Und bei den Worten des Herdfeuers lächelte er zuversichtlich und spürte bald die Blicke seines Knappen. An Berenz gewand “Vertraue auf die Dinge die du gelernt hast.”

~*~


Stolz ritt der Baronet von Tälerort am Ende der Rede an die Seite des Barons von Hlutharswacht.

“Hochgeboren, wird sind weitestgehend vollzählig”, meldete Wunnemar mit lauter Stimme. “Nachzügler werden informiert werden, dass sie vor Rommilys zu uns aufschließen sollen, sobald sie Gareth erreichen. Das Heer ist abmarschbereit.”

Etwas leiser und nur an Jost und die unmittelbar in seiner Nähe befindlichen hohen Herrschaften fügte er noch weitere Worte an: “Der Großteil der Ritterschaft zu Pferde werden an der Spitze des Zuges reiten. Danach kommen die Fußtruppen - Waffenknechte, Soldaten und Söldner. Unmittelbar vor dem Tross werden die Schützen und die Soldaten des Eisenwalder Garderegiments marschieren, ebenso die Kräfte, die seiner Hochwürden von Ibenburg-Luring folgen. Den Abschluss bildet eine Nachhut der Ritterschaft. Ich habe Radulf von Wasserthal und die Seinen für diese Aufgabe eingeteilt. Teile des Orgilsbundes werden während des Tages ständig darüber wachen, dass der Zug zusammenbleibt und der Tross nicht den Anschluss verliert.”

Jost wendet sein Pferd frontal zu dem seines Capitaneus Militium zu: “Capitaneus, Danke. Mit der Einteilung bin ich zufrieden. Die Heerschau sei hiermit abgenommen.” Erneut ließ er seinen Blick über die Kämpferinnen und Kämpfer wandern. Zuversicht erfüllte seine Brust, und auch ein nicht geringes Maß Vorfreude auf die Tage und Wochen, Seite an Seite mit diesen tapferen Recken.

“Halte, wie besprochen, den besonderen Blick auf die Zusammenarbeit der einzelnen Gattungen und die Orgilsbundler nicht an einer zu langen Leine. Du kannst dann rühren lassen.”