Die Pilgerfahrt I - Argmin


Ort: Nilsitz, Senalosch - bis hin in die Stadt Gratenfels

Zeit:: Rondra 1043 BF


Protagonisten: Grimmgasch 'Friedenswahrer' groscho Kagannto, Angroschgeweihter aus Ishna Mur
Marbolieb, Borongeweihte aus Calmir
Mirla, ihre Tochter
Dwarosch 'Korgrimm', Sohn des Dwalin, Oberst des Eisenwalder Garderegiment ‘Ingerimms Hammer’
Andragrimm 'Grimm', Sohn des Arborax, Veteran des Garderegimentes
Argmin von Wirselbach, Novize des Tempels der Leuin zu Gratenfels

Nebendarsteller: Borindarax 'Borax', Sohn des Barbaxosch, gräflicher Vogt von Nilsitz
Boringarth 'Borin', Sohn des Borintosch, Adjutant des Oberst
Boindil, Sohn des Borintosch, Leibwächter des Vogts
Athimarex, Sohn des Aschtoglom, ehem. Burgvogt von Sturzenstein
Cassjarella Marchessa d’Isliquor, Ritterin der Göttin

Autoren: RekkiThorkarson, Borbar, Argmin und IseWeine

Inhalt: Aufgrund eines Gelübdes) machen sich die Geweihten |Grimmgasch, Marbolieb und der Novize Argmin unter Begleitung Oberst Dwaroschs, um ihre Pflicht in Gratenfels zu erfüllen.

Gesamtdokument hängt an.

Prolog Grimmgasch: Das zerborstene Herz

Auf dem Weg

Es war jetzt das dritte Mal innerhalb weniger Tage, dass sich der Angroschgeweihte auf dem Weg nach Senalosch machte. Das erste Mal war er auf dem Weg von Ishna Mur gekommen, seiner neuen Heimat. Das er dort eine Heimat und einen Tempel, seinen Tempel, gefunden hatte, war ein Ereignis, dass er immer noch nicht so recht glauben konnte. Aber die Wege des Allvaters waren ja in ihrer Göttlichkeit nicht für jeden nachvollziehbar.

Obwohl er aber mit dem Dekret des Vogts ernannt worden war, musste er nach Senalosch um sich dort freistellen zu lassen und auch seine Sachen nach Ishna Mur bringen zu lassen.
So war er mit der Reisegesellschaft wieder zurück in die Stadt gewandert und hatte im Tempel des Weltschöpfers mit dem Hochgeweihten gesprochen und um seine Entlassung aus dem Tempel gebeten. Dieses wurde ihm selbstverständlich gewährt, denn schließlich wuchs die Bergwacht seit ihrer Wiederinbetriebnahme stetig und benötigte auch einen Priester.

Kaum hatte er in seiner alten Kammer in den Gewölben unter dem Tempel seine Sachen in zwei Reisetruhen verstaut, da kam ein Bote des Bergkönigs zu ihm und verlangte, das Grimmgasch ihm umgehend folgen sollte.
Nun einer Einladung des Bergkönigs zumal sie mit ‘umgehend’ beschrieben wurde, konnte sich Grimmgasch wohl kaum widersetzen und so folgte er dem Boten vor den Tempel, wo vier weitere bewaffnete Wachen warteten, die Grimmgasch nun eskortierten. Grimmgasch überlegte, was er denn in letzter Zeit falsch gemacht hatte, kam aber auf keine Idee. So folgte er den Wachen tief in seine Gedanken versunken.

Es dauerte eine ganze Weile bis sie vom Tempel durch das Widdertor, die fünf äußeren Verteidigungsringe und den Lorenbahhof gegangen waren. Als sie dann vor den inneren Verteidigungsringen angelangt waren, wurden sie das erste Mal von der Wache angerufen und der Bote musste ein Beglaubigungsschreiben vorweisen, so ging es bis zum dritten und letzten Tor. Anschließend noch durch die Rogmartosch - die Stollen in denen sich die Verwaltung des Bergkönigs befand - bis sie zu einem schmucklosen Tür kamen, an der der Bote klopfte. Nachdem der Bote die Tür geöffnet hatte und Grimmgasch ein kleines Arbeitszimmer betrat, stand er überrascht vor Fargol, Sohn des Fanderam - dem Bergkönig - der hinter einem Schreibtisch saß und Grimmgasch freundlich zuwinkte.
Grimmgasch ließ sich dem Bergkönig gegenüber auf einen Schemel sinken und wartete gespannt auf die Ansprache. “Bruder Grimmgasch”, begann der Rogmarog, “ich habe Dich rufen lassen, weil ich einen Brief bekommen habe. Ein Brief der Herzogenmutter. Anscheinend hält sie sehr viel von Dir. Du musst sie wohl mit Deinen Taten beeindruckt haben.”
Grimmgasch lief rot an, der Bergkönig würde ihn doch nicht nur gerufen haben, weil er einen Brief von Grimmberta erhalten hatte. Aber da er nicht direkt zur Rede aufgefordert worden war, blieb er einfach sitzen.

Der Alte grinste ein wenig und fuhr dann fort: “Und mit diesem Schreiben hat sie mich gebeten Dir etwas zu geben, da sie erwartet, dass Du Dich am zweiten Tag des Hitzemonds einfinden würdest.”
Grimmgasch schossen die Bilder des letzten Jahres durch den Kopf und ihm fiel das Versprechen ein, dass sie dem Muschelfürst und der Herzogenmutter gegeben hatten.
“Die Nixe Ignilde …”, stammelte der Geweihte.
“Ja, genau”, nickt Fargol. “Das schrieb Frau Grimmberta.” Dann stand er auf und holte aus einem Regal neben sich ein hölzernes Kästchen, das mit seinem Siegel verschlossen war. “Nimm dies. Du wirst schon wissen, wann Du es öffnen musst. Und wenn die Aufgabe erledigt ist, dann bring es mir zurück.”
“Ja, Väterchen!” bestätigte Grimmgasch und nahm das Kästchen entgegen. Es war aus dunklem Holz, gut zwei Spann lang und je einen halben Spann breit und hoch und knapp einen halben Stein schwer.

“Soll ich sonst noch etwas tun?” fragte er den Bergkönig.
“Nein, mein Junge”, antwortete dieser, “komm einfach wieder zurück und berichte mir.”
Mit einem Wink entließ er den Angroschgeweihten und schaute wieder auf die vor ihm liegenden Bücher. Grimmgasch sah das als Zeichen sich zurückzuziehen.

~*~

Der zweite Weg führte ihn nach Elenvina.

Und an diesem Abend tief unter Eilenwïd-über-den-Wassern wusste er, wozu das Kästchen oder besser sein Inhalt diente. Aber das war eine andere Geschichte.

~*~

Der dritte Weg führte ihn zurück nach Senalosch.
Es war ein trauriger Weg. Das Herz der Nordmarken war zerborsten. Das zentrale Artefakt des Herzogtums durch das Wirken eines Paktierers mit Hilfe eines Boslings in seine Teile zerbrochen. Die Einigkeit der vier Völker der Nordmarken, der Elfen, der Feenwesen, der Menschen und der Angroschim dahin.
Und war das nicht schon schlimm, waren auch noch die Splitter der Elfen und der Feen von dem Paktierer gestohlen und er konnte damit in den Limbus entkommen.
Jetzt trug er zusätzlich zu dem Kästchen mit dem Schlüssel auch noch den Splitter der Angroschim. Beides sollte er nun dem Rogmarog zur Aufbewahrung bringen.
So ging er dann direkt nachdem er in Senalosch angekommen war, auf das Widdertor zu und von dort durch die äußeren und inneren Verteidigungsringe in den unterirdischen Palast der Rogmarog.
Nachdem er sich bei den Hofbeamten angemeldet und seine Dringlichkeit vorgetragen hatte, wurde ein nach einiger Wartezeit in das kleine Arbeitszimmer geführt, dass er bereits kannte.
Der Bergkönig saß wie bei seinem letzten Besuch hinter dem Schreibtisch. Grimmgasch verneigte sich vor Fargol. “Väterchen, ich bin wieder hier und bringe den Schlüssel zurück und …” dann stockte er.
“Was meinst Du mit ‘und’?” fragte Fargol nach als Grimmgasch stockte.
Grimmgasch legte das Kästchen mit dem Schlüssel auf den Tisch und daneben legte er den großen weißen Kristallsplitter daneben. “... und das Herz der Nordmarken ist zerbrochen. Dieses ist der Splitter der Angroschim. Ihre Hoheit Grimmberta war der Meinung, dass er das Beste wäre, wenn er zusammen mit dem Schlüssel in Euren Kammern aufbewahrt werden sollte.”

“Sie ist eine weise Frau”, bemerkte der alte Bergkönig versonnen lächelnd. Dann schaute er sich den Kristall von allen Seiten an. “Es war ein wichtiges Artefakt für die Einheit der Völker. Wo sind die anderen Teile?”
“Der Splitter der Menschen ist auf der Eilenwïd geblieben. Die anderen beiden wurden gestohlen und sind für uns im Moment verloren. Ich gehe aber davon aus, dass Ihre Hoheit einen Plan ausarbeitet um diese zurück zu erlangen und das Artefakt wieder zu vereinen.”
“Eine hehre Quest, vermutlich werde ich von ihr wieder ein Schreiben bekommen, wenn sie ohne die Hilfe der Angroschim nicht mehr weiter kommt”, schmunzelte der alte König. “Und Du, Bruder Grimmgasch, wirst sicherlich dabei eine Rolle spielen!”
“Ja, Väterchen, ich werde mich dieser Aufgabe stellen. Aber zunächst muss ich mein Versprechen gegenüber dem Allvater einlösen. Denn er und die Zwölfe der Menschen haben uns geholfen in Ishna Mur einen Klumpen Unerz aus dieser Sphäre zu schaffen. Und als Dank für die Hilfe werden wir auf eine Pilgerfahrt gehen.”
“Erzähl mir mehr, Grimmgasch!”

Und so erzählte Grimmgasch dem Rogmarog die ganze Geschichte über das unheilige Erz, dass sie in den Stollen Ishna Murs gefunden haben, wie sie es in der Gemeinschaft aus Boroni, Rondra-Novize und ihm besiegen konnten. Da das nur mit Hilfe der Götter geschehen konnte, hatten die Geweihten beschlossen, den Göttern zu danken, indem sie sich gemeinsam auf eine Pilgerfahrt begeben würden. Das erste Ziel der Pilgerfahrt würde Gratenfels sein.
Nachdem Grimmgasch noch die einge der Nachfragen des Bergkönigs beantwortet hatte, wünschte dieser: “Und möge der Allvater Deine Wege leiten!”
“Danke, ehrwürdiges Väterchen!” verabschiedete sich Grimmgasch.

~*~

Prolog Senalosch - Teil 1: Aufbruch und Abschied

Blinder Alrik

“Mirla?”
Keine Antwort.
“Mirla? Wo bist Du?”


Marbolieb tastete durch die Gästekammer tief im Berg unter Senalosch, die sie zusammen mit Dwarosch und ihrer Tochter bewohnte. Bald bewohnt haben würde.
Sie legte den Stapel mit ihrer zweiten Sommerrobe, ihrem Mantel und ihrem Unterzeug, das sie gerade sauber zusammengefaltet hatte, auf das Bett und begann nun ernsthaft mit der Suche nach ihrer Tochter. Seit Mirla laufen gelernt hatte, war sie ihre Mutter meistens mehrere Schritte voraus - zur großen Sorge der Geweihten und zum nicht minder großen Vergnügen des kleinen Mädchens, das, nun aller Bande ledig, seine Umwelt erkundete.
Es war eine freundliche Welt, in der es seine ersten Schritte tat.
Der Haushalt des Vogtes, insbesondere die Haushälterin Topaxiandrina, Roglamox, eine der Wachen und der Oberst selbst kümmerten sich um das Kind, das, unbedarft, vertrauensvoll und das einzige seiner Art, den Großen die Welt aus Kinderaugen zeigte.
Ein leises Kichern aus einer Ecke verriet ihr den Verbleib ihrer Tochter.
Das Bett bestand aus einem schmiedeeisernen Rahmen, auf dem eine echte, gestopfte Matratze lag, die aber gerade einmal breit genug war, dass beide Erwachsene auf der Seite schlafen konnten - für zwei Personen war der Raum niemals ausgelegt gewesen, die Belegung hatte sich irgendwann einmal so ergeben - fand sich hier noch eine Feuerpfanne (mittlerweile in einem eisernen Käfig, der neugierige Kinderhände einigermaßen fernhielt), ein hölzernes, vielgeliebtes Schaukelpferd, das sie zu ihrem zweiten Tsatag von Dwarosch erhalten hatte, ein Korb mit einem Haufen aus Zapfen, mehreren hölzernen Löffeln und einer ebensolchen Schüssel, eine Wiege, ein Tisch mit Waschschüssel und Wasserkrug, zwei Stühlen und zwei große Truhen, sowie zwei Rüstungsständer und an der Wand, außerhalb der Reichweite kleiner Kinderhände, ein Ständer für verschiedensten Waffen.
Damit drängten sich in dieser einen Kammer etwa genau so viele Möbel, wie sie in ihrem gesamten Tempel hatte.
Viel Platz blieb neben all dieser Einrichtung nicht mehr.

Was auch bedeutete, dass sie sich trotz der verschwenderischen Ausstattung hier mühelos zurechtfand und sich auch nahezu nirgendwo mehr stieß - wenn ihr nicht ihre Tochter zwischen die Füße lief, was beide Menschen schon das eine oder andere Mal zu Boden geschickt hatte. Sie nahm ihre Umhängetasche von einem Haken, die während der Reise ihre und ihrer Tochter Kleidung und Habseligkeiten aufnehmen würde, und schichtete ihre eigenen wenigen Kleidungsstücke in die Tasche.
Die Pilgerfahrt war nicht das, was sie sich für ihre letzten Wochen vor der Rückkehr in ihren Tempel vorgestellt hatte. Doch ein Gelöbnis war ein Gelöbnis und Marbolieb würde zu ihrem Wort stehen. Und sie musste nicht allein aufbrechen.
Um ihre Mundwinkel tanzte ein kleines Lächeln.

“Mein Schatz, wo bist Du denn? Wir machen bald eine Reise!”
Ein entzücktes Lachen - wohl eher ob der Ansprache denn ob des Inhalts - antwortete ihr.
Von unter dem Bett.
Mit einem Geräusch zwischen Lachen und Seufzen ließ sich die Geweihte auf alle Viere nieder und krabbelte in Richtung des vergnügt quietschenden Kindes.
Unter der Tür war ein fast spannbreiter Spalt, durch den etwas Licht von den Fackeln auf dem Gang in den ansonsten finsteren Raum drang. Doch auch Mirla kannte ihr Zimmer mittlerweile gut genug, um nicht auf Licht angewiesen zu sein - und so lieferte sie ihrer Mutter eine energische Hatz unter dem Bett, haarscharf an der Feuerpfanne vorbei und um die Wiege, bis sie schließlich mit einem lauten Kreischen in den Armen der Boroni landete, die glücklich lachend ihre Tochter an sich und ihre Lippen in die feinen, weichen Haare auf dem Köpfchen des Mädchens drückte.

Dessen leuchtende Augen, hätte sie in diesem Moment jemand gesehen, deutlichst besagten, dass es gerade überaus glücklich über seine liebevolle Gefangenschaft war - nach dieser höchst befriedigenden Runde ‘Blinder Alrik’ quer durch seine Welt.

~*~


Prolog Senalosch- Teil 2: Aufbruchstimmung allenthalben

Reisevorbereitungen

Nachdem die kleine Gruppe um die drei Geweihten, den Vogt von Nilsitz und den Oberst des Eisenwalder Garderegimentes Ingerimms Hammer nach den Ereignissen in Ishna Mur wieder nach Senalosch zurückgekehrt waren, gab es für Dwarosch einiges in die Wege zu leiten, um eine weitere, längere Abwesenheit zu planen und alles Notwendige hierfür zu veranlassen.
Im Grunde hatte der Oberst keine Bedenken seine Mannen und Frauen seinem Stellvertreter zu überlassen. Antharax war pflichtbewusst und stets zuverlässig, zudem einer von Dwaroschs engsten Vertrauten. Und dennoch, Ordnung musste schließlich sein.
Boringarth, der Adjutant des Oberst hatte an jenem Tag reichlich Notizen zu machen, was es zu erledigen gab und worauf er Athax, wie Antharax knapp gerufen wurde, hinweisen musste, wenn er das Gefühl hatte, dass etwas nicht in seinem, im Sinne des Oberst lief.
Erst danach widmete sich Dwarosch den Reisevorbereitungen. Dieses Mal würde sie der Weg weiter in die Ferne führen, ins zumindest nach menschlichen Maßstäben Bollwerk der Nordmarken, nach Gratenfels. Da sie hierzu den Isenhag, die Kernlande der Angroschim verlassen würden, hielt Dwarosch es für angebracht, sich diesmal zu rüsten und angemessen zu bewaffnen, auch wenn sie nur das Gratenfelser Becken durchqueren würden. Die Nordmarken mochten die Heimat der Menschen sein, für die meisten Angehörigen der kleinen Rasse aber war alles außerhalb ihrer Kernlande Fremde, in der es sich zu schützen galt.

Der Oberst legte sich also einen Gambeson, sein langes, geschwärztes Kettenhemd, sowie Kettenhaube und -kragen parat, ebenso Spieß und Rundschild, den er sich wie stets auf den Rücken schnallen würde.
Ein Eisensteiner Pony würden sie zwangsläufig ebenfalls mitnehmen, denn Mirla, die dieses Mal die Gruppe begleiten würde, konnte unmöglich den ganzen Weg marschieren, noch konnte sie jemand bis nach Gratenfels tragen. Die Reise würde mit seiner kleinen Mirlaxa auf alle Fälle nicht langweilig werden.

Borindarax hingegen widmete sich nach der Ankunft in Senalosch wieder ganz und gewohnt hingebungsvoll den Amtsgeschäften. Aber auch er plante eine Reise, wenn auch zu späterem Zeitpunkt. Und doch schrieb er noch am selben Tag, da er sein Haus in Simiaheim, nahe dem Widdertor erreicht hatte einen Brief an Graf Ghambir, den ein Bote nach Calbrozim bringen würde. Borax hatte eine Idee, was die Zukunft Ishna Murs betraf und er hoffte den Grafen des Isenhag von eben jeder Idee überzeugen zu können.

~*~

Prolog Argmin - Rückkehr zum Heiligtum

Zusammen mit Grimmgasch, Dwarosch und Marbolieb hatte Argmin Ishna Mur verlassen und war mit ihnen nach Senalosch zurückgekehrt, wo er die Gastfreundschaft des gräflichen Vogt von Nilsitz für zwei Tage genossen hatte.
Die Reise und der Aufenthalt in der Zwergenstadt hatte ihm viel Zeit zum Nachdenken gegeben. Die Vernichtung des verdorbenen Artefakts an jenem Schlund in Ishna Mur hatte Spuren hinterlassen, körperliche wie geistige. Das Reisen mit seinen Gefährten, die Gemeinschaft mit ihnen, das war das eine. Doch da war so viel mehr. Erst die Ereignisse in den Calbrozim, dann das Heiligtum des Flussvaters und das erneute Wiedersehen mit dem Fürst der Muscheln und schließlich Ishna Mur und der Kampf gegen das unheilige Feuerelementar - der Einfluss der Göttlichen war groß. Er spürte eine innere Unruhe, die ihn erfüllte. Etwas Großes stand bevor, es fühlte sich an, als ob die Welt auf etwas wartete. Seine Träume waren lebhafter geworden, immer wieder sah er sich mit Grimmgasch und Marbolieb im Altarraum mit dem finsteren Metall ringen und meinte das ferne Brüllen einer Löwin zu hören. In anderen Träumen stand er auf dem Gipfel eines hohen Berges, lachend Wellenkamm in den Himmel reckend, und um ihn tobte ein gewaltiger Sturm, Blitze zuckte von allen Seiten, und er fühlte keinerlei Angst, sondern ein Gefühl von Vorfreude umgab ihn wie einen Schild. Er nahm sich vor, mit Marbolieb darüber zu reden, doch zuvor musste er mit sich selbst ins Reine kommen, musste diese Unruhe in sich klären.

Er hatte Schwertschwester Bodia einen weiteren Brief geschrieben, ihr von den Träumen und der Anspannung in sich berichtet. Grimmgasch hatte Senalosch verlassen, gen Elenvina. Marbolieb und Dwarosch hatten sich zurückgezogen, um Zeit mit Marobliebs Tochter zu verbringen, und so beschloß der Novize sich aufzumachen nach Sturzenstein, um den Fürst der Muscheln aufzusuchen und seinem Versprechen nachzukommen, ihm Bericht von den Ereignissen ihrer Gemeinschaft zu bringen.
Er verabschiedete sich von Borindarax, Sohn des Barbaxosch, und seiner Familie und dankte ihnen herzlich für Gastlichkeit, und von Oberst Dwarosch und Schwester Marbolieb, und wanderte gen Sturzenstein.

Der Edle Kalvar von Kupferfeld und Athimarax, der ehemaligen Vogt der Burg, hießen den jungen Mann willkommen und ließen ihm eine kleine Kammer herrichten. Die Reise hatte Argmin Kraft gekostet. Die Verletzungen an Hand und im Gesicht heilten langsam. Frau Murla hatte ihm einen guten Vorrat an Salben, Tinkturen und Verbänden mitgegeben, doch Argmin fühlte sich eingeschränkt und rastlos. Seine meditativen Schwertübungen waren ungelenk und gaben ihm nicht die innere Ruhe, nach der er sich sehnte. Er versuchte sich in Gebeten und Besinnung, doch waren seine Gedanken unstetig und er schalt sich immer wieder selbst für seine Unachtsamkeit.
Und so wusch er sich gründlich, legte seinen rituellen Überwurf und Schwertgehänge an und machte sich auf zum Heiligtum des Flussvaters. Er schritt den Steilweg hinab zum Großen Fluß führt und betrat die riesige Kaverne. Glühende Kohlebecken und leuchtendes Efferdfeuer wiesen ihm den Weg hindurch zum Heiligtum und dem zum gewaltigen steinernes Portal in die unterirdische Gänge, die ihn zum Vorraum führten. Jemand hatte sich hier ein Lager errichtet und alles war sauber und der Boden glänzte.
“Ich grüße Dich, Gefährte!”, rief Argmin und seine Stimme hallte von den Wänden wieder. “Meister Lagorasch? Ich bin Argmin von Wirselbach und ich bin hier um Dir und dem Herrn der Wellen meine Aufwartung zu machen.”
Das Echo erfüllte die Luft und dröhnte in seinen Ohren, dann drängte sich wieder Stille in die Gänge. “Meister Lagorasch?” Der Novize rief erneut nach dem Geoden, doch wieder blieb seine Frage unbeantwortet und wieder verklangen seine Worte und wurden von der tiefen Stille des Heiligtums verschluckt.

Die Tiefe, der Stein und die Stille wurden Argmin deutlich bewusst und er meinte, ihr Gewicht auf seinen Schultern zu spüren. Es drückte ihn schier nieder, das Atmen wurde ihm schwer und er spürte das Klopfen seines Herzens. Und es war ihm, als ob er das Rauschen des Großen Flußes, der sich nicht weit tief in das Gestein sein Bett gegraben hatte, spüren konnte, ein tiefes Brummen der Wassermassen, die sich aus Inneren des Landes kommend, den Weg zur Küste bahnte. Argmins Hand tastete und fand den Knauf von Wellenkamm und die kühle Oberfläche des darin eingelassenen Edelsteins beruhigte ihn.
Er blickte erneut auf die verlassene Schlafstatt Lagoraschs, dann in den schwach beleuchteten Gang, der weiter und tiefer in das Heiligtum führte und er wandte sich um und schritt weiter, den Gwen Petryl Steinen folgend, hinab, zur heiligen Kammer des Flußvaters. Die Schritte seiner Stiefel hallten wider von den Felsen und je tiefer er kam, umso mehr wurde ihm bewusst, dass er eine Welt betrat, die nicht für Menschen gemacht worden war.
Die Luft wurde feuchter, je weiter die Treppe ihn führte, die Wände glitzerten im Licht der Edelsteine, dann hörte er das leise und sachte Schlagen von Wellen gegen Felsen, wie an einem Klippenstrand, dann öffnete sich der steile Treppengang und machte dem Altarraum Platz, der sich kaleidoskopartig vor ihm entfaltete. Reflexionen des grünlichen Lichtes der heiligen Steine tanzten auf den Wänden der Kaverne, myriadenfach widergeworfen auf dem Wasser und dem glatten, feuchten Felsen. Und es war dort ein Tanzen und ein Reigen und ein Glitzern, so wie man es sich vom Himmel in den Feengebieten erzählte, dort wo Zeit und Raum ganz anders waren als hierherrüben. Das Wasser schlug sanft und rhythmisch gegen die Stufen der Treppe, die vor Argmin in das Blau führten, und gegen den verzierten Steinblock, der sich in der Mitte des Felsendoms erhob - und neben dem ein nackter Mann stand. Argmin sog überrascht die Luft ein und reflexartig griff er nach Wellenkamm. Doch der schamlose Mann lächelte und machte keinerlei Anstalten, sich ihm zu nähern oder sich zu bedecken, und Argmin sah, dass seine Haut weiß war und im Glimmen der GwenPetryl-Steine bläulich schien und sein Haar war lang und dunkel, doch kein Bart und kein Flaum zierten seine Wangen.
Als er den Novizen zuwinkte, näher zu kommen, sah Argmin die Schwimmhäute zwischen dessen Fingern, und der Mann rief ihm zu, melodisch, glucksend und klickend wie der Ruf der Efferdstümmler. Und Argmin trat näher, seine Stiefel verschwanden unter der Wasseroberfläche und das kalte Nass begann sich seine Beinkleider einzuverleiben. Er nahm die Hand von Wellenkamms Knauf, streckte die angewinkelten Arme mit den Handflächen nach oben vor sich und zuckte mit den Schultern, um dem Neck zu zeigen, dass er in Frieden kam, ihn aber nicht verstand. Der Mann legte den Kopf schief und schien zu überlegen und der Blick der pupillenlosen, schwarzen Augen lag unangenehm auf Argmin, dann sang der Neck: “Gegrüßt seist Du, Argmin von Wirselbach - ich habe gewartet.”
und es klang hohl und wie aus weiter Ferne und mit einem fremden Akzent. “Wasser kündete von Deinem Erscheinen und der Fürst der Muscheln schickte Dich zu empfangen an seiner Statt.” Die Stimme des Necks hatte keine feste Tonlage, sondern schwankte zwischen einem tiefen Bass und einer hohen, schon weiblich klingenden Singstimme und Argmin musste sich konzentrieren, dem Wassermann zuzuhören.

“Mein Volk nennt mich Elilouri, der Herold des Fürst der Muscheln, und das ist Elilila, meine Tochter.” Und Argmin sah im Halbdunkel der Höhle die Umrisse einer Nymphe neben dem Necker und er wandte schnell seinen Blick ab, als er sah, dass nichts bis auf ihr langes silbriges Haar ihre Nacktheit bedeckte.

Dann spürte er ein Ziehen in seinem Kopf und ein Drücken hinter seinen Schläfen und verschwommen sah er ein Bild des Altars mit Wellenkamm darauf liegend. Argmin kniff die Augen zusammen, um das Gefühl loszubekommen, dann verstand er, dass der Neck ihm damit etwas sagen wollte. Langsam nahm er die Klinge und schritt wattend zu dem Steinblock und legte unter dem Blick der schwarzen Augen des Wassermanns sein Schwert auf dem Altar. Freudig klickte der Necker und trat einen Schritt näher, streckte die Hand aus und berührte Wellenkamm mit seiner bläulichen Hand.
“Noch kein Götterlauf ist vergangen, Argmin von Wirselbach, doch es freut, Euch beide zu sehen.” Er deutete auf die Klinge, dann auf den Novizen. “Erzählt uns von der trockenen Welt und Deiner Reise.”

Und so erzählte Argmin ihnen von Ishna Mur und seinen Gefährten und von der Welt der Zwerge und dem gemeinsamen Ringen in den Tiefen der Erde, von Feuer und von Geistern und von bösem Metall. Und von Zweifeln und innerer Unruhe, aber auch von Freundschaft und dem Gefühl, Teil etwas Großem zu sein. Und die Necker hörte zu, sahen ihn an und ihr Blick war neugierig und freundlich.
Als Argmin endete, schwieg der Wassermann eine Weile, dann nahm er Wellenkamm auf, das Licht der Gwen Petryls zauberten blaues Feuer auf die Klinge. Er hob es feierlich hoch, dann tauchte er es tief in das Wasser und legte es nass zurück vor Argmin.
“Den Segen des Flußvaters für Deinen Weg, junger Erdenläufer.”
Und wieder spürte der Novize das Ziehen und das Drücken in seinem Kopf und er sah das Bild eines Mädchens, das ihn an der Hand führte in einen dunklen Wald. Er sah eine Wölfin, ein mächtiges Tier auf einem Fels und eine Eule, die neben dem majestätischen Tier auf dem Stein saß, das Gefieder von einem Feuerschein umgeben.
“Prüfen in den Augen Deiner Göttin willst Du Dich und geprüft werden sollst Du.” Ein helles Glucksen drang aus der Kehle des Neckers.
“Vertraue und glaube.”
Die Bilder verschwanden, wie auch der der Druck aus Argmins Kopf, und sein Blick wurde wieder klar. Dem Novizen blieb die Erinnerung an die Bilder, als sie verblasst waren, doch sie sagten ihm nichts. Er kannte das Mädchen nicht, und auch mit Wolf und Eule vermochte er nichts in Verbindung zu bringen. Es verwirrte ihn, doch der Wassermann hatte ihm dies Vision sicher mit einem Grund gezeigt, der sich ihm noch offenbaren würde. Lächelnd sah ihn Necker an und nickte,wie als ob er Argmins Gedanken gelesen hätte.

“Danke für Deine Geschichte, Argim von Wirselbach.”
Der Novize neigte kurz den Kopf. “Es war mir eine Ehre und ich danke Dir, für Deine Zeit, Elilouri.”
“Die Ehre ist ganz mein”, antwortete der Wassermann und Neck und Mensch reichten sich die Hand und besiegelten damit erneut den Eid, der geschworen wurde zwischen dem Reich des Flußvaters und den Menschen der Nordmarken.
Elilila trat neben ihren Vater und Argmin ermahnte sich, seinen Blick auf ihr Gesicht zu halten und nicht schweifen zu lassen. Ein schönes Gesicht war es, voller Anmut und fremdartiger Faszination, mit hohen Wangenknochen, wie auch die Elfen sie haben.
“Vertraue - und glaube.” wiederholte sie die Worte ihres Vaters. Ihre Stimme war hell und klangvoll. Die Nymphe streckte ihre Hand aus und legte einen kleinen, orangeleuchtenden Stein neben Wellenkamm. “Ein Licht für den Pfad in der Dunkelheit.”, sagte sie klickend und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Das Wasser der Kaverne schlug Wellen und brandete auf und schäumte und schlug Wogen gegen den Fels und als es sich beruhigte war Argmin alleine.
Er hielt inne, kniete sich in das kalte Naß und betete lange am Altar zur Sturmbringerin und zum Unberechenbaren. Dann nahm Argmin Wellenkamm und den kleinen Gwen Petryl der Nymphe an sich, wandte sich und schritt zurück zur Treppe und durch die Gänge und hinauf nach Sturzenstein.


~*~

Reiseplanung

Nach seinem Besuch bei Rogmarog suchte Grimmgasch seine Begleiter für die bevorstehende Pilgerfahrt auf, um die Details und die Route der Fahrt zu besprechen.
Von Marbolieb wusste er, dass sie im Haus des Vogts wohnte und so klopfte er zur Boronsstunde an der Tür.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Kleriker hinter der schweren Eingangstür mit den massiven Eisenbändern dumpfe Schritte vernahm. Wenig später schob sich ein kleines Guckloch auf Kopfhöhe Grimmgaschs beiseite.

“Ah, ihr seid es Väterchen”, erklang es sofort von drinnen und Grimmgasch erkannte die Stimme Boindils.
Ruckartig schloss sich das kleine Fensterchen wieder und der Geweihte hörte, wie ein schwerer Sperriegel beiseite geschoben und das Schloss entriegelt wurde.
“Tretet ein Väterchen”, lud der Leibwächter des Vogts ihn herein, als er die Tür noch nicht einmal ganz geöffnet hatte.
Boindil führte Grimmgasch in die gute Stube und teilte ihm unterwegs gut gelaunt mit, dass Borindarax über seinen Büchern brütete und wohl erst zur späten Stunde, also zum Abendessen sein Arbeitszimmer in den Gewölben des Amtssitzes verlassen würde, so wie es für ihn fast schon brauch war. Topaxandrina habe aber zum Mittag eine leckere Pilzsuppe gemacht, von der noch einiges übrig sei.
“Setzt euch”, forderte Boindil den Geweihten förmlich auf und zog ihm einen Lehnsessel vom kleinen Tischchen, so dass er sich setzen konnte. “Wollt ihr euch stärken, etwas essen, habt ihr einen anderen Wunsch?”
“Ja!” freute sich Grimmgasch den alten Haudegen wiederzusehen. “Wir waren doch schon mal beim ‘du’ und ich wünsche mir, dass das so bleibt. Schließlich bist Du der Ältere.”
Dann setzte er sich auf den Stuhl, dem ihn Boindil angeboten hatte.

Boindil nickte etwas verlegen. “Natürlich Väter…”, er brach ab. “Grimmgasch”, verbesserte er sich rasch und setzte dann zu einer Erklärung an.
“Die Geweihten des Allvaters, die für gewöhnlich hier verkehren sind nicht so ‘freundlich’ und ‘umgänglich.’ Borindarax ist unter ihnen nicht das was man als sonderlich beliebt nennen kann, wohl deswegen neige ich zur Förmlichkeit, wenn ein Diener des Allvaters über unsere Schwelle kommt. Ich werde mir umso mehr Mühe geben dir gegenüber, beim ‘du’ zu bleiben.”
Seinen daraufhin erneut fragenden Blick beantwortete der Geweihte mit einem knappen:
“Um die bevorstehende Pilgerfahrt ein wenig zu planen, wünschte ich Ihro Gnaden Marbolieb zu treffen, weißt Du ob sie hier ist?”
“Marbolieb ist unten. Ich kann euch … dich hinführen?”, fragte Boindil.
Grimmgasch nickte Boindil freundlich zu und ließ ihn vorausgehen.


Boindil führte den Angroschgeweihten mehrere Stockwerke tief in den Keller des Hauses. An einem Gang, in dem an der Wand zwei Fackeln für Licht sorgten und bei dem rechts und links jeweils einige Türen abgingen, hielt er an einer und klopfte.
Drinnen erklang lautes Kinderlachen - und die Stimme einer jungen Frau, die fragte. “was ist?”, ehe sie vorsichtig die Tür öffnete. Im Raum war es stockdunkel.
“Ich bin es, Grimmgasch, Schwester Marbolieb”, begrüßte Grimmgasch die Geweihte, deren Schemen er nur ahnen konnte. “Ich wollte mich mit Euch über unsere Reise unterhalten.”
“Grimmgasch! Wie schön!” freute sich die Geweihte. “Kommt herein!” bat sie ihn.
“Mirla, wo bist Du?” fragte sie in die Finsternis, von wo ihr ein Lachen aus einer Ecke antwortete.
“Oh, Ihr seid nicht allein? Ich wollte nicht stören”, meinte der Angroschgeweihte in die Dunkelheit.
“Meine Tochter ist hier. Bitte passt auf, dass ihr nicht auf sie tretet. Aber kommt doch.”
“Ist dunkel bei Euch”, meinte er und nestelte an seinem Gürtel und nahm die Lampe mit dem ewigen Licht in die Hand und blendete sie leicht auf, um in die Kammer schauen zu können. “Jetzt ist es besser …”
Dann trat er ein und suchte nach einem geeigneten Sitzplatz.
Die beiden Stühle an dem Tisch auf Zwergengröße waren leer. Auf dem Bett lagen zwei penibel gefaltete Stapel Kleidung - einmal von der Frau und einmal von dem Kind, doch beide nicht besonders hoch.
Marbolieb legte eine bereits sehr abgenutzte Umhängetasche neben die beiden Stapel, ging mit ausgestreckten Händen zielsicher zum Tisch und setzte sich, ehe sie in die Richtung lächelte, in der sie den Geweihten vermutete. “Schön, dass ihr hier seid.” freute sie sich. “Wie geht es euch?”
Hinter dem Bett schob sich ein kleines, dunkelhaariges Kinderköpfchen hervor, kniff die Augen unter der Helligkeit zusammen und äugte neugierig und mit einem Finger im Mündchen in Richtung des Angroscho. “Dado?” runzelte sie äußerst zweifelnd die Brauen. Der sah gar nicht nach Dado aus!
“Es geht einigermaßen”, meinte der Geweihte und setzte sich auf den anderen Stuhl. “Ist das Eure Tochter, Schwester?”
“Das ist Mirla.” lächelte Marblieb liebevoll und nickte. “Komm her, mein Schatz.” versuche sie das Kind zu locken, das gar nicht daran dachte, zu ihr zu kommen.

“Was ist mit euch, Bruder?” fasste sie dann der halbherzigen Zustimmung nach.
“Ich komme gerade vom Rogmarog”, begann er. “Aber es ist eine lange Geschichte. Und auch eine Geschichte, die ich Euch nicht erzählen darf.”
Dann schwieg er kurz.

“Aber eigentlich bin ich gekommen, um über unsere Reise zu reden.”
Die Frau nickte und lauschte aufmerksam und schweigend. Von dem Kind schob sich nun auch ein halber Oberkörper hinter dem Bett hervor, den fremden Mann immer noch höchst aufmerksam und misstrauisch musternd.
Der Angroscho lächelte und wand sich ihr mit einem “Buh!” zu. Das Kind kreischte begeistert auf und verschwand wieder hinter der Bettstatt.
“Wusstet Ihr, dass der Oberst mit auf die Reise gehen will?”
Grimmgasch schaute in Richtung des Bettes und wartete darauf, dass das Mädchen wieder hervorkam. “Ich habe ihn gefragt, ob er mitkommt.”
Marbolieb überlegte. “Es ist das Gelöbnis von Euch, Argmin und mir. Keinem weiteren. Ich würde gerne den Oberst an meiner Seite wissen, doch wenn ihr dies nicht gutheißt, werde ich nur mit euch gehen, Bruder.
Ich war voreilig.”
Und selbstsüchtig.
Sie senkte den Kopf.
“Bitte verzeiht mir.”

“Wollt Ihr auch Eure Tochter mitnehmen?” wich Grimmgasch aus.
“Wenn der Oberst mitkommt, ja.”
Ansonsten hätte sie keine Möglichkeit, sich um ihr Kind zu kümmern. Doch wollte sie die letzten kostbaren Tage mit beiden nicht ohne wirklich zwingende Not vergeuden.
“Stört sie euch?”

“Nein”, antwortete er. “Es freut mich für Euch, wenn Ihr sie um Euch habt. Und Ihr solltet es gemerkt haben, dass wir Angroschim stolz auf unsere Kinder sind und sie gerne um uns haben.”
“Nicht nur die Angroschim.” flüsterte die kleine Geweihte.
Die jäh einkehrende Ruhe nahm das Mädchen zum Anlass, wieder die Nase hinter dem Bett hervorzustrecken und mit einem Auge auf den feuerbärtigen Zwergen zu linsen. Eine kleine Kinderhand streckte sich hervor und deckte das Auge ab, das neugierig zwischen den Fingern hindurchschielte.

Grimgasch schmunzelte, hielt sich beide Hände vor die Augen, wartete einen Moment und zog sie dann mit einem erneuten “Buh!” weg. Das Kind quietschte vor Freude, zog die Hände weg und verschwand erneut hinter der Bettstatt - nur um wenige Atemzüge später wieder darunter hervorzulugen. Ein glückliches Lächeln zog sich über die fein geschwungenen Lippen der jungen Frau, und ein liebevolles Leuchten stand in ihren Augen, als sie dem Austausch zwischen den beiden lauschte.
Und noch einmal wiederholte Grimmgasch das Spiel und freute sich über die Reaktionen der Kleinen. “Wie alt ist sie jetzt?” wollte er wissen. Falls es ihm die Geweihte in Ishna Mur erzählt hatte, dann hatte er es wieder vergessen. “Im Tsamond wird sie drei Jahre.” schmunzelte die Geweihte.
“Dann kann sie doch auch schon sprechen, oder?” wollte er neugierig wissen, woraufhin Marbolieb nickte. Dann aber besann er sich: “Konntet Ihr schon mit Argmin reden, wie und wann wir nach Gratenfels aufbrechen wollen?” “Leider nicht. Ich bin ihm seit meiner Rückkehr nicht begegnet.”
“Wisst Ihr wo er hier in Senalosch untergekommen ist? Ich habe ihn nach unserer Ankunft aus den Augen verloren und war bis vorhin unterwegs.”
Und noch ein “Buh!” in Richtung Mirla.

Diese kommentierte das mit lautem Jubeln, warf sich auf das Bett und vergrub sich unter der Decke, die darauflag. Bedauernd schüttelte ihre Mutter den Kopf. “Ich war die ganze Zeit hier im Haus des Vogts und habe nichts von ihm gehört.” “Dann werde ich mit dem Vogt sprechen, vielleicht weiß er es, denn wir sollten uns nun abstimmen, wie es weitergeht.” meinte Grimmgasch. “Wollt Ihr mitkommen oder soll ich versuchen ihn herzuholen?”
“Ich komme sehr gerne mit.” freute sich die Geweihte.
“Gehen wir gleich?” wollte sie wissen, ehe sie sich lauschend in dem kleinen Raum umwandte.
“Mirla, komm’ her!” diesesmal war ihre Stimme etwas schärfer, doch der Effekt war der gleich. “Sie ist auf dem Bett …” wies er der Geweihten die Richtung.
“Danke!” energisch und mit einer Bewegung, die von viel Übung zeugte, fischte Marbolieb nach ihrer Tochter und schnappte das begeistert glucksende Kind, vergewisserte sich, dass sie tauglich angezogen war, und lächelte in die Richtung, in der sie ihren Bruder im Glauben vermutete. Das Kind blickte Grimmgasch aus großen, kugelrunden und tiefdunklen Augen an.
“Gehen wir?”

“Ja”, antwortete dieser. “Findet Ihr den Weg aus diesem Labyrinth. Ich bin vorhin nur Boindil gefolgt, aber ich habe nicht auf den Weg geachtet.”
“Ich kann euch nach oben bringen, in die gute Stube und zur Ausgangstür. Weiter leider nicht.”
Ihre Tochter an der Hand führte sie den Angroschgeweihten wieder über viele Stockwerke Treppen in Richtung Oberfläche. Mit solchen Dingen wie der Frage, ob die Treppen und Gänge erleuchtet wären, hielt sie sich indes nicht auf. Das Kind folgte einigermaßen gutwillig und drehte sich nur einmal um, um dem Zwergen eine glückselig grinsende Grimasse zu schneiden, mit großen Augen abwartend, ob und wie er darauf reagieren würde. Das Mädchen schien seinen Weg im Hellen wie im Dunkeln gleichermaßen zu finden.
Zum Glück für Grimmgasch waren die Gänge noch hell genug, dass der Angroscho noch genug sehen konnte ohne zu stolpern. Als sich Mirla zu ihm umdrehte, streckte er ihr seine Zunge heraus.
Das glatte Kindergesicht zerknautschte sich vor lauter Freude und sie hüpfte an der Hand ihrer Mutter einige Stufen nach oben. Den ganzen Weg sollte sie jedoch nicht alleine schaffen.
Als die drei in den Flur bei der Küche traten, wo der Aufgang aus den tiefreichenden Gewölben unter dem Haus des Vogtes endete, hörten sie bereits Stimmen aus Richtung der Stube. Es war der tiefe Bass des Oberst, den sie vernahmen. Mirla, einmal auf den Boden abgesetzt, flitzte sofort los, ein freudiges "Dado" auf den Lippen. In der guten Stube des Amtssitzes Borindarax’ angekommen trafen Marbolieb und Grimmgasch Dwarosch im Gespräch mit seinem Adjutanten vor. Der Oberst saß noch in für seine Verhältnisse leichter Rüstung in dem Lehnsessel, in dem einige Zeit zuvor der Geweihte kurzzeitig Platz genommen hatte. Boringarth, der Untergebene des Oberst stand ihm mit unter dem Arm geklemmtem Helm gegenüber. Mirla hatte inzwischen den Schoß ihres Ziehvaters erklommen und spielte lachend mit dessen Bartschmuck, während sich die beiden Zwerge sich nun den Neuankömmlingen zuwandten.

"Ah Räblein, Grimmgasch setzt euch doch zu mir."
Noch einmal wandte sich der Oberst an seinen Adjutanten. "Borin, das wäre alles für heute, wegtreten." Der Angesprochene nahm kurz Haltung an und verabschiedete sich dann knapp von den Anwesenden.
Dwarosch aber wartete höflich ab, bis sich alle gesetzt hatten, wobei Marbolieb zunächst in seine Richtung ging und dann durch die Luft nach seiner ausgestreckten Hand tastete, ein erprobtes Vorgehen. Dann bugsierte der Oberst die Geweihte am ausgestreckten Arm zu dem Lehnsessel neben sich, so dass sie sich setzen könnte.
Schweigend, den Kopf gesenkt, tastete sich die Priesterin zu dem Sessel, ließ sich nieder und zog die Beine unter den Leib, die Hände locker auf ihren Schenkeln gefaltet, und lauschte. Wie immer.
"Grimmgasch", eröffnete Dwarosch derweil das Gespräch", erzähl mir von deiner Reise, was gibt es neues in Elenvina? Mir wurde zugetragen, dass du dort gewesen bist."
“Ja”, antwortete der Geweihte zurückhaltend. “Ich war in der Hauptstadt und habe die Herzogenmutter und den Muschelfürsten getroffen.” Dann verstummte er, machte eine Pause um das Thema nicht weiter zu vertiefen.

“Ihr wollt uns nach Gratenfels begleiten? Und wisst Ihr wo sich Meister Argmin aufhält? Wir müssen die Reise zusammen planen.”
Mirla hingegen befand das Gespräch für langweilig. Zeit, etwas zu unternehmen. Sie drehte sich, sicher auf dem Schoß ihres ‘Dado’, zu Grimmgasch. kniff die Augen zusammen und streckte ihm mit einem hellen Strahlen ihre Zunge heraus, ehe sie quietschend vor Vergnügen ihr Gesichtchen im prachtvollen Bart des Oberst vergrub.
Der Geweihte musste kichern - da hatte er der Kleinen ja etwas gezeigt. Gut, dachte Grimmgasch, dass Mirlas Mutter nicht gesehen hatte, wer die Ursache für dieses Verhalten war.
“In beiden Fällen ja”, antwortete der Oberst, während er Mirla mit einem breiten Grinsen mit beiden Händen sanft knuffte.
“Argmin hat sich hier bei uns einige Tage erholt. Dann ist er gen Firun zum Heiligtum des Flussvaters aufgebrochen, um dem Gesandten des Muschelfürsten von den Geschehnissen in Ishna Mur zu berichten.”
Dwarosch zuckte leicht mit den Schultern. “Ich nehme an, dass er die Gelegenheit nutzt sich gleich etwas mit Kalvar von Kupferfeld auf Sturzenstein auszutauschen, er wird dort ja nun öfter gastieren. Argmin meinte, wir sollen ihn auf dem Weg dort abholen.”
“Nach Sturzenstein also?” meinte Grimmgasch nachdenklich. Sollte es denn nie vom Muschelfürsten und dem ständigen Wasser wegkommen. Deshalb war Argmin also nicht mit nach Elenvina gekommen. “Dann sind wir also alle, die auf die Reise gehen beisammen. Wann dachtet ihr denn aufzubrechen?” richtete er seine Frage an Marbolieb und Dwarosch.

Der Zwerg sah bei dieser Frage zu Marbolieb hinüber. “Ich bin soweit. Mein Rucksack ist gepackt und ein Pony für die Reise und Mirlaxa abgestellt. Es wird auch Satteltaschen mit Proviant tragen, den ich eingekauft habe”, kommentierte Dwarosch, während er seine Ziehtochter weiter neckte.
“Was meinst du Räblein, wann können wir uns auf den Weg machen?
Muss ich noch an etwas denken oder besorgen? Decken und alles Notwendige, um in der Wildnis zu nächtigen habe ich für uns beide. Hast du schon deine Sachen rausgelegt? Ich habe auch einen Rucksack für dich, den wir heute Abend gemeinsam packen können.”
“Ich habe Mirlas und meine Sachen schon gepackt. Sie sind in meiner Tasche auf dem Bett.” bestätigte die Boroni knapp. “Ich bin fertig.” Allerdings besagte das nichts über den jungen Angroschgeweihten, der gerade eben erst angekommen war - und dem seine Reise sicher noch in den Knochen steckte.
“Wie sieht es bei Dir aus, Bruder Grimmgasch?” wollte sie wissen.
Mirla hingegen begann sich etwas zu langweilen, bohrte ihre Finger in die prachtvollen Bartflechten ihres Dado und blickte ihn mit kugelrunden, riesengroßen, bittenden Augen an. “Gobbihopp? Jetzt?”

“Ich habe alles, was ich noch hier in Senalosch habe, in dem Beutel, mit dem ich vorhin gekommen bin”, antwortete Grimmgasch. “Meine Sache aus dem Tempel hatte ich schon vor meiner Abreise nach Elenvina mit einem Boten nach Ishna Mur geschickt.”
Er setzte sich etwas bequemer hin.
“Daher können wir morgen früh aufbrechen, heute ist es doch schon ein wenig zu spät.”
“Das sehe ich genauso”, bekräftigte der Oberst die Aussage des Geweihten und hob Mirla dabei ohne mit der Wimper zu zucken auf seinen, selbst unter dem Kettenhemd deutlich sichtbar hervortretenden Stiernacken.
“Ihr beide entschuldigt mich. Mirlaxa will noch einen kleinen Ausritt unternehmen, bevor es Abendessen gibt und sie ins Bettchen muss”, erklärte Dwarosch sein Vorhaben in Richtung der beiden Geweihten, während er sich mit einem leichten Stöhnen erhob, woraufhin sich beide lachend entfernten.
“Ich könnte mir keinen besseren Ziehvater für Mirla vorstellen.” bekannte Marbolieb, während sie ungleichen davongaloppierenden Paar lauschte und hörte, wie die glückseligen Juchzer ihrer Tochter in der Ferne des Vogtshauses verklangen.
Ein liebevolles Lächeln legte sich auf ihre hübschen Züge. “Es ist ein so großes Glück, dass wir ihn haben.”
Und Mirla ihn weiter haben würde. Nur sie. Sie presste die Lippen aufeinander und schüttelte traurig den Kopf, als wolle sie ihre trüben Gedanken vertreiben.
Grimmgasch nickte bestätigend, bis ihm wieder klar wurde, dass die Boroni seine Zustimmung ja nicht sehen konnte. “Ja, er wirkt mir ihr wie ein anderer. Nicht so, wie ich ihn aus unserer Reise nach Ishna Mur kennengelernt habe.”
“Zuhause ist er meist anders als in der Öffentlichkeit.”
Marbolieb seufzte. “Er ist ein guter Mann.” Sie verfiel in nachdenkliches Schweigen.
“Das könnt Ihr sicherlich besser bewerten als ich”, stimmte ihr der Angroschgeweihte zu. “Ich freue mich, dass wir neben Argmin noch einen kraftvollen Begleiter haben.”
“Dwarosch ist ein hervorragender Kämpfer.”
Doch war es das, was wirklich zählte? Gewiss nicht. Zumindest war es nicht das, was sie an ihm fand. “Ist Gratenfels so weit, dass Kämpfe zu erwarten sind?” fragte die Geweihte etwas unsicher. Das letzte Mal war sie diesen Weg als Mitglied eines ganzen Heeres gegangen. Aber jetzt waren doch hoffentlich andere Zeiten.
“Die Zeiten scheinen wieder schlechter zu werden und da ist es immer gut jemanden dabei zu haben, der sich und uns schützen kann.” unkte der Geweihte, dem die Erlebnisse in Elenvina noch vor Augen standen.
“So schlimm?” erschrak sich die Priesterin. “Meint ihr, es wird zu gefährlich für Mirla?”
“Ich wollte Euch nicht ängstigen”, Grimmgasch versuchte die Boroni zu beruhigen. “Ich habe nur in Elenvina etwas Unschönes erlebt. Ich denke, dass es nicht auf die gesamten Nordmarken zu übertragen ist.
Und ich glaube, dass der Oberst die Lage besser beurteilen kann, wenn er meint, dass Euer Kind mit kommen sollte, dann solltet Ihr seiner Einschätzung vertrauen.”

“Das tue ich.” nickte Marbolieb. In Kriegsbelangen tat sie dies immer und bedenkenlos.
“Trotzdem ist es erschreckend, was ihr erzählt, Bruder Grimmgasch. Könnt ihr mir erzählen, welcher Art die Gefahr ist, die ihr erwartet?” Jedes Wissen war wertvoll. Und vielleicht würde sie einfach ein wenig mehr Asche weihen müssen … für unterwegs. “Tut mir leid, aber wir mussten der Herzogenmutter schwören über dieses Ereignis niemanden zu berichten.”
“Hm. Aber vielleicht mögt ihr sagen, ob es eher eine Horde Raubritter, eher magische oder gar niederhöllische Gefahr ist?” Marbolieb legte den Kopf schräg und setzte hinzu.

“Um einen Schutzkreis richtig zu wirken, Bruder.”
Mit Schweigeversprechen kannte sich die Boroni aus - und noch mehr mit ihren Grenzen.
“Ich glaube es war das Zusammenwirken von allen, was Ihr aufzählt Schwester.”
“Das ist nicht gut.” Marbolieb grub ihre Zähne in die Unterlippe.
“Ihr solltet das Dwarosch berichten, wenn er zurück ist.”
Sie lauschte, und vermeinte das vertraute Geräusch schwerer Schritte aus dem Gang zu hören.
Grimmgasch zuckte mit den Schultern. Er hatte der Herzogemutter nur geschworen keine Details von diesem schicksalshaften Ereignis zu berichten, aber eine Warnung vor möglichen Dämonenpaktierern war erlaubt.
Wenig später kam das ungewöhnliche Gespann wieder in die Stube ‘galoppiert’, wobei der Oberst besonderen Wert auf das Auf und Ab legte, was komisch aussah. In einem stets wiederkehrenden Rhythmus federte er leicht in die Knie, um Mirla dann auf seinen Schultern sitzend in der Aufwärtsbewegung leicht in die Luft zu befördern. Haken schlagend kamen die beiden näher.

Das kleine Mädchen bekam sich vor Lachen selbst dann noch nicht ein, als Dwarosch vor Marbolieb und Grimmgasch zum Stehen kam.
“Wie seht ihr denn aus?”, fragte das ‘Pferdchen’ leicht irritiert. “Ihr seht aus als säßet ihr im Kochtopf eines Ogers. Ich dachte ihr freut euch auf die bevorstehende Reise.”
“Meister Dwarosch, wir freuen uns auf den Sinn der Reise, der uns dem Allvater und den Göttern der Grigrim näher bringt.
Aber das heißt nicht, dass der Weg ein leichter sein wird. Es gibt in letzter Zeit immer wieder vermehrt Hinweise darauf, dass sich die Diener des Sähers der Zwietracht weiter ausbreiten. Daher sollten wir auf der Hut sein.
Und ich bin daher froh, dass Ihr mit uns reist!”
“Moment”, Dwarosch Stimme war auf einmal sehr ernst. Die Bewegungen, die Mirla auf seinem Nacken hüpfen ließen endeten abrupt. “Von welchen Hinweisen redet ihr?”
“Ich darf über die Details nicht sprechen, aber es sind Paktierer aktiv.”
Die Augenbrauen des Oberst zogen sich zusammen. Man konnte Zorn in ihm aufwallen sehen, aber er beherrschte sich, nahm Mirla behutsam von seinem Schultern, behielt sie aber vor sich auf dem Arm. Erst als dies geschehen war, ergriff er erneut das Wort.

“Ich werde nicht mitkommen, wenn ihr diese Andeutungen nicht präzisiert”, eine Feststellung, die der Oberst in der Art aussprach, dass darüber keinerlei Diskussion geben würde.
“Dies gilt ebenfalls für Mirlaxa, zumindest was mein dafür tun betrifft.” Dwarosch blickte zu Marbolieb. “Ich hoffe du hast nicht vor sie einem Risiko auszusetzen, wenn dies nicht unbedingt notwendig ist.”
Die Boroni schüttelte schweigend und mit ernster Miene den Kopf. Die Aussicht, sich allein auf die Straßen wagen zu müssen, sorgte dafür, dass sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten und es sie innerlich schauderte.
Der Oberst, der bis dato betont neutral gesprochen hatte grunzte unwillig.
“Mir liegen bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Berichte vor, die etwas wiedergeben würden, was ihr hier andeutet. Also bitte, was geht vor sich?” “Ich habe der Herzogenmutter und dem Rogmarog geschworen die Details dieser Queste nicht preis zu geben.” Der Angroschgeweihte schüttelte nur den Kopf. “Und daher werde ich nicht mehr dazu sagen.
Wenn es Euch davon abhält mitzureisen, dann bedauere ich es sehr.

Es ist ja auch keine konkrete Gefahr, es ist nur ein Zunehmen dieser dunklen Mächte festgestellt worden und daher wäre es gut jemanden dabei zu haben, der uns Schutz bieten kann.”
Die Wangenknochen des Oberst begannen zu mahlen bei diesen Worten. Grimmgasch sah, wie sich eine steile Zornesfalte auf seiner Stirn bildete, dennoch blieb seine Stimme ruhig und bedacht.

“Man läßt uns also in Unkenntnis der Gefahren.” Er schnaubte abermals. “Ich werde Boten nach Albenhus entsenden, um meine Mannen in die Kasernen von Senalosch einzuquartieren. Platz ist genug. Außerdem werde ich bei offiziellen Stellen protestieren und anfragen, warum man mich nicht informiert über derartige Vorkommnisse.”

Wieder wanderte Dwaroschs Blick zu der zierlichen Borongeweihten.
“Wie denkst du darüber Räblein, auch in Hinblick auf deine Tochter? Ich für meinen Teil heiße es nicht gut, in einer ungeklärten Situation - ich will es einmal so nennen, eine Reise zu unternehmen, die nicht zwingend erforderlich ist.”
“Vollkommene Sicherheit gibt es niemals - und ich habe ja dich dabei.” lächelte sie den Oberst an. Leider war er zu weit weg, als dass sie seine Hand hätte ergreifen können. So hätte sie noch mehr als nur an seiner Stimmlage seinen Gemütszustand erahnen können.
“Außerdem habe ich es den Zwölfen versprochen.” Sie holte tief Luft.
“Bruder Grimmgasch, ihr wisst mehr über die Gefahren als wir. Erwartet ihr einen Angriff?”
“Ich erwarte keinen Angriff”, schüttelte Grimmgasch den Kopf. “Aber es auszuschließen, dass etwas passieren kann, wäre doch genauso töricht.
Zumal es jetzt das zweite Mal innerhalb der letzte vier Monde ist, dass mir ein niederer Diener des Herrn der Bewegung begegnet.
Deshalb war ich ja froh, dass wir wehrhafter wären als wenn ich mich mit Schwester Marbolieb alleine nach Sturzenstein aufmachen würde.”
“Gut, dann werde ich aus dem Besuch in Gratenfels einen für meine Person und mein Amt offiziellen Anlass machen und Isegunde von Brüllenfels-Schleiffenröchte, die Obristin des Koschwachter- Garderegiments aufsuchen, um mit ihr über … Ogerkacke sonstwas reden. Borin wird etwas einfallen.” Dwarosch Zornesfalte schwoll noch einmal an.

“Wir werden aus diesem Grund auf jeden Fall eine Bedeckung mitnehmen auf die Reise. Wehrhaft ja, in diesem Punkte stimme ich dir zu. Aber wir werden auch vorsichtig sein und unterwegs Dörfer und Städte meiden, soweit dies möglich ist und in der Wildnis übernachten, bis wir Gratenfels erreicht haben. Das dürfte dem Gedanken der Pilgerfahrt nicht widersprechen.
Ich muss wissen was vor sich geht. Vielleicht kriege ich ja den Stadtmeister, diesen … von ... irgendwas Stein klein, immerhin bin ich ein Ministerial im Dienste des Herzogs.”

Marbolieb überlegte einige Atemzüge lang, ehe sie zu bedenken gab: “Dwarosch, wenn es ein niederhöllischer Diener ist, auf den wir treffen - dann dürfte die Wahrscheinlichkeit darauf in der Wildnis deutlich höher sein als in einer Stadt oder einem Dorf, wo es vielleicht sogar einen Tempel oder einen Schrein gibt.” Sie lauschte in die Dunkelheit, ein-. zwei Atemzüge lang. “Warum erachtest du es für besser, in der Wildnis zu übernachten?”
Unendlich viel unbequemer und mit mehr Gelegenheiten für Mirla, sich davonzumachen, wäre die Wildnis allemal.
“Da kann ich Schwester Marbolieb nur zustimmen”, nickte der Angroschgeweihte, “in einem Tempel oder Schrein ist es deutlich schwieriger
für dieses Gezücht. Aber wie gesagt, es besteht keine konkrete Gefahr oder eine Warnung, ich habe meine Erlebnisse vielleicht ein wenig dramatisiert.”

Verhalten nickte der Oberst. “Mein Gedanke betreffend der Wildnis war jeden Kontakt zu vermeiden”, erklärte er im nun wieder ruhigen Ton. “Gut, dann tragt sorge dafür, dass wir sicher unterkommen, wenn wir eine Ortschaft besuchen.”
Dwarosch wirkte kurz nachdenklich, während er einen Schritt auf Marbolieb zumachte und ihr Mirla behutsam auf den Schoß setzte. Dann nickte er abermals, die Fronten waren geklärt.

“Ich werde jetzt gehen und meinen Adjutanten instruieren, dass sich Gebirgsjäger bereit machen uns zu begleiten. Zum Abendessen bin ich zurück”, verabschiedete sich Dwarosch.

Als der Oberst den Raum verlassen hatte, meinte Grimmgasch zu der Boroni: “Ich hoffe, ich habe ihn nicht verärgert. Aber diese dämonischen Diener sind mir jetzt zum zweiten Mal über den Weg gelaufen und daher bin ich vorsichtig.
Hoffentlich wählt der die Bedeckung nicht zu groß, sonst reisen wir sehr auffällig.”
Marbolieb schüttelte entschieden den Kopf. “Gewiss nicht.” Leicht eingeschnappt war ihr Oberst nicht. “Er geht auf Nummer Sicher … wenn er es irgend vermeiden kann, überlässt er nichts dem Zufall. Dennoch wäre eine Übernachtung in der Wildnis meines Erachtens gefährlicher als der Schlafsaal in einem Gasthaus, der vielleicht noch jedes Jahr vom Traviageweihten gesegnet wird.”
Sie überlegte noch einen Moment. “Sagt, Bruder, wo seid ihr den dämonischen Dienern begegnet - unterwegs oder in einer Behausung?”
“Hmm”, brummte der Angroscho, “das ist nicht einfach zu beantworten. Es war vermutlich beides Mal in Elenvina.
Und irgendwie beide Male im Palast des Herzogs.”
“Oh.” Marboliebs Gesicht zeigte ihr Staunen noch deutlicher als ihre Stimme.
“Ihr wart im Palast? Gibt es dort nicht sehr viele Geweihte und Wachen?”
“Im Palast schon”, antwortete der Angroscho und Marbolieb hörte wie er das Wort ‘im’ deutlich betonte. “Aber bitte drängt mich nicht weiter, ich darf nicht darüber sprechen.”

“Natürlich nicht.” gab die Boroni nach, auch wenn Grimmgasch das neugierige Blitzen in ihren Augen überdeutlich sah.
“Ich werde jetzt zurück in den Tempel gehen und dort schlafen, wir sehen uns dann Morgen früh zum Aufbruch.”
Grimmgasch stand auf und verabschiedete sich von Marbolieb.

“Euch eine gute Nacht, Bruder Grimmgasch.” Erwiderte auch die Boroni die Verabschiedung, ehe sie sich, mit einem glückliche Lächeln auf den Lippen, ihrem neugierigen Kind widmete, das in allem und jedem einen Grund zu spielen fand.




Der Tag schritt voran und der Abend kam. Mit ihm kehrte der Oberst zurück in das Amtshaus des Vogts von Nilsitz.
Marbolieb, ihr Tochter Mirla, Topaxandrina, der Leibwächter Boindil und auch der Vogt hatten sich zu jener Stunde, wie üblich zum Abendessen in der guten Stube des Hauses eingefunden und tratschten in gemütlicher Stimmung.
Dwarosch indes kam nicht allein, ihn begleitete Andragrimm, ein Veteran des Haffax- und des Rabenmarkfeldzugs, der bekanntermaßen zu den engsten Freunden des Oberst zählte.
Eiligst mühte sich Boindil darum noch ein Gedeck auf den Tisch zu stellen, um seiner Angebeteten, der Haushälterin, die er stets nur Topaxa nannte, Arbeit abzunehmen.
Während der bullige Soldat, der an Größe und Körpermasse anscheinend versuchte mit dem Oberst zu konkurrieren, sich still und zurückhaltend auf dem ihm zugewiesenen Platz setzte, hob Dwarosch die ihm entgegeneilende Mirla auf den Arm und brachte sie zu ihrem Hochstuhl. Der Platz neben ihr gehörte wie stets dem Oberst.

Da man nun komplett war, eilte Topaxandrina in die Küche, um aufzutischen. Boindil half ihr dabei die dampfenden Schüsseln zu tragen und auf der großen, hölzernen Tischplatte zu verteilen. Es gab Ziegenfleisch in einer deftigen, dunklen Bratensoße, dicke Bohnen und die Reste eines Brotlaibes vom Morgen.
Als alle Platz genommen und Marbolieb ein kurzes Tischgebet gesprochen hatte, noch so eine kleine, liebgewonnene Tradition, die sich nach und nach eingeschlichen hatte, begann man zu essen. Während sich alle nach und nach die Teller füllten und von dem kosteten, was Topaxandrina gekocht hatte, füllte Dwarosch zunächst nur den kleinen Teller vor seiner Ziehtochter und half ihr dabei das Essen mundgerecht zu machen, um sie zu füttern. Die Geduld, die er dabei aufbrachte, wollte kaum zu dem zum Teil aufbrausenden Zwergen passen. Mirla kehrte eine zumeist versteckte Seite an ihm hervor.
"Andragrimm wird uns morgen in aller Früh abholen und zum Isenhager Tor bringen. Unterwegs holen wir Grimmgasch ab. Am Stadttor werden vier Soldaten auf uns warten und auch Andragrimm wird uns begleiten", berichtete der Oberst, da die anderen aßen.
Borax war sehr neugierig, da er von Marbolieb vom baldigen Aufbruch und einiger Sorgen gehört hatte, die es betreffend ungewöhnlicher Vorkommnisse in Elenvina gab.

"Wir werden zwei Ponys mitnehmen", dozierte der Oberst weiter und schob Mirla dabei ein weiteres Stück in dunkler Soße aufgeweichtes Brot in den Mund. "Die Soldaten werden leicht gerüstet sein, gehärtetes Leder, kurze Kettenhemden, Kettenschürze, die hohe Bodenfreiheit erlauben und Helme mit Kettenvisieren, die beim Zielen mit den Armbrüsten nicht hinderlich sind. Mit Andragrimm sind wir zu sechst und sind imstande drei Doppelwachen einzuteilen, wenn wir im Freien nächtigen, was ich generell immer noch bevorzugen würde."
Mirla hämmerte mit ihren kleinen Fäusten auf den Tisch. "Satt!" protestierte sie und der Oberst hob verteidigend beide Hände, um ihr zu signalisieren, dass er nicht noch einmal versuchen würde ihr, etwas in den Mund zu schieben. Sie hatte gut gegessen.
Nun griff auch Dwarosch beherzt zu und füllte sich den Teller. "Ab morgen gibt es nur noch Trockenfleisch, hartes Brot und Käse”, kommentierte er leicht ironisch, dann schlug er sich den Bauch voll.

~*~

Aufbruch

Der Tag begann, so wie Dwarosch es angekündigt hatte. Andragrimm kam bereits vor dem Aufgang des Praiosrundes ins Haus des Vogts und holte den Oberst, Marbolieb, sowie ihre Tochter aus den Gewölben unter dem Amtssitz ab. Der Rest des Hauses lag zu diesem Zeitpunkt noch dunkel und verlassen da. Allein Boindil war ebenfalls schon auf den Beinen, um dem Soldaten mit dem kupferroten Haar hereinzulass
en und dabei zu helfen, die Rucksäcke, sowie die zusätzlichen Verpflegungsbeutel zu tragen, die Topaxandrina noch am Vorabend gepackt hatte.
Gemeinsam mit dem Sohn des Arborax trat man den Weg aus Isarnon, dem Stadtteil am Hang des Berges, in dem Senalosch - die letzte Festung lag, hinab in die Stadt an.

Am Fuße des Felshangs, in dem Treppenstiegen geschlagen worden waren und der auch eine Lorenbahn sein Eigen nannte, welche über lange Seilzüge bewegt wurde, lag der große Tempel des Allvaters, der Sowohl Angrosch, als auch Ingerimm geweiht war.
Nachdem man Grimmgasch, der bereits von einem Bote am Abend von den Plänen des frühen Aufbruchs gehört hatte, eingesammelt hatte, ging es schnurstracks zum Isenhager Tor, dem wehrhaften Durchlass mit den mit zwei leichten Rotzen bestückten Türmen in der Stadtmauer, die zwei Bergflanken miteinander Verband und so Senalosch einschloss.

Seitlich von den noch geschlossenen Torflügeln standen vier Soldaten und zwei gesattelte Ponys. Die Gebirgsjäger trugen Lederrüstungen und über dem Torso ein kurzärmliges Kettenhemd, sowie einen Streifenschurz aus Plattenstreifen, die mit Kettengliedern zu einer Art Rock verbunden waren, hinab zu den Knien reichten und kaum zu behindern schienen. Hinzu kamen auch einheitliche Helme, deren Kettenvisiere nicht geschlossen waren.
Mit geschulterten, leichten Armbrüsten, einem kleinen Schild auf dem Rücken und einer langstieligen Axt an der Seite sahen sie sich zum verwechseln ähnlich, nur die Farbe, die Länge, sowie die Form der Bärte, ließ eine Differenzierung zu.

Knapp begrüßten Dwarosch und Andragrimm die vier Gebirgsjäger und verstauten das Gepäck an den Ponys beziehungsweise in den geräumigen Satteltaschen. Eines der gutmütigen Tiere besaß auf dem Rücken eine abenteuerlich anmutende Konstruktion. Es war eine Art hölzerner Sitz mit Lehne, der auf dem für das Pony üblichen Satten mittels Lederschnüren festgebunden war.

Dwarosch, der die noch schlaftrunkene und leicht quengelige Mirla bis zum Tor getragen hatte, hob seine Ziehtochter in den Sitz und schnallte sie mit einem ebenfalls daran befestigtem, breiten Gürtel fest. Das kleine Menschenkind verstummte abrupt, als sie versuchte, die ungewohnte Position auf dem Rücken des Ponys zu erfassen. Sie gluckste, die bereits im Stehen der Ponys leicht schwankende Haltung des Sitzes gefiel Mirla ganz offensichtlich. Den Oberst verwunderte es nicht, gehörte ‘Gobbihopp’ seit der Jagd in Nilsitz doch zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.
Andragrimm, der ebenso wie Dwarosch in dickes Leder und ein langes Kettenhemd, sowie ein in den Nacken abgestreifte Kettenhaube gehüllt war, hob seinen Felsspalter auf die Schulter, als sich der Zug in Bewegung setzte. Der Krieger ging an der Spitze, während die Gebirgsjäger die dahinter laufenden Geweihten und die Ponys in ihre Mitte nahmen.

Der Oberst, der seinen Rundschild auf dem Rücken trug und den geweihten Spieß locker in einer Hand hielt, führte Marbolieb.
Das Isenhager Tor wurde von den Wachsoldaten über die verborgen in den Torhäusern liegende Mechanik geöffnet und die Pilgerreise begann mit dem ersten Abschnitt: dem Weg nach Sturzenstein.

Die kleine Mirla genoss ihren Aussichtspunkt hoch auf dem Pony. Fröhlich sang sie vor sich hin. “Gobbihopp! Hoppahopp! “
Über Marboliebs Lippen zog sich ein glückliches Lächeln, während sie sich einigermaßen für den Marsch einrichtete. Glücklicherweise war es jetzt, im Rondramond, selbst in den Eisenbergen warm - wenigstens tagsüber. Nachts konnte es noch immer empfindlich frisch werden, befand die Almadanerin - aber vermutlich würden es die Menschen und Zwerge als wirklich mildes Wetter werten. Die Boroni war sehr froh, dass, trotz der offensichtlichen Missgunst des Oberst, sie größtenteils in Gasthöfen unterkommen würden - hoffentlich.

Diese waren deutlich wärmer - und innerhalb fester Mauern war ihr ohnehin wohler als in offener Wildnis.
Grimmgasch war noch ein wenig verschlafen als ihn die Reisegefährten vor dem Tempel des Allvaters abgeholt hatten und schloß sich daher stumm der Gruppe an. Gekleidet war der Angroschpriester wie immer wenn er auf Reisen war: in schwarzen Wollstoff mit rot verbrämten Nähten und kleinen feurigen Flammen. Dazu den festen Wanderstiefeln und dem Wollumhang mit Kapuze der nicht nur vor der Kälte sondern auch vor der Hitze schützte. Als Zeichen seines Standes hatte er die Kette aus Zwergensilber um den Hals an der ein kleiner Hammer hing - nur sehen konnte man dieses Zeichen nur sehr selten, da es hinter dem wallenden roten Bart des Priesters kaum hervor lugte.

Seine Sachen hatte er in einer großen Umhängetasche an der auch sein Schlafsack und die Laterne mit dem ewigen Licht befestigt war.
Um sich die Reise zu erleichtern, hatte er wieder seinen über einen Schritt langen Wanderstab dabei. Am Gürtel trug er den geweihten Schmiedehammer und einen Drachenzahn.

Der Weg nach Sturzenstein

Der Weg nach Sturzenstein hielt für die Reisegruppe keine großen Überraschungen parat, bewegte man sich doch auf gewohntem Terrain, was speziell für die Gebirgsjäger galt. Zudem hatte der Oberst seit seiner Ernennung entlang der wenigen, frequentierten Strecken zu den Dörfern und Burgen der Vogtei versteckte Unterstände und Schlupfwinkel schaffen lassen, die das Regiment bei Übungen und Truppenbewegungen nutzte. So kamen Menschen und Zwerge bei einer Übernachtung, die sie unterwegs einlegen mussten, in den Genuss eines trockenen Lagers. Das Wetter war mild, auch wenn es Nachts kalt wurde, schließlich befand man sich im Hochtal des Isenhag.

Sturzenstein war ein kleines Dorf, aber es besaß dennoch einen Palisadenwall samt hölzerner Wachtürme, die das Tor flankierten. Die Flügel standen jedoch offen, als die Reisenden am zweiten Tag dort ankamen und von einer Wache war weit und breit nichts zu sehen. Es war wohl schlicht nicht notwendig dieser Tage und schon gar nicht, wenn sich das Praiosmal noch so nah zu seinem Zenit befand.
Das, was hinter der Palisade lag, war nur als bescheiden zu bezeichnen. Einzig sechs große Bauernkaten, allesamt jedoch in einem hervorragenden Zustand, gruppierten sich um einen geräumigen Platz in der Mitte des Dorfes. Die Burg selbst lag auf einem aufgeschütteten Hügel über dem Dorf und war mit in den vier Schritt hohen Palisadenwall integriert, welcher an der Innenseite einen umlaufenden, überdachten Wehrgang besaß. Vom Platz in der Mitte des Dorfes führte eine Rampe, breit genug für einen Karren, zur Burg hinauf und endet dort vier Schritt über dem Niveau der restlichen Gebäude an einem robust wirkendem Holztor, welches ins Innere der Burg führte. Fensteröffnungen gab es keine im Gestein. Auf Höhe des Tores existierten lediglich Schießscharten im Mauerwerk. Erst das aus Fachwerk aufgesetzte und mit Holzmalereien verzierte Stockwerk besaß Fenster und einen großzügigen, umlaufenden Balkon. Das hohe und aus massivem Mauerwerk gefügte Fundament der Burg ließ den Betrachter fragend zurück, denn es würde von der Höhe selbst ein ganzes Stockwerk beherbergen können. An das Hauptgebäude angebaut erhob sich der Bergfried noch deutlich über das Hauptgebäude und besaß zudem eine zinnenbewehrte und überdachte Plattform, welche über das Blätterdach hinausragte.

Auf dem gepflasterten Dorfplatz hielten die Gruppe aus Soldaten und Geweihten schließlich an und wurde von den Dörflern, die ihrer Arbeit nachgingen und emsig zwischen den Häusern hin und her eilten, neugierig beäugt.

Von letzterem bekam die Boroni nichts mit. Sie hielt sich mit beiden Händen am Arm des Oberst fest, um auf dem ungewohnten Grund nicht auf die Nase zu fallen, und war durch und durch dankbar, die Wanderung für’s erste hinter sich zu haben. Ihre Sohlen brannten und ihre Beine schmerzten - und so sehr viel besser als nach Ishna Mur waren die Wege dieses Mal gleichfalls nicht gewesen.
Sie holte tief Luft und wandte sich an den bulligen Angroscho an ihrer Seite.
“Magst Du fragen, ob der Edle und Herr Argmin zuhause sind?”
Grimmgasch war die Lauferei in der letzten Zeit ja gewohnt, so dass er keine Probleme gehabt hatte mit den Soldaten Schritt zuhalten. Und so konnte er die Veränderungen in Sturzenstein seit seinem letzten Besuch betrachten, aber er stellte fest, dass sich nicht sehr viel in dem kleinen Dorf getan hatte.
Der Oberst tätschelte liebevoll die Hand der Geweihten, machte aber keine Anstalten sich zu bewegen. Anstelle dessen blickte er in Richtung des Soldaten an der Spitze ihrer Gruppe.

“Grimm”, sprach er seinen Freund knapp an. Dieser nickte nur stumm und trat dann den Weg hinauf die Rampe zur Burg an.
Auf halben Weg jedoch öffnete sich das Tor und Argmin in Begleitung von Athimarax, dem ehemaligen Vogt der Burg traten aus dem Zwielicht im Inneren ins Sonnenlicht.

Der uralte Angroscho, welcher einst am Hofe des Rogmarog ein Lehrmeister von Borindarax gewesen war, ergriff das Wort. Marbolieb erkannte ihn aufgrund seiner Stimme, war sie ihm doch bereits begegnet.
“Seid willkommen im Namen von Kalvar von Kupferfeld, Edlem von Sturzenstein. Er selbst ist leider nicht zugegen, aber ich wette ihr seid ohnehin wegen dem jungen Burschen an meiner Seite hierhergekommen.”

Als Grimmgasch Argmin neben dem alten Angrosch sah, winkte er dem alten Weggefährten fröhlich zu. Wartete aber bis die anderen mit der Begrüßung fertig waren. Es waren viele Tage vergangen, seitdem Argmin von Senalosch aus aufgebrochen war gen Sturzenstein. Der junge Mann sah erholt aus, fort war die Erschöpfung, die den Novizen nach den Ereignissen in Ishna Mur gezeichnet hatten. Sein Haar war noch immer kurz, seine Augenbrauen ungleichmäßig, doch die Zeit und die Salben von Frau Murla hatten ihres getan, die Brandverletzungen an seinem Kopf zu heilen und nur ein leichter Verband an seiner linken Hand verriet noch von den Geschehnissen um die Zerstörung des unheiligen Erzes am Schlund am Altar in Ishna Mur.

“Grimmgasch! Marbolieb, Dwarosch, es ist mir eine große Freude Euch alle wiederzusehen!” Ein breites Lächeln legte sich auf Argmins Gesicht, als er nach vorne trat, seinen Freunden entgegen. Er grüßte einen jeden von ihnen herzlichst und nickte den vier zwergischen Soldaten zu, die neben den Ponys standen. “Auch Euch, Fräulein Mirla, grüße ich.” und winkte dem Mädchen zu. Er hatte Marboliebs aufgeweckte Tochter in den Tagen in Senalosch kennengelernt, liebstes Juwel und größte Prüfung elterlicher Geduld in Marboliebs Leben zugleich. Für einen Augenblick legte sich seine Stirn in Falten. Die Gemeinschaft um Grimmgasch hatte ihn von vor den Toren von Calbrozim an in allerlei Herausforderungen geführt, die sie in viele gefährliche Situationen gebracht hatten, und auch wenn sie nun auf den Straßen und Wegen der Marken zu wandern gedachten, den Göttern zu Ehren, so war diese Pilgerfahrt keine Reise für ein Kind. Doch er wusste um Marboliebs Dilemma und ihre bevorstehende Abreise und er konnte verstehen, warum sie in diesen Tagen Mirla und Dwarosch eng bei sich haben wollte und Rondra würde über sie alle wachen, dessen war er sich sicher.

“Den Segen der Leuin über uns alle.”, sprach Argmin und fegte damit alle zweifelnden Gedanken in seinem Kopf weg.
Er hatte die letzten Tage sich in Schwertübungen und Schattenkampf trainiert, um die Steifheit aus seinen Handgelenken zu bekommen. Immer wieder hatten ihn seine Schritte hinab in das Heiligtum geführt, wo er am Altar in der Grotte über Wellenkamm meditiert und über sein Gespräch mit dem Gesandten des Muschelfürsten sinniert hatte, jetzt aber brannte er darauf, sich auf ihre Pilgerreise zu begeben, gen Gratenfels, seiner Heimat. Doch das musste noch warten, seine Freunde waren erschöpft von der Anreise. “Grüßen soll ich Dich, Grimmgasch, von Lagorasch, dem Hüter der Grotte. Er ist vor zwei Tagen wieder zurückgekommen.” Grimmgasch ging auf den Freund zu und umarmte den großen Rondranovizen. “Schön Dich zu sehen, Argmin.
Dann hat sich sich unser Hüter der Grotte aber beeilt, dass er vor uns hier ist.”
Dwarosch, der Grimmgasch mit der Geweihten am Arm gefolgt war sprach: “Es erleichtert mich dich wohlauf zu sehen. Wie mir scheint bist du auf dem Weg der Genesung.”

Andragrimm umarmte derweil Athimarax herzlich und klopfte ihm im Anschluss auf die Schultern. Der junge Krieger und der Zwerg mit den schneeweißen Haaren kannten sich offensichtlich ebenfalls.
Marbolieb drückte fest die Hand des Oberst, und ein freudiges Lächeln überzog ihre Züge. “Argmin! Wie schön, dich zu treffen! Es geht Dir gut?” Argmin erwiderte die Umarmung des Angroschgeweihten herzlich. „Ja, Lagorasch hatte sich beeilt, ich bat ihn darum, nochmals mit ihm sprechen zu können, bevor ich Sturzenstein mit Euch verlassen werde. Nur wenig sprach er von seiner Reise nach Elenvina mit Dir, es schien ihn aber sehr zu beschäftigen. Er sagte mir nur freundlich in seiner ihm eigenen Art, dies sei eine andere Geschichte.“

“Vielleicht liegt es auch nur daran, dass er es nicht sagen darf …” murmelte Grimmgasch mehr zu sich selbst.
An Dwarosch gewandt sprach Argmin lächelnd: „Oberst, es ist mir eine Ehre, Dich wiederzusehen.“ Nur als der Blick des Pagen auf den Spieß fiel, verschwand sein Lächeln für einen Augenblick und er sah Dwarosch wieder in die Augen, nickte aber dann zustimmend.
„Danke, Marbolieb. Ich durfte die Tage die Gastfreundschaft des Edlen Kalvar genießen und die Gegenwart von Meister Athimarax. Dank der Heilkünste der Zwerge heilt alles ganz wunderbar. Es mag aber auch am guten Essen liegen.“
Der Oberst erwiderte indes das Zunicken des angehenden Geweihten respektvoll.
Marboliebs Züge leuchteten erfreut auf. “Das freut mich.” bekannte sie an den Novizen irgendwo vor ihr, die Hände noch immer vorsichtig um den massigen Arm des Oberst geschlungen.

“Bist du bereits aufbruchbereit?” wollte sie wissen.
“Ich bin bereit - wenn Ihr es seid. Ich sagte Lagarosch und dem Edlen bereits Lebewohl und mein Bündel steht gepackt hinter dem Tor. Die Schuhe sind geschnürt und ich hab uns ein Beutel voll mit guten Sachen aus der Küche packen lassen.
Wollt Ihr die weite Reise denn heute noch fortsetzen? Oder sehnt sich Euer Magen nach dem warmen Essen aus dem Topf eines Küchenherdes und Eure Rücken nach der Matratze eines Bettes?” sprach Argmin zu Marbolieb und blickte derweil aber Dwarosch fragend an, denn die Boroni machte einen erschöpften Eindruck, doch wusste er auch um den Stolz der schönen Frau.

Der Oberst lächelte unweigerlich, da der Novize ausgerechnet ihn anblickte.
“Das entscheiden die Initiatoren dieser Pilgerfahrt Argmin, schau bitte micht nicht so an.” Fast hätte Dwarosch gelacht. “Mir ist es gleich. Für mich ist der Sternenhimmel immer eine gute Decke gewesen und müde bin ich nicht, nur etwas hungrig, aber das könnten wir auch unterwegs ändern.
Also”, fragend glitt sein Blick zu Grimmgasch, während er sanft und liebevoll die Hand Marboliebs drückte, um ihr zu verstehen zu geben, dass die Frage auch ihr galt. Er jedenfalls hatte sich vorgenommen sich bei dieser Reise respektvoll den Götterdienern unterzuordnen, um damit dem Sinn und Zweck der Unternehmung zu Diensten zu sein.

Der Geweihte schaute hinauf zu der sich dem Nachmittag entgegen neigenden Sonne und meinte: “Wenn wir die Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, da wir doch in größerer Runde erschienen sind, dann würde ich wohl heute Nacht hier bleiben.
Denn heute kommen wir nicht mehr allzu weit und hier in Sturzenstein schläft es sich besser als auf einem harten Stein irgendwo da draußen.”
Der Angroschpriester blickte sich zu den Gefährten um, zum einen ob der Wortwitz angekommen war- was er aber gar nicht glaubte - zum anderen wie sie zu diesem Vorschlag standen.

Die Boroni nickte. Die Drohung auf ein Nachtlager draußen wog schwer, und ihre Füße brannten nach dem langen und erbarmungslosen Marsch, den sie überdeutlich in ihren Knochen spürte.

“Ich bleibe heute nacht gerne hier, wenn es euch nicht zu viel Aufwand ist.” stimmte sie ihrem Bruder im Glauben zu. Dwarosch machte indes nicht den Eindruck, als wäre er mit dieser Vorgehensweise so sehr einverstanden - doch würde ihr Rücken sich über einen weichen Strohsack wirklich freuen.
Athimarax klatschte in die Hände, da die Entscheidung verkündet war.

“Dann herein”, sprach der alte Zwerg und trat beiseite, um den über die Rampe frei zu machen.
“Kalvar wird in der Dämmerung zurück sein und sich sicher freuen, dass der Besuch geblieben ist. Um eure Soldaten kümmere ich mich persönlich”, verkündete er in Richtung des Obersts.

“Argmin, du kennst dich ja inzwischen aus. Führe die anderen bitte in den Rittersaal. Ich lasse Zimmer lüften und entsprechend vorbereiten. Fühlt euch wie zuhause. Ich komme bald mit einer kleinen Stärkung zu euch nach oben. Ihr müsst nur etwas Geduld haben, meine Knochen wollen nicht mehr so schnell.”
“Und wo gehen wir jetzt hin?” wandte sich Marbolieb im Flüsterton an den Oberst. Aus der etwas wirren Rede des uralten Zwerges war ihr nicht so klar geworden, wer nun wohin mit wem verfrachtet werden sollte.
“Hm, wenn ich ihn richtig verstanden habe, sollen wir im Rittersaal auf ihn warten. Er wird dann mit einer Mahlzeit zu uns kommen. Zimmer für die Nacht werden vorbereitet”, erklärte Dwarosch.
“Komm, wir folgen den anderen.”
Marbolieb nickte, einigermaßen beruhigt, und mehr als froh, sich endlich setzen zu können.
Armin führte seine Gefährten und die Gebirgsjäger in den Innenhof der Burg, hinüber zum Hauptgebäude, durch die große Eingangstüre in den geräumigen Saal. Ein großes Feuer brannte im Kamin, vertrieb die klamme Kälte des Nachmittages und verbreite einen Anflug von Wärme und Gastlichkeit. Um eine große Tafel standen mehrere Stühle, an der Stirnseite ein größerer, verziert mit den Insignien des Edlen von Sturzenbach. Der Novize holte von einem Beistelltisch Krüge und bot den anderen Wasser aus einem Krug an.
Als Athimarax mit dem Essen kam, half er dem alten Angroscho das Abendessen herzurichten und sprach das Gebet zu Ehren der Travia, bevor die Gemeinschaft sich dem einfachen, aber leckeren Mahl widmete.

Grimmgasch ließ sich das Essen schmecken und griff kräftig zu, wer weiß wann und wo sie wieder zu so einem Essen kommen würden. Nach dem Essen kramte der Angroscho in seinem Tuchbeutel nach seiner Pfeife und begann dann diese mit viel Geduld zu stopfen. Als dieses Werk zu seiner Zufriedenheit beendet war, zündete er das Pfeifchen an, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und genoß den Abend.
Auch die anderen Zwerge langten beherzt zu, wobei sich sowohl der Oberst, als auch Grimm beim Bier zurüchielten, welches ihnen vom zum Essen eingetroffenen Edlen von Sturzenstein angeboten wurde.
Doch allzu lange währte das Mahl nicht, denn die Gäste wusste, dass sie am nächsten Tag eine lange Wegstrecke wieder dem Eisenwald entgegen bevorstand.
Die Nacht legte sich auf Burg Sturzenstein. Das Feuer brannte nieder und man begab sich zur Ruhe, um sich früh am Morgen aufzumachen gen Gratenfels.


Entlang des Weges

Schroff und erhaben ragte der Eisenwald vor den Pilgern auf, deren nächstes Ziel die Grenze nach Rabenstein sein würde.
Leicht stieg das Gelände an. Das Hochplateau des Isenhag bot vielerlei kleinere und größere Erhebungen, sowie zahlreiche Bergkrate, die von den Wanderern aus gesehen im Praios in dem alles dominierenden Felsmassiv endeten, welches die Nordmarken von Almada trennte. Die Eisenberge, wie sie von den Anrainern genannt wurden stellten einen der größten Gebirgszüge dar, die es auf dem Kontinent gab, zumindest was die geografische Ausdehnung betraf.
Rötlich schimmerte das Felsgestein am Horizont im Licht des Praiosrunds, während die Spitzen, der an die dreitausend Schritt hohen Berge, von ewigem Schnee und Gletschern bedeckt waren.

Die meiste Zeit jedoch, war all dies nicht zu erkennen und nur zu erahnen, denn Nilsitz war von dichtem, urtümlichen Mischwald bedeckt, dessen Anteil an Nadelbäumen wuchs, je näher und damit höher man dem Eisenwald kam. Gleichzeitig wurde aber auch die Aufstiege immer kräftezehrender und steiler.
Wege gab es hier nicht, jedenfalls keine die eine entsprechende Bezeichnung verdient hätten. Das Land war zu großen Teilen unberührt und bot einen Umgebung, die zur Kontemplation geradezu einlud.

Unwirklich war das Wort, was den meisten Menschen für diese abgelegene Gegend einfiel, wenn sie es beschreiben sollten. Dies war das Reich der Zwerge, ihr Stammland, welches sich im Efferd und Rahja noch im Phecanowald und Ambossgebirge fortsetzte.

So fand sich weder am Ende des ersten noch des zweiten Tages ein Gasthaus, und die Reisegruppe war gezwungen, im Freien zu nächtigen. Es war Sommer in den Bergen, und zur Praiosstund’ brannte das Praiosmal unbarmherzig und schattenlos aus dem azurblauen Alveranszelt, während nur wenige weiße Wolken hingen wie Schleier über den weit entfernten Gipfeln. Doch so eindringlich, wie die Luft tagsüber über den Steinflächen und Matten vor Hitze flirrte, so rasch wurde es kalt, wenn sich das gestrenge Auge des Götterfürsten hinter den Kanten und Graten zur Ruhe legte.
Den zweiten Tag über hatte der Weg gefühlt fast ständig bergauf geführt, abgesehen von zwei Malen, als die Gruppe in die Schlucht eines Wildbachs hinabsteigen und sich auf der anderen Seite wieder emporquälen musste. Ein weiteres Mal führte der kaum auszumachende Pfad über das Geröllfeld einer im letzten Winter niedergegangenen Mure, über lockeren, trügerischen Grund.

Winzige, nicht einmal kniehohe Krüppelkiefern und Matten aus Flechten, Moosen, hartnäckigen Kräutern und Gebirgsnelken waren der einzige Bewuchs auf den blanken Steinen, längst schon hatte die Gruppe die Baumgrenze hinter sich gelassen. Doch dafür leuchteten auf den kahlen Matten die blutroten Rondrasmale, die silbernen Ifirnssterne und in den Spalten das violett von Krüppelheide und das tiefe Blau der Efferdskelche.
Den Tag über war es zunehmend schwüler geworden, und die feinen Schleierwolken um die fernen Berge hatten sich zusammengebauscht und waren schwer und breit in die Höhe gewachsen, bis selbst das Praiosmal hinter einer grauen Masse verschwand.

Eine Heerschar winziger, schwarzer Fliegen stieg aus den Spalten im Fels und den Wurzeln der spärlichen Grasmatten und verfolgte Zwerge, Menschen und Tiere energisch und unerbittlich, so lange, bis selbst die genügsamen Ponies mit den Köpfen und Schweifen schlugen, um sich irgendwie der Plagegeister zu erwehren. Die kleine Mirla hatte die letzten Stunden zunehmend quengeliger mehr schlecht als recht ertragen - die Hitze, das Schaukeln und nicht zuletzt die vielen Mücken setzten ihr arg zu. Ihr Pony, sowieso nicht bester Laune durch die Plagegeister, die es bekrabbelten und stachen, buckelte und erhielt als Antwort ein noch lauteres Protestgeheul, was dazu führte, dass das Eisenwalder Erzpferd mit seinen kleinen, harten Hufen energisch auskeilte und nur durch Glück den Zwerg, der hinter ihm das Packpony führte, verfehlte.

Mit einem Fluch brachte der Oberst das Reittier zum stehen und machte seine Ziehtochter los, um sie aus dem Tragestuhl zu heben und auf den Boden zu setzen. Unweigerlich hielt auch der Rest der Gruppe und man nutzte die gewonnene Zeit um zu verschnaufen.
Da sie es an diesem Tag nicht mehr allzu weit hatten, befestigte Dwarosch Rucksack und Schild am Sattel des um das Kindergewicht entlastete Pony und hob Mirla auf seine Schultern. So ging es weiter.
Schließlich erreichte die Gruppe eine überhängende Felswand, die nach Ansicht der Wildniskundigen zumindest einigen Schutz bieten würde und die sich als Nachtlager anbot.

Die zierliche Boroni ließ sich, als die Gruppe endlich innehielt, mit wackligen Beinen zu Boden sinken, umschlang ihre Knie mit den Armen und wartete darauf, bis diese aufhörten zu zittern. Nach dem Weg nach Ishna Mur vor wenigen Wochen war sie der irrigen Meinung gewesen, es könne kaum noch schlimmer kommen - doch dieser Weg belehrte sie eines anderen.
“Ich helfe gleich mit.” flüsterte sie.
“Nein”, sagte Dwarosch sanft aber bestimmt, als er sich mit Mirla auf den Armen neben der Geweihten auf den Hosenboden fallen ließ. “Grimm und die Soldaten werden das Lager aufschlagen, sichern und ein kleines Feuer machen. Du ruhst dich aus. Sie sind hier die Bergziegen, nicht du oder ich.” Der in Senalosch für die Gebirgsjäger mit liebevollem Spott genutzte Spitzname sprach der Oberst derweil so aus, dass außer Zweifel stand, wie sehr er seine Männer und ihre Ausdauer schätzte.
Dwarosch setzte das kleine Mädchen zwischen sich und Marbolieb und kramte in einer seiner Gürteltaschen. Die Geweihte hörte einen Korken, der mit einem leisen ‘Plop’ gelöst wurde und hatte dann unvermittelt den Geruch von scharfen Kräutern und Öl in der Nase.
“Damit werde ich dir nachher wenn es dunkel ist die Beine einmassieren”, erklärte Dwarosch. “Das wird noch einmal unangenehm, aber es wird deine Muskeln entspannen, so dass sie sich über Nacht etwas erholen können. Und bei Angrosch, ich werde das Öl auch brauchen, Mirlaxa wird von Tag zu Tag schwerer. Oder ist das Einbildung?” Er lachte.
“Ich hoffe nicht” schmunzelte Marbolieb unsicher und legte einen Arm um die Schultern ihrer Tochter, um zu verhindern, dass sich das Kind forschungslustig von dannen machte.
“Das mit dem Öl ist wunderbar, Dwarosch.” Sie lächelte glücklich und fügte mit leiser Stimme hinzu. “und natürlich reibe ich dich gern damit ein.”

Eine Feststellung, die Dwarosch mit einem tiefen Brummen quittierte, welches auch von einem ausgewachsenen Bären hätte kommen können. Marbolieb aber wusste, dass es damit schlicht ausdrückte, dass er dieses Angebot gern annehmen würde.
Draußen kam leichter Wind auf, der den Staub von den trockenen Steinen wehte.
“Dado, guck!” zeigte Mirla aufgeregt nach vorn und zog den Oberst energisch an einer prachtvollen Bartflechte, die sie zufrieden quietschend in ihren Fingern drehte.

Vor der Gruppe, über den Bergen im Rabensteiner Land, türmte sich eine schwarze Wolkenfront, aus der unheilverkündend und vollkommen still Blitze zuckten.
Grimmgasch war neben den dreien ebenfalls erschöpft zu Boden gesunken, trotz der Übung der letzte Tage waren die letzte Wege deutlich bequemer gewesen als diese Klettertour. Da der Oberst seine Leute aufgefordert hatte das Lager zu richten, genoss er einfach nur zu sitzen und ein wenig zu dösen.
Durch Mirlas Ruf aus seiner kurzfristigen Kontemplation aufgescheucht, blickte er hoch und sah die dräuende Finsternis auf sie zu ziehen.
“Das sieht nach einem Unwetter aus!” kommentierte er die Beobachtung des kleinen Mädchens. “Wenigstens haben wir hier einen festen Felsen über uns und nicht nur eine flatterige Zeltplane!”

Dann wandte er sich an die Bergziegen: “Kann ich euch helfen, dass wir vor dem Unwetter fertig sind?”
Einer der Soldaten, derjenige der dem Geweihten des Allvaters zunächst stand, nickte zustimmend und beantwortete damit jene Frage.
Auch Dwarosch erhob sich nun mehr oder minder unwillig, um mit anzupacken. Erst jedoch kniff er die Augen zusammen, um die Sturmfront genauer ins Auge zu fassen und schätzte bei vorherrschendem Wind und dessen Richtung ab, wie lange es dauern würde, bis sie ihre Position erreicht haben würde.
“Es sieht so aus, als würde sein Zentrum an uns vorbei Richtung Dohlenfelde wandern”, gab er seine Einschätzung vernehmbar zu verstehen. “Wenn er dreht”, er ließ den Satz unvollendet und schüttelte anstelle dessen den Kopf. “Sicher können wir nicht sein.”
Erneut schüttelte der Oberst den Kopf, dann legte er alles Unnötige, was er am Körper trug, ab, bis er nur noch ein Leinenhemd trug und machte sich daran mehrere Stein schwere Brocken Stein so an den überhängenden Felshang zu schaffen, um sie zu einem teilweisen Windschutz aufzutürmen. Grimm packte ebenfalls mit an. Marbolieb hielt angesichts der jäh aufgekommenen Betriebsamkeit ihre Tochter fest, die sich mit einem ‘Dado helfen!” ebenfalls nach vorn stürzen wollte, und hoffte, nicht zwischen die Beine der Männer zu geraten. Sie war vollkommen zufrieden damit, nur hier zu sitzen und nichts tun zu müssen und das Ziehen und Zerren in ihren Beinen zu ignorieren - und nach dem langen Tag durchzuatmen. Sie lehnte sich gegen die sonnenwarme Steinwand in ihrem Rücken und wischte sich mit dem freien Arm den Schweiß von der Stirn. Schwül war es geworden und die Luft roch eigenartig, wie vor einem näherkommenden Gewitter.
Und auch Grimmgasch packte kräftig mit an und half dem - deutlich kräftigeren - Oberst beim Herbeitragen und Schichten der Steine. Dabei murmelte er so etwas wie “Feldspat … naja soll ja keine Festung werden … ein paar schöne Einschlüsse … leicht zu spalten … woher hat es dich denn verschlagen ...”
“Oooh!” ertönte weit hinter Grimmgasch ein heller, vollkommen faszinierter Schrei. “Schön!”

Ein Sonnenstrahl hatte einen der Einschlüsse im Stein zum Aufleuchten gebracht, ein tiefes Grünblau, das ein wahres Feuer in den Augen der kleinen Mirla entfachte, die versuchte, sich mit allen Vieren nach vorn zu stürzen und so gerade eben noch von ihrer Mutter gebändigt werden konnte.
“Hoppla, hoppla, nicht so stürmisch!” meinte Grimmgasch nachdem er sich zu dem losstümenden Kind umgedreht hatte. “Ja, das ist ein schönes Exemplar, da hast Du recht. Willst Du ihn haben?”
“Haben!!!” jubelte das kleine Menschenkind und besann sich, als ihre Mutter ihr etwas drängend ins Ohr flüsterte. “Bitte!!!” fügte sie nicht weniger energisch hinzu.

Nun musste Grimmgasch schmunzeln, Kinder waren doch alle gleich, ob Mensch, ob Angroscho. Er schaute sich den Einschluss an und legte die glitzernde Stelle mit ein paar vorsichtigen Schlägen seines Hammers frei, strich mit dem Ärmel den feinen Staub ab und reichte ihn dann dem wartenden Mädchen.
“Es ist ein Toschbrom, ein Baumstein, er leuchtet wie die Blätter in einem Frühlingstag im Wald”. erklärte der Angroschgeweihte als er kniend der Stein vor Mirla hielt. “Bewahre ihn gut auf, dann hast Du immer den Frühling bei Dir.”
“Doschbom!” strahlte das Mädchen. “So hell!”

Grimmgasch war schon drauf und dran, Mirla zu korrigieren, schwieg aber dann als er das fröhliche Lächeln sah.
Ein glückliches Strahlen überzog ihr kleines Gesichtchen, während die Wolkenwand am Horizont beständig in die Höhe und Breite stieg und mit ihrem Schatten die arbeitenden Reisenden überdeckte. Es war drückend schwül, wenn möglich noch stärker als zuvor, und die kreisenden Mücken hatten ihre Opfer erneut gefunden und krabbelten und stachen auf jedem Stück bloßer Haut.

“Was habt ihr Mirla gegeben, Meister Grimmgasch?” fragte die Geweihte aufmerksam.
Das Mädchen indessen umschloss ihren Schatz fest in ihren weichen, kleinen Kinderhänden.
“Nur einen Stein”, meinte Grimmgasch, “wenn auch einen recht hübschen. Einen grünen Stein, der ein wenig leuchtet. Ich habe die scharfen Kanten ein wenig geglättet, dass sie sich nicht schneiden kann.”
“Vielen Dank!” Das warme Lächeln der Geweihten war ein Echo der ungebändigten Freude ihres Kindes - wenn es auch seinen Grund ganz sicher nicht in dem Stein, sondern der Freude Mirlas über selbigen hatte. “Was darf ich euch dafür tun, Bruder Grimmgasch?”
“Nichts, Schwester, nichts”, antwortete der junge Geweihte. “Den Stein hat der Allvater geschaffen und ihn hier zu Tage kommen lassen. Dank ihm, wenn Ihr wollt, nicht mir.”

Dann besann er sich aber, dass das Unwetter immer näher zog und fasste wieder beim Bau der Schutzwand an.
Die Soldaten banden die Ponys mit kurzen Leinen unter ihrem natürlichen Unterstand fest, so dass sie ihnen in einer etwaigen Panik nicht gefährlich werden konnten. Dann rückte man zusammen, um hinter dem aufgehäuften Windschutz Schutz zu suchen. Nachtwachen wurden eingeteilt und ein schlichtes, aber sehr nahrhaftes Abendessen aus dem Proviant wurde ausgeteilt, so dass ein jeder zumindest daraus wieder Kraft schöpfen konnte, egal was die bevorstehende Nacht bringen würde.

Während des Abendessens nahm die Schwüle weiter zu. Es fühlte sich an, als erhielte man ein feuchtes, warmes Handtuch ins Gesicht geschlagen, und die kleine Mirla jammerte unglücklich, als die Mücken in dichten Schwärmen über die Gruppe herfielen.
Es dauerte lange, bis das Kind endlich schlafen wollte und auch den Erwachsenen etwas Ruhe schenkte. Schließlich legte sich die Dunkelheit über das Land, nur erhellt von den am Horizont in weiß und rot zuckenden Blitzen. Die Luft schmeckte metallisch und die feinen Härchen auf den Armen der Reisenden richteten sich auf und schienen fast selbst Funken schlagen zu wollen.
Als die Spannung in der Luft ihren Höhepunkt erreichte und es blitzte wenn sich jemand die Schwüle aus den Armen reiben wollte, stand Grimmgasch auf und stellte er sich mit ausgebreiteten Armen an den Rand des kleinen Plateaus auf dem sie Schutz gefunden hatten und begann mit sonorer Stimme zu beten: “Oh, Allvater, der Du die Geschicke dieser Welt lenkst, schaue auf Deine Diener hinab und lenke unsere Schritte so, dass uns unter Deiner Führung kein Unheil widerfährt. Lass uns unter Deinem Schutz Zuflucht finden.”

“So sei es!”
Dann trat er wieder unter den geschützten Felsvorsprung zurück und setzte sich auf den entrollten Schlafsack.
“Herr Boron, schicke Deinen Boten aus und schenke uns in dieser Nacht sanfte Träume.”
Die blinde Geweihte hatte sich zum Abendgebet niedergekniet und spendete einen wortkargen Segen über jene, die ihn empfangen wollten. Und ihre bereits so mühsam eingeschlafene Tochter.
Ihr leises “so sei es” ging fast unter dem Wispern des Windes, der wie zur Antwort auf ihr Gebet aufgekommen war - und endlich die Mückenschwärme, die auf der schweißfeuchten Haut festklebten, davonwehte.

Dwaroschs Vollendung des Segens, der unmittelbar auf den der Geweihten folgte, war hingegen deutlich zu vernehmen. Sein tiefer Bass brummte und man musste sich wundern, wie ruhig und ausgeglichen die Stimme des Oberst in jenem Moment klang.
Das gemeinsame Gebet an den Herrn des Todes spendete Dwarosch Kraft und vor allem innere Ruhe, die man deutlich heraushören konnte. Die Soldaten, Grimm eingeschlossen, ließen sich derweile nicht anmerken, was sie von der Anbetung Borons hielten. Während die Bergziegen die Sehnen ihrer Armbrüste wechselten, die jeweils entnommene fetteten und dann wieder wasserdicht einwickelten, war Andragrimm dabei einen Wanderstab, den er sich am Tage während einer Rast von einer Kiefer geschlagen hatte, mit dem Drachenzahn zu verzieren, indem er die Rinde so entfernte, dass ein Muster entstand.
Marbolieb genoss die Ruhe, die sich nach dem Essen und den Andachten über das Lager legte. Sie tastete nach dem Oberst, der diesesmal, anders als bei der Reise nach Ishna Mur, glücklicherweise keinen Wert darauf zu legen schien, den Platz neben ihr zu vermeiden, und lehnte zufrieden ihren Kopf an seine Schläfe.
“Du hast mir etwas versprochen.” flüsterte sie. “Das habe ich”, bestätigte er mit tiefer, leicht gesenkter Stimme. Sein Kopf bewegte sich sachte hin und her, wie als prüfe er, wieviel Aufmerksamkeit man ihnen schenkte.
“Lehn dich zurück”, bat der Oberst und half Marbolieb sich auf ihrem Lager auszustrecken, wobei er sie mit seinem breiten Rücken vor den meisten Blicken der anderen abzuschirmen vermochte.
Dwarosch deckte ihren Oberkörper bis hin zur Hüfte zu, dann begann er sie zu entkleiden - Schuhe und Socken. Eine Hose brauchte er nicht auszuziehen, dies war dank der Robe, die er einfach hochschob, nicht notwendig.

Bald schon hatte Marbolieb wieder den öligen Geruch in der Nase, welcher durch eine Melange starker Kräutern begleitet wurde. Sie vernahm das Reiben von Dwaroschs Händen aneinander. Er verrieb das Öl zwischen seinen Fingern und wartete, bis es seine Haut geschmeidig gemacht hatte und es leicht angewärmt war. Dann begann er bei den Fusssohlen damit die überstrapazierten Muskeln der Geweihten zu entspannen.

Marbolieb schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, als die kräftigen Finger des Oberst ihre überanstrengten Muskeln bearbeiteten, was brennende Stiche durch ihren Körper jagte. Angenehm war es nicht - doch es würde sicher helfen, um morgen weniger Schmerzen zu haben. Ihre Finger krallten sich in die Decke, als sie die Lippen zusammenpresste. Ihre Tochter wollte sie schließlich nicht wecken. Doch war sie immens froh über die Fürsorge und die Nähe Dwaroschs. Er gab ihr Geborgenheit und Zuneigung, nach der sie mehr dürstete als eine Pflanze nach Wasser und Licht. Wenn auch auf seine ganz eigene und meist recht unbeholfene, dafür aber durch und durch ehrliche und aufrichtige Weise.
Vorsichtig löste sie eine Hand, tastete nach dem Bein ihres Liebsten - und grub dann erneut ihre Finger hinein, als er einen besonders böswilligen Strang Muskeln fand.
Unbeirrt fuhr der Oberst in seinem Tun fort. Er wusste, dass die Massage nicht angenehm war, ja dass sie schmerzte. Er wusste aber auch, dass Marbolieb ohne sie weit schlimmer dran sein würde am kommenden Tag. Regelmäßig frischte Dwarosch dabei das Öl auf, von dem er wusste, welch wohltuende Wirkung es besaß und ebenfalls dafür sorgte, dass seine groben Hände keine Striemen auf Marboliebs weicher Haut hinterließen.
In wiederkehrenden Zyklen bearbeitete der Oberst die Muskeln der Geweihten, wobei er ihn am Ende mit der Handkante ausstrich, immer vom vom Herzen weg in Richtung der Füße, wie Marbolieb registrierte.
Nachdem er sich so Fußsohlen, Waden, den Schienbeinmuskeln und der Vorderseite der Oberschenkel gewidmet hatte, letztere Muskulatur war eine der stärksten des menschlichen Körpers, half Dwaroch Marbolieb dabei, sich auf den Bauch zu legen.
Der hintere Oberschenkelmuskel bot dann noch einmal sehr unangenehme Momente, in denen Nadelstiche ihren Körper durchzuckten, doch als Dwarosch danach ihr Gesäß zu den Seiten und zur Hüfte hin ausstrich, wusste sie instinktiv, dass sie es überstanden hatte. Marbolieb holte tief Luft und schloss die Augen. Ihre Beine brannten - und waren nun herrlich schwer. Zu gerne wäre sie jetzt einfach eingeschlafen. Sie seufzte wohlig und versuchte, sich die Robe wieder einigermaßen zurechtzuziehen,
Müde und bettschwer wandte sie sich zu ihrem bulligen Gefährten, tastete vorsichtig nach ihm und fand ein Stück Bein, das ihre Fingerspitzen vorsichtig erkundeten. “Was darf ich Dir tun?” fragte sie mit warmer Stimme.
“Nur meine Waden”, entgegnete Dwarosch mit sanfter, dunkler Stimme. “Ich bin das Marschieren ja gewohnt und das Wandern auch, aber mit Rucksack und Mirlaxa, das kostet dann selbst mich Kraft.

Der Oberst sah auf, während er sich auf den Hosenboden setzte und begann die Verschnürung seiner Stiefel zu lösen. “Grimm”, erhob er die Stimme und wartete, bis er sich der Aufmerksamkeit seines Freundes sicher war. “Du teilst die Nachtwachen ein. Ich mache die letzte.” Mit einem Nicken bestätigte der Soldat das er verstanden hatte und wandte sich sogleich den Gebirgsjägern zu, um dem Befehl folge zu leisten.
“So”, senkte Dwarosch dann wieder seine Stimme, während er seine Hose hochkrempelte. Seine Stiefel standen inzwischen ordentlich nebeneinander gestellt vor ihrer Liegestatt. “Hier ist das Öl.”
Behutsam nahm die Geweihte das Öl entgegen, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf und legte sich einen der bloßen Füße des Oberst in den Schoß, ehe sie achtsam und sehr darauf bedacht, nichts zu verschütten, einige Tropfen Öl auf die Handfläche goss und begann, diese ungeschickt auf Waden und Knöchel des Zwergen zu verreiben. Geübt war sie in der Kunst des Massierens nicht, aber sie mochte es, die warme Haut des sehr lebendigen Oberst unter ihren Händen zu fühlen. Ihre Finger pflügten sich durch seine Haare, folgten den dicken Muskelsträngen an seiner Wade und umschlossen den Knöchel, den sie vor fast zwei Götterläufen bereits einmal in Händen gehalten und gespürt hatte, wie sich überdehnte Bänder und Sehnen dank der Kraft ihres Herrn wieder in die rechten Wege fanden. Energisch folgten ihre Daumen den Wegen, Knochen und Muskeln vorgaben, und landete schließlich auf der schwieligen, harten Fußsohle ihres Gefährten, die sie eingehend und mit einer nachdrücklichen Gnadenlosigkeit bearbeitete und dabei auch die Stellen nicht aussparte, von denen sie mittlerweile aus Erfahrung wusste, wie empfindlich - um das Wort kitzelig, das im Zusammenhang mit einem ehrwürdigen Oberst der Garde gänzlich unschicklich war, zu vermeiden - ihr muskulöser Liebster dort war.
Dwarosch ließ es ohne zu Murren geschehen. Das sachte Zucken, welches jedoch dabei immer wieder durch sein Bein lief, verriet ihr nur zu gut, dass es ihm viel Selbstbeherrschung abverlangte, nicht zu lachen.
Schließlich wiederholte sie den Vorgang an seinem zweiten Bein, selbstsicherer diesesmal und mit einem sinnenden, konzentrierten Lächeln auf den Lippen, ehe sie schließlich, sehr viel Zeit und eine weitere Handvoll des duftenden Öls später, den Unterschenkel des Mannes nach unten abstrich und vorsichtig sein Bein von ihrem Schoß nahm, darauf bedacht, ihm nicht mit einer unbedachten Bewegung Schmerzen zuzufügen. “Gut so?” fragte sie, nicht ganz sicher, ob dies den Wünschen Dwaroschs so Genüge tat.
Ein wohliger Seufzer entrann seiner Kehle zur Antwort. “Ja Räblein, danke.”
Dwarosch setzte sich langsam auf und lehnte sich gegen die Felswand. Dann zog er Marbolieb an sich, bis sie mit ihrem Rücken an seiner Brust lag.
“Hast du Hunger?” fragte der Oberst, während er seine Decke über ihre Beine schlug. Mirla schließ friedlich eingerollt neben ihnen. Die zierliche Menschenfrau schüttelte schweigend den Kopf. Sie lehnte ihr Haupt an die haarige Wange des Angroscho und seufzte, ein glückseliges Lächeln auf ihren hübschen Zügen. Warm und solide war die breite Brust des Mannes unter ihrem Rücken. Sie schmiegte sich in in seine Arme und schloss zufrieden die Augen.
“Ich möchte jetzt so einschlafen, Dwarosch.” flüsterte sie verliebt und glücklich.
“Dann ruh dich aus Räblein”, flüsterte der Oberst mit seiner beruhigend tiefen Stimme.
Er selbst angelte sich seinen Rucksack, der in Armeslänge an der Felswand stand und öffnete mit einiger Mühe die Verschlüsse, um an den Proviant zu gelangen. Ein Unterfangen, welches mit einer Hand keine Kleinigkeit war.
Marbolieb stieg der strenge Geruch von würzigem Käse in die Nase, doch da war sie bereits im Begriff vor Erschöpfung in den Schlaf hinüberzugleiten.
Als der Oberst fertig war mit seinem Mahl und sich mit Marbolieb im Arm auf die Seite legte, so dass Mirla in ihrem Rücken zur Felswand hin zwischen ihnen ruhte, schlief die Geweihte bereits tief und fest. Auch das Dwarosch die Soldaten, die zur Nachtwache eingeteilt worden waren. flüsternd aufforderte ein Auge auf ‘seine Mirlaxa’ zu haben, vernahm sie nicht.

Nach und nach begaben sich die Reisenden zur Ruhe. Das Gewitter hing noch immer wetterleuchtend am praioswärtigen Horizont und bewegte sich nur langsam von der Stelle. Hin und wieder traf eine Windbö das Lager, zerrte in Decken und Haaren der Reisenden und trieb die ungehalten schnaubenden Ponys näher an die Felswand.


Der Wind kam auf, fuhr durch die hohen Kronen der Tannen und brachte einen intensiven Duft nach Nadeln und feuchter Walderde nach einem Sommergewitter mit sich.
Argmin, der erschöpft eingeschlafen war, spürte, wie ihn ein besonders scharfkantiger Stein unangenehm in die Schulter stach. Es war kalt in der Nacht, und die Feuchtigkeit des federnden Bodens durchdrang seine Kleidung. Das heftige Rauschen des Windes in den alten Nadelbäumen drang in seine Ohren.
In der Ferne heulte hungrig und einsam ein Wolfsrudel.
Nur das ferne Wolkenleuchten erhellte hin und wieder die Dunkelheit und zeichnete sich fein auf der überhängenden Felswand über ihm ab, von Phexens Schätze war nichts zu sehen. Der Novize versuchte eine angenehmere Position und damit zurück in den Schlaf zu finden und lauschte dem Heulen der Wölfe. Es schien weit weg, auch wenn das hier in den Bergen täuschen konnte, Entfernungen waren schwer abzuschätzen.

Ein hungriges Rudel konnte ihnen durchaus gefährlich werden und die Wölfe hätten hier Heimvorteil, wären ihnen an Behendigkeit weit überlegen. In Gedanken ging Argmin ihre Optionen in ihrem provisorischen Lager durch, dachte an mögliche Verteidigung und Formationen - und dann war an Weiterschlafen nicht mehr zu denken. Er richtete sich auf und blickte hinüber zum Rand ihrer Lagerstatt, hinaus in die dort herrschende Dunkelheit. Wie spät mochte es sein?
Seine Decke war klamm. Argmin schlug sie zurück und erhob sich vorsichtig und leise, bedacht, niemanden der anderen Schlafenden zu wecken. Er nahm seinen Mantel, zog ihn sich fest um die Schulter und trat an der Tags zuvor aufgeschichtete Steinmauer vorbei. Ein Windstoß hieß ihn dort willkommen, traf ihn mit voller Wucht, zerrte an seiner Kleidung, brachte ihn für einen Augenblick ins Wanken, dann ließ er ihn wieder los. Argmin blickte hinaus, wo das Zentrum des Unwetter sich an ihnen vorbei langsam gen Rahja schob. Ein zuckendes Glühen in der Nacht, ein Flackern in fernen Wolkentürmen und selbst auf diese Entfernung hin war Rondras Macht zu spüren.
“Sturmbringer, Herrin, durchdringe mich, erfülle mich mit Deinem Geist, dring ein in meine Glieder und gib mir Kraft, dring ein in mein Herz und erfülle mich mit Mut und Weisheit.” sprach er leise, dem Gewitter zugewandt.

Zur Antwort drehte der Wind und schlug dem Novizen ungebremst ins Gesicht.
Der Geruch nach feuchtem Waldboden drang ihm in die Nase, das Wirbeln von Blättern und feuchten Nadeln und das Fauchen des Sturms. Das Heulen der Wölfe erklang erneut, näher dieses mal, während sich das Rauschen eines gewaltigen Regengusses in den Kronen der mächtigen Tannen vor dem Novizen fing, nah genug, dass die ersten Regenschleier ihn streiften.
Unscharf konnte er in der winddurchtosten Dunkelheit die Gestalt eines kleinen Kindes erahnen, das sich unter den dichten Tannwedeln versteckte, und auf den Böen des Windes drangen Fetzen von glücklichem Kinderlachen an seine Ohren.
Ein großer, vierbeiniger schwarzer Schatten drückte sich aus dem Dunkel, ganz am Rande von Argmins Blickfeld - ein befellter Schatten, der seine Beute gefunden hatte und zum Sprung ansetzte.
Argmin blinzelte, doch die Gestalt des Kindes und der Schatten des Wolfes waren immer noch, wenn auch nur schemenhaft zu erkennen. Es blieb keine Zeit, Wellenbrecher zu holen, zu nah war die Bestie an dem Kind, das die Gefahr noch nicht bemerkt hatte. Er rannte los.

“Heeeeee!”, schrie er, versuchte mit den Armen zu winken und gleichzeitig das Gleichgewicht zu halten, um das Tier von seiner Beute abzulenken, um dessen Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. “Heeeeeeeeeeeee!” Seine Stimme zerriss in dem ansetzenden Regen und den Böen des Windes.
Argmins Stiefel fanden nur schwer Halt auf den feuchten Steinen, es war waghalsig, ja töricht oder gar dumm, doch es blieb ihm keine andere Wahl, er musste sich eilen.
Er rutschte, kam aus dem Tritt, stürze, fing sich im letzten Augenblick wieder, der Boden war nur noch eine Ahnung, er fokussiert den Rand der Bäumen, wo er von oberhalb Kind und Raubtier gesehen hatte.
Es blieb keine Zeit zum Nachdenken, er konnte nur hoffen, den Wolf irgendwie lange genug zu beschäftigen, bis einer seiner Gefährten ihm mit Waffengewalt würde beistehen können.
Der Wolf, der sich zum Sprung geduckt hatte, wirbelte herum und flog mit einem gewaltigen Satz geifernd und mit gebleckten Zähnen auf den Novizen zu. Ein gewaltiges Tier war es, muskulös und geschmeidig, ein perfekter Jäger.
Der sich soeben umentschieden hatte bei seiner Beute. Wie zäher Teig drehte sich der eine Wimpernschlag der Zeit, den der gewaltige Wolf benötigte, Argmin zu erreichen. Der junge Mann roch den Geruch des nassen Raubtierfells, sah die Tropfen daraus in einer flügelgefächerten Kaskade zur Seite stieben und sah in die bernsteingelben Augen, aus denen ungebändigte Kampfeslust loderte. Keine Zeit für eine Taktik, keine Möglichkeit hier am Abhang auf dem nassen Boden auszuweichen, kein Gebet an die Göttin des Kampfes, kein Flehen nach Beistand - und auch kein Zögern.

Der junge Mann sah den gewaltige Körper auf sich zukommen, ein dunkler, finsterer Schatten, scharfe Zähne im fahlen Licht des Wetterleuchtes, die Augen voller Wut und Gier. Argmin duckte sich, zog seinen Kopf ein, hob die Unterarme schützend vors Gesicht und dann prallte der Wolf gegen ihn, sein weit geöffnete Kiefer schnappte zu. Seine Zähne bohrten sich tief durch gehärteten Lederarmschienen des Novizen, dann traf der Körper des Raubtieres ihn mit voller Wucht, riß ihn von den Beinen und Argmin krachte rückwärts gegen den Berghang und der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen. Die Pranken des Wolfes hämmerten gegen seine Brust, zerfetzen das Wams. Der Rondranovize riß den Arm nach oben, in den sich das Tier verbissen hatte, versuchte sich zu drehen, das Gewicht des Untiers von seinem Körper zu bekommen.
Er spürte, wie die Haut unter den Hieben des Wolfs zu reißen begann, Schmerzen explodierte in weißen Blitzen in seinem Inneren. Ineinander verschlungen rutschten sie den Hang hinunter, auf die Bäume zu. Argmin ignorierte den Schmerz in seinem Arm, in dem sich das Tier verbissen hatte, und drückte ihn tiefer, in das Maul des Wolfes, den ganzen Schädel der Bestie nach hinten, während die andere Hand versuchte seine Brust zu schützen, die Prankenhiebe abzuwehren. Er hatte ein Knie hochbekommen, hieb es nun fest in den weichen Bauch des Tieres. Die beiden kugelten durch den weichen Waldboden, bis der dumpfe Aufschlag auf den dicken Stamm einer über hundert Götterläufe alten Tanne beiden den Atem raubte.
Der Wolf knurrte und sein heißer Geifer rann über den Arm des Novizen. Das Tier stemmte seine Pfoten auf Argmins Brustkorb und versuchte, dem Arm in seinem Rachen zu entkommen, um seinem Opfer an die Kehle zu gehen.
Argmin drückte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Wolf, versuchte die Prankenschläge mit seinem Körper zu blockieren. Die Zähne des Biests hatten sich in seiner Armschiene verhakt, der Kopf ruckte hin und her und die Wucht riß an seinem Arm, doch Argmin ließ nicht los, konnte und wollte nicht, wusste, dass es für ihn vorbei wäre, wenn der Wolf sein Maul losbekäme und er befreite seinen zweiten Arm und schlug blind auf den Kopf des Tieres, auf Nase und Augen, mit aller Macht und verbleibender Kraft. Dann noch einmal. Und noch einmal.
Der Wolf heulte auf, Blut schoss aus seiner Nase und sein Geifer auf der Haut des jungen Mannes dampfte, vermischt mit Argmins warmen Blut. Tiefer gruben sich die dolchscharfen Zähne des wilden Tieres in Argmins Unterarm, zerrissen Muskeln und Fleisch und die
Haare des Tieres sträubten sich und ließen es fast bis zur doppelten Größe anwachsen, ehe es mit einem heiseren Röcheln zusammenbrach. Im Zwielicht sah das schwarzhaarige kleine Mädchen, still und mit großen Augen unter dem Wedel einer uralten Tanne, mit dunklen Augen wie schwarze, grundlose Seen. Auf seiner Schulter saß ein kleines, vollkommen trockenes Käuzchen, das den Novizen unverwandt musterte. Warm rann das Gemisch aus Geifer, Blut und Regen über den Arm des jungen Kriegers, sammelte sich an seiner Hand und tropfte zu Boden. Für einen Augenblick kniete Argmin einfach nur da.. Er spürte den kühlen Regen auf seiner Haut, spürte den nassen Boden unter sich. Sein Blick wanderte zwischen dem noch zuckenden Körper des Wolfes vor ihm und den Augen des Kindes fahrig hin und her. Er hatte das Biest besiegt. Er hatte gewonnen. Er lächelte.

Dann gaben seine Muskeln mit einem Male nach und er kippte stöhnend nach vorne. Sein gesunder rechter Arm hielt ihn, bevor er auf dem Boden aufschlagen hätte können, doch alles an ihm zitterte und er spürte seinen Magen sich verkrampfen. Sein Blick fiel auf seinen linken Arm. Das Leder der Schiene war zerfetzt, ebenso Haut und Muskeln darunter und da wurde er sich der Schmerzen bewusst und Schwindel packte ihn. Er biss die Zähne zusammen, rappelte sich wieder auf und zog sich dann am Stamm der alten Tanne noch oben. Er suchte den Blick des Mädchens.
“Geht es Dir gut? Bist Du verletzt?”
Das kleine Kind, ein leicht südländisch aussehendes Mädchen mit tiefschwarzem Haar, und das Käuzchen blickten ihn beide mit großen, runden Augen an. Lautlos flog der Vogel auf, während das Kind einen Schritt auf den Novizen zutrat und ihm eine Hand entgegenstreckte. Ein Strahlen überzog sein kleines, glattes Kindergesichtchen.
Argmin ließ sich, die gesunde Hand auf der knorrigen Rinde des Baumes abstützend, wieder auf die Knie sinken. Das Atmen tat weh, seine linker Arm fühlte sich an, als ob er brennen würde, und sein Brustkorb war ein einziger Schmerz. Ein Schleier hatte sich vor seine Augen gelegt, rote und weiße Punkten tanzten in seiner Sicht. Argmin konzentrierte sich, versuchte all das zu ignorieren. Sie mussten hier weg, da mochten noch weitere Wölfe sein und einen weiteren Angriff würde er nicht überstehen.
Das Mädchen schien nicht verletzt zu sein, den Zwölfen zum Dank. Etwas in ihm blieb unruhig und nervös, und etwas in ihm wunderte sich, dass das Mädchen keine Angst hatte. “Wo sind Deine Eltern?” Er löste seine Rechte von der Tanne, suchte das Gleichgewicht zu halten, und streckte die Hand dem Mädchen entgegen. “Bist Du alleine hier, Kind?” In der Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nur schemenhaft wahrnehmen, einzig die dunklen Augen schienen klar und deutlich und fingen Licht und seinen Blick ein.
Das Kind strahlte Argmin aus tiefdunklen Augen an und legte seine Hand in die seine.
Es fühlte sich an wie ein kühler, verwehender Nebelstreif und der Schwindel ergriff nun ernsthaft von Argmin Besitz, als alles sich um ihn drehte, er die Augen aufschlug und den großen, wachen runden Augen des kleinen Mädchens, fester Anker in dem steten Wirbeln begegnete. “Nicht Dado!” entgegnete Mirla strahlend, nahm ihre Hand aus der eiskalten des Novizen und begann, sehr zufrieden ihre Decke zu einem Berg aufzutürmen, irgendwo zwischen dem Rücken ihres Ziehvaters und dem Lager des Novizen.
Dünne Gischt des entfernten Gewitters benetzte das Gesicht Argmins, der, gefesselt von seiner Decke, am Lagerplatz unter dem Felsvorsprung lag, nassgeschwitzt und mit dem Geruch nach nassem Wolf in der Nase - und ohne jeden Kratzer.

Seine Gedanken waren träge wie die dunklen Wolken am Himmel, nach und nach nahm alles wieder Formen an und alles bekam wieder Namen. ‘Mirla …’ er sah zu Marboliebs Tochter hinüber, die sich in ihre Decken geschlungen an den Rücken von Dwarosch schmiegte. Er hob die linke Hand. Schwach glühte das ferne Gewitter und schenkte nur wenig Licht, doch er sah, dass seine Hand unversehrt war, das Leder der Schiene ohne Makel. Langsam richtete sich der Novize auf, klamm vom Nebel und vom Schweiße nass, klebte ihm Hemd und Wams am Körper. Die Bilder in seinem Kopf - es war so real gewesen!

Argmin ließ seinen Blick über das Lager schweifen. Alles war ruhig, alle schliefen selig und mit dem Segen des Schweigsamen, bis auf einen der Gebirgsjäger, der neben ihrer provisorischen Mauer stand und Wache hielt und jetzt den Kopf drehte, als er hörte, wie der Novize sich regte, diesem kurz zu nickte und sich wieder abwandte.
Kühl war das Amulett der Leuin, als der Novize es umfasste und dann die andere Hand nach Wellenkamms Klinge streckte, die neben ihm lag, und still begann er zu beten.
“Heilige Rondragabund, Schutzherrin der Heilige Schwerter der Unbesiegten, behüte uns und halte Wacht über unseren Schlaf, wie die Berglöwin ihre Jungen behütet. Schenke uns Ruhe und Kraft für den nächsten Morgen und schütze uns vor dem Bösen und seinen Versuchungen.’ Dem Novizen aber antwortete Schweigen - und die Stille der Nacht.


Morgengrauen

Langsam färbte sich der Himmel im Rahja mit den Tönen zarten Rosenblüten, und kühle, frische Luft, mit der Ahnung des vorangegangenen, nicht weit entfernten Regens blies den Schläfern ins Gesicht. Es musste ungefähr die fünfte Stunde sein - und erstaunlich still war es den an das Lärmen der Vögel zu Sonnenaufgang gewohnten Ohren der Reisenden.
Doch hier, eine gute Wegstunde über der Baumgrenze, waren des Aves gefiederte Boten selten und der kahle Fels still.
Es war der Oberst, der zu dieser frühen Stunde seine Wache ableistete und mit einer Pfeife im Mund das Leuchten am Horizont betrachtete. Dwarosch liebte diese Stunden des Friedens, den Übergang von Nacht zum Tag, da der Nachrichten seine Wacht an den Götterfürsten abtrat - naja, zumindest wenn man dem Glauben der Menschen angehörte.
Für Dwarosch jedoch war es schlicht die Schönheit der Berge, ihre Erhabenheit, die ihn so sehr in ihren Bann zu schlagen vermochte. Sie war es, die das Herz des Zwergen in diesen Momenten stets zum Frohlocken brachte.
Grimmgasch wachte nach einer - wie für einen Angroscho üblich - traumlosen Nacht auf und rührte sich leise in seinem Schlafsack. Dann streckte er sich und kletterte aus der noch warmen Hülle.
Als er stand und sich die Augen rieb, sah der den Oberst, der über die Berge schaute.
“Euch einen guten Morgen!” grüßte er den alten Angroscho. “Ihr genießt den Ausblick über das Werk des Weltenschöpfers.” Er stellte sich neben Dwarosch und blickte über die sich unter ihnen erstreckende Welt.
“Ja, der Allvater hat es schon weise und vollendet eingerichtet.”
“Das hat er”, bestätigte der Oberst mit leicht verträumten Blick, nachdem seinen Mund eine Wolke des würzigen Qualmes seiner Pfeife verlassen hatte. Dwarosch wandte seinen Blick nicht von den Bergen ab, die im Morgenrot zu glühen schienen.
Um diese Idylle nicht weiter mit Reden zu zerstören, holte sich auch der Angroschgeweihte seine Pfeife aus der Gürteltasche, stopfte sie bedächtig und begann nach dem Anzünden ebenfalls einige Dampfringe in die Luft zu blasen.
Nicht viel lange Zeit später schob sich eine kleine, warme Kinderhand in die Pranke des Oberst. Mit großen Augen blickte Mirla ihn an, deutete auf die Pfeife und meinte auffordernd “Auch!”.
Marbolieb selbst schlief noch, dick zugedeckt unter ihrem Mantel und einer Decke, den Schlaf der redlich Müden.
Ein tiefes, sanftmütiges Lachen war die Antwort. “Nein Mirlaxa, das darfst du noch nicht”, musste der Oberst das Kind enttäuschen. Dwarosch beließ seine Pfeife im Mundwinkel und griff mit beiden Händen unter die Achseln des kleinen Mädchens, um es auf seinen Schoss zu heben. Er öffnete seinen Pelzmantel, den er für die kalten Nächte in den Bergen wie stets bei sich führte und legte die Enden über sie, so dass nur noch ihr Kopf herausschaute.
“Hast du Hunger?” wollte er wissen.
“Stück!” stimmte Mirla mit einem eifrigen Nicken zu, die genau wusste, wann es Zeit für einen vollen Teller war. Neugierig und noch immer hoffnungsvoll linste sie nach der Pfeife, die sich der Oberst in den Mundwinkel geklemmt hatte. “Anfassen, bitte?” forschte sie nochmal nach.
Dwarosch griff neben sich in seinen Rucksack und kramte ein großes, eingeschlagenes Stück Käse hervor, von dem er wusste, dass seine Ziehtochter ihn ebenfalls mochte.
Mit seinem Drachenzahn schnitt er zwei dicke Scheiben ab. Einen gab er Mirlaxa, den anderen steckte er sich selbst in den Mund. Die Pfeife indes nahm er dabei so in die Hand, dass er die Rauchkammer mit der Hand umschloss. so dass sie nicht in die Glut greifen konnte. Erst dann hielt er ihr das gute, aus Horn geschnitzte Stück hin.
Glücklich lachend griff das Mädchen mit der einen Hand nach dem Käse, von dem es glückselig abbiss, und mit der zweiten nach dem Mundstück der Pfeife, die sie interessiert befingerte und dann mit einem energischen Ruck ebenfalls an ihren Mund zog. “Auch pfeifen!” verkündete sie mit schelmischem Blitzen in den Augen.
Dwaroschs Kopf aber ruckte in diesem Moment vor und nahm Mirlaxas Ohrläppchen zwischen die Lippen. Mirlaxa zog derart liebevoll traktiert erschrocken den Kopf ein und ließ sich die Pfeife aus der Hand ziehen. Sie war viel zu überrascht.
Schnell legte der Oberst die noch leicht glimmende Pfeife auf Armesreichweite weg, so dass sich der kleine Wirbelwind schon ihm hätte entwinden müssen, um daran zu gelangen. Da Dwarosch aber nun alarmiert war, würde dies nicht geschehen.
“Dado!” beschwerte sich Mirla, den dicken Streifen Käse noch immer in der Hand, und äugte voller Faszination in Richtung der glimmenden Pfeife. “Auch.” Ein kleines Händchen fädelte sich in den dichten Bart des Zwergen und spielte mit einer kunstvoll verzierten Bartperle. Die riesigen, runden, tiefdunklen Augen des Kindes fingen den Blick des alte Oberst. Die Unterlippe ihres kleinen, roten Mündchens zitterte.
“Dado Pfeife, Mama Pfeife, Mirla auch pfeifen.”
“Nein Mirlaxa”, entgegnete der Oberst mit seiner tiefen und ruhigen Stimme, als wenn das kleine Mädchen nicht den Hauch einer Chance hatte seine Geduld überzustrapazieren.
“Und wenn du noch so schöne Sätze baust, wegen denen ich zugegebenermaßen sehr stolz auf dich bin, meine Tochter, aaaaaaber”, Dwaroschs breites Riechorgan berührte die kleine, spitze Nase des Mädchens, “du darfst dennoch nicht an der Pfeife ziehen.”
Die Unterlippe des kleinen Mädchens begann nun ernsthaft zu zittern, die Fingerchen gruben sich in den Käse und den prachtvollen Zwergenbart und ihre Augen wurden feucht. “Nicht Dado? Warum?”
Ganz offensichtlich hing das Herz der kleinen Mirla sehr an der Pfeife.
“Weil du von dem Rauch, der jetzt wo sie glimmt aus ihr herauskommt, nur würdest husten müssen Mirlaxa. Du bekommst die Pfeife wenn sie aus ist und ich sie gesäubert habe, so wie immer”, erklärte der Zwerg weiterhin unnachgiebig, während er sich ein weiteres Stück Käse in den Mund schob.
Das Kind zog einen Schmollmund und blickte den Zwergen nochmals mit bettelnden Augen an, ehe sie mit einem tiefen, resignierten Seufzer ihre Ärmchen um seinen Hals legte und sich an den alten Angroscho drückte, kräftig in ihren Käse biss und mit vollen Backen kaute. “Mehr essen.” verlangte sie.
Dwarosch aber lachte leise. “So kenne und liebe ich dich.” Sanft küsste der Oberst ihre Schläfe, während er einen Leib Brot aus dem Proviant kramte, um Mirla ein großes Stück herauszubrechen.
“Nimm und iss dich satt. Du wirst Kraft brauchen, sonst muss ich dich heute wieder so lange schleppen.”


Als einer der letzten erhob sich Argmin von seiner Lagerstatt. Er hatte nur schwer wieder in den Schlaf zurückgefunden, es war letztendlich die schwere Gedanken und ein erschöpfter Körper, die ihn hinab in die Dunkelheit eines unruhigen Schlummers gezogen hatten und als er müde seine Augen öffnete fühlte er sich kaum erholt. Schwer waren seine Glieder und nur schwer konnte er sich aufraffen. Der Traum und seine für ihn mangelnde Disziplin lasteten auf seiner Stimmung.
Bevor sie alle ihre Sachen in die Rucksäcke und Satteltaschen packten, suchte er die Nähe zu Marbolieb und zu Grimmgasch.
“Schwester, Bruder, ich brauche Euren Rat.” Ernst war sein Gesicht, als er sich hilfesuchend an die Boroni und den Angroschpriester wandte. Er schilderte ihnen in knappen Worte seinen Traum der letzten Nacht, von dem Mädchen und dem Wolf und dem Käuzchen. “Dieser Traum … er war anders. So wirklich. Ich fühle mich immer noch wie gerädert, wie als hätte ich den Kampf wirklich ausgetragen. Doch Träume und ihre Deutung sind mir fremd. Sagt mir, könnt ihr ihn deuten für mich?”
“Ich werde es gerne versuchen.”
Marbolieb hatte aufmerksam gelauscht, und nur bei der Nennung des Käuzchens war sie unmerklich bleicher geworden.
“Der Kampf mit dem Wolf könnte ein Zweikampf im Sinne der Frau Rondra sein, Argmin. Das wäre ein Zeichen, dass sie dir Ihre Aufmerksamkeit schenkt.” Sie schwieg einige nachdenkliche Atemzüge.
“Wie seht ihr dies, Bruder Grimmgasch?”
“Oh”, antwortete Grimmgasch nachdenklich, “Ihr wisst, dass das Träumen etwas ist mit dem wir uns Angroschim schwer tun. Daher ist es für mich auch nicht so einfach mit der Deutung der selbigen.
Aber es kann ein Zeichen dieser Art sein. Zumal ja auch unsere Queste im Zeichen der Götter steht und so vermutlich die Empfänglichkeit für solche Träume höher ist als sonst.”
“Das ist wahrscheinlich.” stimmte die Boroni zu.
“Das Kind ist ein Symbol für Hilflosigkeit.” Sie zog sich ungeschickt ihren vollen Rucksack über die Schultern. “Meine Vermutung ist, dass die Sturmherrin dich prüft. Dann wird das nicht der letzte Traum gewesen sein.”
“Rondra prüft uns ein Leben lang”, murmelte Argmin leise und mehr zu sich selbst.
“Träume sind für mich ein Mysterium, Marolieb, sie erscheinen manchmal so belanglos, manchmal so offensichtlich. Manchmal erlebt man sie als sich selbst, manchmal scheint man jemand anders zu sein, und wenn man aufwacht, weiß man, dass man geträumt hat. Aber dieser Traum war gänzlich anders. Er war so deutlich und klar… Und Deine Tochter? Dass Handlungen der Mädchen-Figur und die von Mirla sich so deckten?”
“Du kennst Mirla - vermutlich hat Dein Traum darum eine Form angenommen, die du wiedererkennen konntest. Das geschieht - Dwarosch ist sie auch bereits einige Male im Traum erschienen.” Mit einem liebevollen Lächeln tastete die zierliche Frau nach ihrer Tochter, die in Armesweite von ihr mit seligem Lächeln die struppige Mähne des Ponys streichelte, das sie später tragen würde, und strich ihrerseits dem kleinen Mädchen über seine seidigen, glatten Kinderhaare. Ihr Gesicht leuchtete auf, als würde es von innen ein Sonnenstrahl wärmen. “Dass der Traum so klar war, ist ein starker Hinweis, das er mehr war als ein nächtlicher Schatten.
Und dass sich Mirlas Handlung so sehr mit der des Kindes deckten und beide nach Deiner Hand griffen, zeigt, dass es dich führen wollte. Wohin und warum, das wird sich hoffentlich bald weisen.” Sie ließ versonnen ihre Finger noch einige Augenblicke auf dem Schopf ihrer Tochte, ehe sie ihre Hände wieder in die Ärmel ihrer Robe schob.
“Wenn Du magst, können wir die nächsten Abende zusammen beten und um weitere Fingerzeige bitten. Und selbstverständlich können wir die Träume besprechen.”
Was seine spannende Angelegenheit war, erzählte das Leuchten in ihren Augen.

Grimmgasch hörte fasziniert zu. Seitdem er angefangen hatte sich mit Marbolieb auf dem Weg nach Ishna Mur über Träume zu unterhalten, war er an diesem Thema interessiert. Ja, schließlich war ihm ja der Rückschluss gekommen, dass die Angroschim, wenn sie jemals träumten, ihre Träume für die Nachwelt in Stein festhielten. Und dieses würde vieles, was die Deutung der alten Stelen und Inschriften in den tiefen, uralten Bingen der Angroschim vielleicht klarer erscheinen lassen.
Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch in der Heiligen Halle in Xorlosch in der die ältesten der Stelen standen. Und die Geschichte darüber, dass sie nicht nur die Vergangenheit, sondern vielleicht auch die Zukunft der Angroschim zeigten.
Und auch, dass viele ihren Geist verloren hatten, wenn sie sich diesen Stelen zu lange und zu intensiv widmeten. Und vielleicht waren es gerade diese Stelen, die in ihrem Unverständnis nur die Träume längst vergangener Leben zeigten.
Und nun wieder dieses Träumen der Menschen, die scheinbar jede Nacht in ihre Träume entfliehen konnten.
“Ich höre euch gerne zu, wie ihr eure Träume deutet”, bemerkte er zu Argmin und Marbolieb. “Aber ich werde sie wohl kaum teilen können.” “Gräm dich darüber nicht, Grimmgasch, denn Träume sind nicht klar und ihr Sinn liegt nicht offen, sondern sind verworren und erklärungsbedürftig. Manche mögen einfach zu verstehen sein, von Vorfreude oder Sorgen geprägt, doch die meisten bleiben uns vage und unerklärbar ... Es sei denn, jemand vermag sie zu deuten.” Argmin sah wieder zu Marbolieb. “Dann werden noch mehr Träume folgen?” Das behagte dem jungen Mann ganz und gar nicht und er schluckte bei dem Gedanken an seinen Kampf gegen den Wolf, der sich in seinem Traum so real angefühlt hatte. “Ich danke Dir. So lass uns abends gemeinsam zum Ewigen beten, um Beistand und um Führung.”
Die Boroni schmunzelte. “Es wäre doch gelacht, wenn wir nicht zumindest eine Ahnung bekämen, was diese Träume aussagen sollen.” Das Lächeln ließ Marboliebs Augen aufleuchten. “Außerdem bin ich neugierig, Argmin.” bekannte sie mit fröhlicher Stimme.
“Auch mich treibt die Neugier, Freund Argmin!” fügte der Angroschpriester hinzu. “Wenn diese Deine Träume mit unserer Pilgerreise in Verbindung stehen, dann musst Du uns auf jeden Fall im auf dem Laufenden halten.
Oh, manchmal wünschte ich mir auch zu träumen!”

“Das solltest Du nicht tun, Bruder Grimmgasch.” Die Stimme der kleinen Geweihten war sanft, doch nichtsdestotrotz entschieden. “Bittet nicht um einen Traum aus Neugier - ihr würdet würdet es bereuen. Sprecht mit Oberst Dwarosch.” empfahl sie.
“Ihr wisst so viel über Träume, Schwester”, nickte der Geweihte. “Wenn Ihr mich warnt, dann werde ich meinen Wunsch lieber zurück stellen.
Aber ich werde auch Euren Rat befolgen und den Oberst fragen …”

Der junge Angroscho wandte sich dem Oberst zu, der ein wenig abseits der Gruppe stand und fragte ihn: “Meister Dwarosch, wenn wir uns heute auf den Weg machen, mögt Ihr mir etwas über Eure Träume erzählen?
Schwester Marbolieb meinte, dass Ihr schon häufiger geträumt habt. Etwas was unter uns Angroschim ja eher selten ist.”
“Gern Grimmgasch”, entgegnete Dwarosch. “Träume sind mir bereits in drei unterschiedlichen Formen widerfahren. Da gab es die finsteren Eingebungen, die mich nach der Trollpforte des Nachts heimsuchten. Alpträume, wie sie geheißen werden.
Von derlei Schrecken befreite mich Marbolieb durch die Kraft ihres Gottes. Sie hätten mich wohl irgendwann in den Tod getrieben.” Dwaroschs Blick schweifte nachdenklich zur Geweihten, bevor er weitersprach.
“Tagträume hingegen habe ich bereits fast mein ganzes Leben lang, selten - oft mit mehreren Jahren Abstand, aber sie sind besonders einprägsam, weil man bei vollem Bewusstsein ist. Den letzten hatte ich auf dem Schlachtfeld vor den Toren Mendenas. Es war Nacht, wir hatten unter hohen Blutzoll gesiegt. Überall war der Rauch der schwelenden Feuer der Stadt. Es roch nach Blut und Exkrementen. Der Mantikor lief an meiner Seite über den verbrannten Boden, an all den Toten vorbei. Ich spürte SEINE Präsenz, ich roch seinen fauligen Atem. Nie werde ich diesen Moment vergessen.”
Die letzten Worte hatte Dwarosch fast geistesabwesend gesprochen. Die Schilderung dieses Tagtraums, den man wohl auch Vision nennen konnte, hatte noch sehr lebendige Erinnerungen im Oberst geweckt.
“Aber auch mir ist Mirlaxa schon im Traum begegnet”, fügte er nach einer Weile wieder gefasst an. “Habt Dank”, bedankte sich Grimmgasch mit einem Neigen des Kopfes. ”Es klingt als wären Träume für uns Angroschim fast immer mit einer finsteren Aura umgeben …
Ich muss über Euer Gesagtes nachdenken.”

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.
“Wenn ich meine Gedanken geordnet habe, darf ich Euch dann weitere Fragen zu diesem Thema stellen?”
“Gern Grimmgasch”, sprach der Oberst zu Antwort, hatte aber auch noch eine Anmerkung zu machen.
“Mirlaxa war mir in meinen Träumen wie eine Führerin in der Dunkelheit.
Wir Angroschim, aber auch die meisten Menschen, sind verloren in unseren Träumen, außerstande sie ‘zu beeinflussen’. Doch es gibt die, die durch die Traumwelten wandern, fast wie durch das, was wir die Wirklichkeit nennen.”
Der Oberst ließ eine kurze Pause entstehen, dann fügte er an: “Marbolieb kann euch mehr davon erzählen, ich weiß lediglich um diese genannten Umstände.”
Grimmgasch nickte dankend, stellte aber keine weiteren Fragen. Es war für Dwarosch nicht klar, ob er nicht weiter in ihn dringen wollte oder ob der Priester mit seinen Angaben überfordert war.

Argmin hatte sich über das Thema bisher nur wenig Gedanken gemacht und er wusste nicht, ob er Marbolieb zustimmen sollte. Er hatte zwar von Kriegsveteranen gehört, die das erlebte Grauen den Rest ihres Lebens mit sich herumschleppten, und die nachts schreiend und um sich schlagend aufwachten, geplagt von schrecklichen Bildern und Erinnerungen. Aber die meisten seiner Träume waren entweder nichtssagend und wirr oder von angenehmer Art, wobei Träume die Eigenschaft hatten, dem Gedächtnis zu entwischen, wie Wasser aus einem Sieb.
“Ich werde Dir und Grimmgasch gern alles erzählen, was mir in den Träumen widerfährt, Marbolieb, auch wenn ich gestehe, dass ich hoffe, das nicht jeder Traum so intensiv sei, wie der von letzter Nacht.” Er sah zu seiner Linken, die sich noch immer leicht pelzig anfühlte, dann blickte er zu Grimmgasch und Dwarosch hinüber, die ein paar Schritte abseits standen. “Angroschim haben wohl eine andere Art zu …” Er wollte fortfahren, aber die letzten Worte von Dwarosch über Mirla, die der morgentliche Wind zu ihm und Marbolieb herübertrug, ließen ihn innehalte. “... träumen…” vollendete er abwesend seinen Satz.
“Das ist so.” stimmte Marbolieb zu.
“Sie sind der Erdkraft viel stärker verwurzelt als Menschen - vermutlich kommt daher ihre längere Lebensdauer. Doch auch die Stärke ihres Geistes, der sich weniger zu lösen und nur schwerer auf eine Traumreise zu gehen vermag. Ihre Träume fühlen sich auch anders an - ohne dass ich euch genau beschreiben könnte, worin der Unterschied ganz genau liegt.”
Sie schmunzelte und lauschte auf die Geräusche des Lagers. “Es scheint, als würden wir bald aufbrechen. Bist du bereit?”
Er hatte Träumen bisher kaum Beachtung geschenkt und Visionen bisher für göttliche Nachrichten für Kirchendiener weit über seinem Rang gehalten. Und nun war er hier, auf einer kleinen Pilgerreise zu Ehren dreier Götter, im Hochgebirge, und träumte von Wolf und Kampf und einem kleinen Mädchen, während er in Gesellschaft einer Traumdeuterin und von Nicht-Träumern und einem Träumer unter Nicht-Träumern wanderte.
Es dauerte einen Augenblick, in dem Argmin weiter zu Grimmgasch und Dwarosch blickte, dann er sich der Boroni zu. “Ja, gewiss….” Die Worte waren leise und gedankenabwechsend gesprochen.

Über die Grenze

Nach einigen weiteren Tagen erreichte die Gruppe die Grenze zu Rabenstein - und bewegte sich damit wieder auf einem manchmal sogar kenntlichen Trampelpfad, der aber das Fortkommen nicht deutlich schneller machte. Selbst jetzt im Hochsommer war der Weg durch das Hochgebirge bestenfalls schwierig und ließ sich nur durch die Ortskenntnis der Gebirgsziegen einigermaßen sicher und zielgerichtet bewältigen.
Dennoch war der Wechsel zwischen steilen Anstiegen und fast noch schwierigeren Abstiegen für Mensch, Zwerg und Tier sehr fordernd. In den Bergen hinter Ishna Mur sammelte sich ein Wolfsrudel in der Umgebung der Reisegruppe, das sie zu begleiten schien und nachts nicht weit vom Lagerplatz der Reisenden sein schauerliches Geheul anstimmte.
Die Grenze nach Rabenstein markierte ein Steinstapel an einer Seite des Weges … vielleicht, denn solch ähnliche Haufen hatten den Weg schon an der einen oder anderen Stelle markiert.
Ein Großteil der Strecke verlief oberhalb der Baumgrenze, und so begrüßten die langsam wieder höher wachsenden Bäume, die den entschlossenen Firunshauch, der selbst im Sommer von den nicht weit entfernten Firnmatten der hohen Bergriesen kündete, mit ihrer willkommenen Deckung die müden Wanderer. Der kaum wahrnehmbare Trampelpfad wand sich in weiten Serpentinen gen Tal, bis er schließlich, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, eine einfache Schutzhütte, erstes Zeichen von menschlicher Besiedlung seit mehreren Tagen, erreichte. Unter dem weit heruntergezogenen Dach der kleinen Hütte wartete ein Stapel Brennholz auf die erschöpften Reisenden. Eine grobe Bohlenbank vor dem Haus blickte hinab ins Tal, und der Innenraum wies einen gemauerten Herd, mehrere Strohsäcke im Obergeschoss und einen groben Tisch mit zwei Bänken auf - nicht mehr, doch genug, um eine sichere Übernachtung zu gewährleisten. Ein grob gezimmerter Anbau bot für zwei, vielleicht drei Reittiere Platz, und ein schmaler Bach direkt neben der Hütte verhieß frisches Wasser. Einen weiteren Traum indes hatte Argmin nicht erfahren.

Grimmgasch überließ den Gefährten die Wahl der Strecke und wusste, dass er sich auf den Orientierungssinn seiner Gefährten verlassen konnte. Trotzdem war er ein wenig irritiert, den er wusste das Gratenfels im Norden der Nordmarken lag, sie aber seit Tagen immer weiter nach Süden gingen und jetzt nur ein paar Steinwürfe an ‘seinem’ Tempel vorbei gekommen waren.
Aber das drohende Unwetter das sich vor Tagen gezeigt hatte, war nur eine Drohung geblieben und so war das Wandern nicht so schlimm, nur dieses ständige Hoch und Runter strengte ihn schon an und so freute er sich, dass sie in dieser Nacht wohl etwas bequemer schlafen würden als die letzten Nächte.
Nachdem er sich einen Schlafplatz gesucht hatte und dort sein Gepäck abgelegt hatte, setzte er sich auf die Bank vor der Hütte, streckte seufzend die Füße aus und genoß den Blick ins Tal und den Untergang der Praiosscheibe mit einem frisch gestopften Pfeifchen.
Marbolieb hatte den Bach erfreut begrüßt und kühlte sich, nachdem sie sich versichert hatte, dass Mirla in guten Händen war, mit einem glücklichen Lächeln ihre Füße. Nach dem langen Tagesmarsch war dies eine reine Wohltat - und verschaffte ihr einige stille, ungestörte Augenblicke, in denen sie das ganze Getriebe - einschließlich des willkommenen, aber anstrengenden Erzählens ihrer kleinen Tochter - hinter sich lassen konnte.

Sie saß auf einem bemoosten Stein, hörte das Rauschen der Nadelbäume über sich und schnupperte den Duft von Nadelwald in der Sommersonne - ein kleiner, nahezu perfekter Moment des Friedens.

Nachdem die Pfeife ausgebrannt war, machte ein leises Knurren in der Magengegend den Angrosch darauf aufmerksam, dass es nun an der Zeit sei, das Abendessen zu sich zu nehmen. Also stand er von der Bank auf, grüßte noch einmal die untergehende Sonne und ging wieder nach innen, wo er hoffte, dass die emsigen Begleiter des Oberst vielleicht schon ein Mahl bereitet hätten.

Und tatsächlich, gemeinsam mit ihrem Befehlshaber waren die Soldaten dabei ein Mahl aufzutischen. Das was der Priester erblickte sah üppiger aus, als auf ihrer bisherigen Reise. Anscheinend freuten sich die Bergziegen auf den gemeinsamen Abend, der den bisherigen Reisealltag unterbrechen würde. Es würde Brot, Käse, Hartwurst und auch unterwegs aufgelesene Früchte geben, die sie gesammelt hatten, als sie noch unterhalb der Baumgrenze marschiert waren. Zudem hing ein gusseiserner Topf über der Feuerstelle der Berghütte. Es roch angenehm nach Brühe und sich darin befindenden Kräutern.
Dwarosch war gerade dabei Käse zu schneiden und schob Mirla, die auf der Tischkante saß, augenzwinkernd ein Stück in den Mund, als Grimmgasch eintrat. “Ah”, sagte der Oberst, da er den Geweihten erblickte und hielt kurz in seiner Arbeit inne. “Sei so gut und rühre einmal die Suppe um und schmeck’ sie ab. Salz und Pfeffer stehen auf dem Sockel der Feuerstelle”, bat er Grimmgasch.

“Nun”, meinte dieser. “Das kann ich machen, aber beklagt euch nicht, wenn es euch zu fad oder zu scharf wird. Der Allvater hat mir so manche Fähigkeit gegeben, aber Kochen gehört nicht unbedingt dazu.”
Er ging aber wie ihm geheißen zum Feuer und versuchte die Suppe - nach seinem Geschmack - zu würzen. Nach einigen Löffelvoll, die er probierte, und mehreren vorsichtigen Nachwürzversuchen war er mit dem Ergebnis zufrieden und nickte glücklich.
“Ich glaube, dass ist jetzt gut so!” verkündete er in die Runde und füllte die bereitstehenden Schale mit der heißen Suppe und gab sie an die Mitreisenden weiter.

“Gut, wir sind auch fertig”, verkündete der Oberst, nachdem er seinen Blicke einmal über den Tisch hatte schweifen lassen. “Setzt euch”, forderte er Grimmgasch, ebenso wie seine Männer auf, während Argmin nun ebenfalls gerade von draußen hereinkam.
Dwarosch griff unter die Arme seiner Ziehtochter, die noch immer auf dem Tisch saß und katapultierte sie einmal in die Luft, nur um sie wieder aufzufangen und dann glucksend an eines der Enden der Sitzbank zu platzieren.


Er selbst ging hinüber zur Feuerstelle und nahm den Topf vom Haken, nachdem er seine Hand mittels eines Lappens vor dem heißen Gusseisen geschützt hatte und stellte das bauchige Gefäß mittig auf dem Tisch ab, wo vorsorglich Platz gelassen worden war.


“Argmin, mögt ihr Marbolieb hereinrufen?”, bat er den Diener der Leuin, bevor er den inzwischen reduzierten und dadurch leicht zähflüssigen Inhalt des Topfes noch einmal umrührte. Der Oberst wollte es sich anscheinend nicht nehmen lassen die Suppe selbst zu verteilen.
Argmin hatte sich in einen freien Platz abseits der Hütte gesucht und die Zeit bis zum Sonnenuntergang sich der Meditation und dem Schattenkampf zu widmen. Die Beinmuskeln und sein Rücken protestierten zwar gegen die zusätzliche Belastung, doch er brauchte diese Rituale, um den Kopf frei zu bekommen. Die Wanderung ließen den Gedanken viel Freiraum sich zu drehen und zu verwirren und abzuschweifen und er war dankbar, Wellenkamm in seinen Händen zu spüren und sich der Huldigung der Sturmbringerin zu widmen. Als die Praiosscheibe sich anschickte, die Gipfel zu berühren und den Tag der Nacht zu überlassen, fühlte er sich körperlich angenehm erschöpft, aber im Geiste frei und kehrte zufrieden zur Hütte zurück.
Der Duft des Abendessens hieß ihn willkommen und das kurz aufflammende schlechte Gewissen hielt sich in Grenzen, da er wusste, dass er bei der Zubereitung eines Mahls nur von eingeschränkter Hilfe wäre, da half er lieber beim Abräumen und Abwaschen.

“Gerne”, antwortete er auf die Bitte des Oberst und ging, nachdem er Wellenkamm neben der Tür an die Wand gelehnt hatte, wieder nach draußen, um nach der Boroni zu sehen.
Als er die junge Frau am Bach sitzen sah, hielt er inne. Das Plätschern des Baches, der Geruch der Natur, das warme goldene Licht der Abenddämmerung - ein Bild, das für das Lied eines Barden würdig gewesen wäre, und er spürte einen Anflug von Kummer, es zu stören. Bewusst trat er auf einen trockenen Zweig am Boden, der unter seinem Stiefel brach, um sich anzukündigen, und sprach die Boroni an. “Marbolieb …” Er zögerte kurz und fuhr dann fort. “Die Angroschim haben das Abendessen zubereitet.”

Die Geweihte fuhr aus ihren Gedanken auf, als das Knacken des Astes ertönte, und wandte sich in Richtung des Geräusches. Der kleine Bach murmelte und plätscherte, brachte Nachrichten aus dem Gebirge und eiskaltes Wasser mit sich zu Tal. Weiter unten, an der Flanke des Berges, würde er sein Wasser mit dem der Niacebra vereinigen und gen Firun, dem großen Fluss, entgegenstürzen. Marbolieb zog ihre Füße aus dem Wasser und wandte sich dem Ankömmling zu. “Argmin.” lächelte sie, als sie die Stimme erkannte.
Es hätte auch jemand anderes sein können.

Die Sonne fiel auf ihre leicht gebräunte Haut und spielte auf den klaren Zügen der jungen Frau, ein Bild aus Licht vor den dunklen Ästen der Tannen.
Die junge Geweihte suchte nach ihren Schuhen, in denen dicke Socken steckten, nahm sie in eine Hand und begann, sich ungeschickt aufzurappeln.
“Hab’ vielen Dank.”
Sie hatte Hunger. Und ihr war, trotz des eisigen Wassers, wohlig warm vom so willkommenen Licht der Sonne.
Argmin wartete, bis die Boroni auf ihren Füßen stand und widerstand dem Drang, ihr zu helfen. Als Marolieb den ersten Schritt auf ihn zu machte, trat er jedoch nah an ihre Seite und reichte ihr seinen Arm. “Darf ich Euch geleiten, werte Dame?” fragte er lächelnd.
“Ich kam heute morgen nicht umhin zu hören, dass Dwarosch Grimmgasch gegenüber erwähnte, dass auch ihm Deine Tochter im Traume erscheinen sei. Sag, Marbolieb, kann Mirla die Träume von anderen sehen und besuchen?”
Mit einem dankbaren Lächeln ergriff Marbolieb den Arm des Novizen, ihre Schuhe und Socken in ihrer freien Hand.
“Ich weiß es nicht.” antwortete sie, ernster geworden, ihr Lächeln nur noch ein Schatten auf ihren ebenmäßigen Zügen.
“Sie wäre sehr, sehr jung dafür. Die Träume von ihr, die ich gesehen habe, sind kleine, begeisterte Kinderträume. Nicht mehr.”
“Dann kannst Du die Träume deiner Tochter sehen?” Die Geweihte nickte, schwieg aber, ihre Finger leicht auf dem kräftigen Arm des jungen Novizen.

Sie erreichten die kleine Hütte. Die Praiosscheibe war nicht mehr zu sehen, doch ihre letzten Strahlen tauchten die fernen Gipfel in warmgoldenes Licht. Argim griff zur Türklinke, um Marbolieb die Türe zu öffnen, hielt dann inne und fragte: “Kannst Du auch … andere Träume sehen?”

“Natürlich.” Diesesmal wärmte ein Lächeln die Stimme der blinden Frau. “Und sie betreten, sollte es notwendig sein.”.
Der Novize öffnete die Türe weit für die Boroni. “Bitte sehr, nach Dir.” Er blickte ihr nach, wie sie selbstsicher den Raum betrat und ihren Weg an den gedeckten Tisch fand. Er nahm sich vor mit ihr zu reden, sollte er einen weiteren, so realistischen Traum erleben.
Seine Finger berührten das Medaillon um seinen Hals. Das waren Dinge, von denen Schwertschwester Bodia nie gesprochen hatte. Dinge, die mit rationalen Geist nicht verstanden und mit harten Training nicht bezwungen werden konnten. Dinge, die ihm ein mulmiges Gefühl gaben.

Nachdem alle Schalen verteilt waren, nahm der dann am Tisch Platz und blickte den Oberst fragend an: “Meister Dwarosch, was meint Ihr, können wir hier alle heute Nacht zur Ruhe kommen oder müssen wir wie in den letzten Nächten Wachen aufstellen?”
Grimmgasch fühlte sich auch ohne Wachen im Schutz der Hütte deutlich mehr geborgen als nur von einer im Wind flatternden Zeltplane geschützt.
“Die Wachdienste bei Nacht bleiben wie bisher und sei es nur damit die Männer im Rhythmus bleiben. Es werden weitere Nächte im Freien folgen, deswegen ist es sinnvoll die Routine zu erhalten”, erklärte der Oberst.
“Wir Ruhen jede Nacht ausreichend lang, so dass meine Männer selbst mit ihren Wachdiensten ausreichend schlaf kriegen.” Dwarosch grinste. “Glaubt mir, im Felde gönne ich ihnen und mir bedeutend weniger Ruhe.”
“Nun da vertraue ich ganz Eurer Erfahrung, Meister Dwarosch”, bekräftigte der junge Geweihte und wartete darauf wie der Oberst die Wachen einteilte und ob auch er mit von Nöten sei.
Doch diese ‘Befürchtung’ sollte nicht eintreten. Die vier Bergziegen bildeten wie bisher zwei der Nachtwachen, Dwarosch und Grimm die letzte zum Morgen hin.
Auf Rückfrage, ob man diese Einteilung nicht einmal ändern wolle, winkte der Oberst ab. Sein Kommentar aber verriet Grimmgasch zwischen den Zeilen, dass es Dwaroschs Absicht war den drei Götterdienern die Reise so angenehm wie möglich zu gestalten, so dass sie so viel Zeit wie möglich zur Kontemplation erhielten, da dies wohl nach seiner Vorstellung dem Ziel der Pilgerreise zuträglich war.

Der Abend brach herein, jäh, so wie es üblich war hoch in den Bergen. Wenige Wolkenschleier hingen über den Himmel gespannt, durch die Phexens Geschmeide auf seinem tiefschwarzen Umhang geheimnisvoll blinkte.
Die Geräusche des Tages wichen dem Konzert der Nacht, und das Rauschen der Bäume sowie das Plätschern des Baches wurden lauter in dem Maße, wie die Stimmen des Lichtvolkes verklangen.
In einem Baum unweit der Hütte brummte ein Ziegenmelker, wuchs vom Schnurren einer Katze zum Knarren eines Mühlrades und wieder zurück. Wie sich das Tier derart weit ins Gebirge verirrt hatte, blieb fraglich.
Die Ponys hatten im Schuppen Platz gefunden, dessen Tür fast so fest schloss wie die der Hütte, auf die jemand eine tote Eule genagelt hatte.
Unabhängig von dem grausigen Schmuck aber waren Wände, Läden und Tür aus äußerst massiven Holzbohlen gefertigt, die auch einem augewachsenen Sturm würden Stand halten können.

Mehr und mehr ergriff die Stille von der kleinen Hütte und ihren Bewohnern Besitz. Eine angegriffene Stille, versuchten sich doch die Angroschim im Schlafe daran, dem umgebenden Wald endgültig den Garaus zu machen.
Nicht weit vor der Hütte erklang das Heulen des Wolfsrudels, laut und nah, so, als hätten die graubefellten Jäger die Hänge rund um die Schutzhütte besetzt.
Aufgeregt schnaubten die Lasttiere in ihrem Verschlag, der Präsenz ihrer Todfeinde wohl gewahr.

Argmin fuhr auf. Durch die Läden fielen schräg die Lichtfinger des fahlen Vollmondes auf die Schläfer, undeutliche Schemen nur unter ihren Decken.
Doch einer fehlte. Der kleinste.
Die scharfen Ohren hatten den Novizen nicht getrogen.
Leise Schritte huschten über die Treppe nach unten, und das Quietschen und widerstrebende Knarren der schweren Eingangstür gaben Aufschluss darüber, wohin die Flüchtige entschwunden war.

Der Novize kniff die Lider fest zusammen, bis weiße Blitze vor seinen Augen tanzten, doch der Schlafplatz von Mirla neben dem des Oberst blieb leer. Kurz überlegte er, Dwarosch zu wecken, doch entschied sich, erst einmal nach dem Rechten zu sehen. Leise erhob er sich von seinem Lager, nahm Stiefel und Wams und eilte zur Treppe. Im schwachen Schein des im Herd glühenden, heruntergebrannte Feuer zog er sich an und öffnete dann die Türe nach draußen. Der bleiche Schein von Phexens Schätzen zauberte einen silbernen Schimmer auf die friedliche Welt. War er wach oder träumte er wieder? ‘Aber spielt das eine Rolle?’, fragte er sich und trat nach draußen in die Kühle der Nacht. Argmin blickte nach rechts und links und suchte nach der Wache, auch wenn er wusste, dass die Bergziegen es nur allzugut verstanden, mit der Umgebung ungesehen zu verschmelzen. Ein Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

Das Lachen eines Kindes und das Patschen von nackten Füßen auf dem Staub und Fels des Trampelfades drang an seine Ohren. Von weit fort drang das Geräusch, am Saum des Waldes, schon unter der finsteren Umarmung der uralten Föhren und dunklen Tannen. Ein unwirkliches Spiel aus tiefer Schwärze und dem fahlen Hell des Mondes.
Nur der Rest von Zwielicht blieb unter den Bäumen, gerade genug, eine Bewegung am Rand seines Blickfeldes auszumachen. Nicht genug für die Gestalt als solche.
Der Wald schwieg mit angehaltenem Atem.

Der Novize eilte sich und lief schnellen Schrittes den Pfad hinunter, bis das Dunkel der Bäume ihn empfing und seine Bewegungen langsamer und bedächtiger wurden. Schwarz und weiß, wie ein Gemälde ohne Farbe, wie die Skizze im Block eines Malers, standen die Bäume still und ihre Wipfel stumm umsäumt vom Licht des Madamals.
Argmin lauschte und versuchte das dämmrige Licht mit seinen Augen zu durchdringen, doch alles blieb unscharf, unfertig, nichts ließ sich klar mit dem Augen fassen. Da! Das Kinderlachen! Argmin drehte sich, folgte und suchte seinen Weg weiter in das Verschwommene zwischen den Stämmen und Ästen des Waldes.

Auf einer kleinen Lichtung sah er das Mädchen in einem einfachen, weißen Linnenhemd, das im fahlen Licht des Mondes hell leuchtete. Das Kind blieb stehen, blickte ihn an, und winkte ihm lachend zu, ehe es sich umdrehte und weiterlief. Rasch schluckte es die Dunkelheit unter den Bäumen, und wenige Herzschläge später erreichte auch der Novize mit langen Schritten den Saum des Waldes. Eine Bewegung zu seiner Seite offenbarte eine massige graue Wölfin, ihr Fell silbern im Schein des Madamals, die mit einem kraftvollen Sprung aus dem Wald an den Rand der Lichtung kam und mit geschmeidigen Bewegungen einen aus dem Boden ragenden Fels erklomm, den Weg zwischen Argmin und Kind versperrend.
Mit leuchtenden Augen wandte sich das Tier zu dem jungen Mann, und aus ihrer Kehle drang ein tiefes, bedrohliches Grollen. Argmin eilte sich, Wellenbrecher zu ziehen, doch seine Hand griff ins Leere! Es blieb auch keine Zeit, die Klinge zu holen, zu nah war das Tier, zu gefährlich ihm den Rücken zuzuwenden. Keine Zeit, darüber nachzudenken. Keine Zeit, um Möglichkeiten abzuwägen, zu groß war die Gefahr für das Kind, wenn er zauderte. So blieb ihm nur eines: seinem Herzen und dem Weg der Leuin zu folgen - vorwärts. So schritt er los, seine Stiefel fanden sicheren Halt im feuchten Waldboden. Sein Blick hielt dem der Wölfin stand, deren gelben Augen starr auf ihn gerichtet waren. Fangzähne, weiß und hell, im Dunkel der Nacht. Es war ein wunderbares Tier, groß gewachsen, an mächtige Gestalt, die Herrin der Jagd und des Waldes.
Argmins Körper wollte zagen, zögern, wollte sich widersetzen, doch er widerstand dem Drang, sich umzudrehen und sein Heil in der Flucht zu suchen, denn er wusste, das wäre sein Tod und der des Mädchens gewesen, wenn er sich abwenden würde und der Jägerin den Rücken zuwenden würde. So zwang er sich, einen weiteren Schritt zu machen und spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, wie seine Sehnen sich spannten.

Die Wölfin knurrte, ihre leichten Beute betrogen. Die lodernd gelben Augen des Tieres bohrten sich in die des Novizen. Argmin sah, wie sich heller Geifer von den dolchscharfen Fangzähnen des Tieres löste und langsam zu Boden rann. Das fahle Fell der Jägerin sträubte sich, ließ das geschmeidige Tier wuchtig scheinen und verlieh ihm zusätzliche Masse.
Ohne den Blick von Argmin zu wenden, spannte sie ihre Muskeln zum Sprung.
Die Zeit gerann, und der rasende Herzschlag des jungen Mannes wurde zu einem kraftvollen, gemächlichen Trommelschlag. Die kalte Nachtluft, eine Ahnung vom ewigen Firn auf den Kappen der uralten Berge, drang in seine Lungen, brachte den Geschmack von Stillstand, Zeit und Ewigkeit im erbarmungslosen Frost mit sich. Das Rauschen der gewaltigen Tannen nicht mehr als ein gleichmäßiger Fluss unter dem Klopfen seines Herzens, der federnde Waldboden weich, feucht und nachgiebig unter seinen Füßen.
Geschmeidig löste sich das Tier von dem Felsen, ihre Zehennägel ein Klicken auf dem harten Untergrund, flog durch die Luft wie ein Speer aus der Hand des Werfers - und nicht einen Herzschlag später kollidierte ein wuchtiger, nach Raubtier stinkender Körper, der nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen schien, mit dem Brustkorb Argmins und riss diesen in einem Knoten aus Mensch und Tier zu Boden.
Die Zeit, die sich wie ein zäher Teig gedehnt hatte, schrumpfte und riss und wurde zu einem hastigen, wilden Getümmel aus schwerem Atem, Knurren und Zähnen, die nach der Kehle Argmins schnappten.
Unter dem ersten Baum, fast ganz im Schatten, stand ein kleines, dunkelhaariges Kind und musterte das Geschehen mit stillen, großen, tiefdunkeln Augen, fast ein Spiegelbild der Haltung des Käuzchens auf dem Ast über ihr.
Verzweifelt wehrte sich Argmin, sein Gesicht nass vom Geifer der Bestie. Seine Rechte war in die Kehle der Wölfin gekrallt, versuchte ihren Kiefer fernzuhalten, die Zähne schnappten mit einem hässlichen Klacken vor seiner Nase zusammen. Ihr Taumeln und Ringen wurde durch den Findling zu einem Ende gebracht, die Wölfin lag halb unter ihm, ihre Pranken hämmerten und fetzten gegen seine Brust, zerfetzten sein Wams, zerrissen seine Haut und seine Muskeln, Schmerz nahm ihm durch weiße Blitze die Sicht, als die Klauen tief in sein Fleisch schnitten und bis auf seine Rippen hieben. Seine Kraft schwand, aber er ließ nicht los, hielt fest, zwang seine Finger sich weiter zu schließen, spürte den harten Knorpel nachgeben, spürte ein Knacken. Das Biest jaulte kurz auf, ihr Kopf ruckte wild hin und her, riss sich los von ihm. Argmins Körper wurde unter der Gewalt der Hiebe umhergerissen wie ein Spielzeug, flog zur Seite und blieb benommen liegen, versuchte sich aufzurichten, brach zusammen, zu schwach, sich zu rühren. Durch den verschwommenen Schleier sah er die Wölfin hoch über ihm aufgerichtet, die Lefzen entblößten das Raubtiergebiss. Er schnappte nach Luft, sog gierig die kühle Luft ein, ein letzter Atemzug und machte mit sich seinen Frieden. Er hatte es versucht. Und verloren. Es war ein guter Kampf gewesen. Für eine gute Sache. ‘Heil dir, Himmelsleuin.’ Dann schloß Argmin die Augen.
Scharf und brennend spürte er, wie die dolchscharfen Zähne der Wölfe in das empfindsame Fleisch seiner Kehle drangen, und seine Sinne verschwammen zu hellem Licht.

Aus den Schlieren formte sich die Gestalt der Wölfin.
Ein Brausen wie von Sturmwind erfüllte die Ohren des jungen Mannes, und sein Blick wurde klar.
Unbeschadet und mit glattem Fell stand das Tier auf dem Felsen, einen Schritt über der Gestalt des Novizen, und um ihr Fell, fahl im Licht des Madamals, züngelten geisterhafte Flammen.
Aus glühenden Augen blickte das gewaltige Wesen Argmin an und in seinem Geist donnerte eine Stimme, mehr gefühlt denn gehört: “Würdig hast Du gekämpft, selbstlos Dich geopfert.
Deine Aufgabe sei der Schutz der Schwachen gegen alle Unbill, die ihnen widerfahre.”
Der Widerhall der Worte fand sich im donnernden Herzschlag Argmins, erfüllte ihn bis in den letzten Winkel seines Geistes. “Es sei!”

Lachend hüpfte das kleine Mädchen unter den Bäumen hervor, das Käuzchen auf seiner Schulter, legte eine Hand auf die Pfote der Wölfin, die es aus flammenden Augen betrachtete. Das Kind beugte sich zu dem am Boden liegenden Novizen.
“Komm!”
Das Mädchen lächelte über sein ganzes feines, glattes Kindergesichtchen, und streckte dem Novizen die Hand entgegen. “Wir wollen das so.”
Die kleine Eule schlug mit den Flügeln, ihre weises rundes Gesicht eins mit der zeitlosen Stille der Nacht. Aus ihrem Gefieder löste sich eine Feder, ein stilles Gespinst unter dem Licht des Madamals, loderte auf in den Flammen, die auch die Wölfin umgaben, und sank auf die bloße Klinge des Schwertes an Argmins Seite, worauf der Wölfin und Feder Lohe aufleuchtete, flammend auf dem getriebenen, polierten Stahl.

Kalt strich die Nachtluft über die schweißbedeckte Haut des Novizen. Schmerzhaft bohrte sich eine Wurzel in seine Wange und drückte gegen seinen Hals.
Seine tastenden Finger gruben sich in den Waldboden, ertasteten die vertrauten Formen von Wellenbrechers Heft. Auf der blanken, glänzenden Klinge spiegelte sich noch immer der goldene Feuerschein einer zarten, verglühenden Feder.

“Komm!”
Mit großen, ernsten, dunklen Augen saß Mirla neben Argmins Kopf, schob überlegend einen Daumen in ihr Mündchen und streckte dem jungen Mann ihre andere kleine, weiche und etwas klebrige Hand entgegen.

“Heim.”

Argmin drückte sich mit der mit den Händen noch oben, erst auf die Ellenbogen, dann auf die Knie. Er brauchte einen Augenblick, bis sein Blick wieder klar war, derweil tastete er nach seinem Hals, dort, wo die Wölfin ihn gepackt hatte, zog die Finger zurück und suchte im Schein des Madamals nach roten Schlieren seines Blutes, doch seine Finger waren trocken.
Sodann griff er stirnrunzelnd nach Wellenbrecher, das vertraute Gewicht der Klinge schenkte ihm augenblicklich Vertrauen. Hatte er die Klinge nicht neben der Türe abgestellt und dort gelassen, als er eilig die Hütte verließ, dem Kinde hinterher?
Er drehte und wendete die Schneide, das Glühen blieb, ein schwacher Widerschein, ein Schimmern im Dunkel des Waldes. Schließlich ergriff der Novize vorsichtig Mirlas Hand und und sah ihr in die Augen, betrachtete ihr Gesicht, da sie war da. Er spürte ihre kleinen Finger, sah das Glänzen der Sterne in ihren Augen, spürte die Wärme des kleinen Körpers in der Kühle der Nacht.
Er wandt den Kopf, suchte zwischen den Bäumen nach der Bestie, nach dem anderen Mädchen, nach der Eule, nach Spuren des Kampfes, doch das Madamal legte nur seinen friedlichen Silberschein durch die stummen Wipfel der Bäume hindurch auf den Boden der unberührten, leeren Lichtung.
“Ja, kleine Mirla. Lass uns heim gehen.”, sagte er leise, sanft und erhob sich. Er legte sich Wellenbrecher auf die rechte Schulter, und ließ sich von Mirla durch den dunklen Wald führen.
Das kleine Kind betrachtete den großen Novizen mit einen aufmerksamen Blick, als sie, ungewöhnlich schweigsam, neben ihm zurück zur Hütte wanderte.
Das silberne Licht des Madamals zeichnete helle Streifen in die Schwärze des Waldes, und es war so still, als habe die Welt den Atem angehalten.
Ganz langsam und vorsichtig klang hinter den beiden wieder das Konzert der Grillen auf.
Auf einem tiefen Ast am Rande der Lichtung saß ein kleines, zu einem Federball aufgeplustertes Käuzchen und beäugte die beiden nächtlichen Wanderer aus goldenen, runden Eulenaugen.

Der Vogel indes war nicht der einzige Beobachter. Die Augen eines verstohlenen Jägers blitzen im Schein des Madamals unter dem Schutze der nahen Tannen.
Ohne jedwede Regung sah er, wie Mann und Kind unbehelligt wieder in die Hütte schlüpften, auf eben jenem Wege, wie sie sie verlassen hatten.
Erst dann, als auch die beiden Wachen wieder auf ihrem Posten waren, der eine von seiner Wachrunde zurück war und der andere, dem der Darm diese Nacht aber auch wirklich keine Ruhe gönnen wollte, aus dem nahen Knick, trottete sich der Fuchs, nicht jedoch ohne dem Käuzchen einmal seine Zähne gezeigt zu haben. Ein Lächeln?

Still war es in der Hütte, leise knackte der Kamin, unterbrochen von Schnarchgeräuschen aus dem ersten Stock. Keine Stufe knarzte als die beiden Schatten leise noch oben schlichen und sich ihren Weg vorbei und über schlafende Körper suchten, bis zu ihrer Schlafstatt. Argmin zog dem Mädchen die Decke bis zum Hals, bevor es sich mit geschlossenen Augen lächelnd abwandte und wieder an Dwarosch kuschelte. So legte sich auch der Novize auf seinen Strohsack nieder, schloß erschöpft die Augen. Sein Körper war erschöpft, sein Geist müde und träge. Die Wölfin, der Kampf, das Mädchen, die Eule, Mirla - hatte er alles nur geträumt? Seine Hand tastete über seine unversehrte Brust und Kehle. Oder war es mehr als das? Er versuchte die Gedanken zu halten und zu begreifen, doch sie entglitten ihm, machten ihn zum hilflosen Beobachter und zogen ihn hinab in den Schlaf.
Wellenbrecher stand neben Argmins Stiefeln neben der Türe. Die Klinge war kalt von der Nacht, ein seidiger Glanz der Feuchtigkeit der Nacht schimmerte auf dem Heft und auf der Klinge verblasste das Abbild der Feder aus Glut.

Der nächste Morgen

Wie ein Auftauchen aus tiefem, dunklem Wasser war es für Argmin an diesem Morgen zu erwachen. Schwer und bleiern zog der Schleier des Schlafes sich mühsam zurück und ließ langsam die ersten Gedanken in sein Bewusstsein zurückfließen. Es dauerte einen Augenblick, bis die Erinnerungen wieder klar zu fassen waren, und dann hörte er Tellergeklapper, das an sein Ohr drang und mit einem Male war er wach, riss schuldbewusst die Augen auf, erhob sich, glättete sein schlafzerknittertes Untergewand und eilte nach unten, wo die fleißigen Frühaufsteher schon dabei waren, ein kleines Mahl vorzubereiten.

Der Blick des Novizen fiel auf Wellenbrecher, der neben der Türe an der Wand lehnte. Kein Glühen und kein Funkeln. ‘Alles nur ein Traum’, dachte Argmin erleichtert und wandte sich ab, als er seine Stiefel sah, die nass und schmutzbeschmiert neben dem Rondrakamm standen und seine Erleichterung schwand.

Nach dem Frühstück eilte er sich, seine Sachen zu packen und die Ponys zu beladen.
Als die Gemeinschaft sich aufmachte, suchte er die Nähe zu Marbolieb und Grimmgasch und berichtete den beiden von seinem Traum der letzten Nacht. Von der Wölfin und dem erneuten Kampf, von dem Mädchen und dem Käuzchen, von der donnernden Stimme, von der brennenden Feder des Vogels und dem Glühen Wellenkamms. Und dann, leiser, von Mirla, die ihn zurückgeführt hatte.
“Ich bitt Euch beide, helft mir. Ich mag nicht zu unterscheiden, ob es ein Traum war heute Nacht oder ob es wirklich so passierte. Ich habe Angst, dass etwas geschieht, was ich nicht kontrollieren kann - ich habe Angst, dass Deiner Tochter etwas passiert, Marbolieb.”

Grimmgasch hörte seinem Freund zu bis er geendet hatte, dann nickte er nur stumm.
“Ich glaube nicht, dass ich Dir wirklich weiterhelfen kann, mein Freund. Aber wenn Deine Göttin Dir diese Träume schickt, dann wird Mirla bestimmt nichts passieren. Denn Deine Göttin steht doch für den Schutz der Schwachen und nicht für deren Bedrohung. Trotzdem wird Schwester Marbolieb vermutlich die Bedeutung dieses Traumes besser erklären können.”
Er schaut die blinde Geweihte an und wartete gespannt auf ihre Traumdeutung.
Marbolieb lauschte ihren beiden Begleitern, ihre Hand fest in das Geschirr des Ponys gegraben, auf dem ihr Kind saß. Sicher angegurtet - obgleich sich an Mirlas schelmischem Grinsen leicht ablesen ließ, dass das Mädchen gänzlich anderes im Sinn hatte, während ihre kleinen Händchen forschungsfreudig mit den dicken Lederriemen, die sie auf ihrem Sitz hielten, spielten.
Die blinde Boroni indes konzentrierte sich auf ihre Schritte und die Aussagen der beiden Männer gleichermaßen.
“Wenn Dir die Götter diesen Traum geschickt haben, Argmin, dann war Mirla ein Werkzeug dazu. Ich habe Vertrauen in die Pläne der Götter.” antwortete sie schließlich auf Argmins Frage.
Sie stolperte, fing sich so gerade eben wieder und achtete einige Schritte vermehrt auf ihre Füße, ehe sie wieder den Kopf in Richtung der beiden neigte.
“Es war schon dein zweites Erlebnis dieser Art, Argmin. Was hast du danach gefühlt?”
“Froh war ich und glücklich noch am Leben zu sein. Es war alles so echt, es fühlte nicht an wie ein Traum. Und ich hatte versagt, die Wölfin hätte mich töten können. Ich war zu schwach gewesen, ihr zu widerstehen, doch es hatte sich trotzdem richtig angefühlt in diesem Augenblick der Niederlage, in der Hoffnung, dass das Mädchen hätte dafür entkommen können. Und verwirrt war ich, als sich alles änderte und plötzlich Mädchen, Wölfin, Käuzchen und das Glühen von Wellenkamm verschwanden und auf einmal Mirla bei mir war.”
Er sah Mirla zu, die in ihrer kindlicher Neugier mit einem herzhaften Lachen mit dem Knoten der Lederriemen zu spielen begonnen hatte. “Du sagtest ‘WENN’ die Götter mir diese Träume geschickt haben … Siehst Du denn eine andere Möglichkeit?”
“Die ist nicht wahrscheinlich.” lächelte die kleine Geweihte. “Dann wärst Du nicht glücklich aus dem Traum erwacht, sondern voller Sorge und düsteren Gedanken.
Ich denke, dass Dir diese Götter diese Nachricht geschickt haben - allen voran die Leuin. Du solltest Dich freuen, dass sie Dir eine derart deutliche Botschaft bringe - und doch heißt dies, dass du ihre Aufmerksamkeit genießt und dich ihrer würdig erweisen solltest.” Ihr Lächeln wurde nachdenklich und fast etwas traurig. “Wen die Götter schätzen, den prüfen sie. Und ich halte dies für wahr.”
“Siehst Du Argmin”, freute sich Grimmgasch. “Deine Göttin blickt auf Dich herab und prüft Dich. Ob sie wissen will, dass Du bereit bist Deine Weihe anzutreten?”
“Ich dank Euch beiden für Eure Worte”, antworte Argmin lächelnd. “Dann will ich die Mahnung zur Vorsicht in meinem Herzen besänftigen. Mich der Sturmbringerin als würdig zu erweisen… Ist das ein Ziel, das ein Sterblicher je erreichen kann? Ich mag danach streben, mag mich Ihren Idealen verschreiben, mag versuchen Ihrem Weg zu folgen, doch bin ich deshalb würdig, der Gefolgschaft einer Göttin beizutreten? Schwertschwester Bodia lehrte uns den großen Unterschied zwischen Kirche und Glaube und dass es Rondra selbst wäre, die jene in Ihre Reihe rufen würde, die würdig wären in Ihr Gefolge einzutreten.
So mag ich sagen, ja, ich bin willens der Sturmbringerin und Ihrem Weg zu folgen, ohne Zaudern, ohne Zögern, bei meinem Leben, für das Leben anderer, doch ob ich würdig bin, das mag bei Zeiten die Leuin von Alveran abwägen.”
Marbolieb nickte zufrieden, ein leises Lächeln auf ihren hübschen Lippen. “Unser Leben ist der Weg, den wir zu den Göttern beschreiten, und unsere Taten das Gewicht, mit dem uns Rethon misst.” Und der Tod das Ankommen nach einer langen Reise - doch waren letzteres nun nicht die Worte, die dem jungen, begeisterten Novizen eine Aufmunterung bedeutet hätten.

Unterwegs

Der Weg führte die Pilger auf unebenen und schwer passierbaren Pfaden einige weitere Tage durch das Gebirge. Irgendwann unterwegs passierten sie die Grenze nach Dohlenfelde, kenntlich nur für einen aufmerksamen Wanderer an einer verwitterten Grenzstele, auf die auf einer Seite der Rabe Rabensteins, auf der anderen der Dohlenkopf Dohlenfeldes eingemeißelt war.
Rondra tat ihrem Mond Genugtuung und schickte abermals einen Donnersturm, dieses Mal aber über die Häupter der Reisenden hinweg, als diese sich mitten auf einsamer Strecke befanden.
Der Abend lohnte dafür mit einem beeindruckenden Sonnenuntergang unter den gerade abziehenden, dunklen Regenwolken, die unwillig zögernd den Vorhang hoben für das scheidende Praiosmal, das die Zinnen des Eisenwaldes küsste.
Über den Bordopass nach Zwackelfegen in Dohlenfelde führte der Weg, dort entlang des Zwackelfegener Totentanzes in dem Tale, an dessen Ende das Klosters Sankta Noiona zum stillen Quell lag. Dann führte der Weg einige Tage lang weiter, wieder hinauf zum Großen Fluss, durch die Herzogenstadt Twergenhausen und weiter über den Treidelpfad auf der praioswärtigen Seite des mächtigen Stroms.
Bis zur Burg Weidleth, einer großen Höhenburg, folgten die Reisenden dem Weg.
Der Oberst schwärmte mit blumigen Worten von jener Festung, die die Zwerge Isnatoschs auf Geheiß des Herzogenhauses gebaut hatten. Die Lage im Praios des Großen Flusses, weit über der für die Nordmarken so wichtigen Lebensader, machte die Pfalz so bedeutend. “So gut wie uneinnehmbar”, betitelte Dwarosch die Burg und alle anderen Angroschim, einschließlich Andragrimms reckten die Hälse, um das Bauwerk zu erspähen, von dem von unten nicht sonderlich viel zu erkennen war.

Als sie sich kurz darauf beim Fähranleger einfanden, um über den Großen Fluss überzusetzen, sank die Laune der Zwerge jedoch rasch wieder. Auch Dwarosch wurde stiller, je näher der Moment rückte, da sie sich den Fluten auf einem Boot überantworten mussten. Der Oberst ließ seine Mannen das Rüstzeug ablegen und verstauen. Er hielt es ebenso.
Grimmgasch kannte die Furcht seiner mitreisenden Angroschim vor den tiefen Fluten des Großen Flusses, aber er wusste aus seiner eigenen Erfahrung, dass der Muschelfürst ihnen nichts böses wollte und war daher auch beruhigt.
Er ging daher auf seine zwergischen Begleiter zu und meinte fürsorglich: “Brüder, lasst uns gemeinsam den Weltenschöpfer um eine glückliche Überfahrt bitten!”
Er hob die Arme zum Gebet und begann auf Rogolan zu beten.
“Oh, Schöpfer der Welt, siehe hinab auf Deine Diener und nimm ihnen die Furcht vor diesem Deinem Volk fremden und feindlichen Element. Gib ihnen Deine Zuversicht und lass uns alle gemeinsam ohne Schaden auf der anderen Seite des Großen Flusses von Bord gehen. So sei es!”

Ein vom Rest der Angroschim gemeinschaftlich gesprochenes “Glück auf!”, wie sie es bei jenem, alltäglichen Gebet unter Tage taten, bevor sie am Morgen ans Tagwerk in den Minen gingen, beendete die Anrufung des Schutzes des Allvaters. Und dennoch, das ungute Gefühl blieb. Die Stimmung unter den Zwergen war weiterhin angespannt. Man sprach wenig und man achtete auf jeden einzelnen Schritt, jede Bewegung wurde mit besonderer Achtsamkeit verrichtet, als man dann schließlich nacheinander das schwankende Boot betrat und sich möglichst mittig einen Platz suchte, um sich niederzukauern.
Während Dwarosch sich auf seinen Rucksack setzte, nachdem er Marbolieb und Mirla auf das auf dem Wasser tanzende Gefährt geführt hatte, setzten sich die anderen Zwerge Rücken an Rücken und klammerten sich an ihren Waffen fest, deren Eisen ihnen Schutz bedeutete, wenn er auch vollkommen nutzlos war im Angesicht des Großen Flusses und ihrer Angst vor dem kühlen Nass.
Grimm war es schließlich, der leise begann ein Bergmannslied zu singen, welches in Isnatosch jedes Kind kannte. Dwarosch und nacheinander auch die Mitglieder der Gebirgsjäger stimmten mit ein. Das Gemeinschaftsgefühl und die Vertrautheit der Worte half zumindest ein bisschen gegen die Angst.

Die Fähre war ein besseres Floß, gerade groß genug, um eine Kutsche oder einen Ochsenkarren aufzunehmen. Die Bordwand, wenn man diese so nennen konnte, bestand aus dünnen Brettern, auf deren Innenseite sich umlaufend ein hölzerner Sitz für die Fahrgäste zog.
Gesteuert wurde das Gefährt mit einem hölzernen Steuerruder, und für mögliche Kurskorrekturen gab es drei Paar Riemen, die unter den Sitzen lagen.
Die Fährfrau, eine kantige, mittelgroße, sehnige Frau, wies mit knappen Gesten den Reisenden ihre Sitze an und achtete dabei darauf, sie möglichst gleichmäßig auf der Fähre zu verteilen.
Als alle ihren Platz gefunden hatten, löste einer ihrer beiden Gehilfen die Seile am Ufer und trieb das Floß mit einer langen Stange auf den Fluss hinaus, wo es die Frau mit langjähriger Übung in die Strömung und zur anderen Seite steuerte, in Richtung des Fähranlegers dort, der indes von diesem Ufer nicht zu erkennen war, obgleich der Fluss hier nicht mehr als 5 - 600 Schritt Breite messen mochte. Auf der anderen Seite befand sich nur Schilf, Uferböschung und flaches Gestrüpp.

Marbolieb hielt ihre Tochter fest an sich gedrückt, als sie, sehr bleich um die Nase, an der Stelle Platz nahm, an welche der Oberst sie bugsiert hatte.
Mit ihrer freien Hand tastete sie suchend nach irgendetwas, an dem sie sich hätte festhalten können und zuckte zusammen, als die Fähre ruckelnd und tanzend hinaus auf die Wellen glitt und diese das kleine Schiff aufnahmen und mit ihm spielten, als sei es nicht mehr als eine winzige Nussschale.
Grimmgasch hatte vor dem Betreten der Fähre noch einmal tief Luft geholt, dann betrat er aber mit deutlich mehr Zuversicht als seine zwergischen Gefährten die Fähre. Er hoffte, dass der mit seiner Ausstrahlung auch Ruhe in seinen Gefährten bringen konnte. Die Soldaten erhielten den Gesang aufrecht während der Überfahrt. Und wenn auch mal der eine oder andere kurzzeitig abbrach und somit dessen Stimme ausfiel, weil ihm Gisch ins Gesicht spritzt, oder er sich aufgrund des Wellengangs am Boot festkrallte, so riss das Lied doch niemals ab.
Der Oberst indes beobachtete die gegenüberliegende Flussseite argwöhnisch und kniff immer wieder die Augen angestrengt zusammen, um ihr Ziel auszumachen.
Doch er sah nichts - das Ufer war wild und ohne Bebauung, nicht einmal ein Landesteg ragte in die Fluten, während der Nachen immer weiter stromabwärts trieb.
Marbolieb wurde zunehmend blasser. Ihre Hand krallte sich in die Kante ihrer Bank, das erstbeste, was sie erwischt hatte, und sie hielt Mirla so fest, dass das kleine Mädchen unglücklich “Aua - Mama los!” maulte.
Grimm war es, der schließlich den Mut fand, die ‘Kapitänin’ dieser Nussschale anzurufen.
“Gute Frau”, brachte er in einem freundlichen Ton hervor, welcher jedoch seine Besorgnis nicht verhehlen konnte. “Treiben wir ab?” “Das muss so!” brummte die Frau, ihre gesamte Konzentration auf die Wellen und den Strom unter ihr gerichtet.
“Aber ihr könnt schon mal die Ruder nehmen. Und dann rudert wie die Efferdsbrüder, sobald ich es sage.”
“Los, Brüder!” forderte der Angroschgeweihte seine ängstlich singenden Brüder auf. “Nehmt euch die Ruder, wie die Frau es sagt und dann folgt einfach ihren Anweisungen.”
Demonstrativ setzte sich der Geweihte mit einem Ruder auf die Ruderbank, legte den Riemen in die Aufhängung und wartete auf die weiteren Anweisungen.
Auch in Dwarosch, der Marbolieb anwies sich und Mirlaxa gut festzuhalten, kam nun Bewegung. Ihm war der Geweihte ein Vorbild in jenem Moment. Der Oberst wählte die linken Seite des schwankenden Kahns. Grimm selbst suchte sich den Platz aus, der zur rechten Seite des Oberst lag, so dass sie auf einer Höhe saßen.
“Ihr gebt den Takt an”, rief Dwarosch der Steuerfrau zu. “Wir pullen.” Nur zu bereitwillig würde sich der Oberst der erfahrenen Flussseglerin unterwerfen. Die Rufe, die den Al’Anfanischen Galeerensklaven im Hafen der Pestbeule des Südens gegolten hatten, kamen ihm in den Sinn. Bei diesen Monstren der Meere wurden gar Hunderte von Riemen koordiniert, so dass sie miteinander harmonierten. Sie mussten deren sechs aufeinander abstimmen.
Zaghaft suchten sich auch zwei der Gebirgsjäger einen Platz an einem der Riemen, nachdem ihr Oberst und sein Primus, wie Dwarosch Andragrimm des öfteren nannte, es ihnen vorgemacht hatten. Die anderen beiden der Bergziegen sahen derweil aus, als würden sie jeden Moment ‘die Fische füttern.’
Ha, das würde er sich nicht nehmen lassen! Das Wasser übte schon jeher eine große Anziehungskraft auf Argmin aus und der Bund mit dem Fürsten der Muscheln und dem Flußvater hatte ihres dazu beigetan, diese Bindung zu stärken. Nur zu gerne griff der Novize nach dem letzten Riemen und setzte sich gegenüber von Dwarosch und Grimm an die Reling. Er spürte das Strömen und Reißen des Wasser an ihrem Fluß, sah das Wirbeln und Plätschern in der Strömung und blickte zur Flußschiffersfrau hinüber, die sich mit dem Ruder gegen die Kraft des Flusses stemmte, um den Kahn zum anderen Ufer zu bringen.
Die Fährfrau blickte auf die Helfer, nickte kurz und zufrieden, als sie sah, das diese die Riemen aufgenommen hatten, und konzentrierte sich wieder auf den Fluss.

“Ruder aus’m Wasser.” knurrte die sie und beäugte misstrauisch einen ausgerissenen, von der Sonne gebleichten Baumstamm mit Wurzelballen und Ästen, der mitten im tiefsten Fahrwasser mit beunruhigender Geschwindigkeit auf das schräg zur Strömung treibende Gefährt zutrieb. Ihr zweiter Geselle, der ebenfalls an Bord war, nahm eine lange Stange und trat an die Stelle der rechten Seite, auf welcher der Baum voraussichtlich aufprallen würde.
Rasch driftete der Baum näher.
“Festhalten!” rief sie und lehnte sich mit ihrem gesamten Gewicht auf das Ruder.
Knarrend und ächzend schwang der Kahn mit einem Ruck zur Seite, als habe ein Hammer ihn getroffen - Beleg der ungebremsten Wucht von Flussvaters Kraft.
Grimmgasch überlegte wo er sich jetzt am Besten festhalten könne. An den Spanten der Fähre oder lieber am Ruder. Da Angrosch ihm zum Glück zwei Arme gegeben hatte, konnte er ja beides gleichzeitig machen: Mit der Linken hielt er weiterhin den langen Riemen fest und krallte sich mit der Rechten an einen der Spanten in der Nähe der Bordwand fest.
Dwarosch und Andragrimm taten das für sie in diesem Moment am sinnvollsten erscheinende, sie drückten sich so tief in das Boot, wie es nur ging, um ihren Schwerpunkt noch weiter abzusenken, wobei sie ebenfalls darauf achteten die Riemen festzuhalten. Einem der Gebirgsjäger jedoch fuhr der Schrecken so tief in die Knochen, dass er seinen Riemen voller Furcht fahren ließ, nur um sich krampfhaft an der Ruderbank festzuklammern und sich zu erbrechen. Von den anderen Soldaten waren derweil laute Anrufungen an den Allvater zu hören.

Die abrupte Richtungsänderung brachte auch Argmin ins Wanken, er krallte seine Linke fest an die Reling, die Rechte am Holz des Ruders, stemmte seine Füße gegen das Holz, um seinen Stand nicht zu verlieren. Er sah dem Riemen des Gebirgsjägers nach, der von der Strömung erfasst und fortgerissen wurde in das unruhige Wasser, doch den Riemen aufzuhalten wäre ein törichter Versuch gewesen, bei dem er eine seiner Hände hätte lösen müssen. Sein Blick fiel Grimmgasch, der sich wacker an einem der Spanten festhielt, und dann auf Marbolieb und Mirla, die der Ausruf der Fährfrau ebenso überrascht hatte und ihm wurde bang.
Der jähe Ruck warf die zierliche Frau von ihrem Platz. Im Fallen schlang sie im Reflex die Arme um ihre Tochter und landete mit Wucht das Gesicht voran auf den Planken.
“Vorsicht”, brüllte Dwarosch, doch da war es schon zu spät. Gerade machte er Anstalten aufzuspringen, um zu Marbolieb und Mirlaxa zu eilen, da intervenierte die Fährfrau für jedermann klar verständlich.
“Rudert!!” lautete der Befehl, die Fähre auf Kurs, die Augen auf dem rasch nähertreibenden Baum.
“Unten bleiben Räblein, halt Mirlaxa fest”, brüllte er daher und pulte mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft. Die anderen Soldate gaben sich alle Mühe das ihre zu tun. Sie mussten einen weiteren Zusammenstoß verhindern.
Zum Glück waren Mutter und Kind nur von ihrer Sitzbank gefallen, so dass sie nun auf den Planken der Fähren lagen und damit auch zwischen den Männern an den Riemen, doch einige Schritt von ihnen entfernt. Dennoch gab der Oberst weitere Anweisung in Richtung der beiden Soldaten, die immer noch reglos und kreidebleich auf ihren Plätzen saßen: “Runter und haltet die beiden fest!”
So aus ihrer Lethargie gerissen eilten sie sich, dem Befehl ihres Oberst nachzukommen. Einer ging zur Rechten, einer zur Linken in die Knie und zogen die gestrandete Boroni wieder an den Rand der Fähre. Mit einer Hand hielten sie sich an den Bänken fest, mit den anderen sicherten sie Mutter und Kind.
Grimmgasch hatte nach dem Befehl der Kapitänin die Bordwand losgelassen und sich wieder mit beiden Händen an das Ruder geklammert, dass er nun im mehr oder weniger gleichen Takt wie sein Mitbrüder in Wasser tauchte und zog und runterdrückte und schon und eintauchen, ziehen, drücken, schieben, … Eine Aufgabe die seinen Körper auslastete, aber seinen Geist nicht forderte.
Mit der Kraft der Ruderer schob sich die Fähre wie ein behäbiges Tier nach vorn, machte Strecke, zögerlich erst gegen den Widerstand von Flussvaters Kraft, und kroch langsam und zielstrebig in Richtung der Flachwasserzonen des Ufers.
Mit gut zwei Schritt Abstand trieb der Baum an der Fähre vorbei, und nur einige Äste kratzten unter Wasser dumpf und drohend am Rumpf entlang.

Zufrieden pfiff die Fährfrau durch ihre Zahnlücken und lenkte das schwere Gefährt Richtung Ufer, wo sich jetzt, 300 Schritt flussabwärts, am näherkommenden Ufer der Fähranleger abzeichnete.
Erleichterung durchfuhr Dwarosch. Er dankte dem Weltenschöpfer dafür, dass sie dem nassen Grab entronnen waren.
Nach einem Blick zur Fährfrau und deren nickendem Einverständnis beorderte der Oberst einen der im Boot kauernden Soldaten an seinen Platz, um sich nun in geduckter Haltung zu Mutter und Kind zu begeben.
Liebevoll küsste er Marboliebs Stirn und anschließend Mirlaxas Scheitel. "Den Göttern sei Dank, wir haben bald wieder festen Boden unter den Füßen."
“Geht es Mirla gut?” nuschelte Marbolieb, hielt sich ihren Ärmel vors Gesicht, und schniefte kräftig.
“Dado! Los - gucken!” streckte Mirla dem Oberst ihre Arme entgegen und versuchte, sich aus dem viel zu engen Griff ihrer Mutter zu befreien, Hoffnung, etwas Schalk und große Neugier in den Augen.

Dwarosch schnaubte und es lag ein Hauch von Belustigung darin. “Es kann ihr nicht schlecht gehen, wenn die Neugierde derart aus ihr spricht Räblein. Aber wie geht es dir, bist du mit dem Schrecken davongekommen, oder hast du dir weh getan?”, fragte er Marbolieb mit Besorgnis in der Stimme.
“Gut.” Marbolieb schniefte kräftig und rieb sich nochmals mit dem Ärmel über das Gesicht, wobei sie das Blut, das aus ihrer Nase und ihrer aufgeplatzten Lippe rann, nun erst recht gleichmäßig verteilte. Ihre Braue und Wange begannen, sich dunkel zu verfärben, und ihre Nase war deutlich schiefer als zuvor.
“Vergeht wieder.” flüsterte sie und hielt sich abermals ihren Ärmel vors Gesicht.
“Keine Sorge, sobald wir drüben sind und diese… Nussschale verlassen haben, kümmere ich mich um deine Blessuren.” Nochmals küsste er Marboliebs Stirn, dann gab er dem Flehen Mirlaxas nach und nahm seine Ziehtochter auf den Arm.
Die Boroni nickte, schniefte ausführlich und presste sich wieder ihren Ärmel vor das Gesicht, erleichtert, dass Mirla in guten Händen war und sie ihren panischen Griff um ihre kleine Tochter lockern durfte.
Mirla hingegen strahlte den Zwergen an. “Dado! Mama put. Komm, Wasser gucken!”
Sie winkte energisch in Richtung des Flusses, in der sicheren Erwartung, dorthin getragen zu werden und einen guten Blick auf das nasse Wunder zu erhaschen.
Immer näher kam das Ufer, und nun griff auch der Gehilfe der Fährfrau zu einem Riemen und lotste das Schiff mit geübten Ruderschlägen näher an die Anlegestelle.
Die Fährfrau betrachtete das Näherkommen mit aufmerksam zusammengekniffenen Augen, ehe sie das unförmige, schwere Gefährt an den Anlieger lenkte, ihrem an Land springenden Gehilfen die Taue zuwarf und zufrieden begutachtete, wie dieser die Fähre vertäute.
Neben dem hölzernen Anlieger führte ein Weg aus festgetretener Erde hinauf zum Treidelpfad, neben dem eine einfache Holzhütte stand und ein kleiner Pferch, in dem vier angebundene, aufgeschirrte Ochsen das Anlegemanöver mit ruhigen Augen und vollen Mäulern beobachteten. Die Fährfrau öffnete den Zugang im Bug der Fähre und legte ein paar Bretter aus, so dass die Ponys - und die um die Nase etwas bleichen Zwerge - nahezu ebenerdig auf trockenen Grund gelangen konnte, und bemerkte mit einem halben Grinsen. “da sin’mer”.
“Angrosch und Euch sei Dank!” wünschte Grimmgasch und ließ den Riemen fahren, an den er sich die ganze Zeit geklammert hatte. Dann stand er auf, nahm seine Sachen auf und ging mit etwas wackligem Schritt von der Fähre.
Als er auf der Höhe der Kapitänin war, fragte er: “Sagt, gute Frau, wenn Ihr bei jeder Strecke so einen Versatz habt, wann seid Ihr dann in Havena?”
Die Fährfrau hob mit einem schiefen Grinsen die Schultern, wies mit dem Daumen auf die Ochsen und meinte ‘Treideln. Der Ableger ist zwei Meilen stromaufwärts.”
“Ah, dann ist die Strömung aber ganz schön stark.” überlegte der Geweihte laut.
Die brummte zustimmend ‘isso’ und machte sich daran, die Taue für das Treideln zu richten. Zwerge an Bord brachten Unglück, das wusste jeder, und sie war froh, dass sie diese Fuhre ohne Schaden über den Fluss gebracht hatte.


Dwarosch stützte Marbolieb beim verlassen der Fähre, indem er sie mit einem Arm um die Hüfte führte. Auf der anderen Seite saß Mirlaxa auf seinem Arm, die mit großen Augen zurück zum Fluß schaute. Sie hatte es als einzige scheinbar nicht eilig an Land zu gelangen.
“Bei Angrosch”, rief Grimm aus, als er wieder festen Boden unter den Füßen wusste. “Ich hoffe auf dem Rückweg queren wir den Großen Fluss an einer ungefährlicheren Stelle.”
Zustimmendes Gemurmel von Seiten der anderen Soldaten unterstrich, dass die gerade durchlebte Erfahrung etwas war, dass man nicht wiederholen wollte.
“Und wenn wir dafür viele Tage Umweg in Kauf nehmen müssen”, entgegnete der Oberst. “Ich habe von diesem Rumgeschaukel auch genug.” “Der Allvater hat über uns gewacht”, meinte Grimmgasch zu seinen Brüdern. “Und so schlimm war es nun auch wieder nicht!” Für diese Einschätzung hatte der Rest der Angroschim keinerlei Verständnis. Einem Diener des Allvaters jedoch widersprach man auch nicht, und so schüttelte man nur den Kopf, oder grunzte.

Nur zwei Dutzend Schritt vom Anleger entfernt rief der Oberst zur Rast. Nach dem Abenteuer auf dem Großen Fluss brauchten alle einen Moment des Durchschnaubens.
Die Soldaten legten in Ruhe ihre Rüstungen wieder an, die Vertrautheit des kühlen Metalls am Leib hob die Stimmung unter den Zwergen zumindest langsam etwas.
Marboliebs war im Gegensatz zu den anderen nicht so glimpflich davongekommen. Ihr gesamtes Gesicht brannte, ihre Nase pochte und war vollkommen verstopft, und sie spürte, wie sie nach und nach anschwoll. Obendrein fühlte sie sich ‘schief’ an.
Dwarosch versorgte Marboliebs Blessuren mit Salbe. Die Nase jedoch würde er nicht anrühren, die war gebrochen und blutunterlaufen. Die Schwellung war bereits jetzt zu erkennen und würde sicher noch fortschreiten.
Natürlich hätte er die Nase richten können, dass hatte er als Söldner bereits mehr als ein halbes Dutzend Male bei Kameraden getan, doch die Schmerzen, die damit einhergingen mochte er Marbolieb nicht antun. Nein, dafür würde es eine andere, bessere Lösung geben. “Grimmgasch”, rief der Oberst den Geweihten des Allvaters an. “Marboliebs Nase ist gebrochen. Könnt ihr euch das ansehen? Ich bin sicher ihr vermögt ihr besser zu helfen als ich.”

Der Bitte folgend, kam der junge Angroscho näher und trat an die Geweihte heran, um sie eingehend zu betrachten.
“Bitte setzt Euch auf den Boden, ich schaue es mir kurz an”, sagte Grimmgasch und führte die Boroni zu einem Stein an der Wegseite. Dort hieß er sie sich hinsetzen. Vorsichtig tastete er mit seinen Fingern an der Nase Marboliebs entlang. “Es könnte ein wenig schmerzen …”, begann er. Dann fuhr er auf Rogolan fort: “Oh, Allvater, Brunder Ingerimm,
schaut herab auf diese Dienerin eines der Zwölf Götter der Gigrim.
Ich bitte Euch, nehmt ihr die Schmerzen, lasst meine Finger den Knochen wieder an seine richtige Stelle legen.”
Während er betete drückte er vorsichtig den Rücken der Nase der Boroni wieder in seine ursprüngliche Stellung. “So sei es!”
Es knackte vernehmlich unter seinen Fingern, als sich der Knochen und Knorpel wieder in ihre ursprüngliche Ordnung fügten. Marbolieb zuckte zusammen und holte tief Luft, atmete dann aber erleichtert auf - durch den Mund. Ihre Nase fühlte sich an wie eine Rübe und begann erneut zu tropfen. “Ich danke euch, Bruder.” keuchte sie atemlos.
“Ich ebenfalls. Danke”, sprach der Oberst und Grimmgasch spürte die Erleichterung des Älteren fast körperlich. Der Geweihte vermutete, dass es Dwarosch sehr schwer gefallen wäre Marbolieb weh zu tun, um ihr die Nase zu richten. “Nun”, freute sich der Geweihte, als er mit seinem Gebet fertig war. “Die Kraft, die mir der Weltenschöpfer gegeben hat, wirkt auch an Euch, Schwester. Und es war mir eine Freude Euch und dem Oberst einen Gefallen zu tun. Ich denke, Morgen ist es alles wieder in Ordnung.”

Einen letzten Blick warf Argmin dem Großen Fluß zu. Alle Muskeln in Armen, Beinen und Torso schmerzten dem jungen Mann und er wusste, dass das Muskelziehen morgen noch viel schlimmer sein würde, wenn er heute kein heißes Bad oder zumindest etwas Kornbranntwein zum Einreiben würde finden können. Und dennoch hob Argmin Wellenbrecher kurz, ein stummer Gruß an die Wassermassen, die sich dort unten vorbeiwälzten. Träge floß der Große Fluß dahin, das Licht des Praiosmal spiegelte sich myriadenfach in den kleinen Wellen, die es warf, und fing sich in dem roten Edelstein an Wellenbrechers Griff, der zu funkeln begann, als ob ein fremdes Feuer in ihm glühen würde. “Immer wieder haben wir es mit dem Großen Fluss zu tun …”, murmelte Grimmgasch halblaut der neben seinem großen Freund auf den dahin strömenden Fluss blickte.
Die Flamme im Knauf des mächtigen Rondrakamms leuchtete auf im Licht der Sonne, die ihren Zenit bereits überschritten hatte, und spiegelte sich auf dem geschliffenen und polierten Metall, die feinen, zarten Konturen einer Feder abbildend, gleißend im Feuerschein und wohl doch nur ein Trugbild des blendend hellen Lichts.

Flammenbilder

Die Gruppe folgte der Galebra flussaufwärts, um bei Solfurt auf den Halwartsstieg zu treffen. Einen Tag vor der Stadt nächtigte die Gruppe in einem kleinen Dorf, dessen einziger Gasthof immerin über drei Zweierzimmer und einen Schlafsaal verfügte.
Das Essen war einfach, aber gut, und das Bier frisch und mit einer hübschen Schaumkrone, wenn es auch über etwas wenig ‘Gehalt’ verfügte, zumindest für die anspruchsvollen Gaumen der Angroschim.
Grimmgasch war froh, dass es an diesem Abend wieder einmal ein Dorf war, in dem sie übernachten würden. So aß er das Essen, dass es in dem Gasthof gab mit Genuss und auch das Bier, das in Ferdok oder Angbar um Längen besser wäre, trank er durstig. Als dann alle mit dem Essen fertig waren, lehnte er sich zurück und zündete sich seine Pfeife an, um mit den Reisegefährten noch ein Schwätzchen zu halten. Den Bauch gefüllt mit Fladenbrot, Erbsbrei und etwas Schweinebraten sowie einem Humpen Bier, fühlte Argmin die Schwere in seinen Beinen. Er rutsche seinen Stuhl höflich ein Stück weg vom Tisch, bevor er die Riemen an seinen Stiefeln öffnete.
Er blickte in die knisternden Flammen der Feuerstelle. Halb in Gedanken sprach er zu Grimmgasch:
“Seitdem ich Dich, Borindarax und Langorsch vor den Toren von Calbrozim getroffen habe, war ich nicht mehr zurück in Gratenfels. Meine letzte Nachricht an die Tempelvorsteherin Schwertschwester Bodia von Leuenfels schrieb ich nach den Ereignissen in Ishna Mur. Es könnte sein, dass ihr das nicht genug war …”
“Nun”, murmelte der Angroschpriester fröhlich zwischen den Zügen an seiner Pfeife, “wir sind ja bald da, dann kannst Du ihr alles was sie wissen will doch direkt erzählen.
Und wenn sie Dir nicht glauben mag, so stehen Dir ein bis zwei Geweihte zur Seite, die die Wahrheit Deiner Worte bestätigen können.” Argmin lächelte.
“Oh, dass sie mir nicht glauben würde, liegt fern. Vielmehr wird sie mich schelten, sie nicht unverzüglicher und ausführlicher über die Ereignisse am Großen Fluß, am Heiligtum und in Ishna Mur informiert zu haben. Schwertschwester Bodia lehrt uns, unabhängig und frei zu denken und zu handeln, nur dem Willen und den Geboten der Leuin zu folgen. Und doch ist sie wie eine Mutter - nur schwer kann sie ihre Kinder los- und hinaus in die weite Welt lassen.”
Der Novize blickte in die Flammen des Feuers, durch sie hindurch, weit weg.
“Sag, Grimmgasch, lebt Deine Mutter noch?”
“Ja, meine Mutter lebt noch”, antwortete Grimmgasch. “Sie ist Feinschmiedin in Xorlosch. Und ja, auch sie wollte mich nicht in die Welt lassen. Aber als Diener des Allvaters ist es während der Ausbildung üblich sich einen Mentor zu suchen und dann auch während dieser Zeit der Lehre verschiedene Tempel kennenzulernen.
So musste sie mich aus Xorlosch ziehen lassen. Aber mein Zwillingsbruder Botex ist noch in Xorlosch geblieben. Und natürlich auch mein Vater.”
“In welchen Sippenverband wurdest du in Xorlosch geboren?” warf an dieser Stelle der Oberst ein, der an der Seite von Marbolieb und mit Mirlaxa auf dem Schoß saß. “Neben den Fuxtagosch und den Draxamorta kenne ich mich bei unseren Nachbarn nicht sonderlich gut aus.” “Nun”, antwortete Grimmgasch etwas verlegen. “Mein Vater ist aus der Sippe der Fuxtagosch. Allerdings ein sehr weit vom Rogmarog entfernter Zweig dieser Familie.”
Der Oberst legte die Stirn nachdenklich in Falten.
“Wenn ich nicht dem weitläufigen Clan Fargols angehören würde, dann hätte ich es womöglich einfacher gehabt in meiner Jugend. In Isnatosch gilt das Waffenhandwerk nicht nur nichts, sondern ist verpönt. Bei den Angehörigen der Faxtagosch in Xorlosch ist es vermutlich angesehener, als in jeder Sippe Isnatoschs”, teilte der Oberst bereitwillig seine Gedanken.
“Als Diener des Allvaters aber bist du überall angesehen. Gedenkst du irgendwann nach Xorlosch zurückzukehren?”, fragte er Grimmgasch. “Ich bin noch so jung”, erwiderte der Angroschgeweihte. “Da kann ich es nicht mit Bestimmtheit verneinen. Aber ich habe jetzt meine neue Heimat in der Bergwacht gefunden und dort gibt es für die nächsten Jahrzehnte genügend zu entdecken.”
Bei den Gedanken an die Stelen in ‘seinem’ Tempel machte sich eine leichte Verzückung in seiner Miene bemerkbar.
Der Oberst nickte zustimmend und lachte verhalten in Erinnerung an ‘die alten Hallen’ und das überstandene Abenteuer bei dem Besuch in Ishna Mur.

‘Jahrzehnte…’, Argin sinnierte über Grimmgaschs Pläne. Zwerge dachten in so gänzlich anderen Maßstäben als die Menschen. Er würde sich sehr viel früher Gedanken machen müssen, wohin sein Weg ihn führen solle.
“Hast Du Dich dem Dienst des Allvaters verschrieben oder hat der Allvater Dich auserwählt, Grimmgasch?”
“Ich habe seine Nähe gespürt als ich ein Junge war”, meinte Grimmgasch. “Und habe es meinen Eltern erzählt. Und mein Vater ist dann mit mir zu einem Priester gegangen.
Dieser hat mit geprüft und dann zusammen mit meinem Vater entschieden, dass ich dem Allvater dienen solle.
Und je länger ich als Novize diente, um so mehr habe ich die Nähe des Allvaters gespürt. Und seit der Feuertaufe im Tempel zu Senalosch weiß ich, dass mich seine Kraft erfüllt.”
An den Oberst gewandt: “Bestimmt denn Euer Sippenverband den Weg Eures Lebens?”
“Oft”, gestand der Oberst. “Viel zu oft. Aber das ist meine Meinung, die Meinung eines ‘Sonderlings’.
Mein Vater hat mir bis heute nicht verziehen, dass ich lieber mit der Waffe in der Hand hinaus in die Welt gezogen bin, denn ein anständiges, angroschgefälliges Handwerk erlernt habe.”
Dwarosch seufzte.
“In unserer Gesellschaft hat die Sippe oder der Clan, wie wir die großen Familienverbände häufig nennen, großen Einfluss auf das Handwerk, das ein Kind erlernen wird, wenn es ins entsprechende Alter kommt. Erlangte Kunstfertigkeit wird oft nur innerhalb des Clans weitervermittelt, bestimmte Handwerkstechniken werden eifersüchtig behütet und oft auch nicht nach außen weitergegeben- das heißt nicht an andere Clans.”
“Und Du wähltest den Weg eines Kriegers anstatt den eines Handwerkers? Und war es Kor, der Dich erwählte, Seinem Weg zu folgen?”
Argmin hatte den Oberst in den Tiefen von Ishna Mur kämpfen sehen und er kämpfte, wie man es sich von den Kor-Jüngern erzählte. So die Waffe zu führen, zeugte von einem harten Leben und Erfahrungen auf dem Schlachtfeld.
“Dann bist Du in Ungnade gefallen bei Deinem Vater wegen Deinem Herzen, dem Du folgtest?” Argmins Blick wanderte von Dwarosch hinüber zu Marbolieb und wieder zurück zu dem Angroschim.
“Es war der Sohn Angroschs und Rondras, der mich erwählte SEINEN Weg zu gehen, nicht umgekehrt”, erklärte Dwarosch. “Ich wollte Krieger werden solange ich mich erinnern kann. Doch ohne die Zustimmung des Clans, kann man weder nach Xorlosch, noch nach rxozim gehen, um die beiden bekanntesten Ausbildungsstätten im Waffenhandwerk zu nennen, die es gibt innerhalb unserer Rasse. Für meinen Vater wäre es eine Schande gewesen. Und doch versagte ich in jedem angroschgefälligem Handwerk, jedes Werkstück misslang.”
Dwarosch seufzte. “Irgendwann gestand mir mein Vater zu Erztransporte von Senalosch nach Makamesch zu begleiten- als Teil des Geleitschutzes. Es war wohl meine Mutter, die ihn dazu überreden konnte.
Bei einem dieser Züge durch die Berge des Eisenwaldes wurde der Transport von einem riesigen Tatzelwurm angegriffen. Der Kampf war blutig und wurde bei fast vollständiger Finsternis ausgefochten, denn ein Großteil der Öllampen gingen zu Bruch.
Irgendwann blieb ich als einziger Bewaffneter übrig, alle anderen waren tot, oder kampfunfähig. Da offenbarte sich mir ‘die Bestie der immerwährenden Dunkelheit’, so wie Kor bei uns Angroschim auch genannt wird.
Mein Herz wurde eiseskalt, mein Kopf klar, wie eine Frostnacht. Da war keine Angst mehr, keine Furcht, kein Zögern oder Zaudern. Da war nur noch der Wurm und ich.”
Ein langer Moment verstrich. Dwaroschs Blick schweifte ab in die Vergangenheit, zu jenem Moment der Erweckung.
Seine Stimme war belegt und kratzig, als er fortfuhr. “Ich tötete den Wurm und eilte alleine durch die Tunnel, um mit Hilfe zurückzukehren die Verwundeten zu bergen. Unterwegs, auf meinem Weg durch die Finsternis unter den Bergen spürte ich Kors Nähe. Ich war ihm nie wieder so nah glaube ich. Er hetzte mich. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. Er lachte in meinem Rücken. Oder war es doch nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren?”
Der Oberst schüttelte den Kopf. “Ich weiß es nicht. Doch eines weiß ich ganz sicher. ER war dort und ER war es, der mich von da an SEIN nannte, ohne das ich eine Wahl gehabt hätte.”
Wieder entstand eine kleine Pause. Diesmal jedoch kehrten die Gedanken Dwaroschs ins Hier und Jetzt zurück.
“Zuhause verbreitete sich die Kunde meines Sieges über den Tatzelwurm und mein Vater gestand mir zu bei einem alten Krieger, einem Abgänger der Drachenkämpferschule zu Xorlosch in die Lehre zu gehen. Ich sollte also doch noch Krieger werden.
Zehn Jahre erlernte ich von das Waffenhandwerk von einem der besten, nur um dann, am Tage da ich zum Krieger ernannt wurde in die Fremde zu ziehen, um den Ruf Kors zu folgen der mein Herz erfüllte.
Mein Vater hat getobt vor Wut.” Dwarosch lachte auf. “Ich hatte niemals vor die Hallen meiner Heimat als Krieger zu verteidigen, um meinem Clan Ehre zu bereiten. Nein, alles was ich wollte war die Welt und ihre Schlachtfelder zu sehen. Und das tat ich als Söldner.”

Das Lachen des Zwerges klang hart in Argmins Ohren. Er hatte Dwarosch aufmerksam zugehört. Er respektierte die Kirche des Kor. Schwertschwester Bodia hatte ihnen gelehrt, immer zu versuchen offen zu sein und einander zu respektieren, doch bei den letzten Worten Dwarosch verkrampfte sich unwillkürlich seine rechte Hand um den Humpen und er spürte Zorn in sich aufflammen, dass Dwarosch so abfällig über jene sprach, die auf seinen Schutz und sein Wort vertraut hatten.
Er zwang sich tief ein- und auszuatmen.
Das Flackern des Kaminfeuers ließ die Hautbilder des Oberst sich scheinbar bewegen.
‘Die Bestie der immerwährenden Dunkelheit’ - so hatte der Zwerg den Gnadenlosen Schnitter genannt und es hatte mehr nach einem Fluch als nach einem Segen geklungen, dass der Scharfrichter der Leuin ihn auserwählt hatte.
Argmin hatte Dwarosch schätzen gelernt in den letzten Wochen. Es war eine Freude, zu sehen, welche Wärme und Hingabe er Marbolieb und Mirla entgegenbrachte, was so gar nicht einem Jünger des Schnitters passte.
Und da spürte Argmin den Zorn vergehen und er spürte Bedauern in sich. Ein Bedauern für Dwarosch, dass ihm die Freude und Wärme einer wahren Gemeinschaft verwehrt worden war, als der Schnitter ihn als seinen Jünger auserwählt hatte

Auch die anderen Zwerge vergaßen an diesem Abend die zurückliegenden Schrecken - den Kampf mit dem Großen Fluss, dem ihnen so feindlich gesonnenen Element. Vor allem den Gebirgsjägern schien die Angst, die das Ereignis hervorgebracht hatte, tief in den Knochen zu stecken. Nun jedoch war die Stimmung gut und die Schankmagd hatte schwer zu schleppen an den Humpen Gerstensaft, über dessen Qualität auch von ihnen nur wenig zu hören war. Man war zufrieden.




Wie üblich quartierten sich die Gebirgsjäger und ihr Oberst im Schlafsaal ein. Da es die Möglichkeit gab, dass er wieder mal in einem richtigen Bett schlafen konnte, kramte Grimmgasch bei der Zimmerverteilung noch schnell in seiner Geldbörse und meinte dann zufrieden zu Argmin: “Was meinst Du, Großer, wollen wir uns heute Nacht ein Zimmer teilen?” Argmin lachte auf, als sein Freund ihn auf diese Art ansprach, dann nickte er. “Gerne, Grimmgasch.” Er packte zwei Münzen aus seiner Geldkatze und legte sie auf den Tresen. Nach all den Tagen unterwegs würde es gut tun, die Nacht auf Laken verbringen zu können.

Es war warm. Angenehm warm. Die Wärme des Sommers - und die des flackernden Herdfeuers vor ihm wärmte seine Haut. Unter seinen Knien fühlte er die rauen, behauenen Bodenplatten des Tempelraumes.
Seines Tempelraumes.
Vor ihm lag das Weiheschwert ihres neuesten Bruders. Ein wunderschönes Stück, ein Rondrakamm mit einem dunkelroten, im Licht des Feuers funkensprühenden Edelstein im Knauf. Lodernd, als stände die Klinge selbst in Flammen, ein Bild wie eine brennende Feder. Stolz erfüllte ihn, als er sah, was er geschaffen hatte.

Nicht schlecht für eine alte Frau.

'Wellenkamm' war ihr Name gewesen, bevor ihr Träger den Ruf der Göttin hörte. Auch das war ein schöner Name. Nicht nur der Form der Klinge geschuldet, sondern weil diese Klinge etwas ganz besonderes war, denn sie stand für einen uralten Bund, einen Schwur und eine Pflicht, die zurückreichten in die ersten Tage der ersten Menschen auf Aventurien. Und die Verbindung der Klinge der Himmelsleuin mit dem Edelsteins des Herrn des Wassers war ein gutes Omen.
Er lächelte, als er an die Briefe dachte, die der Novize geschrieben hatte, in denen er von der inneren Zerissenheit gesprochen hatte, als er vor die Wahl gestellt worden war, das Schwert zu beschädigen, um den Edelstein zu erlangen, oder aber das ganze Schwert zu verlieren, es aber dafür ganz zu lassen. Er erinnerte sich an die Worte Argmins und seine Entscheidungen und den Weg, den sein Leben ab da genommen hatte, ab jenem Tag, da er ihn losgeschickte hatte nach Calbrozim, um die Waffe zu holen, die seine Tante für ihn hatte anfertigen lassen. Er hatte gute Gefährten gefunden, hatte viel gelernt, was er dem jungen Mann hätte nicht beibringen können. Argmin hatte sich nicht bereit gefühlt, hatte betont, dass der Weg der Leuin vor ihm lag, aber dass er das Ende nicht sehe könne, dass er sich nicht würdig genug fühlte, um in Ihre Reihen aufgenommen zu werden. Diese Novizen waren ihm die liebsten, jene, die wahrhaft strebten und sich dann erst fügten, wenn sie den Ruf der Göttin spürten.
Er berührte sanft die Klinge des neuen Bruders vor ihm.
Eine gute Waffe.
Beide.

Vermählt zu einer Einheit im Dienst der Göttin - Schwert des Glaubens, Schutz der Schwachen.
Stete Mahnung daran, dass es nicht die Klinge war, die am schärfsten schnitt.
Wie zu einer Antwort schimmerte auf dem polierten Metall das Licht des Feuers, spiegelte sich und ließ eine zarte, feine Feder aus schieren Flammen entstehen.

Die Klinge trug eine Geschichte in sich, war bestimmt von höherer Macht zu große Dingen. Sie und ihre Träger würden einen weiten Weg zu gehen haben, voller Entbehrungen und Prüfungen, doch ihre Taten würden der Leuin zu Ehren sein.
Er murmelte leise in Gebet an Rondra und dankte Ihr für Ihren Segen der Weihe.

Gen Gratenfels

Mehrere Tage lang folgte die Gruppe dem Halwartsstieg firunwärts. Der Rondramond schien seinen Zorn in den Bergen gelassen zu haben und heißes, schwüles Hochsommerwetter begleitete die Reisenden.
Der Halwartsstieg war eine gut ausgebaute Handelsstraße und konnte sich in vielen Bereichen mit der Reichsstraße messen. So fanden die Zwerge und Menschen jeden Abend eine Unterkunft in einem der heimeligen Gasthäuser, die in regelmäßigen Abständen die Straßen säumten. Grimmgasch war froh über diese Art der Übernachtung. Natürlich war er schon seit Beginn seiner Zeit als Novize viel in den Städten der Angroschim und der Gigrim herumgereist und dabei nicht immer in Gasthäusern und in Betten geschlafen, aber wenn sich die Option anbot, dann war er der letzte, der auf ein wenig Bequemlichkeit verzichten mochte.
So wählte er meist die beste sich bietende Übernachtungsmöglichkeit und entsprechend leerte sich auch sein Geldbeutel. Aber, so dachte er, was soll’s, ich habe jetzt ja eine Anstellung, da kommt auch wieder etwas in den Beutel hinein.
Der Tag näherte sich seinem Ende und die Schatten der Bäume neben der Straße warfen lange Schatten über das grüne Land, als wieder ein Gasthaus, dieses Mal mit Schilf gedeckt und Teil eines großen Vierseithofes, in Sicht kam. Vielleicht noch drei, vier Tage mochten es sein bis Gratenfels.
Die Sturmherrin fuhr mit dem Donnersturm über das Firmament, und Wind kam auf, der von Feuchtigkeit und dem Kribbeln eines nahenden Gewitters kündete.
Gerade noch rechtzeitig erreichten die müden Wanderer den Hof, übergaben die Ponys der Stallmagd und betraten die Gaststube, die mit allerlei reisendem Volk gut gefüllt war.
“Donnerwetter. Da sind wir ja grad nochmal mit trockener Haut davongekommen”, amüsierte sich der Oberst über ihr Glück, dem Unwetter- dem Wolkenbruch - entkommen zu sein.
Grimm grinste derweil schief bei dieser Bemerkung. “Naja, zumindest heute”, kommentierte er mit ironischen Unterton und spielte damit auf die abenteuerliche Überfahrt auf dem Großen Fluss an, bei der alle Ruderer die Gischt im Überfluss abbekommen hatten.
Froh noch vor Anbruch des Gewitters im Trockenen zu sein, schaute sich der junge Geweihte in der Wirtschaft um und steuerte auf den ersten Tisch zu, der genügend Raum für seine Reisegefährten und ihn bot.
Mit den Worten: “Ich freu mich mich auf ein Bier und was Warmes im Bauch”, führte Dwarosch Marbolieb zu dem Tisch, den der Angroschgeweihte ausgewählt hatte.
Die Boroni nickte dankbar und faltete die Hände in den weiten Ärmeln ihrer Robe. Sie hatte ordentlich Hunger nach dem langen Marsch - etwas, das nur noch ihre Müdigkeit nach selbigem überwog. Sie gähnte unter ihrer bis über die Nase gezogenen Kapuze. Mirlaxa, die der Oberst bei der Ankunft am Gasthaus vom Pony auf den Arm genommen hatte, war zu jenem Zeitpunkt schon hundemüde und lehnte an der breiten Schulter ihres Ziehvaters.
“Eure Tochter hat sich sehr tapfer gehalten, Schwester”, meinte Grimmgasch zu Marbolieb und blickte zu der gerade wegdämmernden Mirla. “Sie ist eine Brave.” Ein versonnenes Lächeln legte sich auf die kaum noch geschwollenen Lippen der jungen Frau. “Sie hat auch starke Arme, die sie tragen.” fügte sie leise hinzu und versank einige Augenblicke in Gedanken.
“Und Ihr, Bruder? Seid ihr erschöpft?”
“Nein”, grinste Grimmgasch. “Ich bin zwar auch noch sehr jung für einen Angroscho, aber trotzdem schon deutlich älter als Eure Tochter. Und ich bin es gewohnt zu wandern.
Trotzdem freue ich mich, das wir vor dem Gewitter hier sind und nicht im Regen im Zelt übernachten müssen.” Er nahm einen Schluck aus seinem Bierhumpen.
“Was macht Eure Nase? Sie sieht wieder gut und gerade aus, schmerzt sie noch?”
Marbolieb fädelte eine Hand aus ihrem Ärmel und betastete das fragliche Gebilde.
“So gut wie neu, Bruder. Ich danke euch.” Das letzte Kribbeln und Ziehen darin würde gewiss bald ebenfalls abklingen.
“Es ist schön, wieder Luft holen zu können.”
Sie legte den Kopf zur Seite, als wollte sie auf die Atemzüge ihrer Tochter ebenso wie auf die Äußerungen des jungen Angroschgeweihten lauschen.
“Ihr sagtet mir einmal, ihr hättet noch keinen Segen auf einen Gigrim gewirkt.”
Der Angroschpriester nickte. “Ja, das ist so. Ihr ward sozusagen mein erstes Opfer. Aber ich war sehr zuversichtlich, dass sich der Allvater auch Euch seine Gnade und Kraft zuteil werden lassen würde. Und es hat er ja auch durch meine Hände getan.”
Erneut nahm er einen Schluck.
“Und ich bin froh, dass es geklappt hat.” fügte er noch freudig hinzu.
Die Lippen der Boroni formten sich zu einem leisen Lächeln. Diese Freude war beiderseitig.
“Habt ihr den Segen anders empfunden als einem Angroscho gegenüber?” fragte sie mit sanfter Stimme.
“Ich hatte das Gefühl, dass es leichter ging”, resümierte Grimmgasch. “Vermutlich weil auch in Euch eine ähnliche Kraft innewohnt, die mich in diesem Fall unterstützt hat.”
“Wie ähnlich, Bruder?” Achtsam wandte sich die blinde Menschenfrau ihrem Bruder im Glauben zu.
“Das ist eine Frage des Glaubens”, meinte Grimmgasch und ahnte dass dieses Thema nicht am heutigen Abend geklärte werden könnte, denn warum der Allvater den Angroschim seine göttlichen Gaben gegeben hatte, war eine Selbstverständlichkeit für jeden Angroschim, aber die Kräfte der Gigrim und ihre Götter waren natürlich auch eine Gabe die vom Allvater kommen musste, aber da fehlte ihm der Grund. warum er sie den Kurzlebigen gegeben haben sollte.
“Die Kraft unserer Götter ist.“ widersprach Marbolieb und schob ihre Hände wieder in die weiten Ärmel ihrer herrlich neuen, weichen und noch nahezu makellosen Robe. Nur eine etwas schiefe Naht am Rücken tat Zeugnis von den Erlebnissen in Ishna Mur, die ihren Zoll von dem schönen Stück eingefordert hatten. Nicht nur von ihm.
“Ihr spürt sie und tragt sie durch die Gnade eures Herrn in euch. Sie zu nutzen, ist mehr, als nur beleglos zu glauben, Bruder.”
“Wir Angroschim glauben nicht beleglos!” widersprach Grimmgasch sehr vehement. “Wir sind die Kinder Angroschs und haben in unserer Geschichte und in unserem Glauben genügend Beweise von der Existenz des Allvaters gehabt.
Und ich spüre sein Wesen in mir!”
“Seht ihr.” lächelte die Geweihte. “Und da ihr ihn spürt - spürt ihr auch meine Kraft?”
“Ich sagte doch, dass es mir leichter vorkam Euch zu segnen.” wiederholte Grimmgasch. “Bei einem ‘normalen’ Angroscho ist es viel schwieriger.”
Er nahm noch einen Schluck aus dem Humpen.
“Zumindest kam es mir so vor …”
“Vertraut eurem Gespür, Bruder. Es wird euch leiten, wenn ihr nicht viel anderes als Richtschnur habt.”
Marbolieb verstummte nachdenklich. Mehr als ihr Kinn und ihre Lippen waren unter ihrer Kapuze nicht zu sehen, und sie hielt den Kopf gesenkt. Als lausche sie etwas.
Oder jemandem.
“Es ist nicht mein Gespür, das mich leitet, es ist der Allvater!” Auch hier war der Priester sich sehr sicher und so war die Aussage auch zu vernehmen.
“Er hat euch euer Gespür gegeben, auf dass ihr selbst in seinem Sinne entscheidet - wie solltet ihr ihm sonst dienen?”
Sie grübelte einen Augenblick.
“Fürchtet ihr, ich wollte euch zum Zweifel an seiner Gabe bringen?”
“Es gibt nichts und niemanden, der mich um meinem Glauben und meine Zuversicht bringen kann!” ist der energische Antwort des Angroscho.
“Das ist gut.” Die Erleichterung war der blinden Geweihten deutlich anzuhören.
“Es würde mich betrüben, wenn ihr glaubtet, ich wollte Zweifel säen.”
“Oh, keine Angst”, meinte er jetzt wieder ruhiger und versöhnlicher. “Das ist nicht möglich. Ich wünsche mir auch für Euch und Argmin, dass ihr so voller Zuversicht und Gottvertrauen seid wie ich es bin.”
“Habt keine Sorge. Ich vertraue auf meinen Herrn und gebe mich in seine Macht.”
Ein warmes Lächeln ließ die hübschen und nur noch leicht verbeulten Züge der jungen Frau aufleuchten.
“Und ich weiß, dass er mich willkommen heißen wird, wenn es an der Zeit ist.”
“Das ist aber bei Eurem Gott ein ziemlich endgültiges Willkommen”, meinte Grimmgasch traurig, denn die Lebensspanne der Gigrim war ja nur ein Wimpernschlägchen in den Dimensionen des Allvaters und auch nur eine kurze Spanne im Leben eines Angroscho. Auch Mirla würde diesen Weg gegangen sein, während ihr Ziehvater vermutlich noch so wäre, wie er jetzt war.
Aber diese düsteren Gedanken behielt er für sich.
“Welch besseres Willkommen könnte es nach einem langen Weg geben?” sinnierte Marbolieb und fügte sanft hinzu: “Das Wissen, dass mein Weg endlich ist, lehrt mich, wie kostbar jeder Augenblick ist.”
Sachte tastete sie nach dem Arm des Oberst an ihrer Seite und strich vorsichtig mit ihren Fingerspitzen über dessen knotige, muskelbepackte Hand.
“Was meint ihr - sollte ich klagen, dass meine Zeit begrenzt ist - oder sie schätzen, so gut ich es vermag?”
“Auch wenn der Weltenschöpfer jeden unserer Schritte geplant hat, erkennen wir meistens diesen Plan nicht und auch nicht den nächsten Schritt, den dieser Plan für uns bereithält”, begann Grimmgasch. “Daher sollten wir alle natürlich jeden Moment, der sich uns bietet, so gut es geht genießen!”
Wie um das zu unterstreichen, nahm der noch einen tiefen Schluck aus seinem Krug.
“Ho, Wirt, bringt uns noch eine Runde, hier ist schon wieder nichts mehr drin!”
Der Schankbursche kam und brachte das Gewünschte. Als die schäumenden Krüge ihren Platz auf dem Tisch fanden, regte sich die mittlerweile tief schlafende Mirla auf dem Arm ihres Ziehvaters, steckte ihren Daumen in ihr Kindermündchen und suchte sich erneut einen bequemen Platz. Ihre langen, schwarzen Wimpern lagen wie Pinselstriche auf ihrer feinen Haut und sie seufzte im Schlaf, als sie, glücklich und sicher, wieder tief in ihre Träume glitt.
Marbolieb beließ ihre Hand einen Lidschlag lang auf der ungleich breiteren des Oberst, ehe sie diese widerstrebend löste und wieder in ihren Ärmel schob.
Dieser drehte den Kopf zur Geweihten. “Ist etwas?”, raunte er ihr leise, fragend zu.
Die Boroni schüttelte den Kopf.
Alles besaß seine Zeit, und es brachte nichts, über bald verschüttete Milch zu jammern.
Zumal es grausam gewesen wäre, zu erwarten, dass Dwarosch sich mit Gedankenkonzepten auseinandersetzte, die dem langlebigen Angroscho von Natur aus fremd sein mussten.
“Weißt du, Bruder Grimmgasch hat vollkommen recht”, flüsterte sie ebenso leise wie zuvor der Oberst, während über ihre Lippen ein unzweifelhaft unternehmungslustiges Lächeln huschte. Sie ließ eine Hand sinken - die Sache mit den Ärmeln war doch nicht so praktisch, zumindest hier in der Gaststube, wo es angenehm warm war - und strich ihre Fingerspitzen auffordernd über den beeindruckend muskulösen Oberschenkel des Kriegers.
“Es ist gut, dass du da bist.”
Die Augen des Oberst weiteten sich überrascht, als er Marboliebs Hand spürte. Damit hatte sie ihn überrumpelt, wie konnte er auch mit so einer ‘Antwort’ rechnen?
Dwarosch war dem Gespräch der Götterdiener schon gefolgt, hatte verstanden worum ihre Unterhaltung sich drehte und auch, dass die Lebensspanne darin eine Rolle spielte. Für den ehemaligen Söldner und nun Soldaten aber waren solche Fragen von rein theoretischer Natur. Er hatte nie damit rechnen können alt zu sterben. Einhundert Jahre Söldnertum hatten ihn gelehrt den Moment zu achten, im Hier und Jetzt zu leben.
Ein Lächeln stahl sich auf die sonst so ernsten Züge des Angroschos, als er dann seinen Kopf in Richtung Marbolieb neigte und seine Stirn an die ihre legte. Ein Moment der Vertrautheit.
“Was morgen ist, mögen die Götter entscheiden, was heute ist, liegt in unseren Händen.”
Das Lächeln in Marboliebs Mundwinkeln vertiefte sich und entwickelte eine entschieden schelmische Note, als ihre forschenden Fingerspitzen seine Aussage vielleicht etwas zu wörtlich nahmen.
“Dann solltest du uns für heute Nacht ein Zimmer mieten, mein Liebster.” flüsterte sie mit verheißungsvoll dunkler Stimme, ihre Lippen unmittelbar neben seinem Ohr.

Nicht einen Strohsack im Schlafsaal, wie ansonsten üblich.

Dwarosch hustete, hätte sich gar fast am Bier verschluckt. Auf so viel Spontanität war der Oberst nach dem langen Tag auf den Füßen nicht gefasst. Was jedoch nicht hieß, dass Marbolieb nicht vermochte ihn entsprechend zu motivieren. Sie hatte gelernt, wie sie ihn ‘anzupacken’ hatte. Ihre Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
“Das, mein Räblein, wird sich einrichten lassen”, erwiderte er leise, im verschwörerischen Ton. Der Klang seiner Stimme war dabei noch etwas tiefer als üblich und verriet Marbolieb, dass sie ihn nicht weiter würde bitten müssen.
In den Wangen der blinden Boroni bildeten sich Grübchen. Sie ließ einen Finger über die äußerst appetitlichen Konturen der Hüfte des Mannes an ihrer Seite gleiten, auf dessen Arm ihre kleine Tochter friedlich und geborgen schlief und verharrte einen kostbaren Augenblick, glücklich mit Welt, Ort und Zeit.

“Argmin”, fragte nun Grimmgasch den großen Novizen, der auf der anderen Seite neben ihm saß. “Wie sieht das denn Deine Göttin? Wie steht sie dazu? Sollen ihre Diener auch den Tag und das Leben genießen?”
“Jeder Tag auf dieser Welt, ist ein besonderer Tag. Im Streben nach den Tugenden unserer Göttin suchen wir nicht den freien, befreienden Tod, sondern es ist der Weg selbst, den wir schätzen, daher mag ich Dir sagen: Ja, ich genieße jeden Tag, Grimmgasch, den ich meiner Göttin dienen darf, denn das erfüllt mich mit Freude und Stolz. Ja, ich genieße diese Runde hier, die Gemeinschaft mit Dir und Marbolieb und dem Oberst, denn das erfüllt mich ebenfalls mit Freude und Wärme. Ja, ich freue mich auf morgen und unsere Reise nach Gratenfels, denn das ist der Weg zu Ehren unserer Götter.
Aber wenn die Leuin mich morgen zu sich in Ihre Hallen rufen würde, so will und werd ich diese Reise mit stolzen Haupte antreten. Ich würde vor Ihr knien und Ihr sagen, dass es eine zu kurze, aber schöne Zeit auf Erden war und mich dennoch freuen, Ihr in Alveran soviel näher zu sein.
Rondra lehrt uns, dass das Leben ein Wunder und wunderschön ist. Doch nicht nur unser Leben allein soll so sein, sondern auch das der Schwachen. Denn wir sind die Klinge und das Schild, damit auch die Schutzbedürftigen den Tag und das Leben genießen können. Und so erlegt uns die Herrin auf, das Leben zu bewundern, aber dennoch zu wachen und zu schützen.” Argmin nahm einen tiefen Schluck aus seinem Humpen.
“Wie hält es denn die Kirche des Allvaters mit dem Leben und Tod, Grimmgasch?”
“Wir Angroschim sind die Kinder des Allvaters”, begann der Priester. “Bei der Geburt geht der Lebensfunke des Allvaters auf uns über und der begleitet uns das ganze Leben.
Und wenn dann irgendwann der Lebensfunke erlischt, so gleiten wir hinüber in Angrosch Hallen.”
“Und hält Euch dieser Funke mehr im Diesseits oder ist er mehr ein Begleiter in Seine Hallen? Die Kirche der Zwölfe zählt in Ihren Reihen viele, die das ganze Leben als Prüfung sehen, und manche, die das Leben als Freude begrüßen. Und jene, die es nur als Wegabschnitt in die Hallen der Götter sehen. Müsst Ihr in den Augen Eures Gottes bestehen oder ist dieses Leben hier Sein Geschenk an Euch?”
“Das ist nicht so einfach zu beantworten”, überlegte Grimmgasch. “Der Lebensfunke, den uns der Allvater mitgibt ist ein Teil seiner selbst. Deshalb sind wir Angroschim ja auch so mit dem Weltenschöpfer verbunden. Und er schickt uns auf diese Welt, dass wir als Teil seines Weltenplans die uns gegebene Aufgaben erfüllen.
Und wenn unser Ende gekommen ist, dann kehren wir zum Allvater zurück.
Wie wir unseren Plan erfüllen, ob voller Freude hier oder voller Vorfreude auf Seine Hallen, dass ist jedem selbst überlassen.”
“Ein Teil dieser Aufgabe ist es Angroschs Schätze zu hüten- das Erz der Berge”, fügte Dwarosch mit ruhiger Stimme hinzu. Dazu ergänzte er weiter: “Doch des Allvaters Elemente sind zwei - Feuer und Erz. Aus ihnen wurden wir erschaffen und zu ihnen werden wir wieder nach unserem Tod, wenn wir in SEINER göttlichen Esse aufgehen. Ein Kreislauf dazu erkoren SEIN Werk zu verrichten. Der Grundgedanke mag einfach sein, doch tausende von Angroschim aus vier Völkern, verteilt auf dem ganzen Kontinent, die jeweils ein Zahnrädchen in einer riesigen Mechanik darstellen, treiben seinen Plan voran.”
Der Oberst lächelte milde und zuckte mit den Schultern. “Eine schlichte Analogie, um das Wirken der Götter in Worte zu fassen. Und doch werden wir sie nie wirklich verstehen, ebenso wie wir SEINEN Plan niemals erfassen werden können, weil unser Geist zu beschränkt ist seine Komplexität zu durchdringen.”
Obwohl Grimmgasch aus ihrem Gespräch in Ishna Mur wusste, dass der Oberst nicht nur an den Allvater glaubte, konnte er ihm nur mit einem Nicken zustimmen.

Das Bier war hell, kühl und schaumig - genau richtig für die durstigen Kehlen. Wenig später kam auch das bestellte essen - deftiger Eintopf, und für jene, die es geordert hatten, fetter Braten mit warmem, frischen Brot.
Draußen frischte der Wind auf, rüttelte an den geschlossenen Läden und heulte in den Kamin, dass die Funken des Herdfeuers aufstoben in glühendem Spritzen, einer Esse gleich.
Einige lauernde Augenblicke herrschte Stille - und mit einem Schlag begann ein Tosen und Rauschen, als das Alveranszelt seine Schleusen öffnete und es Herrn Efferds Segen und der Frau Rondra Zorn einem Wasserfall gleich aus den Himmel rauschte, als wolle es das sich unter dem Ansturm kauernde Gasthaus von Derens Antlitz spülen.
Grimmgasch war der Meinung, dass es durch das Rauschen des Regens auch in der Gaststube merklich kühler geworden war und zog sich seinen Reiseumhang über die Schultern. Dann widmete er sich wieder dem warmen Essen, so dass es auch von Innen warm wurde.
Während die Soldaten beherzt zugriffen und sich hungrig die Bäuche füllten, weckte der Oberst Mirlaxa zunächst, indem er sie in eine aufrechte Position auf seinem Oberschenkel brachte und ihr leise etwas ins Ohr flüsterte. Sein breites Grinsen dabei deutete an, dass dies Vorgehen ein für ihn nicht unbekanntes war.
Nur widerwillig kam das kleine Mädchen zu sich, doch der Geruch des Essens und wohl auch die Erinnerung an ihren Hunger sorgten dafür, dass sie recht bald bei der Sache war und bereitwillig den Mund öffnete, so dass Dwarosch sie füttern konnte, wobei er jeden Löffel durch Pusten zunächst abkühlte.
“Selbst!” verlangte Mirla und versuchte, nun wacher und wirklich hungrig, selbst nach dem Löffel zu greifen. “Brot auch” linste sie auf den Tisch und streckte sich, um ihre zweite Hand nach dem Gesuchten auszustrecken.
Einen weiteren kritischen Blick zur Seite kommentierte sie mit ”Mama hat.”
Als sie selbst das Gewünschte erhielt, streckte sie Dwarosch einen Kanten entgegen. “Dado auch!”
Der Oberst seufzte und zeigte dabei doch ein väterliches Lächeln. Er wusste, dass sein Bart nach dem ‘Löffelgebrauch’ seiner Tochter voller kleiner ‘Leckereien’ seien würde, doch hatte er längst begriffen, dass dies eben zum Vatersein dazu gehörte. Also fügte er sich ergeben in sein Schicksal und hatte wachsenden Spaß daran, wie man seinem Mienenspiel entnehmen konnte, das so viel Milde und Zuneigung zeigte, dass es kaum zu Dwarosch passen wollte.
Dieses kleine Menschenkind hatte ihn verändert. Er wusste, dass er sie liebte. Sie wusste es nicht, weil sie das Wort nicht kannte. Dwarosch aber hoffte, dass sie es fühlen konnte und dass die Zeit es fügen würde, dass sie aneinander wuchsen. Die Angst vor der Verantwortung war groß in dem sonst so rauen Zwergen, doch auch die Vorfreude darauf, sie aufwachsen zu sehen.
Nach der ersten halben Schüssel Eintopf, die Dwarosch wieder einmal staunen ließ, wieviel in so ein winziges Kind hineinpasste, drehte sich das Mädchen mit einem breiten Strahlen um. “Dado jetzt!” verkündete sie und schwenkte den Eintopflöffel halb vollen Eintopflöffel auffordernd vor Dwaroschs Nase.
Man konnte ihr den Stolz darüber, nun selbst schon groß genug zu sein, um ihren Dado zu versorgen, im Gesicht ablesen.
Und wieder war es an Dwarosch überrascht zu sein über diese ‘Entscheidung’, denn natürlich gab es in diese Hinsicht keine wirkliche Wahl für ihn. Wenn sie beschlossen hatte ihn zu füttern, dann würde es so geschehen - früher oder später, denn bis sie aus dieser Phase ihres Lebens heraus wäre, hätte sie ihn mit ihren großen, dunklen Augen ganz sicher weich bekommen. Warum also sollte er sich lange zieren? Dwarosch drückte seine breite Nase einmal gegen die Mirlaxas und sperrte dann auffordernd den Mund auf. Die Speisung konnte beginnen. Mit großem Ernst und Vorsicht begann das kleine Mädchen, den dicken Eintopf aus Rüben, Bohnen und Speckstücken in den Mund ihres Vaters zu befördern und strahlte vor Glück, als ihr dies gelang.
“Dado, gut?” wollte sie wissen, während pure Freude aus ihren Augen leuchtete.
Es war still unter den Gebirgsjägern geworden, die das Schauspiel mit einer Mischung aus Faszination und Unglauben musterten. Bei dem einen oder anderen schimmerte auch gut getarnte Wehmut durch, hatte doch keiner der Krieger bislang das Glück erfahren, ein eigenes Kind zu bekommen - von einer Frau an seiner Seite ganz zu schweigen.
Grimmgasch versuchte so gut wie möglich das Grinsen zu unterdrücken während er zusah, wie das kleine Mädchen dem Oberst mehr oder weniger geschickt den Suppenlöffel in den Mund steckte. Das dabei ein Teil der Suppe im Bart des Angroscho versickerte nahm Dwarosch mit einer für Grimmgasch staunenswerten Gelassenheit hin. Es musste sehr viel Liebe in dem manchmal doch schroffen alten Kämpfer stecken, man musste nur wissen welche Saite man anspielen musste.
“Hmmm”, brummte Dwarosch als zustimmende Antwort und hatte selbst in jenen Momenten, da er Essen im Mund hatte, die Mundwinkel weit oben. Die Blicke seiner Kameraden erwiderte er mit einem Achselzucken.
Der Oberst war sich sehr sicher, dass Mirlaxa schon bald jedem seiner Soldaten ein Begriff sein würde, ebenso wie es mit Ramiro gewesen war, der inzwischen als Bote für das Regiment tätig war und dabei bereits einmal die Ehre gehabt hatte, in die unterirdischen Stadtteile Senaloschs vorgelassen zu werden, um eine Nachricht zu überbringen.
“Dado, da!” beharrte Mirla, die mittlerweile einen Gutteil der Schüssel leergelöffelt hatte. “Groß und stark!” erklärte sie mit vollkommen ernster Miene, einen höchst wachsamen Blick in den Augen, ausgefüllt von ihrer Aufgabe und darauf erpicht, Dado auf gar keinen Fall hungern zu lassen.
Überrascht über diese Worte, sie waren klarer ausgesprochen als üblich und darüber hinaus waren es seine eigenen, argumentierte er doch immer gegenüber Mirlaxa, dass sie ihren Teller immer aufessen müsse, damit sie eben groß und stark werden würde, musste Dwarosch lachen. Er nahm das kleine Kindergesicht in beide Hände und küsste ihre Stirn. Es war eine liebevolle Geste, die Mirlaxa jedoch in dieser Situation gar nicht recht gefallen wollte, hatte sie doch die sich selbst auferlegte Queste, die Fütterung ihres Vaters, noch nicht beendet. Doch gerade als sie zu protestieren anfangen wollte, sperrte Dwarosch den Mund wieder auf und wischte sich währenddessen mit dem Handrücken Tränen aus den Augen.
Trotz allen Respektes vor der Verantwortung, ein Vater zu sein - sie würden auch sehr viel Spaß haben.
Mirla hingegen war nicht nach Spaß zumute - das kleine Mädchen hatte eine Mission.
Und diese verfolgte sie akribisch, so lange, bis in der Schüssel wirklich gar nichts mehr vorhanden war. Dados prachtvoller Bart würde wohl eine Wäsche benötigen - was das Kind aber überhaupt nicht störte. Glücklich strahlend himmelte sie ihren Vater an.
“Dado satt?”
Erneut lachte Dwarosch, diesmal jedoch bedeutend leiser, wie als sei es nur für das kleine Mädchen auf seinem Schoß bestimmt.
“Ja Mirlaxa, du hast deinen Vater satt bekommen, ich gratuliere”, antwortete er gutmütig und drückte seine Ziehtochter sanft an sich, um seine breite Nase in ihre Haare zu stecken.
Das Kind lachte glücklich und voller Stolz, als sie ihre Ärmchen um den breiten Hals ihres Vaters schlang und sich, bis über beide Backen strahlend, an ihn drückte.

Marbolieb lachte, als sie die energischen Aussagen ihrer Tochter hörte. Hier war jemand vollkommen glücklich.
Der heiße Eintopf und der draußen rauschende Regen machten die Schankstube heimelig - und die Aussicht auf den weiteren Abend wärmte ihre Wangen zusätzlich.
“Habt ihr noch mehr Geschwister als euren Zwillingsbruder, Grimmgasch?” Riss sie sich aus ihren vorfreudigen Gedanken.
Grimmgasch schüttelte den Kopf, dann als wäre es ihm gerade wieder eingefallen, dass Marbolieb es ja gar nicht sehen konnte, fügte er hinzu: “Nein, noch nicht.”
Und ergänzte mit einem Lächeln.
“Aber unsere Eltern sind ja auch noch jung! Und wir Angroschim leben ja sehr lange, also können da noch viele Geschwister kommen. Und Ihr?”
“Keine, von denen ich weiß..” schmunzelte die Geweihte. “Ich bin ein Findelkind des Tempels. Meine Eltern kenne ich nicht.”
“Das ist schade, sehr schade”, meinte der Angroschpriester mitleidig.
“Ich habe dafür elf Ziehgeschwister.” berichtete Marbolieb mit sanfter Stimme.
“Bis auf zwei sind sie alle in den Tempeldienst getreten.”
“Dann hat Euer Gott ja genügend neue Diener bekommen”, bestätigte Grimmgasch. “Mein Bruder ist Archivar, wir haben also auch ähnliche Interessen.
Und was ist aus dem letzten beiden Eurer Ziehgeschwister geworden?”
“Boronya ist davongelaufen. Und Marbodan hat sich im Noviziat ein Fieber eingefangen und ist gestorben.” Die Stimme der kleinen Geweihten wurde traurig. “Ich habe ihn sehr gemocht.”
“Dann ist er doch aber auf dem Weg zu Eurem Herrn gegangen”, meinte Grimmgasch tröstend. “Und wenn er im Tempel des Totengottes erzogen wurde, dann wird die Waage bei seiner Seele auf die gute Seite ausgeschlagen sein.”
“Gewiss.” nickte die Geweihte, die ihre Kapuze noch immer bis zur Nasenspitze gezogen trugt - wie schon die vergangenen Tage. Vielleicht, weil sie doch nicht so gänzlich frei von etwas Eitelkeit war?
“Er war mein kleinster Bruder. Ich bin sicher, dass Golgari ihn sanft getragen hat.” Sie verharrte einige Augenblicke, in ihre Gedanken versunken, und tastete abermals nach dem Mann an ihrer Seite und ihrer kleinen Tochter irgendwo auf seinen Armen. Ihre Fingerspitzen wurden feucht und klebrig, als sie irgendwo unterwegs einen Klecks Eintopf fand. Marboliebs Mundwinkel zuckten nach oben und ihre Stimme wurde warm.

“Habt ihr schon einmal jemanden verloren, der euch teuer war, Grimmgasch?”
“Ja”, nickte er und spürte wie sich auch nach all den Jahren wieder ein Kloß im Hals bildete. “Die Mutter meiner Mutter Xoldoa Tochter der Ubaraobe.
Sie war die gute Seele unserer Familie …”
“Was ist ihr passiert?”
“Ihr Lebenslicht ist einfach erloschen. Sie setzte sich Abends in ihren Lieblingssessel und ist einfach eingeschlafen …”
Grimmgasch schluckte tief.
“Dabei war sie doch erst 276.”
“Ist das sehr früh für eine Angroschna?” fasste Marbolieb vorsichtig nach.
“Es war bestimmt so vom Allvater geplant”, meinte Grimmgasch, fuhr dann aber fort: “Aber es war so plötzlich, sie war gesund. Und 276 ist nicht alt, aber es ist auch nicht sehr früh.
Es gibt viele Angroschim, die früher gestorben sind, aber es gibt auch viele die viel länger leben.”
Um ein wenige von seinen Gefühlen abzulenken, wandte er sich an Argmin: “Hast Du schon jemanden verloren?”
“Mein Onkel, Raul von Wirselbach. Ich war jedoch nicht bei ihm, als er starb - er verscholl im Feldzug, wie so viele andere.” Die Stimme des jungen Mannes klang belegt, seine Kiefermuskeln arbeitet für einen Augenblick, als hänge er schweren Gedanken nach. “ Mein Vater erklärte ihn für tot, sein Körper wurde nie gefunden. Onkel Raul war ein guter Mann, ein ehrenhaftes Vorbild und ein wackerer Streiter.” Er hob seinen Humpen.
“Stoßen wir auf die an, die wir vermissen, weil sie ihre Reise über das Nirgendmeer bereits angetreten haben.” Er hob seinen Humpen. “Auf ein Wiedersehen in Borons Hallen.” stimmte die Geweihte mit ein.
“Ka Angrosch garaschmox! Baroschem!”
“Getragen im Herzen und nie vergessen - nos te iterum conveniant” sprach Argmin in alter Zunge der Alten Senne.
“Doch lasst uns an diesem Abend der Gemeinsamkeit nicht in traurigen Gedanken versinken. Du hast einen Zwillingsbruder und Deine Eltern sind noch jung? Das heißt, es kann sein, dass Du noch Geschwister bekommst?”, fragte der Novize ungläubig nach.
“Ja”, bestätigte der Angroscho und fügte freudig hinzu: “Ich denke meine Eltern wollen sicherlich noch weitere Kinder.
Wie ist das mit Euch, Schwester? Soll Mirla nur alleine und ohne Geschwister aufwachsen?”
Die blinde Geweihte stutzte - mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet.
“Ich möchte ein Kind mit Dwarosch.” antwortete sie vorsichtig. “Aber das geht nicht.”
“Das hat der Allvater so eingerichtet”, meinte Grimmgasch. Es war nicht ganz klar ob der das jetzt bedauernd oder befürwortend meinte.
“Warum fragt ihr dies dann?” wollte die Frau wissen.
“Es könnte ja sein, dass Ihr - wenn Ihr gemeinsam kein eigenes Kind bekommen könnt - einem Findelkind Zieheltern sein könntet.”
Die junge Frau presste die Lippen zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf.
“Dwarosch … “ bat sie den Mann an ihrer Seite um Schützenhilfe.
Der Oberst schwieg. Dies Thema gehörte nicht zwischen Tür und Angel, nicht in diese Runde. Das ging zunächst nur Marbolieb und ihn an. Sie hatte sich für die Kirche des Boron entschieden und würde ihre Tochter bei ihm lassen, wenn sie zurück nach Calmir ging. Dwarosch zürnte ihr deswegen nicht, ganz im Gegenteil, er freute sich, dass Mirlaxa bei ihm blieb - er würde nur eine Liebe verlieren, nicht beide. Das Lächeln des kleinen Mädchens würde ihn jeden Tag trösten, auch wenn der Verlust Marboliebs ihn schwer treffen würde, eine vollständige Linderung dieses Schmerzes konnte es nicht geben.
Dwarosch wusste nicht, warum sie nun, in Anbetracht dieser Lebensumstände, dieser bereits gefallenen Entscheidungen sagte, dass sie ein Kind von ihm wolle. Es machte keinen Sinn, zumindest für ihn. Aber er wusste auch, dass Marbolieb feinfühliger war als er, dass nicht immer Logik in ihrem Herzen obsiegte, sondern teilweise auch emotionale Begebenheiten.
Die Stille wurde drückend. Der Oberst seufzte. “Dies Thema gehört nicht hierher”, sagte er schließlich. Er würde dazu nichts sagen, da alles was er sagen konnte Gefühle verletzen würde.
“Mirlaxa wird unter anderen Kindern in Senalosch aufwachsen - unter Menschen und Angroschim. Sie wird niemals allein sein.”
Grimmgasch wurde sich bewusst, dass er mit seiner neugierigen Fragen in ein großes Fettnäpfen getreten war und beschloß daher lieber einer Schluck von dem Bier zu nehmen als weiter zu fragen.

Marbolieb schluckte und senkte den Kopf, eine Weile in Gedanken versunken. Freiwillig kehrte sie nicht nach Calmir zurück, das wusste Dwarosch. Sie streckte sie ihre Hand wieder in Richtung des Oberst und fühlte ein Stück Oberarm unter ihren Fingerspitzen - der, wie üblich auf ihrer Reise, unter feinstem Senaloscher Kettengeflecht steckte.
“Magst du Mirla halten, oder möchtest du sie mir geben?” erkundigte sie sich sanft. Ihre Hand war warm und ruhig, und wenn es nach ihr ginge, hätte sie noch eine Weile hier bleiben dürfen.
Trotz des nachdenklichen Themas am Tisch klang die Begeisterung von Kind und Oberst in ihrem Geist nach und erfüllte sie mit einem tiefen, umfassenden Glücksgefühl.
“Raffiniert gestellte Frage, Räblein”, kam die Antwort und der Klang von Dwaroschs Stimme verriet Marbolieb, dass er grinste. “Ich weiß ja, dass du sie auch halten möchtest.”
Mit einem ‘Hopp’ flog Mirlaxa einmal von dem Schoss des Oberst in die Luft und landete dann sanft abgesetzt auf den zierlichen Oberschenkeln ihrer Mutter.
Erst als Mirla dann ihren Kopf glucksend und freudestrahlend an die Brust ihrer Mutter legte, ließ Dwarosch das Mädchen los und seufzte zufrieden.
Marbolieb strahlte, als sie ihr Kind in ihren Armen fühlte, und umschlang das kleine, schwere, weiche und warme Wesen mit einem Arm, während sie ihren Kopf vorsichtig auf den dunklen Haarschopf ihrer Tochter legte.
“Ich danke Dir.” Sie tastete nach Dwaroschs Hand und umschloss die breite Pranke ihres Liebsten mit ihren Fingern.
“Mirla achtet gut auf dich.” stellte sie vergnügt fest.
‘Und sie ist nicht die Einzige.’ fügte sie im Stillen hinzu.
“Sie erinnert mich Tag für Tag daran was wichtig ist - ohne etwas sagen zu müssen”, antwortete Dwarosch und seine Stimme war voller Wärme. Er schluckte schwer. “Ich werde an und mit ihr ‘wachsen’, Räblein.”
Die Geweihte nickte. “Das wirst du, Dwarosch.” stimmte sie zu und strich über seine muskulöse, arbeitsgewohnte Hand.
Bestätigend.
Ungleich mehr noch tröstend.

Grimmgasch beobachtete das Familienidyll, dann schaute er in die Runde der anderen Angroschim am Tisch und sah, dass einige der Gesichter der Soldaten deutlich weichere Züge trugen als sonst und auch die Bierkrüge schneller geleert wurden.
Er nahm selber auch noch einen tiefen Schluck, dann überlegte er und stellte Marbolieb eine Frage: “Soll Eure Tochter auch in den Dienst an Eurem Gott eintreten, wenn sie älter ist, so wie Eure Ziehgeschwister?”
“Das mag sie selbst entscheiden, wenn sie älter ist - nicht wahr, Dwarosch?” wandte sie sich an den bulligen Oberst neben ihr.
Dieser nickte. “Das ist allein ihre Entscheidung”, stellte Dwarosch ruhig fest. “Ich werde nicht den Fehler begehen mein Kind in eine bestimmte Richtung drängen zu wollen. Meine eigenen Erfahrungen sind mir diesbezüglich eine Lehre. Aber bevor sie einen Weg für sich wählt, wird sie eine gute Ausbildung erhalten: Schreiben, Lesen, Rechnen.
Ich könnte mir durchaus so etwas wie Gold- oder Kunstschmied, Edelsteinschleifer vorstellen, aber auch Schreiber, die beide Zungen und Schriftzeichen beherrschen, werden in Senalosch immer gebraucht.” Der Oberst zuckte mit seinen massigen Schultern. “Ihr stehen viele Wege offen.”

Der kleine Mensch auf ihren Armen hatte sich satt und zufrieden einen Fingern in den Mund gesteckt und betrachtete den Angesprochenen stolz und müde aus großen, kugelrunden Augen. Gewiss war er satt - wofür allein sie, Mirla, gesorgt hatte.
“Ich bin sehr froh, dass sie bei Dwarosch bleiben darf.” lächelte Marbolieb und strich zärtlich über die Wange ihrer Tochter, deren Lider, satt und abgearbeitet, nun merklich schwer wurden.
“In Punin hätte ich sie ebenfalls in die Obhut von Zieheltern geben müssen - als Geweihte im Gebrochenen Rad hätte ich kein Kind aufziehen können.” Oder dürfen, was auf das gleiche herauskam. “Ebensowenig wie in Calmir.”
“Warum hätte sie nicht wie ihr im Tempel aufgezogen werden können?” fragte Grimmgasch nach. Irgendwie war das doch das naheliegendste.
“Die Zieheltern, die sich um die Tempelwaisen kümmern, gehören zwar zum Tempel, wohnen aber in eigenen Häusern außerhalb. Wir waren anfänglich nur zur Andacht zweimal in der Woche dort. Im Tempel selbst gelebt habe ich mit Beginn des Novizates - mit sieben.” erklärte Marbolieb. “Die Geweihten im Tempel haben keine Kinder bei sich - das geht neben dem Tempeldienst nicht.”
“Haltet mich bitte nicht für zu neugierig”, meinte Grimmgasch und fuhr dann fort: “Aber wenn die Kinder doch nicht direkt im Tempel erzogen werden, warum gebt ihr dann die Kinder nicht in einen anderen Tempel der Zwölfe. Ihr habt doch die Göttinnen der Geburt und der Familie.”
“Dann würden sie aber als Novizen diesem Tempel beitreten. Und der Tempel der Tsa hat selbst eine Anzahl Waisen, die er aufzieht.” erläuterte die Boroni.
“Oh!” meinte Grimmgasch, “Ihr Kurzlebigen mit Euren vielen Göttern, ihr seid so festgelegt. ‘Wenn ich da erzogen werden, dann kann ich nur diesem Gott dienen …’
Warum soll das so sein?”
“Es ist in Punin Sitte, dass der Borontempel ebenfalls Waisen aufnimmt. Lange schon. Und manche Eltern legen ihre Kinder absichtlich an die Pforte des Gebrochene Rades. Das würde sie nicht tun, wenn sie ihr Kind im Tsatempel sehen wollten.”
Marbolieb dachte einen Augenblick nach, ehe sie erklärte. “Der liegt direkt gegenüber auf der anderen Seite des Platzes des Schweigens.”
“Das kann ich nicht verstehen, warum soll man sein Kind, das gerade geboren wurde, dem Gott der Toten weihen?”
“Dem Gott des Todes. Und des Schlafes und der Träume. Das ist etwas anderes, Bruder Grimmgasch.”
Grimmgasch schüttelte den Kopf. Diese Götter würde er nie wirklich verstehen. Mit dem Allvater gab es solche Probleme nicht.
Marbolieb lauschte in die beredte Stille. Hier gab es hörbar Schwierigkeiten - entweder mit ihrer Erläuterung, oder dem Ankommen derselben. Vermutlich mit beidem.
“Argmin, Dwarosch - mögt ihr dies Bruder Grimmgasch erklären?” bat sie.
“Hm”, brummte der Oberst. Leicht fiel es Dwarosch nicht, darauf eine passende Antwort zu geben, aber er wollte es anscheinend zumindest versuchen.
“Der Tod ist nur ein Aspekt Borons, wie Marbolieb bereits sagte und für ihre Geweihtenschaft ist der Tod nichts negatives, sondern tröstlich. Am Ende eines harten, beschwerlichen Lebens voller Entbehrungen wartet die ewige, erlösende Ruhe in Borons Hallen. So ist ihre Sichtweise.
Zudem ist der Tod essentieller Bestandteil des Lebens, ebenso wie die Geburt, für die Tsa steht. Man kann beides nicht getrennt betrachten. Das Leben ist ein Zyklus”, erklärte der Oberst ruhig. Weiter sprach er: “In Almada besitzt die Kirche des Raben zudem fast schon staatstragende Funktion und Punin ist das Zentrum des Kultes auf dem Kontinent. Ein Kind, welches dort aufgenommen wird, wird es nicht schlecht ergehen und ein Diener des Ewigen wird in Almada immer ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft sein, wie ein Diener des Praios in den Nordmarken.”
Wiederum schüttelte Grimmgasch nur den Kopf über diese komische Weltanschauung. Vermutlich würde es noch viele Jahre älter werden müssen, ob diese Anschauung verstehen zu können.
“Meister Dwarosch, könnt Ihr diese Gedanken wirklich nachvollziehen?”
“Das kommt ganz darauf an, was davon du meinst”, entgegnete der Oberst. “Was Boron betrifft, ja. Das kann ich nachvollziehen. Marbolieb hat mich gelehrt, was es es mit SEINEM Wirken, SEINEM Wesen auf sich hat. ER hat mir viel gegeben seither. Der innere Ruhe, die ich in den Gebeten mit Marbolieb fand, verdanke ich mein Leben. Nicht mehr und nicht weniger.
Was alles Weltliche betrifft.” Wiederholt zuckte Dwarosch mit den Schultern. “Sie sind anders als wir.”
“Ja, das ist wahr. Sie werden uns nie ganz verstehen und wir sie auch nicht.”
“Das ist gar nicht notwendig, solange wir ihre Andersartigkeit akzeptieren”, kommentierte der Oberst das Resümee Grimmgaschs.
“Die Gorschafortbrumborim sind auch anders und wir verstehen ihre Lebensweise nicht”, so Dwarosch weiter. “Dennoch aber haben wir gelernt sie zu akzeptieren.
Es ist diese Akzeptanz, die die Grundlage des Nebeneinander ist.”

“Ja, da habt Ihr recht”, nickte Grimmgasch, auch wenn die Grundlage der Gemeinschaft der Völker in diesem Reich zerstört wurde. Marbolieb lauschte gespannt diesem Austausch, der ahnen ließ, dass die beiden Angroscho die Anwesenheit der Menschen neben ihnen fast vergessen hatten. Er erinnerte sie an sehr viele Gespräche, die sie, über dies und Ähnliches, mit Dwarosch geführt hatte.
Über ihre Lippen huschte ein sanftes Lächeln, als sie ihre Wange an den warmen Kopf ihrer Tochter legte, die, müde, satt und zufrieden über ihre Taten, stillschweigend eingeschlafen war.

Nacht

Es war finster.
Das Holz in den Dachsparren knackte, doch ansonsten hatte Stille die Gaststube eingehüllt wie in einen Mantel. Was bedeutete, dass es die dunklen und kalten Stunden vor dem Morgengrauen waren - so spät, dass auch der letzte Zecher gegangen, die letzte Arbeit in der Küche getan war.
Zu früh, dass die Arbeit dort, die immer vor Tag und Tau begann, schon wieder aufgenommen worden wäre.

Argmins Füße fanden wie von allein den Weg über die knarrende Treppe, hinaus auf den gepflasterten Hof, und fort aus der Umfriedung unter die dichten, dunklen Äste des Waldes, der wenige Schritt hinter dem Gasthaus begann.
Kühler Wind wehte in sein Gesicht und ließ die Bäume flüstern.

Vor sich hörte der Novize ein leises Kinderlachen und das Geräusch kleiner, flinker Schritte aus dem weichen, federnden Waldboden.

Fahl schimmerte das bleiche Mondlicht durch die dicht belaubten Äste, als sich eine Lichtung vor dem jungen Mann auftat. Gekleidet in ein langes, weißes Hemd lief ein kleines Mädchen barfuß durch das hohe, feuchte Gras. Ihre schwarzen, feinen Haare umflossen ihre schmalen Schultern. Vertraut war ihm das Kind, das nicht mehr als drei Sommer zählen mochte.
Nicht weit entfernt klang das wehklagende Heulen eines Wolfsrudels.

Das kleine Mädchen blieb abrupt stehen und wandte sich zu Argmin um.
Sie betrachtete ihn unverwandt mit großen, dunklen Augen und streckte ihm auffordernd eine Hand entgegen.
Argmin reichte dem Kind seine Hand. Die kleinen Finger schlossen sich um die seinen, und er kam sich groß und unbeholfen vor und er musste deswegen lächeln, dann wanderte seinen Augen aber von der kleinen Gestalt nach oben, zwischen die Bäume und er versuchte die Dunkelheit zwischen den Bäumen zu durchdringen. Das Heulen der Wölfe klang bedrohlich und nah und er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Doch der Druck der kleinen Hand gab ihm Zuversicht und er folgte dem Mädchen tiefer in den Wald.
Zufrieden nickte das Mädchen und schritt auf seinen nackten Füßchen weiter über den mit hohem Waldgras bedeckten Boden, einem Weg folgend, den es nur selbst erkennen konnte.
Vor einer großen Tanne blieb sie stehen und hob eine Hand. Aus dem Geäst löste sich ein Schatten und mit lautlosem Flug flatterte ein kleines Käuzchen auf ihre Hand und beobachtete den großen Novizen mit goldenen, runden Augen.
“So bist Du gekommen.” drang eine tiefe Stimme aus dem Dunkel unter den Ästen.

Der Novize versuchte in der Schwärze etwas zu erkennen, doch seine Augen fanden nur Dunkelheit. Dennoch spürte er keine Angst, die Stimme war ihm fremd, doch spürte er nichts böses darin. Er wandte den Blick zu dem Kind an seiner Seite, das ihn lächelnd anblickte, dann atmete er tief ein und trat einen kleinen Schritt nach vorne, ohne die Hand des Mädchens loszulassen.
“Hier bin ich - doch sie hat mir den Weg gewiesen. Alleine hätte ich den Weg nicht gefunden.”

Ein Rascheln, das ein Nicken hätte sein können.
Aus dem Dunkel löste sich die Gestalt eines alten Mannes, eines Kriegers, denn noch immer war seine Gestalt gerade und ehrfurchtgebietend.

Das kleine Mädchen lachte auf, löste die Hand von Argmin und hüpfte auf den Mann zu, umtanzte ihn und verbarg sich hinter seinem weiten, dunkelgrünen Umhang, auf dem stolz drei schreitende Löwen prangten.

Der Mann musterte den jungen Novizen aus nachdenklichen Augen, lange und eindringlich, bis er schließlich die Stimme erhob. “Du und Feuerfeder - geht nach Gratenfels mit meinem Segen.

Ihr wisst was ihr zu tun habt.

Und ihr werdet euren Weg finden.”

Die tiefe Stimme des Mannes, das schwere Unterton darin, drangen wie aus weiter Ferne an Argmin heran. Ihm war, als ob ein Fieber ihn gepackt hätte, denn ein Schwindel breitet sich in ihm aus, ließ Worte, Bilder, Gedanken verschwimmen. Seine Augen huschten unruhig hin und her zwischen des Mannes Wappenmantel und dessen Gesicht - keinen Sommer schien es gealtert, keine Falte mehr als damals vor soviele Jahren an jenem Abend, der Argmins Leben so grundlegend verändert hatte. Es war die gleiche Stimme, es war der gleiche Mann, der nun erneut wieder vor ihm stand, ihn ansah, voller Stärke und Eindringlichkeit und doch so voller Güte und väterlicher Nähe.

Argmin kniete nieder mit dem rechten Bein und neigte tief den Kopf.
“Herr! Verzeiht .. ich ... wusste nicht … ich … Hätte ich …” dann verstummte er, sammelte sich, zwang sich zur Ruhe, fuhr dann bedächtig fort.
“Silberne Klinge, Herold der Göttin! Ich danke Euch. Aus tiefstem Herzen. Ich danke Euch für Mantel und Schutz vor vielen Jahren. Für den Weg, den ihr mir damals zeigtet. Für Euren Ruf, und für den Segen, den ihr mir schenkt. In Eurem Glanz will ich schreiten, in Eurem Zorn will ich streiten, für die Leuin, für unseren Frieden.”

Das kleine Mädchen linste hinter dem Mantel des Kriegers hervor und lächelte Argmin zu. Mit einem schelmischen Grinsen versteckte es sich wieder, so jäh, wie es aufgetaucht war.
Der alte Mann ignorierte das Kind, auch wenn sich Argmin nicht ganz sicher war, ob da nicht doch ein zufriedenes Lächlen in den faltigen Augenwinkeln des alten Kriegsmannes Einzug hielt.
“So schreite voran, und wenn Du strauchelst, stehe wieder auf.
Erfülle Deine Pflicht in meinem Sinne, sei den Schwachen Schutz und Schild und den Unheiligen Wehr und Tod. So sei es, Argmin.”

Den Kopf noch immer tief geneigt, antwortete der Novize: “In Eurem Namen will ich standhaft sein und Taten vollbringen voller Ehr’. Nicht wanken und nicht zögern will ich, aber streiten mit der heiligen Flamme Eures Zorns!”
Argmin blickte auf, spürte den Blick des alten Mannes auf sich ruhen, sah die Strenge und die Güte darin, sah die Ruhe und den Zorn und väterliche Geduld.
“So sei es. Heil Rondra, der Sturmleuin!”, sprach er und erhob sich.

Ein gleißend heller Blitz umhüllte den Mann und das Mädchen, traf den jungen Novizen wie ein Hieb und ließ ihn wanken. Als er seine brennenden Augen wieder öffnete, kniete er auf dem feuchten Waldboden.
Mann und Kind waren verschwunden, und vom höchsten Ast der Tanne beobachtete ihn mit goldenen, runden Augen ein Käuzchen.

Er blieb knien und schloß erneute die Augen, in denen noch weiße Funken tanzten. Bedächtig atmete er ein und aus, konzentrierte sich auf seinen Herzschlag und versuchte Ruhe in seine sich drehenden Gedanken zu bekommen.
‘Rondra, Herrin, Alveransleuin! Deine Namen preise ich, nach Deinen Idealen strebe ich, in Deinem Zeichen streite ich. Rondra, Herrin, Schwert der Zwölfe! Dein Krieger will ich werden, Deine Klinge und Dein Schild, Wehr und Schutz den Schwachen. Rondra, Herrin, Sturmbringerin! Mit Deinem Segen will ich kämpfen und keinen Schritt weichen vor Unheil und dem Bösen! Werde ich straucheln, so werde ich aufstehen und trotzen jedem Unbill und niemals aufgeben! Heil Dir, Unbesiegte!’
Argmin murmelte den Kanon mehrmals, bis er spürte, dass seine Muskeln sich entspannten, dann erhob er sich. Vor ihm lag dunkler Tann, er war alleine, nur das Käuzchen saß noch immer dort oben im Baum und sah auf ihn herab.
“Wer immer Du bist, wie immer Dein Name ist - ich grüße Dich und ich danke Dir, dass Du bei mir warst!” rief er dem Vogel sah und musste lachen. Er schüttelte den Kopf, hob trotzdem die Hand zum Gruße und wandte sich ab, um zurückzukehren.

Das Käuzchen musterte ihn aus seinen brennenden, hellen Augen, öffnete einmal den Schnabel wie zur Antwort, ohne dass ein Laut zu hören war, und schloss ihn wieder, den jungen Novizen weiterhin unverwandt betrachtend.
Leise ging er die Treppe hoch und suchte seinen Schlafplatz auf. Er nahm das Schwertgehänge mit Wellenbrecher und zog die Klinge vorsichtig. “Wellenbrecher hieß ich Dich, dem Fürst der Muscheln zu Ehren, der Dich mir gab in Deiner Gestalt. Doch in Feuer wurdest Du getauft in den Tiefen von Ishna Mur und dann gesalbt mit der brennenden Feder. Feuerfeder wurdest Du genannt und so will ich Dich bei Deinem Namen rufen: Rijsh’alnaar.” Er küsste das Schwert am Knauf, sanft und zärtlich. Dann legte er sich nieder, Rijsh’alnaar neben sich wie eine Geliebte und sank in tiefem Schlummer.
Still deckte die Nacht ihren Mantel über den Schläfer, und Bishdariel, der sanfte Rabe, schenkte ihm, zumindest für diesen Schlummer, traumlosen Frieden.

Morgendämmerung

Der nächste Morgen begann früh mit einem gnadenlosen Lärmen aus hunderten gefiederter Kehlen. Es schien, als hätte sich jeder Praiosgrüßer, Tempelpfeifer - und jede Spottdrossel - vor dem Gasthaus versammelt, um die Schläfer noch weit vor Tagesanbruch aus ihren Betten zu rufen.

Marbolieb gähnte, lauschte in das zwitschernde Getöse von jenseits der geschlossenen Läden, und benötigte einigen Atemzüge, um die relative Stille um sie herum mit der Abwesenheit eines Dutzend Mitschläfer im Schlafsaal in Verbindung zu bringen.
Kein kratziger Strohsack, sondern ein weiches Bett mit glattem Linnen, in dem sie lag. Sie gähnte erneut müde und ausgiebig, räkelte sich zufrieden unter der weichen Decke und genoss den faulen, trägen Frieden des frühen (hoffentlich frühen) Morgens - und die Nähe ihres Liebsten und ihrer Tochter, von denen zumindest letztere noch friedlich schlief, wie ihre ruhigen, leisen Atemzüge verrieten. Die Reise ging auch dem kleinen Mädchen nicht spurlos vorüber, und die Anstrengung und vor allem die vielen neuen Eindrücke taten das ihre, dass das Kind ganz ungewohnt tief, lange und selig in den Armen des Schweigsamen, des Traumbringers, ruhte.
Ein leises, überaus zufriedenes Lächeln schlich um die vollen Lippen der jungen Frau, als sie mit ihrem zierlichen Fuß über das nackte Bein ihres Geliebten strich und sich enger an ihn schmiegte. Sie legte ihre Wange auf seine Schulter, flocht ihre Finger in sein dichtes, sehr in Unordnung geratenes Haar und seufzte zufrieden. Er roch gut, mit einem Beiklang, der ganz entschieden nicht menschlich war - ohne dass sie dieses ‘Anderssein’ in Worte hätte fassen können. Vielleicht ließ es sich noch am ehesten mit dem Geruch eines warmen Steins vergleichen, auf den Sommerregen fiel.

So oder so gehörte es unverrückbar zu ihm, dem Mann, dem sie schon vor langer Zeit vorbehaltlos ihr Herz geschenkt hatte - und den sie an ihrer Seite wollte, allen Schwierigkeiten, die das mitunter verursachte, zum Trotz.
Warm war er, und die Muskeln unter seiner Haut klar definiert und fest. Voller Haare. Und so voller Kraft und Leben. Ob er wusste, wieviel er ihr bedeutete?
Das Lächeln auf Marboliebs Lippen erhielt eine ausgesprochen sinnliche Note, als ihre Hand auf Wanderschaft ging, den Linien der mächtigen Muskelstränge auf der Brust ihres Liebsten folgte und mit forschenden Fingern die verheißungsvolle Landschaft dort erkundete. Mit einem wohligen Knurren begann sich Dwarosch träge zu räkeln. Einmal verzog sich seine Miene zu einer Mischung aus Schmerz und Entspannung, als er sich streckte und seine Muskeln die in der Nacht verlorene Spannung wiederfanden. Dann nahmen seine Mundwinkel ein süßes Lächeln an.

“Ist es schon Morgen?”, raunte er in Marboliebs Ohr.
“Hm.” Die junge Frau pustete in die Haare des bulligen Oberst und liebkoste die warme, lebendige Haut an seinem Hals. “Nein.” entschied sie bestimmt und fand mit einem verschmitzten Lächeln mit ihren Lippen eine Stelle an seinem Ohr, an welcher er ganz besonders empfindsam war.

“Was für ein Glück wir doch haben”, beschied Dwarosch ohne dabei die Augen zu öffnen, während seine breiten Arme Marbolieb umschlangen, um sie sanft aber bestimmt auf sich zu ziehen.
Warm waren die kräftigen Hände, die den Rücken der zierlichen Frau empor strichen. Seine Lippen fand ihre Halsbeuge und ein weiteres, leises Knurren entrann seiner Kehle, als er von ihrer Haut gekostet hatte.
Marbolieb schloss die Augen und erforschte mit ihrer Zungenspitze und ihren Zähnen das Ohrläppchen ihres Geliebten. Ihre Hände gruben sich durch sein dichtes Haar auf seiner Brust, und sie kostete die Berührung seiner warmen Haut auf ihrem bloßen Leib mit allen Sinnen. Die junge Frau schmiegte sich eng an den wuchtigen Körper des Mannes unter ihr und genoss den flüchtigen, warmen und durch und durch geborgenen Augenblick.
Doch Dwaroschs Hände hinterließen ein warmes Kribbeln auf ihrem Rücken, das bis in ihren Bauch ausstrahlte, und der Oberst spürte, wie Marboliebs Herz ihr unter seiner Berührung bis zum Halse schlug und keinesfalls nur von behaglicher, ruhiger Geborgenheit erzählte.
Nicht von Ruhe.
Die spezielle ‘Aufmerksamkeit’, die Marbolieb seinem Ohr zukommen ließ, vermochte es auch das Blut des sonst in solchen Dingen eher träge zu bezeichnenden Zwergen rasch in Wallung zu bringen, so dass das nächste Knurren weniger verspielt war, sondern von echtem, geweckten Verlangen zeugte. Sie kannte ihn und wusste, wie er anzupacken war.
Seine Hände wanderten fordernd wieder ihren zarten Rücken hinab bis zu ihrem Gesäß, wo sie beherzt zupackten.
Marbolieb keuchte auf, als sich ihre beider Leiber vereinigten. Ihre Hände krallten sich in Dwaroschs Schultern und ihre Wangen röteten sich von dem Feuer, das in ihrem Leib aufloderte, geschürt von den fordernden Bewegungen ihres Mannes.
Auch er wusste, wie sie es liebte, zusammen mit ihm der Heiteren Göttin zu huldigen und hatte gelernt, wie er die junge Frau anzufassen hatte, dass die Unterschiede zwischen ihnen zerrannen und sie beide, für eine viel zu kurze, wonnetrunkene Zeit eins wurden.

Geraume Zeit später schmiegte sich die Geweihte müde, befriedigt und glücklich an den schweißbedeckten Leib ihres Geliebten. Sie grub ihren Kopf in das zerzauste Haar des Oberst und küsste ihn sanft und liebevoll auf die Wange, seufzte wohlig, suchte sich eine bequemere Lage und war, mehr als zufrieden mit sich und der Welt, bereit, wieder in einen seligen Schlummer hinüberzugleiten. Marbolieb lächelte glückselig, als sie seinen schweren Arm um ihrem Rücken spürte und Dwarosch spürte, wie sie sich entspannt an ihn kuschelte.

Durch die Läden drangen helle Lichtfinger in den Raum, ließen die Staubteilchen glitzernd tanzen und laute Gespräche und das Klappern von Töpfen und Geschirr kündeten von unten, dass der Morgen für viele Leute längst begonnen hatte.
“Dado. Hunger!” erklärte eine energische Stimme lautstark fast direkt neben Dwaroschs Ohr unter vollkommener Missachtung der elterlichen rahjagefälligen Harmonie unter den zerwühlten Laken.
Dwarosch lachte und drehte sich vorsichtig zu seiner Ziehtochter, um sie mit einer Hand an sich zu ziehen. “Guten Morgen Mirlaxa”, sprach er und küsste ihre Stirn. “Da du deine Mutter und mich so lange hast ‘schlafen’ lassen, hast du jedes Recht dazu hungrig zu sein. Wir werden uns eilen das zu ändern.”
Marbolieb seufzte, und Dwarosch konnte die Wehmut in diesem Laut deutlich lesen.
“Guten Morgen, mein Schatz.” lächelte sie, tastete nach ihrer Tochter und strich dabei sanft über die bärtige Wange des kräftigen Oberst. “Das war schön, mein Liebster.“ flüsterte sie leise
und küsste ihn sanft auf die Lippen, ehe sie aus dem Bett kletterte und, das Laken halb um sich geschlungen, nach ihrer Robe suchte. “Wir werden uns in Gratenfels ein paar schöne Tage machen - wir drei”, sprach Dwarosch, der noch weiter mit Mirlaxa kuschelte. Erst einige Augenblicke später, als das kleine Mädchen laut kichernd protestierte nicht mehr gekitzelt werden zu wollen, hievte sich der Oberst mit einem leichten Stöhnen aus dem Bett und zog Mirlaxa dabei mit sich.

Ein neuer Tag

Wenig später trafen sich die ersten Reisenden nach und nach im Schankraum des Gasthauses.
Aus der Küche drangen verheißungsvolle Düfte nach gebackenem Speck und gebratenen Eiern, in das sich der Geruch von frisch gebackenem Brot und starkem Kräutertee mischte.
Noch war die Gaststube leer, nur an einem anderen Tisch saß eine Gruppe aus einem halben Dutzend Leute, die nach ihrem Aussehen Händler mit Begleitung waren.

Da Argmin noch tief und fest schlief, hatte sich Grimmgasch leise angezogen und aus dem Zimmer geschlichen, schließlich hatte der Novize eine ruhige Nacht verdient nach all den Träumen in der letzten Zeit.
Mit einem freundlichen “Garoschem!” grüßte er die anwesenden Händler und setzte sich an den noch leeren Tisch. Als der Wirt kam und nach dem Gewünschten fragte, bestellt er eine große Portion Eier mit Speck und einen Humpen Bier. “Die Zwölfe zum Gruß und Euch einen guten Morgen!” kam es denn auch artig von den Händlern zurück, die den einzelnen Geweihten neugierig musterten, sich aber wohlweislich nicht aufdrängten.
Dafür aber tauchten nicht viel später die ersten der Gebirgsjäger in der Gaststube auf - das frühe Aufstehen gewohnt, aber auch vollkommen ausgeschlafen, hatte doch heute Nacht keiner Wache halten müssen.
“Ihr scheint den Morgen ja für sehr gut zu halten, dass ihr so früh schon unterwegs seid”, antwortete der Geweihte mit einem fröhlichen Lächeln während er auf sein Frühstück wartete. “Sagt kommt ihr aus Gratenfels oder wollt ihr dort hin?” wollte er neugierig wissen. “Wir sind auf dem Weg nach Gratenfels - und dann weiter über den Pass nach Angbar, Euer Gnaden” gab der älteste der Gruppe zur Antwort. “Ich bin Radbod Mühlenhaus, Phex und Ingerimm zum Gruße.” fügte er übergangslos in einem erstaunlich guten Rogolan hinzu. “Und mit wem habe ich die Ehre, ehrwürdiges Väterchen?”
Der junge Geweihte kicherte leise und meinte dann zu dem Händler: “Dorangrasch reicht. Ich bin nur ein frisch geweihter Angroschpriester und nicht der Rogmarog.
Mit was handelt Ihr, wenn die Frage erlaubt ist?”

“Verzeiht mir bitte, Dorangrasch.” Der Händler neigte halb seinen Oberkörper.
“Mein Haus handelt mit Zwergenkohle und zwergischen Schmiedearbeiten sowie mechanischer Feinkunst.” Er betrachtete den feuerbärtigen Zwergen mit einiger professioneller Neugier.
“Und wir haben ein recht großes Lager am Elenviner Hafen, in dem fremde Handelsleute ihre Ware sicher unterbringen können, wenn sie ein Fracht in der Herzogenstadt löschen.”
“Nun”, meinte Grimmgasch, “das klingt sehr interessant und erklärt natürlich auch Eure Sprachkenntnisse. Aber wir sollten Eure Begleiter nicht vom Gespräch ausschließen.”

Er wechselte zurück auf Garethi.
“Habt Ihr auch Beziehungen nach Senalosch?”
“Leider noch nicht. Wir handeln mit Makamesch und den Zwergen in Albenhus, und hin und wieder sogar mit Calbrozim. Warum fragt ihr, ehr… Dorangrasch?”
“Der Sohn meines Dienstherrn ist Schmied in Senalosch und Mitglied der Zunft”, antwortete Grimmgasch erklärend. “Und soweit ich es gesehen habe, fertigt er recht gute Ware.”
“Meint ihr, er hätte Interesse an einem Handel?” erkundigte sich der Mensch, mit einem Mal höchst aufmerksam. “Mögt ihr mir sagen, wer Euer Dienstherr ist - und wie sein Sohn genannt wird?”
“Mein Dienstherr ist Borix, Sohn des Barax, der Bergvogt von Ishna Mur”, antwortete der Geweihte. “Und sein Sohn ist Boram, der Schmied. Er hat seine Werkstatt in Felsenruh. Sagt ihm, dass Euch Grimmgasch schickt.”
“Oh, ich dank’ euch sehr.” Der Händler überlegte und fasste sich ein Herz. “Meint ihr, ihr könntet mir ein Empfehlungsschreiben geben, für den Herrn Boram, wenn ich bei ihm vorspreche? Vielleicht darf ich dann dafür euch heute zu eurem Frühstück einladen?” “Es wird mir eine Freude sein”, bestätigte der junge Geweihte. “Habt Ihr Feder und Pergament dabei?”
“Aber gewiss doch! Aidan, eil er sich!” Mit diesen Worten sprang einer seiner Begleiter auf, lief aus der Gaststube und kehrte wenige Augenblicke schwer atmend, aber mit Griffel und Papier, wieder zurück. Mit einem milden Lächeln gab der alte Händler beides an den Geweihten weiter.
“Danke, Meister Mühlenhaus.”
Grimmgasch griff den Griffel und begann mit exakt gesetzten Runen das Pergament zu füllen. Nachdem das Blatt halb voll geschrieben war, zog er einen kleinen Edelstein aus der Tasche, tauchte ihn leicht in die Tinte und setzte sein Siegel unter das Schreiben. “Ich hoffe, dass mein Schreiben Euch helfen wird.”
“Ich danke euch sehr!”
Vorsichtig streute der Händler Löschsand über das Schreiben, ehe er es vorsichtig trocken blies und dann seinem Gehilfen übergab, der es sorgfältig verstaute.
Dann überlegte Grimmgasch kurz.
“Ihr sagtet, dass Ihr mit Albenhus handelt. Wie lange denn schon?”
Als die Schankmaid das Frühstück brachte, begann der Angroscho zuzulangen und dabei auf die Antwort des Händlers zu warten. “Schon lange - unsere Großmutter hat das schon getan.” gab Meister Radbod mit stolz geschwellter Brust zur Antwort. “Weshalb fragt Ihr, Euer Gnaden?”
“Weil Meister Borix und seine Familie bis vor wenigen Jahren in Albenhus gelebt hat. Und dort hat Boram auch gelernt, soweit ich weiß. Vielleicht seid Ihr Euch dort schon einmal begegnet.”
“Das mag wohl sein.” nickte Radbod. “Doch wisst ihr, Albenhus ist sehr groß. Doch vielleicht werden wir uns erinnern, wenn wir einander gegenüberstehen.” Er musterte den Geweihten neugierig. “Sagt, Euer Gnaden, lebt ihr ebenfalls in Senalosch?”
“Nein, nicht mehr”, antwortet Grimmgasch. “Ich habe vor gut einem Viertel Götterlauf dort meine Weihe erhalten und eine meine ersten Reisen als Geweihter führte mich - mehr zufällig - nach Ishna Mur. Und dort stand ein leerer Tempel des Allvaters und so hat man mich gebeten dort das Amt als Seelsorger der Bergwacht und Tempelvorstand anzunehmen.”
“Dann gratuliere ich euch herzlich zur Weihe und zu Eurem Tempel, Euer Ehrwürden!” Radbod ergriff die Hand Grimmgaschs und schüttelte sie kräftig.

“Und vielleicht werden wir uns doch einmal wieder über den Weg laufen, was meint ihr?” “Danke”, meinte Grimmgasch freudestrahlend. “Nun wir sind auch auf dem Weg nach Gratenfels, aber das meint Ihr sicherlich nicht. Die Wege des Allvaters sind für uns nicht immer nachzuvollziehen, daher ist es sehr wahrscheinlich.” “Das wird mich freuen. Und habt nochmals Dank für das Empfehlungsschreiben!” strahlte Meister Mühlenhaus. “Doch ihr seid gewiss mit Freunden hier - ich wollte euch nicht von euren Aufgaben abhalten, Euer Ehrwürden. Doch unser Gespräch hat mich sehr erbaut - habt herzlichen Dank dafür!”
“Da meine Freunde aber wohl heute Langschläfer sind, war es auch für mich sehr erbaulich, ansonsten hätte ich nur mit meinem Frühstück gesprochen.
Möge Angrosch Euch auf Eurem Weg sicher führen”
Und dann ergänzte er noch lächelnd: “Und Euer Herr Phex Euch gute Geschäfte gelingen lassen!” “So soll es sein. Und der Herr Phex auch mit euch und eurem Handeln!” strahlte der Meister Mühlenhaus.
War es der Duft nach Frühstück, das Klappern der Teller oder die Strahlen der Pariosstrahlen, die Argmin weckte - er wusste es nicht, aber er schreckte schuldbewusst hoch, seine Hand noch immer um den Griff seiner Klinge und hektisch sah er sich um. Grimmgaschs Bett war säuberlich gemacht, sein Rucksack stand gepackt daneben.
Der Novize stand auf, goß frisches Wasser in die Schale und wusch sich kurz das Gesicht, bevor er in Wams und Hose schlüpfte. Am Bett kniete er nieder, nahm Rijsh’alnaar auf und sprach: “Heiliger Hlûthar - Die Nacht endet, doch deine Wacht dauert an. Ich grüße den Tag mit deinem Namen. Deine Taten sind mir Vorbild, wenn ich zu wanken drohe. So werd ich standhaft sein und Taten vollbringen, voller Ehr. Mein Tag nun beginnt - ich ehre ihn in deinem Namen!”
Er küsste sein Löwen-Amulett und verstaute dann den Rondrakamm sicher in die Ecke gelehnt, bevor er nach unten in den Schankraum ging, um sich zu Grimmgasch an den Tisch zu setzen.

“Guten Morgen, Großer!” begrüßte Grimmgasch den Novizen. “Ich wollte Dich nicht wecken, Du hast so fest geschlafen.” “Ich dank Dir, habe den Schlaf wahrlich gebraucht …” Er blickte reihum, die meisten waren schon fertig mit ihrem Frühstück, schickten sich an, aufzubrechen und ihre Reise in die weite Welt fortzusetzen, doch der Novize wusste, dass die Gemeinschaft keine große Eile hatte, darum ließ er sich ebenfalls Eier mit Speck und Brot und Butter bringen und einen kleinen Humpen Bier. “Ich muss Dir erzählen, was ich heute Nacht träumte, werter Freund!”
“Was?” rief Grimmgasch erstaunt aus. “Ich habe gedacht, dass Du deshalb so fest geschlafen hast, weil Du nicht geträumt hast! ”Aber vielleicht sollten wir auf Schwester Marbolieb warten, sie ist bestimmt genauso neugierig daran interessiert zu erfahren ,was Du geträumt hast wie ich.”
“Gewiss…” Der junge Mann brannte darauf seinen Freunden von seinem Traum zu erzählen. Er spürte eine angenehme Unruhe in sich. Wie gerufen traten zu jenem Zeitpunkt die Geweihte am Arm Dwaroschs, der darüber hinaus Mirlaxa auf dem Arm trug, in die Schankstube. Beide schienen noch nicht lange wach zu sein. Ihre Haare waren noch nicht gekämmt und der Oberst trug nur eine leichte Leinenhose und ein kurzärmliges Hemd, seine Stiefel waren ungeschnürt.
Der Oberst schien besonders gute Laune zu haben. Er neckte seine Ziehtochter und beide lachten.
“Guten Morgen”, grüßte er die Reisegefährten und auch seine Soldaten, die sich auch gerade an einem weiteren Tisch einfanden, um zu frühstücken.
“Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen.” Die junge Frau hatte ihre Kapuze unziemlich schief auf dem Kopf, aber das tat dem durch und durch glückseligen Strahlen auf ihrem Gesicht keinen Abbruch. Ihre Augen leuchteten und ihre Wangen waren froh gerötet, als sie neugierig und vorfreudig schnupperte.

“Was gibt es Leckeres?” fragte sie neugierig.
Grimmgasch nickte nur kauend. Es war für ihn immer wieder schwer zu begreifen, dass die junge Frau mit den in der Gegend blickenden Augen nicht sehen konnte.
“Ja, danke! Ihr auch?” fragte er nach.
Die Boroni nickte, und ihre Wangen röteten sich noch etwas mehr, während sich ihr Griff um Dwaroschs Arm verstärkte, in der Hoffnung, das Reden an ihn übertragen zu können. Das absolut glückliche Lächeln indes hatte sich in ihren Mundwinkeln festgehängt und wollte nicht weichen.
“Hervorragend”, stellte der Oberst verschmitzt lächelnd fest, während er Marbolieb und Mirlaxa half Platz zu nehmen. Mit kurzer Geste in Richtung der Küchenmagd bestellte er dann drei weitere Portionen Frühstück, von denen sicher eineinhalb ihm gehören würden- ein durchaus übliches ‘Problem’ eines Vaters.
Nachdem sich alle gesetzt hatten sah Dwarosch in die Runde. “Da uns nun das letzte Wegstück nach Gratenfels bevorsteht, würde ich gerne erfahren was ihr drei” - und es war klar wen er damit meinte, denn es saßen neben Mirlaxa nur die Geweihten mit ihm am Tisch - “konkret geplant habt? Ich meine was abseits des Weges, der uns zum Rondratempel führen wird, denn mir ist klar, dass Argmin dort ‘vorstellig’ werden muss?”
Argmin hatte von seinem Teller aufgesehen. “Guten Morgen”, grüßte der Novize die drei, wobei seine Augen für einen Augenblick mehr an Mirlas Gesicht hängen blieben.

“Ja, in Gratenfels werde ich bei Schwertschwester Bodia vorstellen werden.” antworterte er auf Dwarosch’ Frage. “Viel zu lange schon wartet sie auf meinen persönlichen Bericht. Ich würde auch sehr gerne mit Euch”, er blickte zu Marbollieb und Grimmgasch. “in Gratenfels die drei Tempel unserer Götter besuchen und ihn jedem mit Euch zusammen beten.”
“Wir haben unsere Tempel, Freund Argmin”, antwortete Grimmgasch für sich und vielleicht auch für Marbolieb, “aber Du noch nicht. Also werden wir bei Schwester Bodia zuerst vorstellig.”
Marbolieb nickte. “Zuerst Hlûtharshall.” Boron würde warten.
Das tat er immer.
Dwarosch nickte mit einem etwas stoischen Gesichtsausdruck. Da hatte er seine Antwort, auch wenn die drei Götterdiener ihm seine Frage damit nicht wirklich beantwortet hatten. Innerlich seufzte der Oberst… Gelehrte….

Argmin wartete bis die Kellnerin das Essen für Dwarosch, Marbolieb und Mirla herbeibalanciert hatte, dann platzte es fast aus ihm heraus: “Ich wollte es gerade Grimmgasch erzählen, aber ich habe auf Dich gewartet, Marbolieb. Ich muss Euch erzählen, was ich heute Nacht träumte!” Wieder fiel sein Blick auf die kleine Mirla, die mit freudig glänzenden Augen auf den Teller vor sich sah. “Heute Nacht… Ich träumte. Ich glaube zumindest, dass ich träumte, aber ich weiß es nicht. Der Traum führte mich wieder hinaus, in den Wald, und wieder zeigte sie mir den Weg… Und wieder war der kleine Kauz da. Aber kein Wolf erschien, sondern ein Mann. Dunkelgrün war sein Mantel mit drei schwarzen Löwen darauf. Es war der gleiche Mann, der mir als Kind erschienen war - der Heilige Hlûthar von Nordmarken!” So berichtet Argmin den viern von den Ereignissen der Nacht. Von dem Mann, dem Mädchen, dem Käuzchen und davon, dass er den Name für sein Schwert gefunden hatte - Rijsh’alnaar.
“Er sagte, sie und ich würden wissen, was zu tun sei und dass wir unseren Weg finden würden. Und doch sitze ich hier und fühle mich unruhig und unsicher. Stolz erfüllt mich, den Schwertnamen gefunden zu haben und auf dem rechten Pfad meiner Göttin fühle ich mich und dennoch weiß ich nicht, ob ich bereit bin, die Weihe zu erhalten. Soviel Verantwortung liegt darin… Soviel noch, was ich zu lernen habe. Ich will. Ich will streiten für die Sturmbringerin, will in ihrem Namen kämpfen und sprechen und will jenen Schild und Schutz sein, die ihn brauchen. Aber bin ich wahrlich bereit dafür?”
“Wenn Du solche Traumbilder siehst und Dich so genau daran erinnern kannst, dann bist Du sicher bereit!” versucht Grimmgasch den Novizen zu beruhigen.

“Du wirst Dich nie wirklich bereit fühlen.” Marbolieb hatte eine Weile über der Antwort gegrübelt, merklich bemüht, ihre Gedanken einzufangen, und schüttelte bestätigend den Kopf.
“Die Frage aber ist, ob Du den Ruf Deiner Herrin vernommen hast - und ob du an den Punkt gelangt bist, an dem es keinen Weg zurück mehr gibt.”

Sie legte den Kopf schief und überlegte ihre nächsten Worte.
“Bist du das, Argmin?”
“Die Herrin rief mich damals vor vielen Jahren in jenem Wald, als mir der Heilige Hlûthar erschien und mich vor den Wölfen und ich trat ein in Ihre Kirche. Nun rief Sie mich ein zweites Mal und prüfte die Stärke meines Glaubens. Für mich gibt es nur einen Weg: einer Ihrer Krieger zu werden, Ihre Klinge und Ihr Schild hier auf Deren.” Argmin sprach die Worte voller glühendem Eifer, doch dann ward er wieder still. “Und doch fühle ich mich unbedeutend. Wer bin ich denn? Ein Zweitgeborener niederen Adels, der das Glück hatte, dass sein Vater reich genug war, ihm Schule und Ausbildung zu finanzieren. Wer bin ich, dass ich mich anmaßen könnte, ein Krieger in Ihren Reihen werden zu wollen?”
“Ich denke, Deine Herrin schaut auf die Gesinnung ihrer Diener und nicht auf deren Herkunft”, versuchte Grimmgasch den Novizen etwas zuzusprechen. “Du hast ihren Boten, Deinen Mentor, jetzt zum zweiten Mal gesehen.
Es hat nur auf Deine Tapferkeit und Dein Tun geschaut und Dich nicht nach Deiner Familie gefragt. Also ist dieses Deiner Göttin gleich!” Die blinde Boroni schüttelte leicht den Kopf. “Das wisst Ihr nicht, Grimmgasch. Tapfer kann ein jeder sein - aus den rechten wie aus den falschen Gründen.”

Sie schwieg einige Augenblicke und legte sich die Worte zurecht.
“Du kannst dies nicht mit deinem Kopf entscheiden, Argmin. Deiner Herrin und ihren Geschwistern dienst du mit Herz und Seele. Diese wissen um deine Pflicht und dein Vermögen, den Dienst anzutreten.
Vertraue in die Götter, Argmin.
Wenn Du das kannst, wenn du bereit bist, dich ihnen mit allem, was Du bist, zu geben - dann darfst Du auch ihrem Ruf Glauben schenken und Folge leisten.”
Gerade die Sache mit dem Vertrauen, der Selbstaufgabe ohne jeden Hintergedanken - die erwies sich als die höchste und schwerste Hürde, wie sie aus eigener Erfahrung wusste.
Der junge Mann dachte über die Worte seiner Freunde nach.
“Mit allem, was ich bin, bin ich bereit zu dienen und zu folgen. Mein Herz brennt darauf, in Ihre Reihe einzutreten, meine Seele strebt nach Ihren Idealen, mit jeder Faser meines Körpers, mit jedem meiner Gedanken. Doch es ist der Kopf, der mich zur Demut mahnt, mich abwägen lässt, ob ich denn wirklich bereit für diese Würde - und diese Bürde - bin. Schwertschwester Bodia hat uns gelehrt, mehr als nur Soldaten zu sein, und Befehle, egal von wem, zu hinterfragen und zu wägen. Sie sprach davon, dass letztendlich wir nur der Alverans Leuin selbst Rechenschaft schuldig sein werden, für unser Tun.

Ich will eine Fackel für Rondra sein, ein glänzender Schild in Ihren Reihen, doch … ich … habe diesen einen Gedanken, dieses eine Zaudern, dem nicht gerecht werden zu können. Folge ich meinem Herzen, so schreite ich ohne Zögern, doch folge ich meinem Kopf, so ist es dieser eine Gedanke, der mich für einen kurzen Moment innehalten lässt.” Er stocherte in den kalten Resten seines Frühstücks.
“Zweimal schickte Sie mir Ihren Boten, ja. Wer, wenn nicht die Herrin selbst, würde wissen, wann der richtige Augenblick für meinen Aufstieg in Ihre Reihen ist?
So will ich denn Ihrem Urteil vertrauen und folge Ihrem Ruf, meine Weihe zu empfangen.”
“Das, mein Freund”, stimmte ihm Grimmgasch zu, “ist eine wackere und sehr wahrscheinlich richtige Entscheidung!” “Gut.” Mehr sagte die Boroni nicht, doch das warme Lächeln, das sich über ihre Lippen zog, war Zustimmung und Aufmunterung genug für den tapferen Novizen, der seine Sache, ihrer Meinung nach, mehr als gut gemacht hatte.



Die Grafenstadt

Am Morgen des 20. Rondra erreichte die Reisegruppe die Grafenstadt Gratenfels. Bereits von weitem kündigte sich das Umfeld der Stadt durch einen penetranten Schwefelgeruch an, der von Meile zu Meile beißender wurde.
Eine Wolke aus gelbem Wasserdampf hing über den Quellen praioswärts der Stadt, die mit einem eindringlichen Geruch nach faulen Eiern die Reisenden begrüßten.
Mauern umschlossen die größeren der Quellen, aber hin und wieder konnten die Reisenden einen blubbernden Pfuhl - meist nur ein oder zwei Spann im Durchmesser - in einer Senke auf einem Feld oder am Rand eines Gebüschs erspähen, aus denen ein miasmatischer Gestank entwich und an dessen Rand sich gelblichroter Schleim absetzte.

Schließlich schälten sich die Konturen der Stadt aus dem Dunst am Fuße der Koschberge, die am Horizont hoch und machtvoll in das Blau des Alveranszeltes ragten.
Eine hohe, in regelmäßigen Abständen mit Türmen versehene Festungsmauer umschloss die Stadt und noch überraschend viel unbebautes Land. Mehrere Kasernen und Türme im Innern der Stadt ragten mit den Giebeln über die Mauern empor und wehrhaft und trutzig behauptete sich die Grafenstadt gegen alles, was auch immer an ihre Mauern branden mochte.

Auch wenn dies im aktuellen Fall nur die Reisenden waren, die vor dem Zollhäuschen vor dem Tor standen.

Grimgasch beäugte interessiert die Schlange, die sich vor ihnen gebildet hatte und versuchte abzuschätzen, wann sie denn endlich die Stadt betreten würden.

Daheim. Zurück.
Es schien ihm ewige Zeiten her, da er durch eben jenes Tor geschritten war, um nach Calbrozim zu pilgern, wo er auf Borix, Lagorasch, Grimmgasch und Deryalla von Hartsteig getroffen war.
Oh, er konnte es kaum erwarten, wieder in der Stadt zu sein.
“Das dort, werter Freund”, wandte er sich an Grimmgasch gerichtet. “wird das Albenhuser-Tor’ genannt. Dahinter kommt die Straße der Krämer, die direkt zur Garnison der Gratenfelser Ehrengarde und zur gräflichen Residenz führt - und dahinter liegt Hlûtharshall, die Halle des heiligen Hluthar. So nennt man den hiesigen Tempel der Rondra. Der Heilige Hluthar trug einst das legendäre Schwert Siebenstreich und kämpfte in der Ersten Dämonenschlacht im Kampf gegen eine Übermacht Dämonen des Blutkaisers… An den Gestank muss man sich gewöhnen, der hängt sich überall in der Stadt fest. Direkt im Norden der gräflichen Residenz liegt der Borontempel und westlich davon der … Ingerimm Tempel…” Argmin zögerte. Die menschliche und die zwergische Kirche unterschieden sich grundlegend in vielen Aspekten und nicht immer herrschte Einigkeit. Er fuhr fort und wechselte das Thema. “Das beste Bier gibt es im ‘Wagenrad’, aber ich würde gerne zuerst bei Schwertschwester Bodia vorstellig werden …”
Grimmgasch war verblüfft über den plötzlichen Redeschwall seines großen Begleiters war doch sehr ungewohnt. Argmin schien so aufgeregt und glücklich zu sein, dass er wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte.
Und seine Begeisterung riß den Angroscho mit und er folgte aufmerksam jeder seiner Informationen. Als er dann fertig war, überkam Grimmgasch ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Wo war sein Zuhause. Xorlosch, sein Geburtsort? Senalosch, der Hauptort seiner Ausbildung? Oder jetzt Ishna Mur, der Ort seines Tempels?

Er wusste es nicht, keiner dieser Orte hatte ihn so verzückt wie Gratenfels den Novizen begeisterte.
“Dann müssen uns die Wachen nur noch reinlassen, dann auf zu Ihro Gnaden Bodia”, versuchte er die Begeisterung seines Freunde zu teilen und seine eigenen Gedanken aufzuhellen.
“Die Wachen … sind erfüllt von gräflichem Eifer - alles muss seine Ordnung haben…”. Argmin rollte mit den Augen. Er konnte die meisten Buntröcke nicht abhaben, die hier in Gratenfels ihren Dienst schoben und alleine durch das Tragen der Farben des Landgrafen Alrik Custodias-Greifax meinten, etwas besseres zu sein. Zwischen den Buntröcken und den Soldaten der hiesigen Landwehr herrschte eine respektvolle Abneigung, die Argmin teilte. Nicht selten kam es abends in den Tavernen zu Streit.
Langsam kamen sie voran. Vorne untersuchten die Buntröcke das Gespann eines Bauern.
Der Novize schmunzelte in sich hinein. Er erinnerte sich gerne an seine ersten Jahre in der Stadt. Eines abends war es in der Taverne Zum blauen Ochsen zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen und er kam nicht umhin, einzugreifen. Auch wenn es ihnen strengsten untersagt worden war, sich in die Belange der profanen Soldaten einzumischen, hatte der Kampf eine ungesunde Wendung für einige Landwehr-Männer genommen und Argmin hatte Partei ergriffen. Das Blatt hatte sich dann gewendet und die Buntröcke mussten humpelnd und stöhnend unter dem Gegröle der Gäste die Taverne verlassen - und dank dem folgenden freiem Bier und Schnaps der Landwehr-Soldaten hatte Argmin einen wunderbaren Abend und einen gnadenlosen Kater am nächsten Morgen. Schwertschwester Bodia sagte kein Wort und legte lächelnd den Schwerpunkte des folgenden Unterrichts auf körperliche Ertüchtigung.
Die Buntröcke waren fertig mit dem Gespann und wandten sich den nächsten in der Schlange zu. Gleich würde man sich der Gruppe der Gemeinschaft widmen.

Argmin drehte sich zu Oberst Dwarosch und Marbolieb um.

“Ich werde umgehend bei Schwertschwester Bodia vorstellig werden… müssen in Hlûtharshall. Wollt ihr mich begleiten?”
Dwarosch nickte zustimmend, schickte sich aber nicht an den jungen Novizen zu unterbrechen, so dass dieser fortfuhr.
“Gratenfels bietet auch vielerlei Zeitvertreib - sobald man sich den Gestank gewöhnt hat.” Er deutete linker Hand vom Tore, wo sich über den Mauern gelbliche Dämpfe zeigten. “Für heute Nacht empfehle ich uns das Hotel Koschblick, wenn wir viel Geld ausgeben wollen, oder sonst die Pension Zum weisen Grafen. Zum Schwefelstecher kann ich niemanden raten, dessen Riechorgan noch halbwegs in Ordnung ist.”
Der Oberst nickte und dachte kurz nach. Dann sah er zu Andragrimm hinüber: “Erfrage, ob ihr in der Garnison unterkommen könnt, bis wir wieder gen Heimat aufbrechen. Überbringe meine besten Grüße an die Obristin und bitte um ein Gespräch mit ihr.” Dwarosch grinste. “Die Koschwachter sind eines meiner nächsten ‘Ziele’ was Wehrübungen betrifft - habe ich grade beschlossen.”
Grimm, der den Befehlen aufmerksam zugehört hatte quittierte mit einem schlichten: “jawohl Herr Oberst.” Allein die bei seinen Worten gespitzten Lippen verrieten, dass er den Ton nur der Form halber angeschlagen hatte.
“Dann würde ich wohl den weisen Grafen wählen”, meinte Grimmgasch. “Argmin, Du übernachtest im Tempel oder kommst Du auch mit?” “Ich muss der Schwertschwester Bericht erstatten und mit ihr reden, sie kann mir helfen, besser zu verstehen. Und dann werde ich im Tempel weilen und will beten und meditieren. Der Mann aus meinem Traum hieß mich, hierherzukommen, mit meiner Klinge.” Und fügte etwas leiser hinzu “Und sofern Ihre Hochwürden meine Kammer noch nicht weitergegeben hat, weil sie mich als ‘verschollen’ gemeldet hat, habe ich dort ein Bett zum Schlafen.”

Grimmgasch nickte, der Oberst wollte mit seinen Gefährten in die Garnison, Argmin in den Rondra-Tempel und er sollte die Nacht in einem Gasthaus verbringen. Er kam sich nach der gemeinsamen Reise auf einmal so einsam vor.

“Darf ich Dich in den Tempel begleiten?”
Marbolieb umklammerte das Geschirr des Ponys, auf dem fröhlich Mirla ritt. Sie würde hingehen, wo Dwarosch hingehen würde - doch hatte er nichts von der Garnison gesagt, nur die Gebirgsjäger wollte er hinschicken. Hoffentlich. Die Garnison bedeutete bestenfalls Strohsäcke in Stockbetten und wahrscheinlicher Strohsäcke auf dem Boden im Schlafsaal. Doch war dies deutlich besser, als im Freien zu übernachten. Sie würde sich überraschen lassen und die Dinge nehmen, wie sie kamen.

“Ich würde mich freuen, Grimmgasch, Dir Hlûtharshall zu zeigen und Dir die Schwertschwester vorzustellen. Und…” Argmin druckste und rang nach Worten. “... es wäre mir eine Ehre, wenn ....” Betreten blickte Argmin zu Boden. Ihm wurde gerade bewusst, dass es die Rückkehr nach Gratenfels mehr war, als die erste Station ihrer Pilgerreise, die sie zu dritt den Götter geschworen hatten in den Hallen von Ishna Mur. Er war ausgezogen, nach Calbrozim seine Weihewaffe zu bekommen, doch der Weg, auf den ihn Schwertschwester Bodia geschickt hatte, hatte ihn so viel weiter geführt.
Er hatte den Ruf Rondras vernommen. Hlûthar selbst war ihm erschienen. Ein zweites Mal. Argmin war zurückgekehrt nach Gratenfels, um zum Knappen der Göttin zu werden.
Er räusperte sich.
“Grimmgasch, würdest Du Zeugnis ablegen und für mich sprechen, wenn ich vor die Schwertschwester trete, um meine Bitte nach Aufnahme der Priesterschaft ein zweites Mal zu auszusprechen?”
“Gerne”, bestätigte der Angroscho, “wir sind schließlich in Ishna Mur alle Zeugen des göttlichen Wirkens geworden.” Dann dachte er kurz nach: “Oder sollen wir noch andere Ereignisse, wie unser erstes Zusammentreffen und die Ereignisse im Lagoraschs Tempel des Muschelfürsten erwähnen?”

„Ich würde nicht wagen, Schwertschwester Bodia als ‚neugierig‘ zu bezeichnen, doch ihr liegt sehr viel an dem Werden und Streben ihrer Schützlinge. Sie war es, die mich nach Calbrozim schickte, um dort meine Weihewaffe von Meister Raxarim entgegenzunehmen, wo ich dann Dich und Lagorasch und Borindarax und Frau von Hartsteig getroffen habe. Ihre Hochwürden wird alles interessieren, was seitdem passiert ist. Zwar habe ich ihr mehrmals Briefe schicken lassen, aber sie mag verstimmt sein, dass ich seitdem nicht mehr persönlich bei ihr vorstellig war.“
“Sofern ich bei Deinen Taten dabei war, werde ich es gerne bezeugen!” versprach der Geweihte.
“Ich werde auch mitkommen.” Marbolieb hatte dem Austausch aufmerksam gelauscht. Selbstverständlich würde sie für den Novizen sprechen - nicht nur, weil sie den jungen Mann auf der gemeinsamen Reise schätzen gelernt hatte, sondern auch, weil sie noch immer dabei war, herauszufinden, was es mit seinen Visionen und Träumen wirklich auf sich hatte.
Dass es der Ruf seiner Göttin war, davon war sie überzeugt. Doch das war nur eine Sache - hinter den Träumen steckte mehr oder, wie sie immer stärker vermutete, mehrere. Vielleicht würde sich ja noch die Gelegenheit ergeben im kleinen Kreis alles genau zu besprechen. Damit überfallen jedoch würde sie ihn nicht - er hatte mit dem Ruf seiner Göttin genug zu tun.

Um die Lippen der blinden Geweihten zuckte ein kleines Lächeln.
Nur zu gut erinnerte sie sich an die Zeit ihrer Weihe, die wachsende Gewissheit, was ihr Weg sein würde, und SEINEN Ruf - der sie dann, wie jeden Novizen des Unergründichen, am Abend ihrer Weihe neben dem Raben selbst in die Rabengruft, tief in den Gebeinen des gebrochenen Rades, führte, auf Wege, die jeder Priester üblicherweise nur ein einziges Mal beschritt.
“Ich danke Dir, Marbolieb. Ein gutes Gefühl, diesen Weg mit Euch zu gehen.”.
“Auch ich würde für dich sprechen, so du dies wünschst Argmin”, sagte Dwarosch energisch. “So wie du gestritten hast in Ishna Mur besteht für mich kein Zweifel, welchen Weg die Götter für dich bestimmt haben.”
„Das schätze ich sehr, Dwarosch. Ich würde mich sehr freuen, auch Dich als meinen Bürgen nennen zu dürfen …“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Lass uns bei Schwertschwester Bodia vorstellig werden. Sie mag verhalten sein, wenn sie erfährt, dass der Finstere Schnitter Dich erwählte, doch sie hat uns immer angehalten, alles zu hinterfragen und uns immer selbst eine eigene Meinung zu bilden, anstatt die andere vorbehaltlos zu übernehmen.“

Argmins Antwort riss die Boroni aus ihrem Nachsinnen. Dwarosch im Rondratempel würde sie nicht von der Seite weichen wollen. Sie kannte ihren Liebsten wohl, wusste um seine guten Seiten - doch auch um seinen imposanten Sturschädel und sein selten, dafür aber umso stärker aufloderndes Temperament, das sich in den unwahrscheinlichsten Situationen Bahn brach, selten aber dann, wenn es bei einem Menschen zum Vorschein gekommen wäre.
Insbesondere mit den Geweihten der Menschengötter hatte er so manches Mal seine liebe Mühe - und auch diese mit ihm. Doch hatte er, was sie ihm äußerst hoch anrechnete, in den vergangenen Götterläufen beachtenswert viel an seiner Selbstbeherrschung und mehr noch an seiner Gleichmut gearbeitet - vermutlich allein ihr zuliebe.
Marbolieb strich liebevoll über den muskulösen Arm des Oberst, um den sie ihre Hand geschlungen hatte, und nickte leicht zu dem Wortwechsel der beiden.
Es würde ganz gewiss ein interessanter Austausch im Tempel der Leuin werden - doch keiner, bei dem Geschirr und Gemüter zerschlagen werden mussten.
Sie selbst war äußerst gespannt auf dieses Götterhaus, und voller Vorfreude, endlich wieder einmal einen Tempel eines der Zwölfe aufsuchen zu dürfen. Viel zu lange war es her, seit sie das letzte Mal einem Götterdienst hatte beiwohnen dürfen.

Endlich hatten die Torwachen auch die Inspektion der Händler mit ihren voll beladenen Wagen direkt vor der kleinen Gruppe aus Geweihten und Zwergen absolviert und die Weibelin am Tor winkte der Gruppe, aufzurücken.
Mit gerunzelter Stirn zählte sie die Menschen und Zwerge, schüttelte den Kopf, begann von neuem und zog offensichtlich die Geweihten wieder ab.
“Der Torzoll beträgt ein Heller pro Bein. Außer für ihro Gnaden, also Euch, Euch und Euch.” sie wies auf die Geweihten und Argmin und rechnete dann nochmals nach.
“Wem von euch gehören die Ponies? Das sind dann also 22 Heller. Bringt ihr darüber hinaus Handelsware mit?” “Auf dem Pony sitzt die Tochter von Ihrer Ehrwürden Marbolieb”, bemerkte Grimmgasch und deutete auf die Boroni. “Und wir sind Pilger und führen keine Handelsgüter mit.”

“Nun gut - dann 18 Heller.” Die Weibelin zog das fast-Geweihtentier großzügig ab und hielt abwartend die Hand auf. Hinter der Gruppe hatte sich bereits eine lange Schlange angesammelt - Bauern, die ihre Ware in der Stadt verkaufen wollten, Handwerksgesellen, Arbeiter, Reisende, Händler und Kriegsvolk, die alle auf den Durchlass durch’s Albenhuser Tor warteten.
Grunzend griff Dwarosch zu seiner Geldkatze, die sich in einer Gürteltasche unter dem Kettenhemd befand. Er kramte kurz darinnen, dann trat er vor, um der Gardistin einen Silbertaler und acht Heller in die Hand abzuzählen. Danach blickte er die Frau halb fragend, halb auffordernd an.

“Ihr könnt passieren.” trat die Weibelin zur Seite und ließ die Gruppe durch, um sich den Leuten direkt hinter den Geweihten und Zwergen zuzuwenden.
Der Oberst nickte in Richtung des Tores und die Soldaten setzten sich wieder in Bewegung. Er griff derweil bereits wieder zu den Zügeln des Ponys.
Gratenfels stand ihnen offen.

Das Getümmel in der Stadt war deutlich größer als alles, was die Reisenden auf der Landstraße begleitet hatte. Wortfetzen und das Knirschen von Rädern, Ächzen von Karren und Muhen von Zugvieh wehten von allen Seiten auf die Pilger, schwere Wagen ratterten über das Pflaster, Hunde belllte und liefen zwischen den Beinen der Stadtbewohner umher, und eine Horde Bettelkinder drängte sich direkt hinter dem Tor an die Reisenden.
Eine Wolke von einer unnachahmlichen Mischung aus ungewaschenen Leibern, dem Gestank von Pferden, Zugochsen, Straßenschmutz und Schweinen, die munter grunzend zwischen den Häusern hindurchliefen, der Geruch von frisch gebackenem Brot, Kohlsuppe und Pferdemist flocht sich dazwischen und ständig gerieten die Reisenden in Gefahr, angerempelt zu werden.
“Heda, macht den Weg frei!” brüllte ein Brauereikutscher, der seinen mit vier schweren Kaltblutpferden bespannten Wagen, auf dem sich drei Reihen Bierfässer türmten, gerade durch das Tor manövriert hatte, und ein abgerissen aussehendes Weib hängte sich mit einem ‘Eine kleine Spende, die Herrschaften?’ an die Rockzipfel Argmins, während sie unter ihren Lumpen den deutlich vermögender, aber auch wesentlich gefährlicher aussehenden Zwergen einen hoffnungsvollen Blick zuwarf.

Dwarosch, der die Seinigen rasch angewiesen hatte den Weg frei zu machen und dabei selbst Marbolieb und das Ponys mit Mirlaxa an den Rand der Straße bugsiert hatte, hob verärgert die geballte Faust in Richtung des Kutschers und machte eine besonders finstere Miene. Ein Fluchen indes unterdrückte er, immerhin waren sie gerade erst angekommen. Und dennoch - deswegen hasste er die meisten, überlaufenen Städte der Menschen. Es war alles viel zu hektisch und die Sitten verfallen.
Als das Fuhrwerk passiert hatte, ergriff der Oberst dann das Wort. “Also, wie wollt ihr diesen müffelnden Pfuhl erobern?” Seine leicht angesäuerte Miene verriet, wie er es meinte. Nicht ganz so böse wie seine Worte vielleicht andeuten wollten.

“Ich für meinen Teil würde mich gern umziehen und waschen, bevor ich den Tempel der Leuin betrete. Marbolieb, Mirlaxa und ich werden uns im Koschblick einquartieren.
Wenn nichts dagegen spricht, können wir uns zu einer bestimmten Stunde vor der Halle des Heiligen Hlûthar treffen Argmin.
Ich ordne mich aber auch gern der Mehrheit unter, wenn ihr es anders handhaben wollt.” Dwarosch zuckte mit den Schultern, um zu signalisieren, dass die Entscheidung bei den drei Geweihten lag.
“Ich komme gern mit Dir, Dwarosch” freute sich Marbolieb. Das klang nicht nach Kaserne, sondern im Gegenteil nach einem überaus soliden Haus, nach dem, was Argmin vor kurzem erzählt hatte. Das Gasthaus selbst kannte sie nicht - sie war bislang nur zweimal durch Gratenfels gekommen, einmal auf dem Weg nach Mendena - und einmal auf dem Weg zurück. Beide Male hatte sie im Zeltlager gewohnt. Aber nach dem, was Argmin berichtet hatte, hatte die Unterkunft auch einen nicht geringen Nachteil.

“Das ist doch viel zu teuer!” wandte sie mit leiser Stimme ein.
Der Oberst nickte. Sie erkannte es an der Art wie sein Bartschmuck klimperte.
“Normalerweise ist es das”, schob Dwarosch nach. “Doch nicht auf dieser Reise, Räblein.
Wir drei.” Die Art wie er es sagte machte jede weitere Frage unnötig - ja überflüssig, denn es lag Sehnsucht darin.
Die Geweihte seufzte, und schaffte es, in diese kurze Äußerung ein perfektes Echo der Stimmlage des Oberst zu legen. Zu gerne hätte sie seine Hand gedrückt. Doch ihre Augen leuchteten auf und ihre Wangen röteten sich auf anziehende Weise.

Das Getümmel hier aber war erschreckend. Die blinde Geweihte umklammerte das Geschirr von Mirlas Pony mit weißen Knöcheln. Auf keinen Fall würde sie es loslassen, auch wenn das einige Anrempler und Stöße bedeuten würde. Sie zog den Kopf ein, als das gewaltige Fuhrwerk keinen Schritt von ihr entfernt vorbeirumpelte, so dass der Boden unter ihren Sohlen vibrierte.

“Argmin, du wirst Dich sicher erst in Ruhe im Tempel vorstellen wollen?” Gab sie ihre  Gedanken preis. 

Sich im Gasthaus frisch machen zu können, ihre Robe zu wechseln und das von der Reise schmutzig gewordene Kleidungsstück ordentlich waschen zu können klang überaus verlockend. Und vielleicht würden sie sogar ein eigenes Zimmer haben, um einige Augenblicke vor dem Trubel der Stadt verschnaufen zu können.
“So denn. Die frühe Ingerimmstund hat gerade begonnen. Wollen wir uns vor dem Tempel treffen fünf Wassermaß später, wenn Travias Stund beginnt?”

An Grimmgasch gewandt: “Mein Freund, magst Du mich begleiten nach Hûltharshall? Doch mehr als ein Bett in einer sauberen Kammer mögen wir Dir dort nicht zu bieten. Die Räumlichkeiten unserer Tempel sind für ihre Annehmlichkeiten nicht bekannt. Mehr Komfort würdest Du sicher im Koschblick finden … .”
“Ich komme natürlich gerne mit Dir mit”, nickte Grimmgasch dem Novizen zu. Er konnte sich gut vorstellen wie sich Argmin fühlen musste, wenn er nach der Zeit der Queste wieder alleine in seinen Tempel kommen würde und sich seiner Mentorin stellen müsste. Da half auch der noch so kleine Freund an der Seite um die Nervosität in Zaum zu halten.
Es war bei ihm ja auch noch nicht so lange her, dass er nach seiner Reise durch die Angrosch-Tempel wieder zurück zu seinem Mentor nach Calbrozim gekommen war.
“Und wenn mir das Bett zu hart ist, dann ziehe ich zu Schwester Marbolieb und Oberst Dwarosch ins Hotel!” fügte er noch scherzend hinzu. Die Erleichterung war Argmin anzusehen. Viel hatte er über die Angroschim in den letzten Monaten gelernt und eines, was er so an ihnen schätzte, war ihre innere Ruhe.
“Gut”, beschied der Oberst und sah zu Andragrimm herüber, der ruhig und stoisch alles um sie herum zu ignorieren schien. “Du weißt was zu tun ist”, sprach Dwarosch und in Richtung seines Primu, wie er ihn selbst hin und wieder betitelte. Grimm nickte nur knapp und winkte dann den anderen Soldaten zu. Fast augenblicklich setzten sich die Angroschim in Bewegung, um die Garnison aufzusuchen.

“Wie ist den der Weg von hier zu Deinem Tempel?” fragte Grimmgasch den Novizen. “Können wir noch ein Stück gemeinsam gehen?” “Wenn wir zusammen der Straße weiter folgen, gelangen wir zu Stadtplatz mit der Garnison der Ehrengarde und zur gräflichen Residenz. Dort liegt zur Rechten, Richtung Koscher Tor, mit Blick zur Grafen-Burg, das Koschblick. Hlûtharshall ist dann ein Stück weiter, am nördlichen Rand von Gratenfels, nahe der kaiserlichen Garnison.”
Der Novize war voller Vorfreude auf die Stadt und das Treiben und einfach allem. Der Gestank der nahen Schwefelquelle vermischt sich mit den Gerüchen der Stadt zu einer ganz besonderen Mischung des Gratenfelser Duftes.

Argmin schritt voran und unterhielt seine Freunde mit Geschichten zu Gratenfels.
“Hûlthar von Nordmarken war der letzte Träger von Siebenstreich, bevor das Schwert im Kampf gegen den finsteren Borbarad wieder neu geschmiedet wurde. Hlûthar kämpfte und starb vor den Toren Gareths gegen die Dämonen des Blutkaisers. Seine Rüstung wurde von Schmieden Eures Volkes angefertigt, Grimmgasch. Aurin und Raurin hießen sie. Diese Rüstung trägt nun der Landgraf von Gratenfels, Alrik Custodias-Greifax, in Ehren. Er hat auch die Lanze des heiligen Orgil von Orgilsheim schmieden lassen für unseren Tempel, die aber vor 15 Jahren nach Rommilys ausgeliehen wurde und seitdem dort als Leihgabe verwahrt wird.
Und es heißt, dass Gratenfels auf den Ruinen einer gewaltigen Zwergenfeste errichtet wurde …”
“Wenn das so ist, dann sind sie sicherlich irgendwann wegen diesem niederhöllischen Gestank von hier verschwunden”, brummte der junge Angroscho angesichts der ständigen Schwefelgestanks.

Und wirklich, der Gestank hing fest in der Stadt, krallte sich in jeden Winkel, und sobald die Reisen glaubten, sich einigermaßen daran gewöhnt zu haben, brachte eine neue Straßeneinmündung einen neuen Luftzug und mit ihm einen neuen Schwall des niederhöllischen Miasmas. Die Hauptstraße war so breit, dass zwei schwer beladene Fuhrwerke nebeneinander hindurchpassen konnten - doch war das auch notwendig. Beladene Wägen mit Fässern, Stroh, Heu - und Mist - kamen vom Tor oder strebten diesem entgegen, Ochsenkarren mit bäuerlichen Erzeugnissen hielten auf den Marktplatz zu, Karren mit Holz, Schindeln und Steinen zog es zu den Baustellen, an denen die Stadt, wie eine jede belebte Siedlung, einige besaß, und durch alles hindurch versuchten sich die Karren der Händler, oft genug mit berittenem Geleitschutz, Platz zu verschaffen.
Handwerker und Bauern mit Handkarren drängten sich durch die Masse an Menschen, Besucher, Reisende und Städter, die nur ihren Verrichtungen nachgingen. Immer wieder waren es auch Trüppchen von Soldaten, die zu den Exerzierplätzen ihrer Kasernen, die meist an der Stadtmauer lagen, unterwegs waren, und hin und wieder schaffte sich ein Adliger hoch zu Roß mit seinen Bütteln Platz auf der Straße.
An den Rändern kragten die Häuser mit jedem Stockwerk weiter über die Straße, und die dicht an dicht stehenden Häuser entlang der Straße wandten zumeist ihre Giebel zur Straße, nur die großen und prachtvollen Gebäude prahlten mit einer Traufseite entlang der Straße, ein beredtes Zeugnis von Macht und Geld ihrer Erbauer.
Die Keller der Häuser streckten ihre Hälse auf die Straße, und auch die Zugänge lagen meiste einige Stufen über dem Straßenschmutz, der nach wenigen Schritten bereits die Stiefel der Reisenden erobert hatte und an diesen nach oben kroch.

Endlich erreichten die Wanderer den Marktplatz, der von einem düsteren, schwarzen Turm überragt wurde. Hier reihten sich die bunten Buden aneinander, und Kauflustige drängten sich in Trauben davor, handelten lautstark mit den Verkäufern und behinderten ihrerseits wieder alle Karren, die versuchten, irgendwie über den Platz zu gelangen.
An der Mauer zur Grafenburg hatten einige Gaukler ihren Platz gefunden und drei Akrobaten turnten zu den fröhlichen Weisen zweier Spielleute.

Ein Duftgemenge aus Stadtluft, gebratenem Fleisch, frisch gebackenem Brot, Eintopf, Kohl und süßem Zuckerwerk umwaberte den Markt und sorgte dafür, dass Mirla mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund das bunte Treiben anstarrte und gar nicht wusste, wohin sie deuten sollte.

“Dado! Da! guck! Auch will!” ihr begeistertes Gestikulieren umfasste fast den halben Markt, als das Mädchen, vollkommen überfordert von all den neuen Eindrücken, ernsthaft versuchte, aus ihrem Sitz zu klettern.
Je begeisterter aber das Kind wurde, um so stiller wurde die Boroni, die sich verzweifelt an dem Pony festklammerte und dem armen Tier so eng auf den Pelz rückte, dass das Pferdchen mit unruhig zuckendem Fell und peitschendem Schweif versuchte, ein auf’s andere Mal der Bedrängnis auszuweichen.

“Bleib ruhig”, bat Dwarosch Marbolieb mit tiefer, sanfter Stimme. “Ich bin an deiner Seite und werde von dort nicht weichen. Warte”, sprach er und ging in die Hocke. “Halt dich an meinen Schultern fest.”
Sie tat, worum Dwarosch sie bat und dieser nahm ihre rechte Fessel, hob ihren Fuß und führte ihn in den Steigbügel des Ponys. Kurz darauf saß die Geweihte hinter ihrer Tochter im Sattel.
Viel Platz hatte sie aufgrund von Mirlaxas Sitzkonstruktion nicht, doch den benötigte die zierliche Frau auch nicht. Außerdem hob der Oberst seine Ziehtochter dann auf seine Schultern.

Nach dieser ‘Taktikanpassung’ ging es weiter.
Von einem kleinen Jungen mit Bauchladen erstand Dwarosch zwei Zuckerstangen, die er seinen Herzensdamen reichte. Er selbst gönnte sich etwas Lakritze, welches aus der Brabaker Wurzel gemacht wurde. Der Oberst kannte diese süße Köstlichkeit von seiner Zeit in Südaventurien. Wer die Zuckerstange mehr genoss, ob Mutter oder Tochter, blieb indes offen. Marbolieb strahlte, als sie der Leckerei zuleibe rückte. Selbst der Trubel in der Stadt war kurzzeitig vergessen. Mehr als einmal hatte Dwarosch sie bereits geneckt, bei ihrer Leidenschaft für Süßes müsse sie einen Troll gut versteckt unter ihren Vorfahren haben. Da jedoch auch in der Senaloscher Küche Zuckerwerk rar war, hatte ihr innerer Troll bislang noch keinen Versuch unternommen, zum Vorschein zu gelangen.

Zum Tempel der Leuin

Auf dem Marktplatz trennten sich schließlich die Wege der Reisenden, und Argmin und Grimmgasch machten sich auf nach Hlûtharshall, dem Haus der Herrin Rondra.
Der Tempel war ein wuchtiger Bau aus weiß gekalkten Steinen, ein Wehrbau, der an eine Burg gemahnte, mit hohen, schmalen Fenstern und einem umlaufenden Zinnengang, an jeder Ecke von einem kleinen Turm gesichert. Über den Eingang spannte sich ein spitzer Giebel im bosparanischen Stil, auf dem ein Fries der Herrin Rondra im Donnersturm abgebildet war, während ein wütendes Gewitter über Land und Leute niederging. In die Fassade rechts und Links des wuchtigen, zweiflügeligen Tores waren zwei übermannsgroße, schreitende Löwinnen als Halbrelief eingearbeitet. Die Fassade war an den Kanten und am Giebel mit einem doppelt handbreiten, rostroten Band eingefasst.
Das Tor selbst war ein mehrere Schritt tiefer Durchgang, der mit einem zusätzlichen Fallgatter an beiden Enden versehen war. Im Innenhof des Wehrgebäudes stand auf einer kleinen Freifläche das rund gebaute Allerheiligste.

Am Tor standen zu jeder Seite eine Wache, ein junger Mann und eine junge Frau, in Wams und ledernen Hosen, darüber der rituelle Wappenrock, der die Löwin, roten Turm und die silberne Klinge zeigte, und sie damit als jungen Pagen der Göttin von Hlûtharshall auswies. Sie trugen Kurzschwerter an der Seite und einen Speer in der Hand, von dem ein roter Wimpel mit dem Löwinnenkopf sanft im Luftzug flatterte. Beide musterten die beiden Neuankömmlinge streng, keine Miene verzog sich auf ihrem Gesicht, doch ihre Augen folgten aufmerksam Argmin und Grimmgasch, als diese näher traten. Vea hieß die junge Frau, fiel ihm ein, sie war nur wenig jünger als er; den Namen des jungen Mannes kannte er nicht.

Argmin dachte an seine Zeit als Torwache zurück, die einsamen, stillen Stunden dort am Tor, die schmerzenden Beine und der pochende Rücken. Vor allem im Sommer, wenn die Praiosscheibe unnachgiebig hoch im Himmel stand, war die Zeit unangenehm langsam vergangen.
Er hatte am Abend zuvor sein Gewand gereinigt vom Staub der letzten Tagen, so gut er es vermochte, und hatte den gleichen Überwurf angelegt, den die beiden vor ihm trugen. Rijsh’alnaar trug er offen, ihr Blatt auf seiner rechten Schulter gelegt. Er sah das kurze Blitzen in den Augen der beiden Rondra-Novizen, ein leichtes Verziehen der Augenwinkel wie bei einem unterdrückten Lächeln. Er nickte ihnen zu: “Der Sturmbringerin zum Gruße!” und trat zwischen ihnen hinter durch in den Innenhof.
Da Argmin einfach das Tor durchschritten hatte, ohne das ihn die Wachen am Tor nach seinem Wohin und Woher gefragt hatten, folgte ihm der Angroscho nachdem der tief durch geschnauft hatte mit einem laut ausgesprochenem “Fortombla hortomosch!” und einem freundlichen Nicken. Als würden sie eine andere Welt betreten, blieb der Lärm der Straßen von Gratenfels hinter ihnen zurück. Es war angenehm ruhig zwischen den hohen Tempelmauern. Das schwere, mit Eisenbändern verstärkte Tor, das ins Innere des Tempels der Rondra führte, war beidflüglig geöffnet. Er atmete tief durch.

Argmin blieb stehen. Er atmete nochmals tief durch und blickte zu Grimmgasch. “Bereit, mein Freund?” Grimmgasch kannte den jungen Menschen gut genug, um zu sehen, wie nervös dieser war, auch wenn er alles tat, um es nicht zu zeigen.
“Ich bin bereit!” antwortete der Zwerg und versuchte zuversichtlich zu klingen. Es ging ja auch nicht um seine Person, das was sich hier in dem Tempel abspielen würde, war Argmins Aufgabe. Grimmgasch war nur als Begleiter und Zeuge seiner Questen hier. Allerdings war ihm noch klar bewusst wie sich Argmin fühlte, denn seine Aufnahme in den Bund der Angroschpriester war gerade vier Monde her. Und es war ihm alles noch so präsent als wäre es gestern gewesen - trotz der vielen ihn und die Nordmarken bewegenden Dinge, die sich seitdem getan hatten.

Argmin gab sich einen Ruck und gemeinsam traten sie unter dem massiven Torbogen hindurch in den Tempel.
Des Besuchers Blick beim Eintreten fiel unweigerlich auf das hohe steinerne Abbild der Rondra, das sich gegenüber dem Eingang hinter dem Altar erhob. Löwinnenhäuptig, angetan mit Kettenhemd und Wappenrock, einen silbernen Rondrakamm in der Rechten. Die linke Hand ausgestreckt und zum Eingang weisend, dem Eintretenden zu, mahnend und einladend zugleich. Die Reliefs im Stein zu ihren Füßen zeigten Bilder von Famerlor, Kor und Mythrael, zwei große Feuerschalen warfen zuckendes Licht auf die Statue der Göttin.
An den Wänden fanden sich einfache Bildnisse, die den Weg des Heiligen Hlûthars zeigten, von seiner Geburt und dem Aufstieg in der Armee zum Praefecten, bis zur Überreichung von Siebenstreich durch Mythrael und seinem Kampf gegen die Dämonen des Blutkaisers und seinem Tod vor den Toren Gareths.
Ansonsten war der Tempel schlicht und einfach, kein Prunk und Zierat fand sich an den Wänden und Simsen, nichts lenkte ab den Blick vom Wesentlichen. Der Altar war ein großer, weißer Steinblock, das Altartuch aus dunkelgrünem Stoff und zeigte die drei schwarzen Löwen Hlûthars.
Neugierig, aber mit der gebotenen Rücksicht auf den Glauben der Gigrim, schaute sich der Angroschgeweihte in dem Tempelraum um. Die Bildnisse weckten sein Interesse und so trat er hinter Argmin in den großen Raum und ging vorsichtig auf die Wandgemälde zu. Mitten in dem doch recht kahlen Raum kniete eine Frau dem Altar zugewandt und im stillen Gebet vertieft. Sie trug einen weißen Überwurf auf dem unten nur die Sohlen ihrer Stiefel zu sehen waren. Oben wurde der Kragen von langen, tiefschwarz gelockten Haaren bedeckt, die bis weit über den Rücken fielen. Man konnte aber erahnen, dass sich im Nacken eine Haube aus den Ringen eines Kettengeflechts abzeichnete. Neben ihr lag ein langer geflammter Zweihänder.

Einige Augenblicke lang nahm niemand von dem Novizen und dem Angroschgeweihten Notiz. Dann ertönten feste Schritte hinter beiden. Wulftrud, eine untersetzte, breitschultrige Frau mit kurz geschorener hellblonder Mähne, die es dennoch schaffte, in verschiedenen Büscheln abzustehen, blieb einen Schritt hinter Argmin stehen. Sie hatte erst im vergangenen Jahr ihre Weihe erhalten und leistete seit einige Wochen nach einer längeren Queste wieder Dienst in Hlûtharshall.
“Willkommen zurück, Novize.” grüßte sie Argmin und ließ kurz ihren Blick über dessen kurzgewachsenen Begleiter schweifen, den sie mit einem militärisch kurzen “Willkommen, Euer Gnaden” bedachte.
“Ihre Hochwürden wird dich zur Travienstund sprechen. Du kannst Dich ausruhen und frisch machen - dein Schlafplatz ist derselbe wie bisher.” Ein kurzes Verharren, dann zu Grimmgasch gewandt. “Sucht ihr ebenfalls hier Unterkunft, Euer Gnaden?” Grimmgasch blickte die junge Geweihte mit fröhlich blitzenden Augen an und antwortete: “Habt vielen Dank, Euer Gnaden, wenn Ihr eine Kammer für mich hättet, dann würde ich gerne hier bei meinem Freund, dem Pagen der Göttin Argmin, bleiben.” Und nun zog sich der Bart an den Seiten des Gesichts deutlich nach oben: “Und bitte, Euer Gnaden, nennt mich einfach Grimmgasch oder wenn es Euch lieber ist Dorangrasch.
Ansonsten müsste ich wohl auf Hochwürden bestehen.”

Da die Stimme des Angroscho ziemlich dumpf und laut durch die fast leere Halle schallte, wand die kniende Frau auf ihren Kopf und blickte mit ihren schwarzen Augen interessiert zu der Gruppe. Dabei konnten die Gefährten nun die rote stehende Löwin auf der Brust des weißen Umhangs sehen, der von einer Schließe aus gekreuzten Schwerten verschlossen wurde. Nachdem sie die beiden Neuankömmlinge taxiert hatte, wandte sie sich wieder ihrer Andacht zu.

Wulftrud nickte knapp in Richtung des Zwergen. “Selbstverständlich dürft ihr ein Bett in der Gästekammer haben. Argmin, zeige ihm, wo sie ist - Euer Hochwürden, ihr mögt euch einen freien Strohsack aussuchen.” Während Grimmgasch Argmin in die Gästekammer folgte, feixte er innerlich über die junge Geweihte und seiner Anrede. ‘Hochwürden’ überlegte er, ‘das hört sich doch richtig wichtig an.’
Als er sich sicher war, dass ihn die Geweihte nicht mehr hören würde, meinte er zu Argmin: “Habe ich zu dick aufgetragen?” Das Gesicht des jungen Mannes blieb emotionslos, bis sie den Tempelraum verlassen hatten und sie außer Sicht und Hörreichweite der Geweihten war, dann stahl sich ein Lächeln in seine Züge.
‘Nein, Grimmgasch. Knappin Wulftrud nimmt es sehr genau und hier im Tempel der Herrin wird streng auf geachtet auf den gegenseitigen Respekt und Achtung - sie würde Dich hier nicht mit Deinem Vornamen anreden.” Er führte seinen Freund in das Gästezimmer.

“Im Hotel Koschblick wäre es sicher gemütlicher. Aber das Stroh ist trocken und sauber und ohne Ungeziefer.” Er deutete auf einen kleinen Tisch neben der Türe. “Dort stehen frisches Wasser und saubere Tücher. Ich lasse Dich kurz alleine.”
Die Gästekammer war wehrheimsch knapp eingerichtet - sie bot Platz für ein gutes Dutzend Schläfer, auch doppelt so viel, wenn die Strohsäcke enger gelegt wurden. Der unverkennbare Ruch nach Kaserne umwehte den Raum.
Da Grimmgasch aber alleine in der Kammer war und die Strohsäcke sehr groß waren, konnte sich der Angroscho den besten Platz aussuchen und dort seine Sachen ablegen. Dann wandte er sich dem Waschzuber zu und begann sich zu waschen und sein Äußeres und anschließend seine Kleidung in Ordnung zu bringen. Dann setzte er sich auf den Strohsack, den er sich ausgewählt hatte und begann seine Gedanken auf Angrosch zu konzentrieren.
Argmin ging in den ersten Stock im hinteren Teil des Tempels. Über dem Gemeinschaftsraum in Erdgeschoss befand sich der große Schlafsaal der Novizen neben den Zimmern der Knappen und der Schwertschwester. Einfache Bettgestelle hielten die leinernen Strohsäcke an ihrem Platz, am Fußende einer jeden Schlafstatt befand sich eine Truhe für persönlichen Habseligkeiten und an der Wand ein Waffenständer, um Wams, Schild und Schwert abzulegen.

Nur vier der Strohsäcke waren mit Leinenbettzeug bezogen, die anderen vier lagen leer und einsam. Mit Bedauern sah Argmin auf die unbenutzten Schlafstätten. Die Anzahl derer, die sich in Hlûtharshall vorstellen, um dem Weg der Leuin zu folgen, war nicht hoch. Und die Zahl derer, die aufgenommen wurden, noch geringer. Auch wenn die Ereignisse der Dunklen Jahre und der Kampf gegen den Vielfach Verfluchten hatten in der Zeit danach zu einem regen Zulauf geführt. Das Erscheinen des göttlichen Schwertes Siebenstreiches und der legendäre Kampf von Raidri Conchobair gegen den Dämonenprinzen Borbarads führten dazu, dass sich viele junge Menschen dazu berufen fühlten, der Sturmbringerin zu folgen. Doch war nicht jeder, der Ihr folgen wollte, auch dazu berufen, zu einem der Ihr geweihten Krieger zu werden. Und so nahm die Anzahl der Anwärter im Laufe der Zeit wieder ab.

Er ging hinüber zu seiner Bettstatt. Sie stand da, wie er sie verlassen hatte. Die Decke akribisch zusammengelegt, keine Falte störte. Er legte Rijsh’alnaar auf das Bett und setze sich neben sie. “Da sind wir nun. Zurück.” Er strich zärtlich über das Metall der Klinge. “Als die Schwertschwester mich nach Calbrozim schickte, dachte ich nicht, dass der Weg mich so weit und so lange wegführen würde von hier …” Er öffnete die Truhe. Frische Wäsche, ein paar Rollen Pergament, Tinte und Federkiele, Schleifsteine und dergleichen. Argmin kramte und fand, was er suchte. Er nahm den Lederbeutel heraus und schüttet den Inhalt auf seine Handfläche - ein schweres Amulett aus Silber. Er öffnete es, der Deckel sprang auf und zeigte den Scherenschnitt seiner Schwester Haritiana. Argmin lächelte, etwas traurig, etwas glücklich. Er vermisste sie und hoffte, dass es ihr gutgehen würde. Er würde ihr schreiben. Nachher. Vielleicht morgen. Der junge Mann legte seine Überwurf und Wams ab, wusch sich ausgiebig und legte neue Unterkleidung an. Er bürstete den Wappenrock, polierte alle Schnallen und Ösen und seine Stiefel. Aus Routine, denn der Wappenrock war rein und sauber. Und um sich abzulenken. Rijsh’alnaar funkelte ihm vom Bett aufmunternd zu. Und als Argmin fertig war, beteten sie zusammen und dankten gemeinsam der Herrin, für den lehrreichen Weg, der hinter ihnen lag und die Wunder, die sie in dieser Zeit schauen durften.
Dann machte er sich auf, seinen Freund im Gästequartier abzuholen, um ihm die Tempelanlage des Herrin zu zeigen.

Haus Koschblick

Je weiter der Weg gen Rahja führte, desto besser wurden die Häuser und desto dünner das Gedränge auf den Straßen. Und mit jedem Schritt nahm der Gestank der Schwefelquellen weiter ab. Die steinernen Häuser entlang der Hauptstraße wuchsen immer höher empor, erst zu einem zweiten, dann zu einem dritten Stock, bis Dwarosch und Marbolieb schließlich das gastliche Haus Koschblick erreicht hatten.
Strahlend weiß prankte seine Fassade, die unteren beiden Stockwerke gemauert, das oberste aus pechschwarz gestrichenem Fachwerk, das die weißen Ausfachungen um so heller leuchten ließ. Der zweite Stock aus Fachwerk ragte gut anderthalb Spann über das untere Gebäude hinaus, und die Stützbalken, welche das Fachwerk trugen, waren mit aufwendigen, kunstvollen Schnitzereien verziert. Das Dach selbst bestand aus roten, gebrannten Tonziegeln, die Fenster waren samt und sonders mit kostbaren Butzenglasscheiben verschlossen und hatten braun gestrichene, ebenfalls mit Schnitzereien verzierte Läden.
Das Pflaster vor dem Haus war peinlich sauber, ebenso wie die halbe Handvoll Stufen, die, begleitet von einem auf hochglanz polierten Geländer aus Messing, zum Eingangstor emporführten. Dort stand eine würdevoll aussehende Frau, deren Schultern verrieten, dass sie auch eine gute Gardistin abgegeben hätte. Angetan war sie in einer Uniform aus roter Jacke, weißen Hosen und hohen, glänzend polierten Stiefeln. Ihr langes, blondes, lockiges Haar war zu einem strengen Zopf geflochten, und auf dem Kopf trug sie ein rotes Samtbarett mit einer langen, weißen Feder.

Sie betrachtete den Zwergen mit den beiden Ponys, die Geweihte und das Kind auf den Schultern des wuchtigen, wenn auch kurzgewachsenen Kriegers mit hochgezogenen Augenbrauen, die noch einen Fingerbreit weiter nach oben ruckten, als sie feststellte, dass das seltsame Gespann direkt auf ihre Tür zuhielt.
Dennoch behielt sie ihre Haltung und betrachtete Zwergen, Menschin und Kind schräg von oben.
“Wie kann ich helfen?” näselte sie herablassend. Die sahen wahrlich nicht nach einem tauglichen Publikum für ihr Haus aus. Dwarosch schenkte der Frau jedoch zunächst keine Aufmerksamkeit, sondern half Marbolieb aus dem Sattel des Ponys. Erst als dies geschehen war, wandte er sich mit der Geweihten am Arm dem Eingang zu.

“Wir möchten ein Zimmer. Wir sind Reisende aus Senalosch. Ich bin Oberst der Eisenwalder und dies”, er nickte in die Richtung der Frau an seiner Seite, “ist ihre Gnaden Marbolieb.”
Die Frau taxierte die nicht über Gebühr betucht aussehenden Reisenden. “Seid Ihr gewiss, dass Ihr in diesem Hause Unterkunft wünscht? Ich mag euch eine günstigere Bleibe weisen.”
Dwarosch lachte leise. “Gute Frau, ich diene dem Herzog persönlich und er zahlt gut. Wenn ich mir euer Haus nicht leisten könnte, stände ich nicht vor seiner Schwelle.”
Die Frau sog mit leicht verkniffener Miene die Luft ein. “Bindet eure … Pferde vor dem Haus an, ein Knecht wird sich sogleich ihrer annehmen. Und folgt mir bitte.”

Sie öffnete die Tür und ein Page in einer Uniform ähnlich der ihren trat hinaus. “Er wird sich um Euer Gepäck kümmern.” erläuterte die Frau, offensichtlich der Meinung, dass dies benötigt würde.
‘Na also’, lächelte der Oberst in sich hinein. Er federte einmal in die Knie, so dass Mirlaxa auf seinen Schultern gluckste. Wäre ja gelacht gewesen, wenn die Menschen seine Auromox nicht hätten haben wollen.
Dwarosch setzte seine Ziehtochter auf dem Boden ab und legte ihre Hand in die ihrer Mutter, dann band er das Pony fest und machte sich daran ihre Habseligkeiten an sich zu nehmen, um sie alsdann an den Pagen weiterzureichen. Als erstes jedoch drückte er dem Jungen seinen Spieß in die Hand. Das breite Grinsen, welches er dabei auf den Lippen trug sprach Bände.
Der Junge war offensichtlich gut geschult - nur das verdatterte Weiten seiner Augen verriet Dwarosch, dass er ihn damit überrumpelt hatte. Der Bursche mühte sich, alles gut zusammenzupacken, und wankte unter dem gesammelten Reisegepäck der Dreie - das dennoch insgesamt nur eine überschaubare Menge war - hinter der Gruppe her zum Eingang.

Die Empfangsdame führte Zwerg und Menschen in den Vorraum der Gaststube. Wo anderswo ein Schankraum gewesen wäre, befand sich eine Halle mit glänzend weißem Marmorboden, einigen gepolsterten Sitzgelegenheiten, einem hölzernen, polierten Tresen an einer Seite und einigen Türen, die ins Restaurant und in ungenannte andere Orte führten. Eine geschwungene Treppe mit poliertem Messinggeländer leitete in den ersten Stock.
Hinter dem Tresen stand ein Mann in ähnlicher Livree wie die der Empfangsdame, der die drei mit einem sehr vergleichbaren Blick musterte, ehe er, vorsichtig, nach ihrem Begehr fragte und ihn über die Preise der Zimmer - ein Goldstück für ein Zweierzimmer pro Nacht mit Frühstück - in Kenntnis setzte. Die Möglichkeit, eine Suite anzubieten, erwog er einen Atemzug lang, beäugte dann den waffenstarrenden Zwergen und die staubbedeckte Geweihten, die beide nicht nach Stand und Adel aussahen, und fügte vorsichtig hinzu: “Die Suite mit drei Mahlzeiten und Baderaum kostet drei Dukaten.”
Marbolieb holte erschrocken Luft, wurde bleich und zog ihre Tochter zu sich. Ohne eine Miene zu verziehen zählte Dwarosch daraufhin zehn Auromox aus seiner Geldkatze ab und stellte sie als fein säuberlich aufeinandergetürmter Stapel auf den Tresen. “Ich nehme an, ihr kennt den korrekten Wechselkurs”, sprach er dabei beiläufig. Es war mehr eine rhetorische Frage.

“Wir nehmen ein Doppelzimmer mit Frühstück”, stellte er dann ebenfalls in gelassenem Ton fest, bevor er eine Frage anfügte: “Wäre es möglich, dass ihr uns einen Zuber mit heißem Wasser bereitet? Die Reise war lang und strapaziös. Wir möchten uns frisch machen, bevor wir vor die Hochgeweihte der Leuin treten.”
“Gewiss - eine Magd wird Euch Bescheid geben, sobald Euer Bad bereitet ist.” Dwarosch nickte.
Der Bedienstete hinter dem Tresen beäugte den Stapel Goldstücke und riss seine Aufmerksamkeit mit einiger Mühe von diesem seltsamen Trupp direkt vor seiner Nase los - schwer genug fiel es ihm. “Wie viele Tage wünscht Ihr denn zu bleiben?” Die Umrechnung von Zwergentalern in Menschendukaten schien indes nichts zu sein, was den Herrn und Meister des Empfangstresens schreckte. Müde zuckte der Oberst mit den Schultern. “Wir sind Pilger”, stellte er mit weiterhin gelassener Stimme klar. “Ich kann euch zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, wann wir wieder abreisen werden- dies wissen nur die Götter.
Sagt mir einfach bescheid, wenn unsere hinterlegte Barschaft dem Ende zugeht. In Ordnung?”
“Ja, mein Herr, das werden wir.” Die Augen des Empfangsbediensteten wanderten noch immer zwischen der bunt zusammengewürfelten, verstaubten und wahrlich nicht edel aussehenden Gruppe zu dem beiläufig aufgetürmten Stapel Goldstücke hin und her.

“Auf welchen Namen darf ich das Zimmer eintragen?”
“Oberst Dwarosch und ihre Gnaden Marbolieb”, antwortete Dwarosch knapp.
Er riss sich zusammen, griff zu einer kleinen Silberglocke, die neben ihm auf dem polierten Tresen stand, und leutete einmal kurz und energisch.

Aus einer der Türen sprang eine livrierte Pagin.

“Bringe den Herrn und die Dame in Raum 6, Alwine.” beschied der Empfangsherr sie, erleichtert, wieder alles im gewohnten Gang zu wissen, und dennoch mit einem Stirnrunzeln, das einer unbestimmten Sorge Raum gewährte. Gewissenhaft zählte er die Goldmünzen in eine Kasse unter dem Tresen und vermerkte den Eingang in einem ledergebundenen Buch, das daneben lag.
Die Pagin bedachte die Gäste mit einem hastigen Knicks und führte sie dann die Treppe empor zu einem Raum ganz an am Ende des Ganges und öffnete die zweiflügelige Tür weit.

Das Zimmer war äußerst geräumig, der Boden mit einem dichten Teppich ausgelegt, zwei mit Butzenglas verschlossene und mit langen weißen Vorhängen gezierte Fenster ließen Licht in den Raum. Vor einem Fenster stand ein weißer Tisch mit zwei Stühlen mit elegant geschwungenen Beinen. Hinter einer Almadanischen Wand in einem Alkoven befand sich ein Waschtisch mit Geschirr aus edlem weißen Porzellan, an der Wand neben der Tür stand ein Sofa nebst zwei gepolsterten Sesseln um einen niedrigen Tisch, auf dem einige Leckereien, Gläser und eine Karaffe mit einer hellgoldenen Flüssigkeit angerichtet waren. Auf einer Kommode an der Wand glänzte eine Vase mit einem bunten, duftenden Blumenstrauß. Zur Linken an der Wand stand ein wuchtiges, hölzernes Himmelbett auf hohen Füßen, auf dem sich ein Berg von Kissen türmte, mit dunkelroten, gold durchwirkten Vorhängen. Ein aufmerksamer Geist hatte ein weiß lackiertes Kinderbett daneben aufgestellt. Ein kleiner Schrank neben der Tür rundete das edel aussehende Ensemble ab.
“Wenn ihr etwas benötigt, lasst es mich wissen. Zieht einfach an der Klingel hier neben der Tür.” erklärte die Pagin und deutete auf eine rote Kordel mit goldener Tresse, die auf etwa einem Schritt Höhe an der Wand baumelte.
“Wünscht Ihr jetzt noch etwas? Wir werden euch benachrichtigen, sobald das Bad bereitet ist.”
“Für das Erste nicht, danke”, sprach der Oberst und schnippte der Pagin ein Kupferstück zu, den diese behände aus der luft fischte, nur um den Raum dann rasch rückwärts zu verlassen und die Doppeltür hinter sich zu verschließen.

Dwarosch seufzte erleichtert.
Die Boroni hatte seit dem Empfang keinen Ton mehr von sich gegeben. Sie hielt ihre kleine Tochter fest an der einen Hand, die andere um den Arm des Oberst geschlungen, und trug einen Ausdruck schierer Fassungslosigkeit im Gesicht.
Der Oberst aber ignorierte den Gesichtsausdruck Marboliebs, ging neben seinen Herzensdamen leicht in die Hocke und überrumpelte beide, indem er sie in einer schwungvollen Bewegung vor sich auf die Arme nahm, so dass Mirla jauchzend auf ihrer Mutter zum liegen kam. Die Geweihte indes gab einen kurzen, spitzen Schrei von sich, bis sie begriff was vor sich ging. Doch da landete sie bereits auf dem weichen Bett und versank augenblicklich mehrere Finger breit.
Dwarosch selbst gesellte sich erst zu den beiden, nachdem er sowohl das Schuhwerk Marboliebs und Mirlaxas, sowie sein eigenes polternd entfernt und achtlos auf den Boden befördert hatte.

Mit einem langgezogenen Seufzen ließ sich der Oberst neben der Boroni nieder und ergriff sogleich ihre Hand, während das kleine Mädchen bereits dabei war den Bauch ihres Ziehvaters zu erklimmen.
“Dado dick!” juchtzte Mirla begeistert, als sie ungelenkt wieder abrutschte und lachend vor Freude in einem gewaltigen Berg Kissen landete. Energisch begann sie wieder auf den Bauch ihres Vaters zu krabbeln, setzte sich rittlings darauf und rammte dem Zwergen energisch ihre kleinen und harten Fersen in die Seiten. “Gobbihopp! Hopphopp!” Ihr Gesichtchen leuchtete vor Freude und aus ihrem Zopf hatten sich viele feine Haarsträhnen gelöst, die ihren Kopf wie ein Halo umgaben.

Marbolieb lehnte ihren Kopf an die Wange des Oberst und flocht ihre Finger durch seine - ohne zu Wissen, dass die Füßchen ihrer Tochter bei deren waghalsigen Klettermanövern ihren Kopf nur um Fingerbreite verfehlten.
“Das ist so herrlich weich. Ich habe noch nie in einem so weichen Bett gelegen.” Sie seufzte glücklich - und ziemlich betreten ob diesem hemmungslosen Wohlleben. “Dwarosch, das kostet ein Vermögen. Das waren mehr als ein oder zwei Goldmünzen, habe ich recht? Ich möchte nicht, dass du dein gesamtes Geld hier lässt. Du wirst es noch für Mirla brauchen.”
Fünf Goldmünzen - das war mehr, als sie jemals besessen hatte. Eine solche ungeheure Menge Geld so einfach für ein - keine Wünsche offen lassendes - Obdach auszugeben, bescherte ihr ein ausgeprägtes Schuldgefühl.
“Das soll dich nicht kümmern, Räblein”, antwortete Dwarosch so ruhig, dass es über das Johlen Mirlaxas nur schwer zu verstehen war. “Ich habe kaum Gelegenheit, etwas von dem Gold auszugeben, dass ich verdiene. Und ich verdiene gut.” Er drehte den Kopf zu ihr und küsste ihre Stirn. “Ich habe Angst vor der Zukunft”, gestand Dwarosch seufzend. “Lass uns die Zeit genießen, sie wird nicht zurückkommen.”
Marbolieb schloss die Augen und legte ihren Kopf wieder an die bärtige Wange ihres Liebsten. “Bei Dir zu bleiben würde mich glücklich machen, Dwarosch.”

Sie grübelte einigen Atemzüge lang, ehe sie ihm ins Ohr flüsterte “Und ich hätte wirklich gerne ein Kind von Dir gehabt, Herr Oberst - wenn du das auch gewollt hättest.” Ein kleines, neckisches Lächeln blitzte in ihren Mundwinkeln auf, als sie eine bequeme Lage suchte und dem glücklichen Toben ihrer Tochter lauschte, die gerade versuchte, ihren Ziehvater unter einem Turm aus Kissen zu begraben.
Mit ihrer freien Hand suchte sie zuerst nach ihrer Tochter und bekam kurz ein Füßchen zu fassen, das ihr mit einem energischen “Kribbelig!” entzogen wurde, und dann nach der Wange Ihres Mannes.

“Hab keine Angst, Dwarosch.”
Ihre Finger liebkosten den dichten, langen Bart des Zwergen und fanden das zierliche Boronsrad an einer Kette, das er darunter trug - ihr Geschenk von vor so vielen Götterläufen.
“Niemand wird dich mehr heimsuchen. Deine alten Dämonen sind gebannt. Sie werden keine Macht mehr über über dich erlangen.” Ihre Fingerspitzen liebkosten seinen Hals und seine Wange.
“Es wird euch gut ergehen.”

Abermals seufzte Dwarosch.
“Ach Räblein, in diesem Moment sind die Gedanken an solch vergangene, inneren Dämonen fern. Auch weiß ich, dass jedweder notwendige Rahmen dafür, dass Mirlaxa eine behütete Kindheit und eine gute Ausbildung haben wird, vorhanden ist in Senalosch.
Nein, es geht mir allein um die Verantwortung sie großzuziehen … ohne dich.
Und auch wenn ich nicht Mirlaxas leiblicher Vater sein mag, so liebe ich sie dennoch derart bedingungslos, wie es wohl nur ein Vater vermag. All diese mir bisher unbekannten Gedanken und Gefühle … für mich haben wir ein gemeinsames Kind, Räblein.”
Die Geweihte drückte zur Antwort Dwaroschs Hand und schwieg eine lange Weile.
“Du wirst dies gut meistern, mein Liebster.” flüsterte sie schließlich. “Ich bin dankbar, dass sie bei dir bleiben darf.”
Dass sich ihr bei dem Gedanken an die Zukunft ein Eisklumpen im Magen zusammenballte - nicht, weil sie Dwarosch die Erziehung ihrer Tochter nicht zutraute. Er war ihr ein Vater, wie sie sich niemals einen besseren hätte wünschen können - verschwieg sie ihrem Liebsten. Er war beunruhigt genug, und sie hatte nicht die Absicht, ihm seine Last nochmals schwerer zu machen.
Das schwere Ausatmen was folgte, verriet Marbolieb, das sich Dwarosch eben nicht so sicher war, dass er sie alleine würde aufziehen können. Wiederum entstand eine kurze Stille zwischen den beiden, die ihre Tochter jedoch nicht im geringsten interessierte. Sie drangsalierte Dwarosch weiterhin nach Leibeskräften.

Als Mirlaxa ihren Ziehvater dann lachend eines der Kissen über den Kopf schlug und dieser das kleine Mädchen kurzerhand mit einer Hand von seinem Bauch wischte, so dass sie gackernd neben ihm auf dem weichen Bett landete, brach er das Schweigen.
“Meinst du es ist ein Zufall das … nun ja, dass Mirlaxa mir und Argmin im Traum erschienen ist?
Ich bin zu alt, um noch an so etwas zu glauben, aber ich verstehe von solchen Dingen auch wenig. Ich meine … nun ja, wenn es so etwas wie eine Gabe ist, dann … ich werde sie nicht fördern können.”

“Wahre Zufälle sind selten.”
Ein wehmütiges Lächeln huschte über die ruhigen Züge der Geweihten. “Wenn sie diese .. Gabe .. wirklich besitzt, so wird sie sich wieder manifestieren - und stärker werden.” Marbolieb erwischte den Rücken ihrer Tochter und kitzelte ihn mit den Fingerspitzen, was das Mädchen zu einem schrillen Kreischen und der Flucht in ihres Vaters Arme veranlasste.
Nach einiger Zeit des Nachdenkens fuhr die Geweihte fort. “Du sagtest, es gäbe einen Ingerimmtempel in Senalosch. Besuche ihn hin und wieder mit ihr. Wenn die Götter sie als die Ihre wünschen, so werden es die Geweihten dort bemerken.”
Hoffentlich. Doch wenn sie wirklich berufen war für den Dienst an einem Gott, so würde sich das auch so deutlich machen, dass es auffallen würde - irgendeinem Geweihten. Irgendwann.

“Ganz unwahrscheinlich ist es nicht.” Bedachte man ihre leiblichen Eltern.
“Sie werden Dir helfen, wenn Mirlas Weg zu den Göttern führt. ”
Oder den armen Oberst von dieser Sorge befreien.

“Und was ist, wenn es Madas … Segnung ist, die ihre ersten Knospen treibt?”, wollte der Oberst wissen. “Sie ist jung. Meines Wissens nach würde sich ‘diese’ Gabe erst später manifestieren, doch was ist, wenn dies die Vorzeichen ihres Erwachens sind? Ich werde auch mit dem Gebirgsbock sprechen, wenn er das nächste Mal in Senalosch ist.”
“Hm.” Marbolieb schaffte es, in die kleine Silbe eine enorme Menge an Zweifel ob dieser Möglichkeit zu legen. “Das ist eine gute Idee. Schaden wird es nicht.”
“Hm”, brummte der Oberst langgezogen und drückte damit sowohl Zustimmung, wie auch andauernde Nachdenklichkeit aus. Marbolieb seufzte tief. Sie wollte nicht von der Seite Dwaroschs. Und ihr graute es vor der Rückkehr nach Calmir. Doch hatte sie in dieser Sache keine Wahl, wenn sie nicht bereit war, ihre selbstsüchtigen Wünsche mit ihrem Glauben zu bezahlen. “Alles wird gut werden, Dwarosch.”
Tröstete sie ihn - und sich.

“Ja”, erwiderte der Oberst nicht zur Gänze überzeugt und gab Marbolieb einen Kuss. Die Boroni erwiderte ihn dankbar, bemüht, darin ihre Sorge und Angst vor der Zukunft zu begraben, was ihr indes nur ungenügend gelang.




Travienstund in Hlûtharshall

Sauber, satt und ausgeruht fanden sich der Oberst, seine Ziehtochter und die Borongeweihte pünktlich zur Travienstunde vor dem Haus der Rondra ein. Die beiden Novizen am Tor betrachteten die Neuankömmlinge aus den Augenwinkeln, das Gesicht starr geradeaus und keine Miene verziehend.

Dwarosch tug zu diesem fast schon feierlichen Anlass sein langes Kettenhemd, sowie -kragen und -haube und einen sauberen Wappenrock mit dem Zeichen Ingerimms Hammers. Schild und Spieß hatte er im Koschblick zurückgelassen - fand er doch letzteres unpassend im Hause der Leuin. Dafür jedoch hatte er den Gladius gegürtet.
Alle drei, der Oberst ebenso wie Mutter und Kind waren herausgeputzt. Man sah ihnen das kurz zuvor genommene Bad an und man roch es. Ein leichter Duft nach feinem Öl umgab sie.
Dwarosch hatte seinen langen, kräftigen Bart zu einem einzelnen, dicken Zopf gebunden, was dem Umstand geschuldet war, dass sie nicht mehr ausreichend Zeit gehabt hatten die Pracht vollständig zu trocknen. Das graumelierte, schwarze Haupthaar Dwaroschs lag zurückgekämmt und doch wild wie die Mähne eines Löwen über seinen Schultern.

Marbolieb schmunzelte. Sie fühlte sich wohl, frisch rasiert und in ihrer sauberen, neuen Robe und ein seltener Luxus war ein Bottich voll mit herrlich heißem Wasser, so dass sie das Bad mit ihrer Familie ausgiebig wertgeschätzt hatte. Ihre Fingerspitzen strichen über die dichte Mähne des Oberst und ihre Augen leuchteten auf. Sie mochte es, wenn er sein Haar offen trug - und zu gerne hätte sie beide Hände in der wilden Pracht vergraben.
Mit etwas Mühe konzentrierte sie sich auf das Anstehende und schob alle unziemlichen Gedanken in eine gut verschlossene Schublade ihrer Gedanken. Zuerst kam der Besuch im Tempel - eine Sache, auf die sie schon so lange verzichtet hatte und der sie mit großer Vorfreude entgegensah.

Die Travienstunde brach an. Und mit ihr die Verabredung mit ihren Reisegefährten. Und, beunruhigender noch, die Ladung Ihrer Hochwürden für ihren heimgekehrten Novizen.
Angesichts der Ehre, die Argmin zuteil werden sollte, und des Rufes der Hochgeweihten des Tempels, hatte Grimmgasch seine bequeme Reise- und Alltagskleidung gegen das schwere Zeremonialgewand der Angrosch-Priesterschaft getauscht. Die bodenlange Robe, die an vielen Stellen mit Metallplättchen verziert war, glänzte und blinkte im Licht des durch die Fenster herein scheinenden Praiosmals. Der breite Gürtel, der die Robe zusammenhielt, war aus feinstem Leder gearbeitet und ebenfalls mit goldenen Scheiben, die das Symbol des Allvaters zeigten, verziert. An dem Gürtel hing der Schmiedehammer und die kleine Lampe mit dem ewigen, heiligen Licht. Der Bart war neu geflochten, so dass man nun auch den kleinen Hammer, den er an einer Kette um den Hals trug, gut sehen konnte. Die Haare wurden von einem zierlichen, schlichten goldenen Reif aus der Stirn gehalten.
Als Argmin an die Tür zum Gästeschlafsaal klopfte, holte er noch einmal tief Luft, öffnete dann die Tür und trat neben seinen Freund. “Ich bin bereit!”

Der junge Mensch stand etwas verloren im Gang. Er nestelte an seinem Gürtel, rückte ihn zurecht, dass die Schnalle mit den drei schwarzen Löwen mittig saß, und lächelte seinem Freund erzwungen zu. Argmins Augen verrieten seine Überraschung, als sein Blick auf das prunkvolle Gewand von Grimmgasch fiel. “Hochwürden…” Argmin neigte kurz den Kopf, das Wort bewusst gesprochen und ernst gemeint. “Ich bin es nicht und wünsche mich in die Stollen von Isha Mur zurück …” Er rollte mit den Augen. “Schwertschwester Bodia sagte uns immer, dass sich Mut nicht nur im Kampf zeigen würde - gerade beginne ich zu verstehen, was sie damit meinte ... Lass uns nach draußen gehen, Marbolieb und Dwarosch werden sicher bald hier sein.”
Sie verließen den Anbau seitlich und umrundete den Tempel der Leuin durch den Innenhof der Anlage. Noch immer hielten Vea und der andere Mann Wache. Die junge Frau zwinkerte Argmin kurz zu, zeigte sonst aber keine Miene und keine Regung, als Argmin mit Grimmgasch unter dem schweren Torbogen hindurch nach draußen traten.
Nur wenig Leute waren auf der Straße vor dem Rondratempel zu sehen. Das Treiben der Stadt spielte sich am Marktplatz ab und hielt sich fern von diesen Mauern.

Nur kurz warteten die beiden, dann sahen sie Dwarosch und Marbolieb mit Mirla zwischen sich die Straße vom Marktplatz her auf sie zukommen. Prächtig waren sie alle anzusehen und Argmin fühlte sich wohl, verband ihn doch inzwischen so viel mit diesen vieren. Grimmgasch begleitete seinen Weg seit Calborzim, ein vertrauter Weggefährte, ein steter ruhiger Punkt in all dem hektischen Treiben. Maroblieb und Dwarosch hatte er auf der Reise nach Ishna Mur kennengelernt. Er schätzte Marobliebs vertraute Weise und ihre Ansichten in das Welten- und Göttergefüge. Auch wenn Dwarosch im Dienste des Schnitters stand, so hatten er und Argmin Seite an Seite gegen den Feuergeist gekämpft und hatten akzeptiert, dass jeder auf die seine Art und mit dem Segen des eigenen Gottes doch gemeinsam gegen das Übel kämpften. Und Mirla… Nun, Mirla war zwar noch ein kleines, brabbelndes Kind, doch sie war seine Traumführerin.
Keine anderen hätte Argmin nun lieber um sich gehabt, als diese hier, die nun bei ihm standen und mit ihm zurück zum Tempel gingen.

Wieder war es Wulftrud, die Argmin und sein inzwischen um Dwarosch und Marbolieb sowie Mirla angewachsenes Gefolge durch den Tempel führte. Im Gemäuer hinter dem Allerheiligsten besaß Ihre Hochwürden Bodia von Leuenfels ihre Amtsstube in einem Zimmer im zweiten Stock. Auch ihr steifes Bein hinderte sie nicht daran, an dem Amtszimmer festzuhalten, anstatt es angenehmer und leichter erreichbar im Erdgeschoss einzurichten.
Hinter einem großen, mit Löwenschnitzereien und Klauenfüßen verzierten Arbeitstisch saß die Einäugige Geweihte im vollen Ornat einschließlich Kettenhemd, und ein kurzer, militärischer Bürstenhaarschnitt in ihrem eisgrauen Haar rundete den Eindruck einer sehr altgedienten Kriegerin ab. Der linke Arm der Frau fehlte, und an dieser Stelle war ihr Wappenrock samt Hemd darunter vernäht.
Die Hochgeweihte blickte auf, als Wulftrud Argmin samt Gefolge ankündigte und auf knappes ‘Herein’ die Gruppe eintreten ließ.
Neben ihr stand eine junge Erzpriesterin, die ihr soeben eine Rolle Pergament gereicht hatte. Es war die Geweihte, die am Vormittag im Tempel gebetet hatte. Auch jetzt trug sie wieder das weiße Obergewand mit der stehenden roten Löwin auf der linken Brustseite. Hinter ihrem Rücken schauten die Griffstücke eines Rondrakamm heraus. Ihre langen schwarzen Haaren fielen in wilden Locken weit über die Schulter. Die Priesterin war höchstens eine Handvoll Jahre älter als Argmin.

“Argmin.” Die Stimme Ihrer Hochwürden Bodia war rau und harsch, bestens geeignet, sich auch über Schlachtgetümmel Gehör zu verschaffen. “Willkommen zurück.”
“Schwertschwester der Rondra, Euer Hochwürden.” Argmin kniete ab, neigte tief sein Haupt und erhob sich wieder. “Habt Dank. Lange war der Weg, der mich aus Hlûtharshall führte, und lehrreich die Aufgabe, die Ihr mir stelltet.”
Argmin hatte sich in den letzten Tagen viele Gedanken gemacht über das anstehende Treffen mit Frau Bodia und er hatte sich entschieden, gar nicht erst auf scheltenden Worte zu warten, sondern verbal in die Offensive zu gehen.
Das Blitzen in ihrem Auge zeigte ihm, dass seine Worte seine Absicht nicht verfehlten.
“Das hier ist die Ritterin der Leuin Marchessa Cassjarella d’Isliquor.” stellte sie die Frau neben sich vor.
“Euer Ehrwürden, es ist mir eine Ehre Euch kennenzulernen.” Er verbeugte sich kurz vor der jungen Frau und versuchte sich verzweifelt zu erinnern, ob er ihren Namen schon einmal gehört hatte. Gesehen hatte er sie noch nie, denn das hätte er sicher nicht vergessen. Diese erwiderte seine Begrüssung mit einem stillen, aber sehr zackig durchgeführten Rondragruß.
“Soll ich mich zurückziehen, Schwester?” fragte sie Bodia, musterte dabei aber die sehr heterogene Gruppe der Ankömmlinge. Bodia schüttelte schweigend den Kopf, wandte sich dann aber wieder ihrem Novizen zu.
Genauso schweigend nickt Cassjarella, trat aber einen Schritt hinter Bodia zurück und stand dort gerade aufgerichtet dem folgenden Gespräch lauschend.

“Was hast Du mir zu berichten? Wer sind deine Begleiter?”
“Euer Hochwürden, das hier sind Seine Hochwürden, Grimmgasch groscho Kagannto, Tempelvorsteher des Heiligtum des Angrosch in Ishna Mur, und Ihre Gnaden, Marbolieb, Geweihte des Ewigen aus Calmir, mit ihrem Gefährten, Dwarosch, Sohn des Dwalin, Oberst des Eisenwalder Garderegiment, sowie Gesegneter des Schwarzen Panthers, und ihrer Tochter Mirla.” Argmin deutete auf seine Weggefährten und stellte sie Schwertschwester Bodia vor. Er machte eine kurze Pause und wartete ab, bis sie seine Freunde gemustert hatte.
Grimmgasch verneigte sich vor der Tempelvorsteherin als sein Name genannt wurde, blieb aber danach direkt neben Argmin stehen und hoffte so, dass seine Nähe den Freund ein wenig beruhigen konnte.
Marbolieb nickte höflich - und schweigend - in die ungefähre Richtung, in der sie die Tempelvorsteherin vermutete. Die Frau klang Autorität und Macht gewohnt - und nach niemand, mit dem man es sich verscherzen wollte. Sie schien gefestigt in ihrer Welt und zufrieden darin. Vorsichtig schlang die Boroni ihre Hand etwas fester um den Arm des Oberst und lauschte weiter den Berichten von Argmin, die sie so in aller Vollständigkeit nicht gekannt hatte.
Mirla dagegen starrte die Einäugie, Einarmige mit großen, kugelrunden Augen an und hielt sich mit beiden Händchen an ihrem Vater fest - diese halbe, strenge Frau war ihr ordentlich unheimlich.

Der Oberst bezeugte seinen Respekt gegenüber der hochrangigen Geweihten und Vorsteherin des bedeutendsten Tempels der Leuin im Herzogtum mit einem militärisch knappen “Hochwürden”, das durch ein Nicken untermalt wurde.
“Willkommen.” Die Hochgeweihte nickte knapp, auch wenn sich ihre Züge bei der Nennung des Korjüngers kurz verfinstert hatten. Sie betrachtete die Schar aus Geweihten, Krieger und Kind eingehend und analysierte das Bild, wie sie es bei einer besonders herausfordernden Situation auf dem Schlachtfeld ähnlich getan hätte.
“Du wirst mir ihren Beitrag noch berichten. Doch jetzt fahre fort.” Richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Argmin. “Seine Hochwürden Grimmgasch lernte ich vor den Toren Calbrozims kennen, wohin Euer Auftrag mich führte, um dort meine Weihewaffe in Empfang zu nehmen, die meine Tante dort in Auftrag gegeben hatte. Seitdem führte das Schicksal Hochwürden Grimmgasch und mich auf dem selben Pfad, von Calbrozim nach Senalosch, von dort zum Heiligtum des Flußvaters nach Sturzenstein, dann nach Ishna Mur und wieder zurück nach Senalosch, und über Sturzenstein hierher nach Gratenfels.

Ihre Gnaden Maroblieb, Oberst Dwarosch und Fräulein Mirla traf ich auf der Reise nach Ishna Mur, zu der mich der gräflicher Vogt von Nilsitz, Seine Wohlgeboren Borindarax, Sohn des Barbaxosch, bat.” Damit fasste der Novize kurz zusammen, wie es dazu kam, dass er zurück nach Hlûtharshall kehrte in der Begleitung zweier Angroschim, einer Borongeweihten und eines Kindes.
Bei jeder Nennung des Titels ‘Hochwürden’ bewegten sich Grimmgaschs Mundwinkel immer ein Stückchen nach oben. Zum Glück verdeckte sein dichter Bart das Grinsen.

Die einäugige Herrin des Tempels nickte auf die Aussagen Argmins, bedeutete ihm aber, fortzufahren. Solange er ihr kurz und präzise Bericht erstattete, sah sie keinen Grund darin, seinen Rapport zu brechen - interessant waren seine Erlebnisse, und die Verknüpfungen, die sein nur scheinbar einfacher Weg aufzeichnete, viel mehr, als sie nach den vergangenen Tagen erwartet hätte.
“Wie Ihr meinem Bericht nach den Ereignissen in Calbrozim und auf dem großen Fluss entnehmen konntet, wurde ich durch mein Erscheinen vor den Toren der Zwergen...feste”, Argmin biß sich fast auf die Zunge, als er beinahe über das Worte ‘Binge’ gestolpert wäre, “in herzogmutter-lichen Ereignisse hineingezogen, die ihren Ausgang in den neckischen Umtrieben einer Nixe hatte, und dadurch auch mich selbst direkt betrafen, denn das mir gedachte Schwert war diesen Umtriebe geschuldet zu einem Gegenstand von alveranischem Interesse geworden. Und ich musste mich entscheiden, die Schmiedewerk von Meister Raxarim zu zerstören oder die Waffe dem Herrn der Muscheln anzuvertrauen. Da ersteres mich zwar in den Besitz der Klinge, doch in unausgewogenem Zustand gebracht hätte, entschied ich mich, darauf zu verzichten und wusste sie in den Händen des Kriegsfürsten des Flussvaters in guten Händen. Doch stand ich mit leeren Händen da und entschied mich, mich auf die Suche zu machen, nach einer anderen Klinge, in dem Wissen, dass die Sturmbringerin meinen Weg leiten und mich führen würde.”
Frau Bodia hörte den Worten des Novizen zu, ihr Ausdruck emotionslos, und lauschte, wohin die Rede ihres Novizen noch führen mochte.
Argmin berichtete von der Einladung des Vogtes von Nilsitz nach Senalosch zu kommen und dem dortigen hastigen Aufbruch nach Sturzenstein, zum überfluteten Heiligtums des Flussvaters. Er erzählte von den Gängen und dem Wasser und dem Altar und dem Auftauchen von Wellenkamm, immer noch mit dem Edelstein des Flussvaters versehen. Und er erzählte von dem Schwur, den er geleistet hatte, als der Herr der Muscheln ihm die Klinge überreichte, als Pfand für einen alten Bund, zwischen den Menschen, den Zwergen und den Wasserwesen, gemeinsam dem Bösen zu trotzen.

Bei den Erzählungen über die Geschehnisse in Calbrozim und Sturzenstein bestätigte Grimmgasch immer wieder die Ereignisse durch zustimmendes Kopfnicken.
Cassjarella, die im Halbdunkeln hinter Bodia stand, zog interessiert ihre rechte Augenbraue bei den Berichten zu Argmins Questen hoch. Die Hochgeweihte antworte mit einem knappen Achselzucken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den vor ihr stehenden Argmin. “Und welche Pflichten hast Du mit diesem Bund auf Dich genommen, Argmin?”
“Einmal im Götterlauf habe ich im Heiligtum des Flußvaters bei Sturzenstein zu erscheinen und Zeugnis über die Geschehnisse der Menschen und Angroschim und über meinen Lebenslauf zu berichten. Eine Pflicht, die ich gerne auf mich genommen habe für ein Bündnis mit dem Flußvater.

Der Herr der Muscheln überreichte mir als Siegel des Bundes den Rondrakamm, den Meister Raxarim für mich geschmiedet hatte, und in dessen Knauf der Edelstein des Flußvaters eingearbeitet worden war.”
Mit diesen Worte nahm Argmin seine Klinge und präsentiert sie auf beiden Händen liegend den beiden Geweihten. “Dies ist Rijsh’alnaar.”

Er machte eine kurze Pause, versuchte im Gesicht von Frau Bodia zu lesen, wie sie reagieren würde, als er den Rondrakamm beim Namen nannte. Seine Augen huschten kurz zum Gesicht von Cassjarella.
Die Geweihte nickte ihm
kurz aufmunternd zu. Aber, da Cassjarella auch nur zu Gast in dem Tempel war, blieb sie still im Hintergrund stehen.
Beim ersten Teil der Beschreibung sah die Hochgeweihte einen Augenblick aus, als habe sie einen Schluck Essig getrunken - ein Ausdruck, rasch verschwunden, als Argmin den Namen seines Schwertes nannte.
Hochwürden Bodia nickte, ohne aber den Bericht Argmins zu unterbrechen.

“Ihren Namen erhielt sie erst vor wenigen Tagen”, fügte er hastig hinzu.
Er berichtete von der Reise nach Ishna Mur, zusammen mit Schwester Marbolieb und Hochwürden Grimmgasch und dem Oberst und von den Ereignissen in den Tiefen der Stollen, von dem gemeinsamen Kampf gegen das Feuerelementar in der Kammer, Seite an Seite mit dem heroischen Korkrieger und seinen Gefährten. Er sprach von dem Sieg über das unheilige Metall im Tempel seines Freundes Grimmgasch, am Altar des Angrosch, den dort Maroblieb, Grimmgasch und er mit Hilfe der ihrer Götter errungen konnten und ihrem Schwur, eine Pilgerfahrt zu Ehren der drei Götter Boron, Angrosch und Rondra zu unternehmen, als Dank für Ihre Hilfe.
“Genauso war es!” entfuhr des Grimmgasch, dem bei der Erzählung der Ereignisse immer noch ein Schaudern über den Rücken fuhr. Die blinde Boroni nickte zur Bestätigung von Argmins Worten. Es war nur recht und angemessen, den Göttern für ihre Hilfe zu danken, und sie würde dafür selbstverständlich ihren Teil leisten.
Der Oberst indes deutete mit keiner Bewegung seine Zustimmung an, noch verlor er ein Wort während des Berichtes Argmins, doch drückte seine Haltung eine Überzeugung aus, die für sich sprach.
Der Novize benötigte nach Dwaroschs Auffassung keinen Beistand. Seine Überzeugung, seine Leidenschaft, seine Hingabe, Taten, Traumgesichter- er war erwählt worden und gehörte bereits mit Leib und Seele der Leuin, das würde auch die Hochgeweihte erkennen - ohne ihre Fürsprache.

Dann fuhr Argmin fort und erzählte von seinem Aufenthalt in Sturzenstein und seinem Besuch im Heiligtum und ihrer Reise nach Gratenfels. Dann wurde seine Stimme für einen Augenblick etwas leiser, als er begann seine Visionen auf ihrem Weg hierher vorzutragen. Ein Gefühl von Unsicherheit machte sich bemerkbar, dann fasste er seine Stimme. Die Göttin selbst hatte ihn gerufen, hatte ihm Ihren Boten geschickt. Hlûthar war ihm ein zweites Mal erschienen und hatte ihm aufgetragen mit dem Schwert nach Gratenfels in den Tempel zu kommen. “Und hier stehe ich nun vor Euch nach meiner langen Reise, Schwertschwester, Ritterin. Ich bin zurückgekehrt als der Träger von Rijsh’alnaar.” Er kniete nieder, die Klinge nach oben gestreckt.
Bedachtvoll nahm Hochwürden Bodia die Klinge aus den ausgestreckten Händen des Novizen entgegen. “Feuerfeder.” übersetzte sie und bewegte die geflammte Klinge, dass Flammenwellen an ihr entlangliefen, nicht mehr als ein Widerschein des Lichts.
“Es ist ein guter Name.” befand sie. “Und eine Weisung der Leuin.”

Dwarosch indes lächelte. Wenn Meister Raxarim wüsste, dass man sein Meisterwerk Feder getauft hatte … .
“Du wirst uns später zeigen, wie gut sie dir in der Hand liegt, Argmin.” Das verbliebene Auge der Hochgeweihten fixierte den Novizen und schien tiefer zu blicken als auf Haut und Haar.
Mit ruhiger Hand gab sie ihm seine Klinge zurück.
“Doch es ist nicht das erste Mal, dass du Rijsh’alnaar hier im Tempel trägst, nicht wahr?”

Argmins Gedanken überschlugen sich. Die Frage brachte ihn durcheinander, doch er wahrte seine Fassung. “Nein, Schwertschwester.” Er hielt ihrem durchdringenden Blick mühsam stand, doch er senkte nicht den Blick und erklärte sich auch nicht weiter. Er nahm das Schwert zurück
“Doch jetzt stehe ich hier und bin bereit für den letzten Schritt, um mich würdig zu erweisen, in den Reihen der Sturmbringerin stehen zu dürfen.”
“Gut.” Die Hochgeweihte nickte, die Aussage und knappe Geste nur eine Bestätigung ihrer Vermutung, die sich soeben zur Gewissheit verfestigt hatte.

“Ihr werdet mir später Auskunft geben.” Mit der Rondra am besten ehrenden Weise. Ein Funke flammte im Auge der Geweihten auf und brannte hell, als sie fortfuhr.
“So hat SIE dich durch ihren Getreuen gerufen und hierher geführt. Und so ist es gut.” Kurz loderte ein Lächeln auf den harten Zügen der Kriegerin auf.
“Es ist kein Zufall, dass Du am Vorabend des St.-Hlûthars-Tages hier ankommst, Novize. Dieser Tag wird Dein Weihetag sein. So will ich dir, will ich euch allen, “ ihr Blick streifte die bunt gemischte Schar vor ihr “nun die Gelegenheit zur inneren Einkehr in IHREM Haus gewähren, ehe du und Rijsh’alnaar euch zum ersten Mal für sie beweisen dürft.”
Diese erste körperliche Prüfung von Novizen und Weiheschwert gegen einen oft übermächtigen Gegner war der erste Schritt der Weihe, vor einer in Meditation verbrachten Nachtwache im Tempel.

Sie nickte, zufrieden mit ihrem Plan.
“So sei es.” entließ sie ihren Novizen und seine Begleiter - für’s Erste.
“Ich danke Euch, Schwertschwester.” Argmin verneigte sich vor der Geweihten.
Nein, zufällig war sein Weg nicht gewesen, seit dem er den Tempel verlassen hatte, um nach Calbrozim zu gehen. Das Treffen mit dem Herrn der Muscheln, der Flussvater, die Kämpfe und das Aufeinandertreffen mit Grimmgasch, Dwarosch und Marbolieb und ihren eigenen Wegen im Auftrag Alverans - all das hatte ihn heute hierher geführt. Und morgen war der Tag zu Ehren des Heiligen Hlûthar, seinem Schutzpatron. Wahrlich lag der Segen der Leuin auf ihm.

Er hatte nun Zeit zu beten und sich innerlich zu reinigen, bevor er zusammen mit Rijsh’alnaar zu einem rituellen Zweikampf antreten würde, um sich mit ihr zu beweisen.
Seine Augen fanden den Blick von Ritterin Cassjarella. Würde sie ihm gegenübertreten?
Ein leises Klickern des Kettenhemdes verriet, dass sich die Geweihte, die still wie eine Statue hinter Bodia gestanden hatte, sich bewegt hat.

“Ich bringe sie in den Tempel zurück, Schwester.” sagte sie zu der Hochgeweihten und setzte sich zur Tür der Amtsstube in Bewegung. “Bitte folgt mir!” forderte sie Argmin und seine Begleitung auf. Ohne sich nach der Gruppe weiter umzusehen - schließlich war die Aufforderung eindeutig gewesen - ging sie voraus zurück in die große Tempelhalle.
Dort drehte sie sich um.

“Hier könnt ihr euch besinnen und eure Gedanken sammeln.”
Anschließend wandte sie sich direkt an Argmin: “Bruder, jetzt ist es vielleicht die letzte Gelegenheit, dein Buch der Verfehlungen und Verdienste aufzuarbeiten.”
Dann verneigte sie sich kurz und verschwand wieder in die Richtung der Räume Bodias.

Argmin sah der Ritterin nach. Sie hatte ihn ‘Bruder’ genannt - er gestatte sich das Gefühl eines Anflugs von Stolz. Vor der Statue seiner Göttin kniete er nieder, legte Rijsh’alnaar vor sich auf die Fliesen und setzte sich ab.
Das Buch der Verfehlungen und Verdienste - er musste innerlich schmunzeln und dachte an das erste Jahr im Tempel, in dem er ausführliche Abhandlungen über seine Verfehlungen und Verdienste hatte verfassen und abgeben müssen. Das war im Laufe der Zeit weniger geworden und nun galt es alleine zwischen Seiner Göttin und ihm, alle seine Verfehlungen und alle seine Verdienste zu verantworten.
Groß und mächtig war das Abbild der löwenhäuptigen Rondra, das Feuer in den Schalen ließ den silbernen Rondrakamm in Ihrer Hand funkeln. Argmin schloß die Augen, zwang seinen Atem ruhig und langsam und seine Gedanken ruhiger zu werden.
Aufmerksam lauschend trat die blinde Boroni in den Tempel, ihre Hände fest um den muskulösen Unterarm des Oberst an ihrer Seite geschlungen. Endlich wieder ein Tempel.

Lange war es her, dass sie das letzte Mal in einem Tempel gewesen war, und sie freute sich auf die seltene Gelegenheit einer Andacht auf geweihtem Boden.

Als Dwarosch schließlich stehen blieb und ihr bedeutete, dass hier ein guter Ort wäre, löste sie vorsichtig die Hände und ließ sich auf ihre Knie nieder. Das begeisterte “Dado, da!” Mirlas, die etwas ganz besonders Aufregendes entdeckt hatte, nahm sie mit einem innerlichen Schmunzeln zur Kenntnis. Auf dem Arm ihres Ziehvaters wusste sie ihr Mädchen sicher und gut aufgehoben, und er würde ihr sicher erklären, was es dieses mal mit dem Objekt ihrer Begeisterung - was auch immer es sein mochte - auf sich hatte.
Einen besseren Vater hätte sie für ihr Kind nicht wünschen können.
Sie legte ihre Hände locker auf ihre Schenkel, senkte den Kopf und lauschte ihren eigenen Atemzügen nach. Die Gleichförmigkeit ihres Atems sorgte wie stets dafür, dass sich ihr Herzschlag beruhigte und die gesamten Geräusche um sie herum in immer weitere Ferne rückten. Unwichtig wurden, ebenso, wie die Erinnerungen an Vergangenes oder die Erwartungen des Zukünftigen.
Sie spürte die innere Harmonie und das Gefühl der tiefen, in sich selbst ruhenden Richtigkeit, die sie mit einem geweihten Ort eines der Zwölfe gelernt hatte in Verbindung zu bringen.
Wurde schließlich selbst ein Teil davon und fand sich umschlossen von der stillen, friedensverheißenden Umarmung ihres Gottes. Langsam löste sich ein kleiner, eiskalter Knoten in ihrer Brust, den sie gespürt, doch den anzugehen sie viel zu lange schon für einen besseren, passenderen Zeitpunkt beiseite geschoben hatte.

Dwarosch indes bemerkte, wie sich die Lider der jungen Frau schlossen, ihre Atemzüge stetig tiefer und ruhiger wurden, und sie in ihrer aufrechten Sitzposition immer weiter in sich zusammensackte. Mit einem kleinen Stups, so beschlich ihn die Vermutung, würde sie wohl zur Seite kippen - und dies vermutlich nicht einmal bemerken.

Der Oberst aber schritt vor und blieb ernst einige Schritt vor dem Standbild der Rondra stehen. Dort setzte er Mirla neben sich auf den steinernen Boden ab, behielt aber ihre Hand in der seinigen, bevor er auf ein Knie ging, den Kopf erhoben.

“Himmlische Leuin”, ergriff der Oberst das Wort - leise, aber mit klar wahrnehmbarer Stimme.
Zwar wusste Dwarosch, dass stille Einkehr das Gebot war, doch hatte er eine klare Absicht. Er wollte, dass alle Anwesenden, alle Besucher des Tempels, die mit ihnen dort waren seine Worte vernahmen, denn es ging nicht um ihn, sondern um einen Toten, den er ehren wollte.
“Wie du weißt, bete ich mehr zu deinem streitbaren Sohn und hatte lange Jahre … Jahrzehnte ein eher gespaltenes Verhältnis zu denen, die deinem Ruf folgen.

Einer jedoch änderte diese Einstellung grundlegend und ihm sind meine Worte gewidmet.
Es war vor den Mauern Mendenas, da ich Hagrian von Schellenberg kennen- und schätzen lernte, obgleich wir nicht immer einer Meinung waren, oh nein. Seine Bereitschaft aber, mich, meine Strategien und Taktiken nicht prinzipiell abzulehnen, obwohl ich dem donnernden Himmelsreiter, deinem Sohn folge, führte dazu, das wir viel miteinander diskutierten. Ja, zum Teil war es wohl auch mehr ein Streit, der zwischen uns entbrannte, doch das Ergebnis war, dass wir aneinander wuchsen und ich glaube beidseitiges Verständnis für die Position des anderen erreichten. Ich jedenfalls bin stolz an seiner Seite gestritten zu haben.”

Der Oberst legte eine kurze Pause ein, schloss die Augen und versetzte sich vor die Mauern Mendenas zurück. Schnell fanden ihn die Bilder jener Schlacht, welche sich in Sichtweite des Eslamsbrücker Tor abgespielt hatte, dem Teil der Stadtmauer, die den Nordmärkern zugewiesen worden war von der Kaiserin.

“Ohne deine Ritter, ohne Hagrian voran, der focht wie ein aufrecht schreitender Löwe, hätten wir die Stadt nicht genommen. Er kämpfte mit einem solchen Mut, solchem Willen das eigene Leben für den Sieg, die gerechte Sache zu opfern, das er uns allen damit ein Vorbild war. Nie werde ich vergessen, wie er sich allem und jedem entgegen warf, was Haffax erdachte hatte, uns in die Knie zu zwingen. Wir siegten und mit uns die Ordnung der unteilbaren Zwölf, die wieder Einzug erhielt in Mendan und dem Landstrich, den die Stadt beherrscht.
Hagrians Tod später dann, irgendwo im dunklen Tobrien und das unter ungeklärten Umständen, bekümmerte, bestürzte mich und das tut es noch heute.
Doch einer Sache bin ich mir sicher und das lindert diesen Schmerz. Er sitzt an DEINER Seite.
Sag ihm, dass ich stolz bin ich kennengelernt und an seiner Seite gestanden zu haben. Dereinst werden wir einander wiedersehen, wenn die letzte Schlacht beginnt und Mutter und Sohn die ihrigen den Widersacher der Schöpfung entgegenwerfen.”
Dwarosch schloss die Augen wieder und ließ den Kopf sinken

. Instinktiv wandte sich Mirla, die bis dato das Standbild mit großen Augen angesehen hatte, dem Oberst zu und umarmte ihn.
Das Kind drückte sein Köpfchen in die dichte Mähne des Zwergenkriegers und fragte mit besorgter Stimme. “Dado, alles gut?” Der Oberst nahm ihren kleinen Kopf ins seine kräftigen Hände und küsste ihre Stirn.
“Ja Mirlaxa, jetzt ja”, sagte er mit feuchten Augen. “Sich verstorbener Freunde zu erinnern, ihr Andenken zu bewahren, heißt sie in sich zu bewahren und damit einen Teil von ihnen am Leben zu erhalten”, fügte er im Flüsterton an, dann umarmte er seine Ziehtochter und erhob sich mit ihr auf dem Arm wieder.

Argmin war in sich versunken, tief in seinem inneren Tempel und betete zu seiner Göttin, dem Schwert und Schild von Alveran. Sein Kopf leerte sich von all den turbulenten Gedanken und schuf eine angenehme Leere, in der nur Rondra und er weilten und er genoß die innige Nähe zu seiner Göttin.

Und doch hatte die Stimme Dwarosch ihn zurückgeholt in das Jetzt und Hier und er hörte die Worte, die der Oberst hier vor der Statue der Sturmbringerin sprach und er spürte die Schwere und auch die Wärme darin und es rührte ihn - es war ein gutes Gefühl mit diesem Gefährten durch die Welt ziehen. Dann ließ er auch diese Gedanken wieder los, ließ sie treiben und versenkte sich wieder in die Meditation.

Als wieder Ruhe im Tempelraum eingekehrt war, schaute sich Grimmgasch um und suchte sich eine ruhige Nische in der er sich auf den Weltenschöpfer ungestört konzentrieren konnte. Dort kniete er sich hin, legte den geweihten Schmiedehammer vor sich auf den Boden und begann sich tief in das stille Zwiegespräch mit Angrosch zu versenken.

Es waren viele Monde vergangen, seitdem er sein Buch der Verfehlungen und Verdienste nicht mehr geöffnet hatte und so betrat er in Gedanken seinen Inneren Tempel und ging zum Altar, wo das Buch aufgeschlagen lag.
Ruhm und Ehre, Tapferkeit und Schutz der Unschuldigen waren die heiligen Aspekte der Rondra. Er dachte an Calbrozim und das Treffen mit Borindarax und Derylla von Hartsteig, Grimmgasch und Lagorasch. So schnell er Anschluss an drei Angroschim gefunden hatte, so schwer war es ihm gefallen, sich mit der Kriegerin anzufreunden, doch im Nachhinein musste Argmin sich gestehen, dass er zu stolz und überheblich gewesen war, wohl auch seiner Unsicherheit geschuldet, dennoch hätte er Derylla offener sein sollen. Einem Kampf war er nie ausgewichen, hatte stets in der ersten Reihe gestanden, doch die schwere Schlachten waren nicht jene auf dem Schlachtfeld, nein, es waren jene, die abseits vom Kampfgetümmel gefochten wurden - Gefechte mit Wort und Verstand. Er bat seine Herrin hier um Milde und Nachsicht.

So schrieb er dies in sein Buch der Verfehlungen und Verdienste.

Er erinnerte sich an seine Gespräche mit Dwarosch, über seine Geschichte und seinen Weg, der sich mit dem Willen des Schnitters verbunden hatte. Auch ihm gegenüber war er reserviert gewesen, hatte sich verleiten lassen von oberflächlichem Wissen über die Gefolgsleute des Schwarzen Panthers.
Er dachte an Marbolieb und die ersten Tage ihrer Reise nach Ishna Mur. Wie verletzlich sie auf ihn gewirkt hatte und wie der Drang, ihr Schild und Hilfe sein zu wollen, ihn einen Wirbelsturm aus Gefühlen gezogen hatte, die er im Nachhinein unpassend und unangebracht empfand, und war damit Dwarosch zu nahe getreten. Dass der Angroscho zu Beginn der Reise seiner Gefährtin so zurückhaltend gewesen war, war keine Entschuldigung, denn er, Argmin, hatte sich hinreißen lassen, hatte die Grenzen von Pflicht und Anstand vergessen, und hatte sich wieder vom Schein täuschen lassen.
Auch das schrieb er in sein Buch der Verfehlungen und Verdienste.

Kampf und Klingentanz waren so einfach dagegen. Das Heiligtum am Sturzenstein, der Feuerdämon in Ishna Mur, das Kampf gegen das unheilige Metall - doch die Prüfungen der Göttern waren vielfältig und nicht immer offensichtlich.
Missmut begann sich in ihm zu regen, denn weit mehr Verfehlungen standen in dem Buch, als dass Verdienste die Seiten füllen würden. Argmin zwang sich zur Ruhe. Er dachte an Dwarosch Worte und ihm wurde wieder warm ums Herz.

Er schrieb von Kameradschaft und von guten Kämpfen, von Freundschaft und Verbundenheit und davon, dass er gelernt hatte, dass Rondras Krieger weit mehr waren, als Schwertträger, dass ihre Aufgabe es war, ein Vorbild für die Zagenden und Mutlosen zu sein und Schutz für die Schwachen. Dass sie Schild sein konnten, aber auch Schulter zum Anlehnen, dass Freundschaft auf dem Schlachtfeld genauso wichtig war wie eine scharfe Klinge.
Und so schrieb er seine Verdienste, die da mehr waren, als nur der Sieg über Gegner.

Das Ende eines Novizen

Kurz bevor die Abendandacht stattfinden sollte, traten erneut die Hochgeweihte und ihre Begleiterin in den Tempelraum.
Sie hielten zielstrebig auf Dwarosch zu und blieben neben ihm stehen. “Herr Oberst, auf ein Wort.” Militärisch knapp war die Ansprache ihrer Hochwürden.
“Hochwürden”, nickte der Oberst der Rondrianerin zu. “Was liegt euch auf dem Herzen?”
Cassjarella stand - wie vorher schon im Amtszimmer - einen halben Schritt hinter der Hochgeweihten und musterte den Zwerg von oben bis unten. Nachdem sie damit durch war, nickte sie zufrieden und raunte Bodia zu: “Eine gute Wahl!”
Ein Mundwinkel der Hochgeweihten zuckte nach oben.
“Nichts.” Ihr einzelnes Auge hielt den Blick des deutlich kürzeren, dafür aber umso breiteren Angroscho. Die Kämpfer des Kleinen Volkes waren gewaltige Krieger.

“Wollt Ihr in seinem nächsten Kampf Argmins Prüfstein sein?”
Für einen kurzen Moment schien der Oberst überrascht, fast überrumpelt, dann jedoch nickte er.
"Offen gesprochen hätte ich nicht gedacht, dass ihr einen bekennenden Anhänger Kors in eurem Tempel kämpfen lassen wollt." Bewusst sprach er SEINEN Namen aus. "Um so mehr fühle ich mich geehrt. Gern werde ich dieser Bitte nachkommen.
Gestatten ihr mir, meinen Spieß und meine Wehr, die ich in Respekt vor euch und dem geweihten Grund in unserer Unterkunft zurückließ, zu holen? Ich werde binnen einem Stundenglas zurück sein. Ausreichend Zeit, dass sich Argmin auf den Kampf einstimmen kann."

Ihre Hochwürden Bodia von Leuenfels nickte. “Tut dies.” stimmte sie zu und warf einen nachdenklichen Blick auf Argmin, dessen Miene von konzentrierter Selbstbeherrschung sprach.

Argmin bemühte sich, innerlich ruhig zu bleiben. Er hatte sich gefragt, mit wem er heute die Klingen würde kreuzen müssen, und er hatte erwartet, der Ritterin gegenüber zu treten. Dass die Schwertschwester und die Erzpriesterin Dwarosch davon auserwählt hatten, seine Weiheprüfung zu sein, erfüllte ihn mit Ehre, und doch schlug sein Herz schneller. Er hatte neben dem Angroscho im Kampf gegen das Feuerelementar gestanden. Er hatte gesehen, wie der Oberst kämpfte, wie er Spieß und Schild führte. Effektiv, präzise. Gnadenlos. Ein Rondrakamm war eine keine gute Wahl gegen einen solchen geschildeten Stecher und er wusste, dass Dwarosch ihm nichts, aber auch gar nichts schenken würde. Doch dies war seine Nacht! Die Leuin hatte ihn gerufen, ihn auserkoren, in Ihre Reihen zu treten und einer Ihrer Krieger zu werden. Die Unruhe in ihm legte sich und er spürte, wie sich seine verkrampften Kaumuskeln lockerten und sich das warme Gefühl von Zuversicht in seine Glieder strömte.

Jetzt blickte Bodia von Leuenfels den noch vor ihr stehenden Novizen an: “Dann ist es auch für Dich an der Zeit, dass Du Dich rüstest und auf den Zweikampf vorbereitest.”

“Soll ich Dir bei den Vorbereitungen und dem Anlegen der Rüstung behilflich sein, Bruder?” fragte die Erzpriesterin den Novizen. “Es wäre mir ein Ehrendienst.”
Und wieder nannte sie ihn Bruder und er wusste für einen Augenblick nicht, was er sagen sollte und sah die Frau für einen Augenblick einfach nur an, dann senkte er seinen Blick.
“Es wäre mir eine große Ehre, Ehrwürden.”
Ein kurzes Stauben - oder war eine Art Lachen - war von Cassjarella zu hören, als Argmin sie mit ‘Ehrwürden’ ansprach, dann antwortete sie: “Wir dienen beide der Surmherrin, daher solltest Du mich nicht wie eine Fremde ansprechen, sondern wie eine Schwester im Glauben. Und da ich es mir erlaubt habe Dich zu duzen, rede mich auch einfach mit Cassjarella an oder wenn es Dir lieber ist, mit ‘Schwester’.” Sie lächelte den nur ein paar Götterläufe jüngeren Argmin an und fuhr dann fort: “Folge mir in die Rüstkammer, um Dich auf den Kampf vorzubereiten.”

Sie ging voraus durch den Tempel als würde sie schon viele Jahre hier in Gratenfels zu Hause sein und öffnete die Tür zur Rüstkammer. Argmin folgte ihr und musste hinter ihrem Rücken lächeln. Etikette und die richtige Anrede war ihnen eingebleut worden in den Lehrstunden im Tempeln, doch schien das alles ab einem gewissen Punkt nicht mehr so wichtig zu sein. In der Kammer waren neben den vielen Waffen, die dem Tempel als Weihegeschenk übergeben wurden waren und von denen immer nur ein kleiner Teil im Tempel selbst ausgestellt wurde, auch verschiedenste Rüstungsteile auf hölzernen Gestellen aufbewahrt. Cassi blickte Argmin noch einmal abmessend an und ging dann auf einen Holzständer mit einem langarmigen, knielangen Kettenhemd zu und ließ die Kettenglieder prüfend durch ihre Hände gleiten. Nach erfolgreicher Prüfung drehte sie sich zu Argmin um. “Wir sollten dieses hier probieren!
Also runter mit der Novizentracht!”

Kurz nur zögerte der junge Mann. In einer anderen Situation, an einem anderen Ort, hätte er über diesen Ausspruch geschmunzelt. Jetzt aber, hier, hatten diese Worte eine andere Bedeutung. Er würde die Gewandung des Anwärters ablegen und die Rüstung eines Rondra-Kämpen anlegen. Dies war der Augenblick, da er das rituelle Gewand eines Knappen der Göttin anlegen würde, um aufzusteigen in die Reihe der Geweihten. So legte er den Überwurf ab, faltete ihn sorgsam zusammen und legte ihn auf den Hocker neben der Türe. Dann schnürte er die Lederrüstung auf und nahm sie ab. Sie hatte ihm gute Dienste geleistet und ihn auf seiner Reise gut geschützt. “Magst Du ab heute jemand anderem dienen”, flüsterte er, als er sie auf ein freies Holzgestell hängte.
Argmin überprüfte den Sitz seines Wams und trat dann vor die Erzpriesterin.
“Bereit… Cassjarella.” Er musste unwillkürlich lächeln.

“Gut”, es war bei dem einen Wort nicht ganz klar, ob Cassi die Anrede oder die Bereitschaft des Novizen meinte. Sie raffte das Kettenhemd zusammen und nach der Aufforderung “Arme hoch!” schob sie das schwere Geflecht über Arme, Kopf und Rumpf des zukünftigen Geweihten. Dann ging sie um Argmin herum, musterte den Sitz des Kettenhemdes, zog einmal hier am Geflecht, dann da bis sie zufrieden zurücktrat. “Passt!” meinte sie und zupfte noch ein abschließendes mal an Argmins Schulter.
“So, wie ist es? Bewege Dich ein wenig”, forderte sie ihn auf. “Spring ein paar mal auf und ab!”
Argmin sah sie für einen Augenblick entgeistert an. Sollte er hier vor der Erzpriesterin den Hampelmann machen? Die Frau lächelte ihn aufmunternd an - sie schien es ernst zu meinen. Er bewegte seine Schultern, die Kettenglieder klitterten leise und rutschten zurecht. So schwer es sich beim Anziehen angefühlt hatte, so gut ruhte es nun auf dem Wams und seinen Schultern.
Da Cassjarella immer noch abwartend lächelte, kam er wohl nicht drumherum und so sprang er aus dem Stand ein bißchen in die Höhe und kam sich dabei etwas befremdlich vor, dass die Ritterin der Leuin ihm dabei so aufmerksam zusah. Er drehte seinen Oberkörper noch rechts und links, hob seine Arme in die Waagrechte und sprang dann noch einmal, diesmal etwas höher. Cassjarella nickte zufrieden.
Sie hatte ja Recht, gab Argmin in Gedanken zu. Er dachte an Dwarosch und an dem bevorstehenden Kampf. Das Kettenhemd musste gut sitzen, durfte kein Ungleichgewicht in seine Bewegungen bringen und ihn nicht behindern. Der Oberst war ihm an Kampferfahrung bei weitem überlegen. Wenn Argmin sich beweisen wollen würde, würde er daher auf eine andere Taktik als die reine Konfrontation setzen müssen . Nachdem Argmin ein paar Hüpfer und Schritte gemacht hatte, blickte Cassjarella noch einmal ob sich der Sitz des Kettenhemdes verändert hatte, da dies aber nicht der Fall war, ging sie zu einem weiteren Kleiderständer und griff von dort eine der weißen Überwürfe wie sie von den Geweihten der Rondra-Kirche üblicherweise getragen werden.
Allerdings mit einem Unterschied: es war vollständig weiß ohne das Zeichen der Leuin über der Brust.

In diesen Überwurf half sie nun Argmin, zupfte auf an diesem noch ein paar mal herum und nickte wiederum zufrieden. Abschließend reichte sie Argmin noch ein paar feste Lederhandschuhe aus einem Regal.
Dann schlug sie den Rondragruß mit der rechten Faust auf die Brust und neigte den Kopf.

“Bist Du bereit?”
Argmin erwiderte den Gruß und neigte auch seinen Kopf.
“Rondra rief mich und hier stehe ich.” antwortete Argmin und nickte. “Ich bin bereit, mich Ihrer als würdig zu erweisen.” Etwas unschlüssig drehte er die Lederhandschuhe in den Händen. “Ich danke Dir, Cassjarella.” Er hatte sich darauf gefreut, hatte diesen Tag herbeigesehnt, da er sich Ihren Reihen würde anschließen können, und nun war es soweit.
“Darf ich … Dich etwas fragen?”

“Aber sicher!” antwortete die Ritterin der Leuin. “Scheue Dich nicht zu fragen.”
Argmin sah auf seine Hände, die weiter das Leder der Handschuhe kneteten. Dann richtete er seinen Blick wieder auf und sah der Priesterin fest in die Augen.
“Schwertschwester Bodia sprach viel über die dunkle Zeit und den Vielfach Verfluchten und seine Schergen. Doch zu keinem Zeitpunkt ihres Unterrichts war ihre Stimme stets so voller Widerwillen, als wenn sie von dem Gnadenlosen sprach, dem Sohn der Rondra.” Er schwieg einen Augenblick.
“Oberst Dwarosch war mir ein guter Weggefährte und ist mir zum Freund geworden. Wenn er über den Gnadenlosen spricht, so spricht er kalt und ohne Freude, mehr scheint es eine Last für ihn zu sein, dem Schwarzen Mantikor zu dienen… Wie kann der Sohn der Alveransleuin so anders sein als seine Mutter? Ich habe Dwarosch kämpfen gesehen - kalt und ohne Gnade.”
Cassjarelle überlegt kurz bevor sie antwortete.

“Der Herr der neun tödlichen Streiche ist der Sohn der Leuin und ihres ungestümen Gemahls, des löwenhäuptigen Hohen Drachen Famerlor. Es heißt, in seinen Adern fließe das aufrechte, heiße Kriegerblut seiner Mutter. Aber er kenne jedoch kein Mitgefühl, denn sein Herz sei von kaltem Karfunkel.
Dieses zeigt anscheinend auch Oberst Dwarosch. Er ist sicherlich ein ehrenhafter Kämpfer, aber kalt und ohne Gnade. Er kämpft um des Kämpfens Willen und hat die Verpflichtung, seinem Gott einen Guten Kampf zu liefern.
Er wird im Duell gegen Dich also alle Register der Kampfkunst zu ziehen, und mit Dir spielen, Dich ‘häppchenweise’ besiegen, und das mit neun Streichen, der heiligen Zahl des Mitleidlosen.“

Die Antwort der Erzpriesterin trug nicht dazu bei, dass Argmin dem bevorstehenden Kampf gelassener entgegensehen konnte. Argmin zog sich die Lederhandschuhe an und nahm Rijsh’alnaar auf. Das vertraute Gewicht in seiner Hand gab ihm wieder Zuversicht und er danke Rondra in Gedanken für Ihre Geduld mit ihm.
Er dachte an Dwarosch und Mirla und wie liebevoll der stämmige Angroscho mit dem Menschenjungen umging und an die Liebe zwischen Dwarosch und Marbolieb und er begann zu verstehen, warum der Zwerg es als Fluch ansah, von Kor auserwählt worden zu sein. Wie bitter musste es für den Recken sein, einerseits so voller Liebe zu sein und andererseits so kalt und mitleidslos! Für ihn dagegen waren Glaube, Liebe und Kampf drei untrennbare Begriffe geworden.
“Dann trägt Kor dort nur einen Stein, wo sein Herz sein sollte.”

Kampf ohne Gefühle, ohne Leidenschaft und Hingabe, ohne Gefühl für Recht und Unrecht, ohne Gefühl für Folgen für sich oder den Gegner - ein Kampf um des Kampfes willen, eine Schlacht, um des Schlachten willen. “Dann weiß ich nun, warum Schwertschwester Bodia in jener Art und Weise von des Leuins Sohn gesprochen hat und warum des Mantikors Krieger so gefürchtet sind.”
Cassjarella nickte nur bestätigend und geleitete den nun ziemlich gerüsteten Novizen zurück in den Tempel.


Der Zweikampf

Als Dwarosch weniger als ein Stundenglas später zurück ins Allerheiligste trat, hatte er den Wappenrock abgelegt und trat ohne erkennbares Symbol einer Zugehörigkeit vor die Geweihten und den Novizen. Die Absicht war klar, der Angroscho würde nicht im Bewusstsein seines Ranges gegen Argmin antreten, sondern als einfacher Krieger, der er war. Vor den Augen der Leuin gab es keine Hierarchie unter Kontrahenten, die einander entgegentraten. Was zählte war allein das Kampfgeschick und die Hingabe, mit der man focht.
In Kettenhemd, -hose, -haube und schweren Stiefeln war er angetan, das große, beschlagene Rundschild hielt er in der linken, den Spieß in der rechten Hand - jene Waffe die Rondras Sohn geweiht war. Er besaß eine etwa 45 Halbfingeringer lange Stoßspitze, an deren Ende sich vier sichelförmige Haken anschlossen- zwei in Stoßrichtung und zwei derer entgegengesetzt, die Rundungen aneinanderliegend, um einem Gegner nicht nur zu Schaden zufügen, sondern auch um ihn zu Fall, oder zumindest aus der Balance bringen zu können. Der etwas mehr als einen Schritt lange Schafft bestand aus Kernholz einer Steineiche, welcher durchgehend mit Metalldraht umwickelt und zusätzlich mit Metallplatten verstärkt worden war.

Mit einem sachten, in der Stille des Tempels hallendem Geräusch setzte Dwarosch den Spieß, der ziemlich so hoch war wie er groß, neben sich auf den Boden ab.
“Hier bin ich, um unter den Augen der Leuin gegen Argmin zu kämpfen.”
Dem Oberst bot sich fast das gleiche Bild, dass er vor einer Kerzenlänge vorher vorgefunden hatte. Die Hochgeweihte stand aufrecht mit dem Rücken dem Altar zugewandt und blickte dem Angroscho erwartungsvoll entgegen.
Und wieder einen halben Schritt hinter ihr stand die junge Ritterin der Leuin, die dunklen lockigen Haare umspielten ihr Gesicht wie eine Mähne.

“Herr Oberst Dwarosch groscho Dwalin”, begrüßte Bodia den Gerüsteten. “Ihr tretet vor die Herrin Rondra aus freien Stücken, um Eure Kräfte mit dem anwesenden Pagen messen zu wollen?”
"Ja", lautete die militärisch knappe Antwort des Zwergen.
Alle Ehr machte der Oberst seinem Gott. Die Gewalt des Gnadenlosen umgab wie einen unsichtbaren Schild, ohne Prunk und ohne Spektakel, nur gnadenlose Kraft. Nun kein Zögern, sondern erfüllt mit Rondras Segen, ließ Argmin ab von zauderlichen Gedanken und hob forsch seinen Kopf. “Ich bin Argmin aus dem Hause Wirselbach, Novize der Leuin aus dem Tempel des Heiligen Hlûthar. Die Herrin schickte mir Ihren Boten und hier stehe ich, um mich Ihrer als würdig zu erweisen.”
Er trat einen Schritt auf Dwarosch zu und verneigte sich. Der junge Mann trug nun nicht mehr den ledernen Harnisch mit dem Wappenüberwurf des Temepls zu Hlutharshall, sondern ein feinmaschiges, langes Kettenhemd und darüber einen strahlendweißen Überwurf ohne Wappen, ohne Insignien, der von einem einfachen ledernen Gürtel zusammengehalten wurde. Rijsh’alnaar hatte er von seiner Schulter genommen und stellte sie herausfordernd zwischen ihn und den Angroscho.

Wohlwollend blickte die Hochgeweihte ihren Novizen an.
“Gut gesprochen, Argmin!”
Dann ließ sie den Blick über die beiden Kompattanten gleiten und sagte: “Wir werden gleich mit der Andacht beginnen, sammelt euch und hinterfragt eure Beweggründe.
Und wenn ihr bereit seid den Ehrenhaften Kampf unter den Augen der Wächterin auf Alverans Zinnen anzutreten, dann tretet in den Ring, wenn ich euch auffordere.”

Einige Zeit später füllte sich der Tempel mit Gläubigen. Viele Soldaten der Gratenfelser Kasernen waren darunter, doch auch viel Söldingsvolk, Krieger und Paginnen, Knappen und Ritterinnen aus der Grafenstadt.
Marbolieb hatte sich an eine Wand zurückgezogen, weg aus den Wegen der Gläubigen und von den Füßen der vielen Leute, ihre Tochter, die ihr Dwarosch gegeben hatte, fest an der Hand. Etwas verwirrt und gerade erst aus ihrer Meditation gekommen lauschte sie schweigend den Vorgängen im Tempel und versuchte sie zu ordnen.
Alles in allem fanden sich sieben bis acht Dutzend Menschen in Hlûtharshall ein, gebürstet, gestriegelt und mit auf Hochglanz polierten Waffen und genwienerter Wehr.
Zwar trafen den hochgerüsteten Angroscho neben dem offenkundlichen ebenfalls zwergischen Ingerimmgeweihten einige neugierige Blicke, doch lag der Löwenanteil der Aufmerksamkeit auf Hochwürden Bodia von Leuenfels. Diese trat vor den Altar und hob ihre Hände.
Im Tempel wurde es schlagartig still und die Augen aller wandten sich ihr zu.

“Ich grüße Euch im Namen der Leuin, der Herrin des Sturms.”
Die Hochgeweihte ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen.
“Wir haben uns heute hier versammelt, um der Herrin Rondra zu huldigen, auf dass sie uns ihren Segen schenke für unsere Taten in IHREM Namen.
Doch mehr noch gilt es heute zu feiern: der Novize der Leuin, Argmin von Wirselbach, hat den Ruf Rondras vernommen! Und so begleitet ihn auf seinem Weg zur Weihe eines Knappen Rondras, welchen er ab dem heutigen Abend beschreiten wird.”
Laut flammte Jubel auf und das rhythmische Schlagen Dutzender Waffen auf Schilden erklang.
Bodias Auge flammte auf, traf einen Augenblick lang ihren eigenen Novizen, ehe sie mit lauter, schlachtfeldtauglicher Stimme fortfuhr: “So wollen wir heute Rondra, der Donnernden, der göttlichen Leuin, huldigen, wie es ihr gefällt - im ehrenhaften Kampf! Doch zuvor bedenket: Ein Streiter in ihrem Namen muss zufürderst den größten seiner Gegner besiegen, sich selbst. Nur wenn er diesen einen Kampf bezwingt, so wird er wahrhaft den Weg zur eigener Größe beschreiten, und ihre Feinde niedermähen wie der Schnitter das Korn!” Packend pries die Hochgeweihte den urtümlichen Rausch von Kampf und Sturm, das Hochgefühl aus kaltblütigem Kampf und dem unbedingten Hier und Jetzt im Dienst der Leuin, ehe sie den Segen der Göttin den Anwesenden spendete.

Nach der Predigt der Hochgeweihten trat Cassjarella vor die beiden Kombattanten, nickte ihnen ernst zu, dann drehte sie sich zum Altar um, hob die Hände und sprach mit erhobener Stimme, so dass es alle im Tempelraum deutlich vernehmen konnten: “Oh Himmelsleuin, hier vor Deinem Altar sind diese beiden angetreten, um sich zu messen.
Dieser Kampf soll auch ein Beweis sein, dass sich Dein Page Argmin von Wirselbach Deiner würdig erweist in einem Kampf gegen einen mächtigen Gegner nicht zu verzagen und zu bestehen. Dieses Schritt ist ein weitere Schritt, der der Leuin und uns zeigen soll, dass er bereit ist die Weihen als Priester dieser zwölfgöttlichen Kirche zu empfangen.”
Dann drehte sie sich wieder zu den beiden bereitstehenden Kämpfern um und sprach zu den Anwesenden im Tempel: “Dieser Kampf soll den Mut und das Vertrauen in die Leuin darlegen. Und allen Anwesenden bezeugen, dass der hier vor uns stehende Page würdig ist, den nächsten Schritt zu gehen.”

Dann wandte sie sich erst an Dwarosch: “Oberst Dwarosch, Sohn des Dwalin, Ihr wurdet gebeten die Tapferkeit und den Mut des Pages auf die Probe zu stellen. Daher haltet Euch nicht in Eurem Kampf zurück. Nur die eine Regel soll gelten: Es geht nur auf das erste Blut!” Anschließend blickte sie streng zu Argmin: “Novize Argmin von Wirselbach, Du bist vor die Wächterin auf Alverans Zinnen getreten, um in Ihre Dienerschaft aufgenommen zu werden. Dazu wirst Du Dich in diesem Zweikampf beweisen müssen. Auch Dir sei gesagt, der Kampf geht nur auf das erste Blut!”
Nach der Ermahnung der beiden Kämpfer hob sie wieder den Blick und sprach zu den anderen Anwesenden: “Dieser Kampf ist ein ehrenhaftes Messen, daher ist jegliche Einmischung oder Unterbrechung durch Dritte zu unterlassen.”

Nun war es wieder an Bodia vorzutreten und sie begann mit lauter und fester Stimme den Choral der Heiligen Ardare anzustimmen, in den alle anwesenden Rondrianer und auch die meisten der Besucher der abendlichen Andacht einfielen:
“Dir zu Ehren kämpfe und streite ich.
Dir zu Ehren, nur in deinem Namen.
Dir zu Ehren ich leb’,
dir zu Ehren ich sterb’,
dir zu Ehren bis in Ewigkeit!


Deinem Wort zu gehorchen nur leb’ ich.
Deiner Ehre widme ich mein Streben.
Deinem Willen geweiht,
dir zu dienen bereit,
Herrin Rondra, bis in Ewigkeit!”

Dann rezitierte sie die allen Geweihten und Novizen bekannte Stelle aus dem Vademecum: “Kampf ist das Weltengeschick! Im Kampf erkennen wir das Wort der Göttin, denn sie selbst bestimmt über Sieg und Niederlage. So stimmen wir vor einem Zweikampf ihr zu Ehren den Choral der Heiligen Ardare an, damit die Gebote der Herrin den Kampf ganz durchdringen, Ehrlosigkeit und Falschheit verbannen und ihn rein halten, wie es der Göttin gefällt.”
Mit einem “So sei es!” aus den Kehlen der Anwesenden endete das Gebet.

“Nun treten bitte beiseite und lasst Platz für die Kämpfer!” forderte nun Cassjarella die Anwesenden auf und schob sie mit sanfter Gewalt aus der Mitte des Tempels fort, so dass in der Mitte ein großer, runder freier Platz entstand.
“Kämpft!” forderte nun Bodia.

Die Prüfung

Ohne einen Herzschlag zu zögern brach Dwarosch los und bestürmte den Novizen. Unter den Augen Rondras, im höchsten ihrer Häuser im Herzogtum kämpfen zu dürfen - Stolz erfüllte ihn, den ehemaligen Söldner und heutigen Oberst. Nie zuvor war es ihm vergönnt gewesen in einem IHRER Tempel auf diese Weise zu beten, zu IHR, die den kriegerischen Brüdern und Schwestern aus dem Amboss so bedeutend war.

Mit dem Schild die linke Körperhälfte abdeckend zuckte Dwaroschs Spieß vor, immer und immer wieder, ließ Argmin keine Zeit zu agieren. Der Oberst prägte dem Novizen seinen Kampf, seinen Rhythmus auf und zwang ihn dadurch zu reagieren- in der Defensive.
'Verhängnis', so wie jene Waffe aus bosparanischer Zeit in der groben, vermutlich nur unzureichenden Übersetzung hieß, war eine effektive und tödliche Waffe - wunderschön auf ihre spezielle Art und Weise. Sie war schon vielen von Dwaroschs Gegnern zum Verhängnis geworden. Doch Argmin machte seine Sache gut. Er stand sicher und vermochte den Rondrakamm stets zwischen sich und den Spieß zu bringen beziehungsweise sich mit Ausweichmanövern aus deren Reichweite zu bringen. Schnell hatte er sich auf Dwaroschs Takt eingestimmt.
Wiederum ruckte der Spieß vor, diesmal jedoch brach Dwarosch den Rhythmus - ohne jedes Anzeichen, dass Argmin hätte erkennen, hätte ‘lesen’ können. Die Spitze war diesmal nicht auf Argmin gerichtet, sondern auf Schulterhöhe neben ihn. Intuitiv setzte der Novize dazu an, den ihm gegebenen Raum und vor allem die Zeit dazu zu nutzen sich in Position zu bringen, um nun seinerseits in die Offensive zu gehen. In der Rückwärtsbewegung aber drehte Dwarosch den Schaft des Spießes, so dass seine Breitseite parallel zum Boden stand und ließ die Sicheln an Argmins Schultern über dessen Überwurf fahren, so dass ein Schnitt im Leinenstoff entstand.

Der angehende Diener der Leuin wusste sofort, dass, wenn Dwarosch die Waffe kraftvoll zurückgerissen hätte, er entweder eine schmerzhafte Wunde davongetragen hätte, oder - in dem Falle das die Glieder seines Kettenhemdes gehalten hätten - er wohlmöglich oder sogar wahrscheinlich gestrauchelt wäre, da die Sicheln sich verhakt und ihn mitgerissen hätten.
An weniger geschützten Stellen, wie den Knien, mochten die Sicheln eingesetzt werden, um Sehnen zu durchtrennen und Gegner damit kampfunfähig zu machen.
“EINS”, donnerte Dwaroschs Stimme durch die Halle. Der erste Treffer war gelandet, doch kein Blut war geflossen.

Ungeachtet all jener Gedanken ging Argmin nun zum Angriff über und setzte dem Angroscho mit dem Rondrakamm zu. Er ließ sich durch den ersten Treffer nicht aus der Ruhe bringen, war von Kampfeswillen und innerem Feuer erfüllt- er brannte vor Leidenschaft für diesen Zweikampf. Er spürte sein Blut durch die Adern rauschen, spürte das Schlagen seines Herzens und wie er und Rijsh’alnaar ihren Rhythmus fanden, wie zwei Tänzer oder zwei Liebende.
Dwarosch nutzte den Schild, um die Hiebe des Novizen abzufangen, oder abgleiten zu lassen, wobei die Spitze des Spießes immer lauernd auf den Pagen der Rondra gerichtet war, was diesem nur zu bewusst war. Die Klingen lauerten wie ein Raubtier, bereit, jederzeit zuzustoßen. Nur selten wich der Angroscho aus, behänder als man es für einen so muskulösen und massiven Zwergen vermutet hätte. Die Reflexe des Oberst waren in zehn Jahrzehnten auf dem Schlachtfeld geformt worden und ihm wie ein Instinkt im Blut und Fleisch übergegangen. Argmin wusste, dass Dwarosch ihm an Erfahrung und Stärke weit überlegen war, und dass der Angroscho nur mit ihm spielte und darauf wartete, dass ihm die Kraft ausging.

Immer wieder hallte ein mächtiges Klirren durch den Altarraum, wenn der Rondrakamm auf den Schild traf. Beständig wurde Argmin sicherer und setzte dadurch immer mehr Kraft in die Hiebe, weil er meinte, dass Dwaroschs Schildarm irgendwann taub sein müsste. Er wollte den Angroscho somit zwingen, seine Abwehr sinken zu lassen, um seinen Treffer landen zu können. Doch der Zwerg blockte stoisch jede Attacke, verlegte sich aber dann und wann darauf die Wucht eines Schlages mit einem Ausfallschritt zu verringern. Etwas, dass nur Argmins Wuchtschlägen mit der zweihändig geführten Waffe geschuldet war.
Dann, als der Rondrakamm gerade erneut auf die Wehr des Zwergen traf, zuckte der Spieß plötzlich und ohne Vorwarnung wieder vor und erneut schnitt eine der Sicheln, diesmal an der Hüfte durch Argmins Waffenrock, nicht jedoch durch die Kettenglieder - “ZWEI”. Und wieder war es dem Novizen, dass Dwarosch ihn hätte verletzen können, wenn er es gewollt hätte, dass dieser aber weiterhin wie ein grausames Raubtier mit ihm spielte.

"DREI" und auch "VIER" folgte auf recht ähnliche Weise. Dwarosch ließ Argmin sich auf seinen Rhythmus einstellen oder tat es selbst bei dem des Novizen, um ihn dann auf unterschiedliche Weise zu brechen - Treffer an linken Oberschenkel und rechtem Oberarm waren die Konsequenz, doch noch immer war kein Blut geflossen.

Argmin dämmerte, dass dies kein Zufall war, denn der Oberst tat nichts unbedacht. Und auch wenn der Zwerg aufgrund des bereits lange währenden Kampfes schnaubte wie ein Darpatbulle nach einem Sprint, keine von Dwaroschs Bewegungen offerierte ihm eine ungeschützte Stelle, jeder Schritt ward sicher gesetzt, jedes Manöver fast mit mechanischer Präzision ausgeführt.
Der Novize spürte Unsicherheit in sich aufkeimen und prompt zuckte Dwarosch Spieß nach ihm, durchbrach seine Deckung und hatte ihn beinahe abermals getroffen, wenn er nicht gerade nicht reflexartig zur Seite gezuckt wäre. ‘Rondra!’, für mehr als dieses Wort in Gedanken war keine Zeit, da setzte Dwarosch schon nach, drängte ihn vor sich her, so dass die Zuschauer den beiden Platz machen mussten. Vertrauter Boden - blind hätte sich Argmin im Tempelraum zurechtgefunden. Und als er die nächste Säule hinter sich im Rücken spürte, wich er einen Ausfallschritt schräg nach hinten und Dwarosch nächster Stich krachte gegen den Stein. Das verschaffte Argmin für einen Wimpernschlag Zeit.

Der Angroscho war ihm überlegen, das musste Argmin anerkennen - Dwarosch’ Sieg schien sicher, wenn er nicht irgendetwas zu seinem Vorteil finden würde. Der fixierte Blick zweier dunkler Augen in der Menge der Zuseher hinter der Gestalt Dwarosch, der sich keuchend um die Säule ihm wieder nachsetzte, fand kurz seine Aufmerksamkeit - Cassjarella verfolgte aufmerksam den Zweikampf und da erinnerte Argmin sich an ihr Gespräch in der Rüstkammer.

Als Argmin erkannt hatte was Dwarosch vorhatte, wurde ihm bewusst, dass er den Kampf nicht einfach weiterführen konnte - Dwarosch spielte mit ihm und würde ihm acht unblutige Treffer versetzen, und mit dem neunten Blut fließen lassen, seinem finsteren Gott zu Ehren, hier im Tempel von Kors Mutter.
Das konnte, durfte Argmin dem Oberst nicht erlauben! Nein, niemals würde er zulassen, dass Dwarosch dem Gnadenlosen diesen Sieg und diese Genugtuung schenken würde! Nicht hier im Tempel der Rondra und nicht jetzt zur Prüfung zu seiner Weihe!

Der Oberst zwang ihn, die Initiative zu ergreifen und das gegen den Verlauf des Duells. Ja, er war Dwarosch unterlegen, aber das war Sinn der Prüfung - der Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Was aber sollte er nun tun? Es gab nur eine Option - und Argmin wusste, dass sich Dwarosch dieser Tatsache bewusst war: Angriff ohne Angst vor der Niederlage, Attacke mit offener Verteidigung, ungeachtet der Folgen. Und so prüfte Argmin seinen Mut, seinen Willen, seine Überzeugung. Und es war, als ob ein Knoten sich in ihm lösen würde, als ob ihm ein Gewicht vom Herzen fallen würde. Ihm war, als ob er zum ersten Mal wirklich klar sehen und denken konnte. Zeit und Raum spielten keine Rolle mehr, das einzige was wirklich war, war dieser Augenblick im Hier und Jetzt mit Dwarosch. Seine Umgebung verschwamm, wurde undeutlich, verschwand in einem grauen Schleier und nur der Oberst in seiner dunklen Wehr und dem Spieß waren klar und deutlich zu sehen. Argmin spürte in seinem Rücken eine vertraute Präsenz, keine Person, sondern eine Kraft, etwas, was soviel größer und mächtiger war, als alles Sterbliche auf Dere, und ihm wurde auf einmal bewusst, dass er auf diese Macht vorbehaltlos vertrauen konnte, wenn er sich ihr vorbehaltlos hingeben würde. Ihm wurde in diesem Augenblick klar, dass diese Bindung in beide Richtung Bestand hatte. Dass er sich Rondra hingeben wollte und würde, verstand sich von selbst, denn das war der Weg der Priesterschaft, doch er begriff nun, dass auch Rondra ihm einen Teil Ihrer Macht verleihen würde, dass Sie ihm einen Teil Ihrer göttlichen Kraft geben würde. Und dass Sie auf ihn aufpassen würde. Argmin hatte seit jenem Vorfall in den Wälder, wo ihm Hlûthar das erste Mal erschienen war, sein Leben den Lehren und den Prinzipien der Kirche der Sturmbringerin gewidmet. Er hatte gelernt und sich geübt und hatte sich ganz der Rondra hingegeben und er hatte viele Jahre auf diesen Tag gewartet, um zu einem Ihrer Priester zu werden und sich ganz Ihr hinzugeben. Doch erst jetzt verstand und spürte er, dass die Weihe soviel mehr war, als nur der Aufstieg zu einem Ihrer Geweihten - es war ein Bund mit der Leuin, ein Versprechen beider Seiten - er gab sein Leben für Sie und Sie erfüllte ihn mit Ihrer Kraft - er wurde zu einem Teil von Rondra.

Er spürte Ihre Nähe, Sie umgab ihn wie einen Schild, vertraut, wie die Hand einer Mutter. Und so wie eine Mutter schenkte Sie ihm Zuversicht und Mut und Rückhalt. Sie würde ihn nicht vor Fehlern schützen, Sie würde ihm nicht Entscheidungen abnehmen - wie jedes Kind würde er eigene Entscheidungen treffen und aus Fehlern lernen und daran wachsen. Aber Sie war immer da, Sie würde immer zu ihm stehen. Sie würde da sein, wenn er Hilfe brauchen würde. Sie würde da sein, wenn er Ihren Rat suchen würde. Sie würde da sein, wenn er gewonnen hatte. Sie würde da sein, wenn er verloren hatte. Es würde keine Rolle spielen. Egal, was passieren würde, Sie würde da sein für ihn. Für immer. Für immer und ewig.
Und Argmin verstand.
Er wusste, dass es keine Rolle spielte, was heute geschah, ob er siegte oder Dwarosch unterlag. Es spielte keine Rolle, was irgendwann geschah. Denn Rondra war bei ihm. Für immer und ewig - und das war das einzige, was wichtig war!

Die Wirklichkeit zog ihn zurück in den Zweikampf gegen Dwarosch.
Argmins Hände legte sich fest um den Griff von Rijsh’alnaar. Warm war das Leder und das Metall darunter, fast wie die Hand einer Partnerin vor dem Tanz. Er spürte die Waffe, spürte den Segen Rondras und Efferds, die darin lagen, und alle Unruhe legte sich und alles fügte sich in Harmonie zusammen.

Dann war Dwarosch heran! Argmin wich ihm aus, drehte sich leicht zur Seite, um eine bessere Position zu bekommen für seinen Kontor. Er wusste nun, was er zu tun hatte.
Er wurde zur Klinge - Rijsh’alnaar wurde zu ihm, und er wurde zu Rijsh’alnaar. Sie wurden eins. Er ließ ab und gab sich hin. Rondra war bei ihm und würde immer bei ihm sein.

Der Rondrakamm stieß nach vorne, schnell und präzise, ein gewaltiger Hieb, ein silbernen Schweif in der Luft, den Kampf zu beenden, egal auf welche Weise. Dwarosch versuchte den Angriff des Novizen mit dem Spieß abzuwehren - ein schweres Unterfangen, denn eine beidhändig geführte Waffe wie der Rondrakamm Argmins besaß enorme Wucht und der Oberst führte seine Waffe einhändig. Argmin sah die Überraschung in den Augen Dwarosch’ und der Angroscho konnte gerade noch den Spieß hochreißen, als Rijsh’alnaar seine Schilddeckung umging. Der Hieb war mit aller Kraft geführt und hätte ihn spalten können, doch Schaft und Kettenhemd verhinderten, dass Rijsh’alnaar in sein Fleisch schnitt, und so taumelte Dwarosch nur einen Schritt zurück. Der Novize setze nach, seine Schritte leichtfüßig, Rijsh’alnaar tanzte und hieb und drängte und trieb den Oberst vor sich her.
Still war es geworden im Tempelraum, kein Flüstern, kein Raunen drang mehr aus der Menge, selbst das Knistern der Fackeln und Kohleschalen war verstummt, es war, als hielte die Welt den Atem an. Jeder spürte, dass etwas anders geworden war und die Umstehenden wichen zurück, machten Platz, geben den beiden Raum. Dwarosch wurde zurückgedrängt, die Hiebe des Novizen kamen jetzt schnell und unvorhersehbar, er mühte sich mit Spieß und Schild die Angriffe abzuwehren und versuchte, die Veränderung, die mit dem jungen Mann vor sich gegangen war, zu erfassen und sich neu auf ihn einzustellen.
Rijsh’alnaar focht zu Ehren der Sturmbringern, war eins geworden, Träger und Schwert, eine Klinge der Göttin und so war es ein Hauen und ein Stechen und schwer und laut hallten die Kampfgeräusche im Tempel der Leuin und die Statue der Löwenhäuptigen schaute zufrieden auf das Treiben zu ihren steinernen Füßen.

Argmin spürte, wie die Körperspannung des Oberst sich änderte, kurz bevor dieser von seiner Überraschung erholte.
Sein Angriff hatte dem Angroscho zugesetzt, hatte ihn zurückgedrängt und in die Defensive gezwungen, doch Dwarosch hatte auf unzähligen Schlachtfeldern gestanden, hatte bereits Kämpfe auf Leben und Tod gefochten, als Argmin noch nicht geboren war. Der veränderte Kampfstil hatte ihn zugegebenermaßen überrascht und verdiente Anerkennung, doch war Argmin ihm dennoch weit unterlegen. Er verwarf seinen Plan, das Blut des Novizen mit dem neunten Streich fließen zu lassen. Die Veränderung, die bei dem Novizen eingetreten war, machten sein Vorhaben zu unsicher, doch er würde Kor dennoch den Sieg schenken!
So drehten sich die Schultern Dwarosch leicht zur Spießhand und er sah zufrieden, wie Argmin sich auf den Konter vorbereitete. Denn es war nicht der Kor-Spieß, der den Novizen erwartete und auf dessen Attacke er vorbereitet gewesen wäre, sondern das Schild des Oberst. Zu spät sah Argmin die Schildkante sich drehen und die Finte in Dwarosch anderer Hand. Er spannte seinen Körper, versuchte Rijsh’alnaar zu drehen, doch Dwarosch’ Wehr fuhr schräg von unten durch die offene Flanke des Novizen und hämmerte ihn gnadenlos gegen die Schläfe. Der Kampf war entschieden und Argmin schwand das Bewusstsein.
Armin spürte die Kante an seinem Schädel, sein Blickfeld flimmerte, sein Körper verlor alle Spannung. Er stürzte. Der Novize sah in die Augen Dwarosch, erfüllt mit finsterer, eisiger Kälte, weder Zufriedenheit noch Triumph spiegelten sich darin. Doch das war egal, es spielte keine Rolle. Rijsh’alnaar hatte gut gekämpft, hatte seiner Göttin einen ehrenhaften Kampf geschenkt. Rondra war da. Und sie würde immer da sein für ihn.
Doch wie eine silberne Flamme loderte Rijsh’alnaar! Und Rijsh’alnaar Weg war vorherbestimmt und nicht mehr aufzuhalten. Nach Dwarosch Waffenarm hatte Rijsh’alnaar geschlagen und Dwarosch Waffenhand wurde von Rijsh’alnaar getroffen.
Rijsh’alnaar prallte gegen den gepanzerten Handschuh, rutschte über die Innenseite des Unterarms über die Kette und fand dort das ungeschützte Stück unter der Achsel, wo die Spitze von Argmins Waffe in die Schulter des Oberst drang.
Dann umfing Schwärze Rijsh’alnaars Bewusstsein und er fiel in behütende Dunkelheit.

Feurige Lohe waberte hinter seinen geschlossenen Lidern, pochend und hämmernd, gleichförmig, immer fort. Brachte mit jedem Aufwabern einen neuen Schub brennenden Schmerzes mit sich, der durch seinen Schädel peitschte.
Immer stärker wurde das Hämmern, erhielt das metallische Klingen von Hammer auf Amboss über dem Fauchen des Feuers, das in Fontänen aufsprühte, den Himmel rotgolden auflodern ließ und dann wieder in einem Funkenregen in sich zusammenstürzte.
Die schwarzen Schatten umgestürzter Obelisken waberten über den Grund und den Tempel mit dem Symbol Angroschs, in dem der Amboss stand, auf dem ein feuerbärtiger Zwerg ein Stück glühendes Metall schmiedete.
Am Horizont, schwarz vor dem glühenden Lodern, einem schier endlos tiefen Schlund in Deres Leib, erhoben sich die Zähne eines Giganten, ein Steinkreis aus grob behauenen, aufrecht stehenden Findlingen.

Erneut drangen die Schläge des Hammers auf das glühende Eisen in den Geist des jungen Kriegers, ein Klingen, das durch seinen Kopf scholl und in seinen Gliedern wiederhallte, gleichförmig, unentrinnbar, im Takt seines Herzens und mit mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft, fast so, als ziehe ihn etwas - jemand - hin zu diesem Ort, dessen Farben aus Feuer und Dunkelheit schon wieder zu verblassen begannen, in dem gleichen Maße, wie sein Bewusstein zurückkehrte, begleitet von pochendem, hämmerndem Kopfschmerz.

Sein Körper füllte sich mit dem Rhythmus des niederschlagenden Hammers, rührte ihn bis ins tiefste Mark seiner Knochen und es zog ihn durch den Schatten der Stelen hin zu Tempel und Amboss, wie von Flügel getragen in wildem Wind. Und wieder und wieder schlug der Hammer auf das Metall und hoch stoben die Funken, stiegen empor, wurden zu Myriaden von Sternen am Himmel und erleuchteten feuerrot die Finsternis. Und das Metall bog sich und formte sich unter dem Hammer und aus dem, was ungeformt war, wurde Form und Argmin sah, dass es perfekt war. So nah war er dem Zwerg, dessen Gestalt unermesslich vor ihm aufragte, dass das Feuer seines Bartes ihn zu versengen drohte und die Augen des Zwerges richteten sich auf ihn und sie waren tief und unermesslich und erfüllt vom Tosen und Raunen des tiefen, glühenden Blutes der Erde und Argmin fühlte sich erfüllt mit ewig ruhiger Unergründlichkeit und der Sturm fuhr in seine Flügel und hob ihn empor, hielt ihn sicher und behütet. Er spürte den Sog der Wirklichkeit, der ihn zurückführte, weg von hier, und die Augen des Zwerges folgten seinem Schwinden und sie waren voller Güte und Wohlwollen.
Weit unter ihm aber fuhr eine Lohe fast bis zu den Wolken auf aus dem feurigen Schlund, sprühte Feuerfunken und warfen geschmolzenen, rotgolden glühenden Stein in den dunklen Himmel, gerade so, als wollten die Urgewalten Argmin Gruß und Zeichen zugleich senden.

Mirla hatte mit schreckgeweiteten Augen dem Kampf zugesehen. Als Rijsh’alnaar in Dwaroschs Arm schnitt, schrie das Kind entsetzt auf und versuchte sich mit aller Kraft aus dem Arm ihrer Mutter zu entwinden, um ihrem Vater zu Hilfe zu eilen. Marbolieb hatte beide Hände voll zu tun, Ihre Tochter davon abzuhalten, sich aus ihren Armen zu reißen.
“Dado!” Schluchzte das Kind, gefangen in Angst und Zorn ob seiner Hilflosigkeit. “Böser Argmin!”
“Sssch.” versuchte Marbolieb ihre Tochter zu trösten. “Es ist alles gut. Lass’ Dwarosch seine Zeit.” Seinen Kampf und seinen Sieg.
Beides verdient. Und wichtig für den Oberst.

Sie hatte die Kampfgeräusche vernommen und das kollektive Atemholen der Besucher des Göttinnendienstes. Was genau geschehen war, konnte sie sich nur ausmalen. Sie hoffte inständig, dass es ohne schlimme Blessuren ausgegangen war - für beide. Wenn Dwarosch kämpfte, kannte er nichts anderes - und Marbolieb wusste, dass er Argmin zerschlagen hätte könne, stände ihm den Sinn danach. Doch kein Rondrianer war wehrlos.
Doch bei einem schlimmen Ausgang des Kampfes, so war sie sich gewiss, hätte sie davon erfahren.

Doch nichts half das ihrer Tochter, die mit aller Kraft einer Dreijährigen versuchte, sich endlich zu befreien, und dabei mit beiden Fäusten wütend auf ihre Mutter eindrosch, keinesfalls gewillt, sich jetzt und hier beruhigen zu lassen.
Grimmgasch hatte gebannt dem Kampf zugeschaut und immer wieder war er sich nicht sicher, wem er dem Sieg dieses Duells gönnen sollte. Schließlich kämpfte auf der einen Seite sein Freund und auf der anderen Seite ein Angroscho. Letztendlich war er natürlich mit Argmins Sieg zufrieden, denn das hatte er aus der Predigt der Hochgeweihten verstanden, Argmin musste sich beweisen, wenn er sich als Geweihter seiner Göttin würdig erweisen sollte.
Und das war nun der Fall. Und so wie Grimmgasch es verstanden hatte, war diese die letzte Prüfung gewesen und Argmin war würdig genug die Weihen zu empfangen. Als dann beide Kontrahenten zu Boden gingen, stieß er einen entsetzten Schrei aus und wollte zu seinem Freund eilen, aber ...
Als sich das Blut auf Dwaroschs Schulter zeigte und Argmin zu Boden gingen, spang Cassjarella in den Ring, zog ihren Rondrakamm und stellte sich schützend und wachend bei den beiden auf.

“Der Kampf ist beendet!” sprach sie mit lauter
Stimme, die im ganzen Tempelraum zu hören war. “Wir haben einen Sieger. Nur muss dieser auf aus eigener Kraft den Ring verlassen! Und solange die beiden Duellanten hier liegen, verwehre ich jedem den Zugang in diesen Ring!”
Als Grimmgasch in Richtung seines Freundes trat, war er der erste dem sich die Spitze des langen, geflammten Schwertes mit einem zischenden Schwung bis auf wenig fingerbreit seinem Gesicht näherte.
“Das gilt auch für Euch! Auch, wenn Ihr sein bester Freund seid, Hochwürden!”
… Grimmgasch verharrte.

Dwarosch, der zwar aufgrund der Wunde kurz geschwankt, aber nicht zu Boden gegangen war, hatte unterdessen seinen Helm abgenommen und ihn achtlos fallen lassen. Das gleiche tat er mit den Kettenhandschuhen. Klirrend fielen sie auf den steinernen Boden des Kampfplatzes.
“Ich werde den Ring verlassen, wenn Argmin zu sich gekommen ist und mit mir gehen kann. Das hat er sich wahrlich verdient. Der Sieg hat hier und jetzt keine Bedeutung mehr für mich, hier geht es um Respekt, aber noch mehr als das”, sprach der Angroscho ernst und feierlich. Mit diesem Worten griff der Oberst in die Schulterwunde. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, als der Schmerz ihn durchfuhr, doch sein Blick ruhte weiterhin starr auf der Geweihten. Dann nickte er ihr zu und kniete sich neben den Novizen der Rondra und begann mit dem, dass er sich auf dem Weg zum Hotel Koschblick und zurück überlegt hatte. Die Zeit war gekommen. Hier und jetzt würde es beginnen. Dwarosch hoffte, dass nicht nur Argmin, sondern auch die Vorsteherin des bedeutendsten Rondratempels der Nordmarken bereit dafür waren.



Gebete und Versprechungen

Als Argmin wieder zu sich kam, kniete er zusammengesunken im Tempelraum, exakt dort, wo er gefochten und den Schildkantenschlag hatte einstecken müssen. Warmes Blut ron dem Novizen die Schläfe hinab und färbte den weißen Wappenrock stellenweise rot.
Mit dröhnendem Kopf und schmerzendem Nacken hob Argmin den Kopf und erblickte den Oberst, der ebenfalls kniete.
Mit seinem eigenen Blut zeichnete Dwarosch das Schwertkreuz auf den geweihten Boden des Tempels und blickte danach auffordernd zu Argmin. Als dieser, einem Bekenntnis gleich nun seinerseits begann seinen Lebenssaft dazu zu verwenden Rondras Symbol- Schwert und Schild auf die Fliesen des Allerheiligsten zu bannen, sah der Oberst immer noch auf Knien zum Standbild der Leuin auf und ergriff grollend und dennoch feierlich das Wort.

"Unteilbar sind nicht nur die Zwölf, sondern auch Mutter und Sohn.
Da wo Mut, Tugend, Kampfeswille und Opferbereitschaft vergebens sind ist ER es, der für die Schöpfung streitet, ER - die Bestie an der Kette der himmlischen Leuin, ER - der Scharfrichter Alverans.
Doch wissen wir Sterblichen, dass SEIN Werk nie ohne unsägliche Schrecken und unbeschreibliches Schlachten einhergeht und so gelobe ich hier an diesem geweihten Ort die Bestie des Krieges, die mir zur Verantwortung gegeben wurde nur von der Kette zu lassen, wenn es unbedingt notwendig ist, denn auch wenn IHM Gnade unbekannt ist, mir ist sie es nicht.
Alle anderen rondrianischen Tugenden hat dein Diener, der jetzt und hier neben mir kniet heute bewiesen oh himmlische Leuin. Aber ich weiß, dass er ebenfalls Gnade walten lassen wird, wenn dies geboten ist.
Argmin, so ist meine Hoffnung, soll zu der Generation deiner Anhänger gehören, die das Verhältnis von Mutter und Sohn nicht leugnen, sondern in seinem Wissen handeln, um der Kirche der Leuin auf den Schlachtfeldern des Kontinents wieder zu der Bedeutung zu führen, der ihr zusteht und den sie einnehmen muss - als Wahrerin von Regeln und Ordnung, so dass ER an seiner Kette bleibt und nicht am Ende lachend über das Schlachtfeld schreitet.

Und noch ein weiteres Versprechen werde ich vor dir ablegen, Sturmherrin. Argmin soll bei mir jederzeit Rat und Beistand erhalten, denn ich bin gewillt, die notwendigen Schritte zur Aussöhnung der Kulte zu leisten - mit Verständnis füreinander beginnt jede Aussöhnung.” Stille lag im Tempel, als Dwaroschs Worte endeten. Argmin sah den Angroscho an, dann auf das blutige Zeichen des Schwertkreuzes vor ihm, dann auf seines.
Alle Gesichter in der Menge waren auf die beiden Krieger gerichtet, voller Spannung und Erleichterung, voller Mitgefühl und Bedenken, voller Bedauern und Hoffnung.
Argmin blickte auf, zur Statue der Rondra.

“Schild und Klinge Alverans, Sturmbringerin - Herrin! Dein ist der Mut und die Ehre aller Krieger, die für das Rechte streiten. Dein ist der Triumph der Sieger und die Gnade für die Unterlegenen. Dein ist der Kampf.”
Er sah zum Oberst hinüber, dann wieder zur löwinnenhäuptigen Statue.
“Kor ist Rondras Sohn. Und unteilbar sind die Zwölf, wie auch der Sohn und seine Mutter.”, wiederholte er die einleitenden Worte von Dwarosch.
“Mut verlangt es, sich mit einem erfahrenen Kor-Krieger zu messen bis aufs erste But. Doch noch mehr Mut verlangt es von einem Kor-Krieger, sich einem Kampf zu stellen, der unter dem Schutz von fremden göttlichen Regeln steht. Und noch viel mehr Mut verlangt es, allein seinem Herzen zu folgen, auch wenn der Verstand und die ganze Welt sich dagegen stellen.” Er sah zu Dwarosch und an ihm vorbei zu Marbolieb und ihrer Tochter, die ihre Blicke auf den Angroscho gerichtet hatte, voller Zuneigung, Sorge und Stolz. Er erhob sich mühsam auf seine Füße.
“Kor ist der Sohn der Himmels-Leuin und ihres ungestümen Gemahls, des löwenhäuptigen Famerlor. In seinen Adern fließe das aufrechte, heiße Kriegerblut seiner Mutter, doch er kennt kein Mitgefühl, denn er hat das kalte Drachenherz seines Vaters. Wir können uns nicht aussuchen, wer unsere Eltern sind und in wessen Haus wir aufwachsen. Doch die Götter schenken uns den freien Willen und so wählen WIR alleine den Weg, der uns weiter durch das Leben führt - und leben mit unseren Entscheidungen.” Argmin schritt wankend zum Oberst hinüber..
“Vor gut zwanzig Jahren kämpfte Ayla von Schattengrund zusammen mit Kriegern des Unbarmherzigen, Seite an Seite, an der Trollpforte gegen die Heerscharen des Vielfach Verfluchten.”
Er reichte Dwarosch seinen Arm und seine blutige Hand.

“Rondra kennt mein Herz, und so will ich schwören, das ich neben Dir stehen und mit Dir streiten werde, Dwarosch!” Ernst blickte der Oberst zu Argmin, dessen Noviziat nun ein Ende finden würde und er fühlte sich tief geehrt, dass er Bestandteil dieser seiner letzten Prüfung gewesen seien durfte. Abgenommen hatte sie Rondra selbst, dessen war Dwarosch sich sicher.
Er reichte Argmin seine blutverschmierte Hand und so wie sich die Finger um die Hand des jeweils anderen schlossen, so vermischte sich ihr Lebenssaft miteinander.
“Ich war dort an jenem schwärzesten Tag meines bisherigen Lebens - dem vermutlich dunkelsten unserer Zeit, wenn nicht Zeitalters. Diese Erfahrung prägte mich wie kein andere und ist mit Grund dafür, warum ich überzeugt bin, dass wir zusammenstehen müssen, ebenso wie Mutter und Sohn”, sprach der bullige Zwerg mit leichtem Zittern in der Stimme. Nie würde er die Bilder aus seinem Geist vertreiben können, die ihn fast gebrochen hätten.
Dann sah Dwarosch zur Statue der Leuin auf. “Der Löwe ist bereit in die Welt hinaus zu ziehen, um DEINE Lehren zu verbreiten, nach DEINEN Idealen zu streben und zu leben und nicht zuletzt DEINEN Willen zu vollstrecken. Er wird DICH mit Stolz erfüllen, ebenso wie es mich nun erfüllt hier sein zu dürfen. Aus tiefstem Herzen danke ich DIR oh Sturmherrin für diese Erfahrung, die mich DICH und die Deinigen wieder ein bisschen besser verstehen lässt.”

Argmin erinnerte sich an die Gespräche mit Dwarosch, an seine Worte, wenn er von seinem gefallenen Waffengefährten Hagrian sprach, der für ihn ein leuchtendes Vorbild gewesen war. Anfangs hatte Argmin sich gefühlt, als müsse er es diesem Hagrian gleich tun, anzustreben, so zu werden wie er, um sich den Respekt des Oberst zu verdienen. Aber so wenig, wie es den einen Archetypen eines Angroschim gab, gab es auch nicht den einen Archetypen eines Rondra-Geweihten und er hatte gelernt, dass er seinen eigenen Weg finden müsse. Und jetzt spürte er, dass es etwas anderes war, was ihn mit Dwarosch verband.
Als er von Hlutharshall aufgebrochen war nach Calbrozim, um das Schwert entgegenzunehmen, welches seine Tante für ihn hatte anfertigen lassen, war er innerlich enttäuscht, hätte das aber nie zugegeben. Er hatte davon geträumt, zu seiner Weihewaffe gerufen zu werden wie einst Alyla Schattengrund. Sie von einem Angrosch-Schmied zu erhalten, weil seine Tante einfach gute Dukaten dafür bezahlt hatte, war ihm so profan erschienen. Doch alles fügte sich nun zusammen. die Gemeinschaft von Calbrozim, der Edelstein, Meister Raxarims Werk, der Fürst der Muscheln, der Flußvater, die Freundschaft mit Borindarax, Lagrosch und Grimmgasch, Sturzenstein, der Schwur und die Waffe, Ishna Mur, der Oberst und sein dunkler Gott - all das führte hier her, hier an diesen Punkt, zu diesem Augenblick. Die Welt war im Wandel. Der Kampf gegen den Vielfach Verfluchten und die Narben, die er der Welt zugefügt hatte, hatten den Beginn eines neuen Zeitalters eingeläutet. Der Kampf gegen die Finsternis war noch lange nicht zu Ende, doch nur gemeinsam konnte sie sich der Dunkelheit entgegenstellen.
Rondra war Schild und Schwert Alverans. Doch ihre Geweihten waren weit mehr als einfache Soldaten. Sie kämpften nicht, wenn es um die Grenzen einer Baronie oder um Streitigkeiten zweier Grafen ging. Jene, die von Rondra berufen wurden, waren jene, die zum Bündnis riefen, wenn die Zeit kam, da es die göttliche Ordnung in Gefahr war, wenn die Grundfesten des Seins bedroht waren, wenn es galt, Schulter an Schulter zu stehen, zusammen, gegen einen Feind, der nur gemeinsam besiegt werden könne.
Er sah auf ihrer beider blutverschmierten Hände herab und er wusste, dass er in Dwarosch einen solchen Waffenbruder gefunden hatte. Zu Cassjarella und Bodia sah Argmin hinüber und wartete auf das Urteil.

Bodia nickte. “Gut gefochten.” bemerkte sie trocken, wobei ihre Mimik verriet, wie wohlzufrieden sie mit den Gefecht tatsächlich war. Als Argmin aufblickte, nickte ihm Cassjarella freudestrahlend zu und salutierte mit dem Rondrakamm. Dann wartete sie darauf, dass er aufstand.
Es war der Oberst, der sich als erstes erhob und den ihn von Argmin trennenden Schritt tat, um ihm die Hand zu reichen. Für einen kurzen Augenblick zögerte der Novize. Sein Schädel brummte noch immer und die Platzwunde pochte, doch wäre es ihm nicht weiter schwergefallen, sich aus eigener Kraft zu erheben. Doch dies war mehr als nur eine nebensächliche Geste unter Duellanten. Das war der Abschluss eines lebensverändernden Ereignisses. Sie hatten gefochten. Dwarosch gegen Argmin, Kor gegen Rondra, der Sohn gegen seine Mutter. Und gemeinsam hatten sie gewonnen. Gemeinsam gesiegt. Und aus diesem Sieg etwas neues geschaffen.
Fest war der Griff des Zwergen, als sie sich bei den Unterarmen packten, so dass Dwarosch dem Novizen hoch helfen konnte. Eine Geste, die nicht notwendig gewesen wäre, dem Oberst aber etwas bedeutete, so bemerkte Argmin.
“Gemeinsam sind wir unter Rondras Augen getreten um uns zu messen, gemeinsam verlassen wir den Kampfplatz”, sprach der Oberst und trat dann zusammen mit Argmin der Tempelvorsteherin entgegen.

Die Hochgeweihte betrachtete die Kämpfen mit wohlwollendem Blick.
“Wohl gefochten habt ihr beide, der Leuin zum Wohlgefallen. Doch auch wenn ihr, so, wie es sein soll, gemeinsam den Kampf beendet, so wird nur einer von euch heute hier im Tempel verbleiben.
Euch anderen aber werde ich innere Einkehr an diesem Abend für die Stärkung eures Geistes anempfehlen - und Euch, Herr Oberst, und den Euren unsere Messe, auf dass ihr auch euren Leib laben mögt. Ehrwürden Cassjarella wird mir noch kurz hier zur Hand gehen, danach wird sie euch begleiten.”
“Wie Ihr wünscht, Schwester”, antwortet Cassjarella, die ahnte, dass sie helfen sollte Argmin auf die einsame Nachtwache vorzubereiten, die er alleine vor dem Bildnis der Himmelsleuin durchstehen - oder wäre da das Wort durchknien - sollte. Nachdem er gezeigt hat, das er sich vortrefflich darauf verstanden hatte seinen Mut gegen einen stärkeren Gegner einzusetzen, waren es jetzt nicht nur die körperlichen Anstrengungen die den Novizen in seiner letzten Nacht vor der Weihe erwarten würde, sondern es war auch eine letzte Probe des Geistes und der Standhaftigkeit, die Nacht alleine im Dunkel des Temples in Rüstung auf den Knie zu verbringen ohne den Schmerzen und der Müdigkeit nachgeben zu wollen.

Argmin neigte den Kopf vor Schwertschwester Bodia und Schwester Cassjarella. Ein angenehmes Gefühl in seinem Inneren verdrängte langsam die Anspannung des Kampfes. Er spürte seine verkrampften Muskeln und das schwere Atmen in seiner Brust, doch das alles wich einem Gefühl von Freude, das begann ihn zu erfüllen. Er war seiner Göttin einen weiteren Schritt näher gekommen.
Er wandte sich Dwarosch: "Ich danke Dir, mein Freund, für diesen Kampf und für Deine Worte."
Dann drehte er sich wieder zu den beiden Frauen.
"Ich bin bereit."

Da Grimmgasch nicht zu seinem Freund gelangen konnte, aber sah, dass es Argmin gut ging und nun auch nicht mehr der Rondrakamm der schwarzhaarigen Gigra vor seinem Gesicht hing, konnte er sich von dem Schauplatz des Duells langsam wieder abwenden und sich Marbolieb zuwenden.
“Es ist vorüber”, sagte er zu ihr. “Argmin hat den Oberst besiegt. Er ist jetzt bereit für die Weihe!” “Ist ihm etwas geschehen?” flüsterte die Geweihte zurück.
“Nein, Argmin ist wohlauf, er ist nur bewusstlos geworden”, antwortete der Geweihte umgehend. Dann wurde ihm gewahr, dass Marbolieb nicht nach Argmin, sondern nach dem Oberst gefragt hatte. Grimmgasch hüstelte und ergänzte dann: “Und Meister Dwarosch geht es auch gut, nur ein kleiner Schnitt.” Kurz huschte der Ausdruck gewaltiger Erleichterung über das hübsche Gesicht der Blinden. “Den Göttern sei Dank!” Sie legte ihren Kopf auf den Scheitel ihrer Tochter, die sie mit aller Kraft umklammert hielt. “Dado Aua!” skandierte diese, trommelte mit ihren Fersen in die Beine ihrer Mutter und hieb auf deren Arme. “Los!” forderte sie mit schriller Stimme. “Du solltest noch bei Deiner Mutter bleiben!”, meinte Grimmgasch zu dem quengelnden kleinen Mädchen, das versuchte zu ihrem Ziehvater zu gelangen. Aber er war sich ziemlich sicher, dass sie nicht auf ihn hören würde.
“Zu Dado!” schimpfte das kleine Mädchen und funkelte Grimmgasch trotzig, mit geschürzten Lippen und blitzenden Augen an und schüttelte energisch den Kopf, so dass seine zwei fingerdicken, rabenschwarzen Zöpfe flogen.

“Wir werden alle zur Andacht erscheinen”, versicherte der Oberst der Tempelvorsteherin feierlich. Dann wandte er an Argmin und sah auf, um den angehenden Geweihten ins Gesicht blicken zu können. Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen klopfte der Oberst dem jungen Mann auf dem Arm.
“Auch diese, dir bevorstehende, letzte Prüfung wirst du meistern. Wir werden auf dich warten.”
Mit diesen, letzten aufmunternden Worten verließ Dwarosch die Diener der Rondra und ging zu Marbolieb und Mirlaxa, um erstere zu küssen und um letzterer, seiner Ziehtochter, die Angst zu nehmen, ihrem Dado könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein.
Die wand sich mit dem Mut der Verzweiflung aus den Armen ihrer Mutter und trat und wand sich so lange, bis sie sich mit einem entsetzten “Dado!” in Dwaroschs Arme hechten konnte. “Blut!” stellte sie entsetzt fest und fuhr mit ihrem Finger in Richtung von Dwaroschs Schulter, nur, um einige Augenblicke vorher mit einem fragenden Blick aus riesengroßen Augen in das bärtige Gesicht des Zwergen innezuhalten. Die Boroni dagegen rieb sich ihre Arme, wo ihre verbissen kämpfende Tochter sie getroffen hatte, und lauschte für’s erste still auf die Antwort des Oberst. Sie würde ihn später nach seinen Verletzungen fragen - ohne Zuhörer. Sonst würde er es doch wieder als ‘nur ein Kratzer’ abtun. Sehr viel bezeichnender war, ob er es jetzt schaffen würde, Mirla und seine Waffen zu tragen.
Dwarosch reichte seinem Spieß an eine Tempeldienerin weiter. Den Schild hatte er auf dem Kampfplatz liegen lassen. Auch seiner hatte sich ein fleißiger Bediensteter angenommen. Der Oberst wusste Waffe und Wehr in guten Händen.
Der Arm der verwundeten Schulter schmerzte. Dwarosch ließ ihn einfach herab hängen, um die verletzten Muskelstränge nicht unnötig zu belasten und damit mehr Blutfluss zu verursachen. Mirlaxa konnte er zum Glück noch mit einem Arm halten.

"Es ist eine Wunde, die ich sicher einen Mond oder vielleicht gar zwei spüren werde, Mirlaxa, aber dennoch nichts, was einen alten Ochsen wie mich umbringen wird", gestand Dwarosch freiherzig seiner Ziehtochter gegenüber - wohlwissend, dass Marbolieb ebenfalls zuhörte. Verheimlichen konnte er den beiden ohnehin nichts. Spätestens beim allabendlich Toben vorm Schlafengehen würde die Kleine merken, dass ihr Dado an der Schulter empfindlich war und Marbolieb würde dann zurecht mit ihm schimpfen, dass er die Verletzung heruntergespielt und nicht ernst genommen hatte.
"Wenn ich deine Mutter ganz lieb frage, wird sie die ewig junge Göttin vielleicht bitten, meine Wunde zu heilen." Dwarosch zwinkerte Mirlaxa zu und beobachtete gleichzeitig, wie Marboliebs Mundwinkel zuckten. Die Geweihte hatte besorgt ausgesehen, auch wenn sie vollends mit ihrer Tochter beschäftigt gewesen war, um sie davon abzuhalten, zu ihm zu rennen, dennoch wusste Dwarosch, dass sie sich sorgte und das jenes Zugeständnis, ihre Hilfe anzunehmen, sie beruhigte.

Marbolieb senkte den Kopf, so dass nur noch ihre Nasenspitze unter ihre Kapuze hervorragte. Wenn Dwarosch so freimütig von seiner Verletzung erzählte, wollte er seine Tochter beruhigen - und sie gleich mit. Doch wenn der alte Erzzwerg so bereitwillig den Segen der Ewigjungen erbat, mochte das auch bedeuten, dass die Wunde doch schlimmer war, als er ihrer Tochter gegenüber eingestand. Andererseits handelte es sich um Dwarosch - der für einen Zwergen geradezu tsagefällig tolerant gegenüber anderen Denkweisen war.
Sie würde der Angelegenheit heute abend eingehend auf den Grund gehen. Mit der Hilfe der Götter, wenn notwendig. Dass ihr ureigener Angroscho aus bloßer Sturheit bis dahin vor sich hin verbluten würde, das traute sie ihm nicht zu - unter all der dicken, brummigen und eigenbrötlerischen Schale des Oberst steckte ein überaus warmherziger und liebevoller Mann. Doch da die beiden sich einen Kampf aus keinem anderen Grund als einem Kräftemessen heraus hatten liefern müssen, so durfte die Versorgung der Wunde auch gerne bis später warten, wenn Dwarosch es nicht selbst als dringender einschätzte.
Durch ihre Hände waren ausreichend Opfer zu vieler Schlachten gegangen, als dass die Boroni noch einen wie auch immer gearteten Nutzen an einem Kampf ohne Not hätte finden können - zumindest nicht, wenn ihr Liebster dabei Federn ließ. Mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen hing sie ihren Gedanken nach, während Mirla von sehr viel praktischeren Gedanken geleitet die Schulter Dwaroschs fasziniert anstarrte.

“Viel Aua, Dado.” stellte sie fest. “Ganz viel Blut. Tropfig.”
“Ja Mirlaxa, dass muss verbunden werden, damit die Blutung stoppt”, antwortete Dwarosch weiterhin ehrlich.
“Eure Gnaden”, sprach der Oberst dann an Grimmgasch gewandt. “Wäret ihr so freundlich, mich von meiner Rüstung zu befreien und die Wunde zu versorgen? Ich denke wir können uns einen ruhigen Ort und frische Leinen bei den Akoluthen des Tempels erbitten.”
“Xorloschoromdra!” meinte der Angesprochene, erstaunt darüber das ihn der Oberst auf einmal niht mehr duzte. “Natürlich werde ich Euch helfen, Meister Dwarosch.”

Dann wandte er sich an Cassjarella, die immer noch bei Argmin stand. “Schwester Cassjarella!” rief er sie auf Garethi an. “Habt Ihr etwas Material um die Wunden des Oberst zu verbinden?”
Cassjarella blickte zu dem Angrosch-Geweihten hinüber und nickte nur kurz: “Dort den Gang hinunter, hinter der ersten Tür auf der rechten Seite werdet Ihr finden, was Ihr braucht. Dort könnt Ihr auch Euren Gefährten verbinden.
Ich muss beim Knappen Argmin bleiben und ihn auf seine Nachtwache vorbereiten.”
Grimmgasch brummte etwas über die Abfuhr durch die Rondra-Geweihte, aber da er ähnliche Rituale aus seiner Weihe kannte und deren Bedeutung kannte, machte er sich mit Dwarosch auf den Weg in das Hinterzimmer. Nicht jedoch, bevor dieser dafür gesorgt hatte, dass sich Marbolieb bei ihm unterhakte.

In der Kammer gab es Regale mit sauberen Leinenbinden, Töpfchen mit Kräutertinkturen und weiteres Material, das sich zur Versorgung der verschiedensten Arten von Verwundungen und Brüchen eignete.
Grimmgasch deute auf eine Liege und sagte zu Dwarosch: “Setzt Euch!”
Die Boroni war an der Wand stehen geblieben und verharrte dort, bemüht, Grimmgasch und dem Oberst nicht zwischen die Beine zu geraten. Sie hätte Dwarosch auch aus seiner Rüstung geholfen, wenn er das gewünscht hätte - aber wahrscheinlich besaß Grimmgasch die geschickteren Hände, und im Gegensatz zu ihr konnte er sehen, was er tat.

Nachdem der Oberst seiner Aufforderung gefolgt war, begann er langsam die Schnallen der Rüstung vorsichtig zu lösen und half ihm dann dabei die einzelnen Kettenteile der Rüstung abzulegen. Besonders beim Abstreifen des Hemdes, für das Dwarosch noch einmal aufstehen und sich weit nach vorne beugen musste, zischte der Oberst vor Schmerz. Erst dann konnte sich Grimmgasch die freigelegte Wunde an der Schulter ansehen. Er tupfte vorsichtig das Blut mit einem Stück sauberen Leinen ab, trug dann etwas von der Wundsalbe auf und verband abschließend der Wunde mit einem weiteren Streifen und zog diesen mit ein paar Knoten fest.
“Das sollte reichen” fügte er abschließend hinzu.
Mirla hatte mit großen Augen und äußerster Aufmerksamkeit das Procedere von der Liege aus verfolgt und fiel mit ihrer Nase fast in Grimmgaschs Hände, weil sie alles wirklich ganz genau sehen wollte.

“Dado, gut?” fragte sie besorgt.
“Ja, der Dado blutet nicht mehr”, bestätigte Grimmgasch dem kleinen Mädchen.
“Genau”, bestätigte Dwarosch ein wenig erleichtert. “Heute Abend werden wir fürstlich speisen. Das ganze Blut will ja schließlich ersetzt werden.” Der Oberst grinste und knuffte Mirlaxa, die dicht neben ihm saß, in die Seite. Dann sah Dwarosch nacheinander zu Marbolieb und Grimmgasch. Sein Lächeln verschwand.

“Ich war anfangs etwas skeptisch was die Reise und das daraus resultierende Risiko betrifft”, begann er im nachdenklichen Ton. “Gerade die Erfahrung mit der Nussschale auf dem Großen Fluss hätte ich gerne vermieden. Heute jedoch muss ich meine Skepsis als das benennen, was sie war - engstirnig und granitköpfig.
Diese Pilgerfahrt, die zunächst zumindest nach meinem Empfinden nicht die meinige war - als gehöre ich nicht wirklich dazu, hat auch mich vieles gelehrt. Jene Erfahrungen und daraus erwachsende Erkenntnisse werden auch mein weiteres Leben beeinflussen.” Dwarosch seufzte. “Ich muss mich bei euch beiden bedanken. Bei Argmin auch, das werde ich später nachholen.” Marbolieb schüttelt den Kopf, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob jemand diese Geste bemerken würde. Dank war weder notwendig noch angebracht.
“Aber das ist der Zweck einer Pilgerfahrt, Dwarosch.” Sie schwieg einen Moment und setzte dann erklärend hinzu. “Dass nicht mehr derjenige zurückkehrt, der aufbrach. Jeder von uns.”
“Ka roboschan hortiman Angroschin!” brummte Grimmgasch. “Genauso ist es!”

Das Lächeln kehrte auf die Züge des Oberst zurück. Natürlich wusste er, dass sie recht hatten, doch so einfach, wie es nach ihrer Logik für sie auch sein mochte - für ihn war es das nicht gewesen. Das Eingeständnis seines Irrtums war für Dwarosch obendrein so etwas wie eine Entschuldigung für all sein Grummeln.
“Gut”, beschied der Oberst, da nun anscheinend alles gesagt war und klopfte sich in einer Geste des Aufbruchs auf die Oberschenkel, nur um sich in demselben Moment einen Idioten zu schimpfen. Der Schmerz fuhr ihm wie eine Nadel in die verletzte Schulter. “Immer langsam mit den alten Pferden”, kommentierte er selbstironisch und stand von der Liege auf. “Dado, heim?” wollte Mirla interessiert wissen. “Abendessen?”
Was keine schlechte Idee wäre, befand auch ihre Mutter im Stillen. Und ein “gut” als Antwort auf eine derlei philosophische Frage nach der Pilgerfahrt - diese hätte schlechter ausfallen mögen.

“Ich würde mich gerne noch umziehen, wenn wir in die Stadt gehen”, gab Grimmgasch zu bedenken, denn mit der schweren metallbesetzten Robe war es kein Vergnügen, sich außerhalb des Tempels zu bewegen. “Aber nur, wenn ihr mich mitnehmt.”
Die Aussicht auf ein romantisches Abendessen zu zweit - oder eher zu zweieinhalbst, bedachte man, wie sehr Mirla an ihrem verletzten Dado hing - hatte sich von Anfang an ziemlich sicher nicht in den Planungen des Oberst befunden.
Darüber hinaus hatte sich Bruder Grimmgasch als sehr angenehmer Reisegefährte erwiesen, mit dem es sich gut reden - und schweigen - ließ. Über Marboliebs Lippen huschte darob ein feines Lächeln, als sie die Antwort des Oberst abwartete, die sie kaum überraschen - aber, egal wie sie ausfiel, auch auf keinen Fall enttäuschen würde.
“Ich hatte niemals vor ohne euch zu gehen”, antwortete der Oberst mit einem leicht amüsierten Unterton. Bedeutend ernster führte er an. “Ich würde vorschlagen wir ziehen uns im Hotel um, machen uns frisch und kommen dann der Einladung ihrer Hochwürden nach was das Essen betrifft. Danach würde ich gerne den Tempel des Weltenschöpfers aufsuchen, um dort zu beten und ich würde dies gern in eurer Begleitung tun. Ich denke Mirlaxa wird heute auch ausnahmsweise Mal etwas länger aufbleiben dürfen. Was meinst du Räblein?” Marbolieb zog überlegend ihre Zähne über ihre Unterlippe. Sie hatte nichts dagegen, dass Mirla einmal etwas länger wach bleiben durfte.
Auch wenn es darum gerade nicht ging.

Wenn sie sich recht erinnerte, besaß Gratenfels auch einen Borontempel. Mit leisem Bedauern gestand sie sich ein, dass sie nach den letzten Jahren gerne wieder einen Borondienst besucht hätte. Doch würde sie in Calmir bald genug Zeit zum Beten finden. Außerdem stand es, was die Gläubigen anbelangte, zwei zu eins für Angrosch.
Und letztens Endes würde sie, ganz pragmatisch, sowieso dorthin gehen, wohin sie geführt wurde.
Immerhin beinhaltete die Reihenfolge auch ein leckeres Abendessen, und sie hatte Hunger nach diesem langen Tag.
Die blinde Priesterin nickte.

“Dann sehen wir uns hier im Tempel wieder”, fasste Grimmgasch zusammen. “Wann meint Ihr, seid ihr wieder hier?” fragte er den Oberst abschließend.
"In anderthalb Kerzen würde ich meinen.
Dann bis nachher", sprach Dwarosch hob seine Ziehtochter wieder auf den gesunden Arm und hakte Marbolieb unter. Seine Rüstung, Wehr und Spieß würde er im Tempel belassen, dort waren sie gut aufgehoben bis zu Argmins Weihe, der er angemessen ausgestattet beiwohnen wollte.
Er nahm sich vor, noch einen der Tempeldiener zu informieren auf ihrem Weg nach draußen, auch darüber, dass sie der Einladung Bodias nachkommen würden.

Der Tempelraum hatte sich geleert.
Viele der Gäste hatten ihm ein aufmunternden Nicken oder ein anerkennendes Lächeln geschenkt, als sie gegangen waren, doch für Argmin war nur wichtig, dass seine Göttin ihn für würdig empfand, ihn in die Gemeinschaft Ihrer Knappen aufzunehmen.
Und so machte Argmin sich bereit für den letzten Schritt zu seiner Weihe.


Nachdem die letzten Gläubigen den Tempel verlassen hatten, gabe Bodia, die auf dem Platz der Hochgeweihten neben der Löwenstatue Platz genommen hatte, Cassjarella mit einem leichten Wink zu verstehen, dass sie jetzt mit der Prozedur beginnen könnte.
Und so ging Cassjarella zu den Eingangstüren des inneren Tempelbereichs und schloss diese von innen ab. Genauso verfuhr sie mit den anderen Türen - einzig die Tür zu den Räumen der Hochgeweihten blieb - im Moment noch - unverschlossen.
Nachdem der Tempel so für die Nachtwache Argmins vorbereitet war, trat die Ritterin der Göttin an den Noch-Novizen.
“Knappe Argmin von Wirselbach”, sprach sie ihn formell an. “Bist Du bereit für Deine letzte Prüfung?”
Nun erhob sich die Hochgeweihte mit einem leisen Stöhnen von ihrem Platz und trat auch an Argmin heran und wartete auf seine Bestätigung. “Vor 15 Sommer fand Schwertschwester Bodia von Leuenfels mich hier im Tempel, gehüllt in den Mantel des Heiligen Hlûthar. Seit diesem Tage widme ich mein Streben, mein Tun und all mein Leben dem Weg der Rondra. Die Göttin schickt mir Ihre Boten, um mich zu prüfen, und schickte mir Ihren Ruf. Sie hieß mich gen Gratenfels zu gehen, um meine Weihe zu empfangen. Hier nun stehen wir, Argmin von Wirselbach, Page der Göttin, und Rijsh’alnaar, die Feuerfeder, bereit für die letzte Prüfung.”
Bodia nickte zufrieden lächelnd über die Antwort des jungen Mannes.
“Dann sei es, Knappe Argmin!” begann die feierlich zu sprechen. “Deine letzte Prüfung liegt vor Dir. Sie soll Deine Hingabe und auch Dein Duldsamkeit prüfen.
Schwester Cassjarella wird Dich an die Stelle geleiten an der Du die kommende Nacht in Meditation einsam und auf Knie verbringen wirst. Wir werden Dich dann alleine lassen und erst nach dem ersten Gongschlag nach Dir sehen.
Wenn wir Dich wach und auf Knien wiederfinden, so hast Du auch diese Prüfung des Geistes und des Körpers bestanden und bist bereit die Weihe der Himmelsleuin zu empfangen.
So möge der Sturmherrin Segen mit Dir sein bei deiner Prüfung.” Sie ballte die Faust ihrer Hand über ihrer Brust und hielt sie dann über den Scheitel des Novizen.
“Rondra sei mit Dir!”

Nach diesen Worten nickte sie Argmin und Cassjarella zu und ging dann langsam aufrecht in die Richtung ihrer Gemächer. “Du hast Schwester Bodia gehört”, meldete sich nun Cassjarella zu Wort. “Bitte folge mir.”
Sie ging voraus bis zu einer Stelle von der aus Argmin einen guten Blick auf die Statue Rondras werfen konnte, etwas außerhalb der Hauptachse des Tempels.
“Reich mir jetzt Rijsh’alnaar!”

Nachdem Argmin der Geweihten seinen Rondrakamm gegeben hatte, legte ihn Cassjarella auf die Gerade zwischen Argmin und das Bild der Göttin, mit der Spitze der Klinge kurz vor Argmins Knie.
“Nun knie nieder und erblicke die Herrin und die Feuerfeder. Sammle Dich und Deine Gedanken, Stärke Geist und Körper. Höre die Stimme Deiner Herrin.”
Abschließend ging sie um den kniende Argmin herum und breite den weißen, schmucklosen Überwurf, den er über dem Kettenhemd trug, in einem weiten faltenlosen Bogen um ihn aus.

“Möge die Göttin Dich erhören und Dir Kraft schenken, Bruder Argmin!” verabschiedete sich Cassajarella und löschte im Hinausgehen die letzten Lichter im Tempel, so das Argmin im Dunkel zurückblieb. Einzig ein ewiges Licht neben der Göttin schimmerte sanft in der undurchdringlichen Dunkelheit.

Das rechte Knie auf den Boden gebeugt, das Haupt soweit geneigt, dass er Rijsh’alnaar und die löwinnenhäuptige Statue der Rondra sehen konnte, genoß Argmin das Eintreten der Stille, die sich nun im Tempel ausbreitete. Leise verhallten Cassajarellas Schritte hinter der schweren Holztüre. Dann war kein Laut mehr zu vernehmen, bis auf das wilde Schlagen von Argmins Herzen. Er atmete tief ein und versuchte seinen Geist von den umhertreibenden Gedanken zu befreien. Er konzentrierte sich darauf, an nichts zu denken, und im Augenblick anzukommen. Sein Körper ächzte noch von den Anstrengungen des Kampfes gegen Dwarosch, schwer waren seine Arme, und in seinem Kopf drehten sich Gedanken und versuchten den Abend zu erfassen und Worte dafür zu finden, was er gespürt hatte. Doch er zwang sich zur Ruhe, zwang sich abzulassen von derlei Unruhe. Kein Bedauern an die Vergangenheit, kein Hoffen in die Zukunft. Sein Herzschlag wurde langsam und gleichmäßig. Rondra sah gnädig und erwartungsvoll auf ihn herab und Rijsh’alnaar funkelte ermutigend im Schein des ewigen Lichts.
Argmin wusste, was vor ihm lag, und er wusste, das dies die schwerste der Prüfungen war.
‘Rondra, Himmelsleuin, Schwert und Schild Alverans, …’ In Gedanken begann Argmin die Verse zu zitieren und spürte, wie sein Atem sich an den Rhythmus der Hymne anpasste.
Die Worte leiteten ihn und er spürte ein angenehme Leichtigkeit, die sich in seinem Geist und in seinem Körper ausbreitete, und dann begann die Welt um ihn herum unscharf zu werden und verlor an Substanz und Farbe und Argmins Sein reduzierte sich auf diesen Augenblick. Hier und jetzt, Rondra, Rijsh’alnaar und er.



Abendstimmung im Rondra-Tempel

Nicht ganz anderthalb Wassermaß später trafen die beiden Zwerge und die Dienerin des Boron wieder im Tempel der Leuin zusammen. Herausgeputzt, die Geweihte in eine frische Robe, der Oberst in einem sauberen, weißen Wappenrock, mit dem aufrecht stehendem Kriegshammer auf der Brust betrat das ungleiche Paar den Sakralbau. Mirla, die Tochter Marboliebs, auf dem Arm Dwaroschs. Auch sie tug frische Kleidung - ein niedliches Kleidchen, welches der Oberst ihr in Senalosch hatte schneidern lassen.
Grimmgasch hatte die schwere Robe abgelegt und wieder seine bequeme schwarze Reisegewandung angelegt. Die rituelle Laterne und seinen Tuchbeutel hatte er in der Schlafkammer im Tempel gelassen. Nur der kleine Schmiedehammer an der Halskette und der größere am Gürtel weisen ihn als Geweihten des Weltenschöpfers aus.
Fröhlich grüßte er seine Reisegefährten. “Ich weiß von der Hochgeweihten wo das Refektorium zu finden ist, ihr könnt mir also einfach folgen.”

Das Refektorium war für den schon nicht kleinen Tempel sehr großzügig und gab ein beredtes Zeugnis von den vielen Waffenknechten, die ihn üblicherweise frequentierten.
Allerdings schien die Mehrzahl der Gäste und Geweihten das Abendmahl direkt nach der Andacht genossen zu haben, denn der Großteil der Bänke und Tische war leer und aufgeräumt.
Ein Noviz schrubbte mit götterergebenem Ausdruck die Tische, während sich an einem kleineren Tisch in der Nähe der Küche eine Gruppe aus zwei Rondrianern, einigen Akoluthen und zwei Offizierinnen der Ehrengardisten noch auf ein gemeinsames Bier zusammengefunden hatte. Als die Gruppe aus Zwergen und Menschen eintrat, sah der Novize auf und legte mit einem erleichterten Lächeln den Lappen aus den Händen. “Rondra zum Gruße, Eure Gnaden, Herr Oberst. Habt Ihr Hunger? Darf ich euch etwas bringen? Ein Bier vielleicht?” Ein breites Lächeln zog sich über Grimmgaschs Gesicht. Bier! Hier im Tempel der sonst so nüchternen Kriegsgöttin hatte er eher mit Wasser gerechnet, daher kam ihm das Angebot umso verlockender vor.

“Angrosch zu Gruße, guter Mann!” erwiderte den Gruß des Novizen. “Ein guter Schluck des kühlen Gerstensaftes wäre eine ordentliche Begrüßung. Wo dürfen wir Platz nehmen?”
“Gerne hier. Das ist die Offiziersmesse.” Der Novize wies auf eine großzügig bemessene Wandnische, von der aus sich das gesamte Refektorium im Blick befand.
“Das Bier bringe ich euch, Eure Gnaden, Herr Oberst.”

Der junge Angroscho ließ sich auf das eine Ende der Bank in der Nische sinken, so dass die anderen drei nebeneinander auf der halbrunden Bank Platz finden konnten. Dann blickte er zu den anderen verbliebenen Besuchern hinüber. Da die aber alle mit sich beschäftigt waren, begann er seine Nase in die Luft zu strecken, um zu erahnen, was sie denn hier an Speisen erwarten könnten.
Es roch nach Rüben, frischem Brot und verschiedenen Kräutern und Schinken - eine dicke Suppe, verriet die Nase des Angroschgeweihten. Voller Vorfreude auf den deftigen Eintopf rieb er sich vergnügt die Hände. “Das scheint ein guter Auftakt für diesen Abend zu werden! Ein kräftiges Bier und ein dicker Eintopf!”
Dann wandte er sich an den Oberst: “Wie geht es Eurer Schulter? Schmerzt sie noch sehr?”
"Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass sie nicht zwickt", antwortete Dwarosch mit einem schiefen Grinsen.
"Es ist ein geringer Preis für die Ehre, die mir mit dem Kampf zuteil wurde. Außerdem, Argmin war bereits bewusstlos, als seine Waffe in mein Fleisch drang." Der Oberst machte eine bedeutungsschwere Pause. "Ich sollte den Kampfplatz nicht ohne 'Andenken' verlassen. Ich habe mit meinem Gegner gespielt, um die Neun Streiche zu Ehren Kors zu vollziehen. Die Leuin strafte mich dafür und das zurecht … wahrscheinlich war es vermessen." Er zuckte mit den Schulter und hob seinen Krug. "Auf Argmin. Mögen Leuin und Mantikor über ihn wachen heute Nacht, auf das wir morgen einem ausgewachsenen Löwen entgegentreten dürfen."
“Auf Argmin!” prostete Grimmgasch und hob ebenfalls seinen Krug.
Marbolieb, die ihre Tochter auf dem Schoß hatte und nicht mitbekam, wie das Kind glückselig an der dicken Schaumkrone des Bierhumpens vor ihr naschte und die beiden Angroschim aus einem dicken Schaumbart heraus angrinste, tastete ebenfalls nach ihrem Krug, nahm einen kleinen Schluck und nickte. “Auf Argmin.”

Mirla griff mit beiden Händen und einer breiten Schnute nach dem Tonhumpen und umfasste ihn, kaum dass er sicher wieder auf dem Tisch stand, triumphierend mit beiden Händen. Sie hatte längst gelernt, dass sie im Beisein ihrer Mutter fast alles tun durfte, solange sie dabei nur leise genug war.
Der angekündigte Eintopf wurde gebracht, zusammen mit vielen dicken Scheiben frischen Graubrotes und einem Tiegel Schmalz. Es duftete verführerisch.

"Räblein?", fragte Dwarosch mit sanfter Stimme, die von der tiefen Zufriedenheit des Momentes zeugte, in Richtung Marboliebs. "Magst du ein Gebet sprechen, bevor wir essen?"
Das er Mirlaxa danach zuzwinkerte und den Zeigefinger vor die Lippen führte, um ihr zu deuten, dass sie kurz leise seinen möge, sah die Geweihte indes nicht.
“Ja, Schwester, bitte sprecht das Gebet, dass uns das gute Mahl auch wohl bekommen mag!” forderte nun auch Grimmgasch die Boroni auf. Marbolieb faltete die Hände und nickte. Sie setzte vorsichtig ihre Tochter neben sich auf die Bank, erhob sich und hob segnend die Hände. “Gütige Travia, Dir und Deinen Geschwistern sei Dank für unsere Gemeinschaft und dieses Mahl. Segne unsere Speise und Trank sowie alle unsere Tischgefährten. So sei es!”
“So sei es!”
“Danke Räblein”, sprach der Oberst nach einem Moment des Schweigens, den Marbolieb und er stets wahrten. Dann sagte er schlicht: “Lasst es euch schmecken”, nur um seiner blinden Gefährtin dann beim Auffüllen zu helfen.

Das Essen war heiß, gehaltvoll und gut gewürzt, das Brot frisch und kräftig und das Bier die perfekte Ergänzung zu beidem - ein bodenständiges, durch und durch leckeres Mahl.
Marbolieb hatte ihre Tochter wieder auf den Schoß genommen und dem Kind einen Löffel in die eine und ein Stück Brot in die andere Hand gegeben. Mit einem breiten Strahlen machte sich das Kind zusammen mit seiner Mutter über die Suppe her - nicht immer ganz ohne Kleckse und Spritzer.
Die junge Frau lächelte, als sie der Begeisterung ihrer Tochter lauschte, und ihre feinen Züge schienen dabei von innen heraus zu leuchten. Mit einem halben Ohr lauschte sie auf das Tischgespräch der beiden Männer.

Grimmgasch langte ebenfalls kräftig zu und nach dem zweiten Teller Eintopf reinigte er auch die Schale mit einem Kanten der deftigen Graubrotes. Dann nahm er noch einen Tiefen Zug aus dem Humpen, seufzte wonniglich, lehnte sich nach zurück und fragte während er seine Pfeife stopfte den Oberst: “Sagt, Meister Dwarosch, wart Ihr schon einmal in Gratenfels? Was gibt es hier, was sich lohnen würde, dass man es sich heute noch ansieht?
Glaubt Ihr der Schrein im Ingerimm-Tempel, den Ihr vorhin erwähntet, wäre einen Besuch wert?
Oder doch eher die Schwefelquellen - obwohl es riecht ja bis hier her!”

Der Oberst, der sein Mahl mitnichten ebenfalls bereits beendet hatte trank ebenfalls einen kräftigen Schluck aus seinem Humpen, bevor er zu einer Antwort ansetzte.
“Ich bin noch nicht sehr häufig hier gewesen, das letzte Mal im Rahmen des Haffax- Feldzuges. Das Heerlager wurde damals vor Gratenfels aufgeschlagen. Hier haben sich die Truppenteile versammeln, bevor wir gen Rahja gezogen sind. Das ist nun auch schon einige Götterläufe her.
Ich gebe jedoch zu nur vage Erinnerungen an den Tempel zu haben. Er scheint keinen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen zu haben. Dies muss aber nichts heißen. Ich war damals in einem geistigen Zustand, den ich heute gelinde als instabil bezeichnen könnte.
Die Schwefelquellen hingegen vergisst man wohl nie, oder besser eben ihren Gestank. Beeindruckend zu sehen sind sie jedenfalls ohne Zweifel und es gibt ja auch Brüder und Schwestern, die in ihnen Angroschs Atem und das pulsieren seiner Macht erkennen wollen. Wenn wir also schon einmal hier sind ...” Dwarosch ließ den Satz unbeendet und steckte sich vielsagend ein weiteres Stück Brot, dass mit Schmalz bestrichen war, in den Mund.
Grimmgasch schaute zu dem kauenden Oberst hinüber, der zwar auf seine Fragen geantwortet hatte, aber in einer Art, die die Auswahl der abendlichen Ziele nicht weiter einschränkte. Aber bevor der Angroschgeweihte sich weiter zu Fragen hinreißen lassen konnte, meldete sich Marbolieb zu Worte.
Marboliebs Mundwinkel zuckten. Dem üblen Brodem musste sie nicht zwingend nahe kommen und bei dem Gedanken kitzelte er sie wieder nachdrücklich in der Nase.
“Wir könnten auch ins Badehaus gehen.” schlug sie vor. Sie grübelte einen Augenblick.
“Darf ein Priester des Angrosch eigentlich baden?”
Unverständlich schaut Grimmgasch die Boroni an. “Darf eine Boroni eigentlich sterben?” war die Gegenfrage des Geweihten.

“Das soll sie sogar.” schmunzelte die Geweihte. Irgendwann - aber nicht sofort. Offensichtlich schien die Flamme des Weltenbauers das Eintauchen ins Wasser nicht auszuschließen - anders als bei Efferdgeweihten, die nichts Gekochtes und Gebratenes zu sich nehmen durften. “Gibt es Dinge, die Angrosch seinen Geweihten nicht gestattet?”
“Der Weltenschöpfer möchte, dass wir seine Flamme in die Welt tragen und uns um sie sorgen, aber er untersagt uns nicht uns selbst zu reinigen.” meinte Grimmgasch fröhlich lächelnd. “Aber es muss ja auch nicht jeden Tag sein. Und heute Nachmittag habe ich mich schon als Vorbereitung für die Feierlichkeiten im Tempel gewaschen.”
Die Boroni senkte den Kopf. “Gut.” murmelte sie. Gut für ihren Bruder im Glauben - und gut für die Nasen seiner Reisegefährten. Schlecht für die Aussicht auf ein ausgedehntes Bad. Sie mochte ein Bad im Badezuber, was indes ein überaus rares und kostspieliges Vergnügen war. Nach einigen Augenblicken Bedenkzeit löste sich sich darum auch von der Idee - deutlich zu teuer war die Aussicht, und Dwarosch hatte mit der Übernachtung im Hotel bereits ein Vermögen ausgegeben, das er anderweitig gewiss viel nötiger gebraucht hätte. “Werden wir also den Abend im Ingerimmtempel verbringen?”
Da Grimmgasch schon versucht hatte eine Antwort vom Oberst zu erhalten, aber entweder nicht so deutlich gefragt hatte oder aber Dwarosch ihm die Entscheidung überlassen wollte, war er jetzt über die direkte Frage der Boroni froh und blickte zum Oberst, um dem Älteren die Antwort zu überlassen.

Dieser zuckte mit den massigen Schultern. "Ich wäre dafür, wir beten nach dem Essen am Schrein des Allvaters im Ingerimmtempel und gehen danach ins Badehaus. Warum muss es ein entweder oder sein?
Wir sollten uns für die kommenden Tage dann aber auf jeden Fall die Schwefelquellen und den Tempel des ewig Schweigsamen vornehmen, bevor wir uns wieder auf dem Weg gen Heimat machen", schug Dwarosch vor und erinnerte damit an die Bedeutung Borons für die Pilgerfahrt. “Euer Plan ist gut!” stimmte ihm Grimmgasch zu. “So umfasst er alles, was wir hier in der Stadt zu sehen wünschen!”
“Das Badehaus kostet zu viel, Dwarosch!” protestierte Marbolieb erschrocken.
“Doch den Ingerimmtempel besuche ich sehr gerne. Wir könnten dort ein Gebet für Argmin sprechen, auf dass er die Nacht gut überstehe.” Diese würde für den Novizen keine einfache sein. Das war die Nacht vor der Weihe nie.

“Räblein”, wandte Dwarosch mit betont weicher Stimme ein - etwas, dass aufgrund seiner tiefen Tonlage fast schon komisch wirkte. “Bedenke, welche Freude es Mirlaxa bereiten wird mit uns zu planschen. Ihr zuliebe, bitte.”
“Wir können sie im Hotel in die Waschschüssel setzen.” bot die Geweihte an. “Das Hotel hast du doch bereits bezahlt.” Sie konnte unmöglich die Geldkatze des Oberst noch weiter schröpfen - auch wenn dieser wusste, sie sehr sie ein Bad üblicherweise genoss.

Grimmgasch musste sich arg zusammenreißen, um bei der kleinen Auseinandersetzung nicht laut loszulachen.
Doch der Oberst bemerkte das Mienenspiel des Jüngeren und zog eine Augenbraue hoch. So leicht würde er Grimmgasch nicht davonkommen lassen. “Nun sag du doch auch Mal was dazu”, forderte Dwarosch den Geweihten des Allvaters in aufgesetzt hilflosem Tonfall auf.
“Aber ich sagte doch bereits, dass es ein sehr guter Plan ist, Meister Dwarosch!” Grimmgasch fühlte sich ein wenig ertappt, aber egal wer sich wo waschen würde als nächstes würden sie den Schrein des Weltenschöpfers sehen. “Trinken wir noch einen Humpen oder wollen wir sofort los?”

Angesichts dieser Frage wandte sich auch die Boroni abwartend in die Richtung, in der sie den Oberst wusste. Er würde bei der Bierfrage ganz sicher weise entscheiden. Und hoffentlich bei der Badesache auf seinen Beutel achten - das schlechte Gewissen, das sie seit der Buchung des Hotels plagte, war heftig genug. Warum hatte sie auch nicht einfach gesagt, dass sie gerne mit dem Oberst und seinen Leuten in einer Kaserne übernachten würde - dann hätte dem armen Dwarosch eine ganze Stange Gold und viele Mühen gespart. In dem Teppich, der den Boden des Hotelzimmers bedeckte, sank sie bis zu den Knöcheln ein, und das Bett war weicher als alles, in dem sie bislang gelegen hatte. Darüber hinaus roch das Zimmer überaus gut - sogar nach frischen Blumen. Sie genoss diese Pracht viel mehr, als ihr zustand.

Die Priesterin senkte den Kopf und umfasste ihre Tochter fester, die, unbeschwert von den Gedanken ihrer Mutter, bis über beide Backen grinsend ihr Gesichtchen aus dem luftigen Bierschaum hob und Dwarosch anlachte. “Dann fürchte ich du bist überstimmt Räblein”, kommentierte der Oberst mit nur halb- leerem Mund. Damit war es beschlossen. “Trink ruhig noch einen Humpen, Grimmgasch”, ergänzte er nach einem weiten Bissen in Richtung des Priesters auf die andere Frage und widmete sich dann wieder ganz seinem Essen, denn Dwarosch war mitnichten bereits satt. So winkte der Geweihte, dass der Novize noch eine Runde Bier an den Tisch bringen möge und wartete dann darauf, dass sich auch beim Oberst das Sättigungsgefühl einstellen möge, dass sie zum Tempel aufbrechen könnten.

Die Halle des Himmlischen Schmiedes

Es war kein weiter Weg durch das abendliche Gratenfels von der Halle des Heiligen Hlûthar zur Halle des Himmlischen Schmiedes. Die drei Erwachsenen und Mirlaxa mussten ja lediglich zurück auf den Marktplatz der Stadt, an dessen südlicher Seite sich die gräfliche Residenz erhebt, und von da aus der auch in der Stadt gut ausgebauten Reichsstraße in Richtung des Havener Tors zu folgen.
Und schon nach wenigen Schritt erhob sich auf der rechten Seite der Straße die aus dunklem Granit und schwarzen Basalt errichtete Fassade des Ingerimmtempels. Das am Tag weit aufstehende schmiedeeiserne übermannsgroße Doppeltor war bereits geschlossen, aber auf Grimmgaschs Klopfen, öffnete nach einiger Zeit ein Akoluth mit einem “Bei Ingerimm, ich komme ja schon!” ein kleines Türchen in Kopfhöhe und schaute hinaus.

“Ja?” fragte er die seltsame Gruppe, die sich vor der Tür des Tempels eingefunden hatte.
“Ich bin Grimmgasch groscho Kagannto”, stellte sich der Angroscho vor. “Meister des Angrosch-Tempels von Ishna Mur, Priester des Weltenschöpfers und” - dieses Wort betonte er besonders - “des Himmlischen Schmiedes.”
Dann drehte er sich zu seinen Begleitern und stellte sie vor.
“Das ist Schwester Marbolieb, Dienerin des Schweigsamen, mit ihrer Tochter und das ist Meister Dwarosch groscho Dwalin, Oberst des Eisenwalder Garderegimentes.”

“Euer Hochwürden.” Der Akoluth musterte den Zwergen genauer und verbeugte sich. “Was ist Euer Begehr?”
“Wir würden gerne in den Tempel, um zu beten”, meinte Grimmgasch mit einem breiten Grinsen. “Sonst hätten wir nicht geklopft. Leider war es uns nicht möglich eher hierher zu gelangen.”
“Jetzt? Ist es so dringend … Euer Hochwürden?” Der Akokuth, ein junger Mensch mit feuerrotem Haar und erst dem Anflug eines Bartes, betrachtete die Gruppe mit entsetztem Blick.
“Wir wussten nicht, dass es dringend sein muss, Bruder”, antwortete Grimmgasch. “Mein Tempel ist zu jeder Tages- und Nachtzeit für die Gläubigen offen. Aber wenn Du der Meinung bist, dass der Himmlische Schmied gerade schläft, dann wollen wir ihn nicht wecken.”
“Wenn es denn dringend ist, dann kommt herein. Wir öffnen unsere Tore selbstverständlich für Brüder und Schwestern im Glauben. Allerdings verzeiht, dass wir das Schmiedefeuer bereits für die Nacht abgedeckt haben - unsere Abendandacht ist bereits vorbei.”
Knarrend öffnete sich das Tor und gab den Blick auf den halbdunklen, stillen Tempel frei. In der Esse glühten die Kohlen unter einer dicken Schicht aus Asche und Kohlenstaub, um die Glut bis zum Morgen zu halten, und alle Schmiedeutensilien hingen fein säuberlich aufgereiht an ihrem Platz.

Als die Gruppe den Tempel betreten hat, verriegelte der Akoluth das Tor hinter ihnen wieder. “Braucht Ihr eine Begleitung im Tempel, Meister Grimmgasch?”
“Nein, nein, hab Dank, wir wollen Dich nicht weiter belästigen”, wehrte der Angroscho den Akoluthen ab.
“Wie Ihr wünscht”, nickte dieser, “wenn Ihr den Tempel verlasst, dann zieht einfach die Tür hinter Euch zu. Ich werde sie bei der nächsten Runde wieder verriegeln.”
Dann zog er sich nach einer kleiner Verneigung gegen die beiden Geweihten wieder im Dunkel des Tempels zurück.

Nun stand die Gruppe alleine in dem, auch am Tag düster und höhlenartig wirkenden, Raum. Es war als würde die Decke des Gewölbes schwer auf ihnen lasten. Einige der an den Wänden ausgestellten Waffen und Rüstungsteilen schienen die letzte Glut zu reflektieren und eher den Raum noch unheimlicher wirken zu lassen.
Grimmgasch schritt durch das den Wald aus Basaltsäulen in Richtung des neben der Esse stehenden Altars, der wie es auch in den Tempeln des Weltenschöpfers die Form eines übergroßen Amboss hatte. Davor ließ er sich zu einem stummen Gebet an den Gottes der Schmiede und Handwerker auf die Knie nieder.

Die blinde Boroni lauschte in die Dunkelheit. Die Schritte der Zwerge hallten und erzählten von einem großen, leeren Raum. Der Geruch nach Kohle, Asche und feuchtem Eisen hing in der Luft, aber auch eine Stille, die von nächtlicher Rast, dem Ruhen der Arbeit und der Abwesenheit von Menschen kündete. Sie umfasste Mirla fester, die sich neugierig auf ihrem Arm wand und vermutlich freudestrahlend davongestürzt wäre, um die Umgebung zu erkunden, wenn sie auch nur den Hauch einer Möglichkeit dafür gefunden hätte. Aber zum einen würde sie damit die Andacht Bruder Grimmgaschs stören, zum anderen bedeutete ein Ingerimmtempel mindestens eine Esse und vielleicht sogar noch einen offenen Feuerschacht - beides keine Dinge, die gut zu dem Erkundungsdrang des kleinen Mädchens passen wollten.
Mit einem leise ausgesprochenem: “Du kleine, widerspenstige Ausreißerin”, nahm der Oberst Marbolieb Mirlaxa ab und hielt sie in seinen breiten Armen fest, wobei er sie spielerisch neckte. Das Kind gab seine Bemühungen sogleich auf, wusste sie doch, dass ihr Ziehvater Arme wie Schraubstöcke hatte, die bei Gegenwehr nur noch fester zupackten und nie müde wurden, jedenfalls nach ihrem Empfinden.

Ohne weitere Worte hakte Dwarosch sich bei seiner Gefährtin ein und führte sie gemessenen Schrittes zu jenem Punkt, wo Grimmgasch vor dem großen Amboss kniete. Er tat es ihm gleich und die blinde Geweihte neben ihm ebenso, als sie Dwarosch Bewegung entsprechend interpretierte. “Allvater”, setzte der Oberst zu einem Gebet an, leise, aber für Mutter und Tochter klar vernehmbar. Marbolieb hatte ihm den Glauben an Boron gelehrt und er hatte sie stets an seinen Gebeten teilhaben lassen. Es gab keinen Grund es an jenem Ort anders zu halten.
Mirlaxa würde mit dem Zwölfgötterglauben aufwachsen, ebenso aber mit dem an den Allvater und auch seine Zwiesprachen mit Rondras Sohn, Gebete waren es in dem Sinne des Wortes zumeist ja nicht, würde er ihr nicht vorenthalten.

“Ich habe heute etwas gelernt, einen Irrtum erkannt und mich für ein … sagen wir nicht ganz passendes Verhalten entschuldigt.” Dwarosch grinste, auch weil Mirlaxa sich in seinem Arm ihm zugewandt hatte und mit seinen Ohren spielte, während sie ihm aufmerksam zuhörte.

“All dies gehört zu DEINEM Plan. Und auch wenn ich ihn nicht verstehe, ich habe meine Rolle darin zu spielen. Doch da ist noch mehr, dass mich bewegt und das ausgesprochen werden sollte an so einem Tag.
Ich bat DICH einst schwer verwundet auf dem Weg nach Mendena um mehr Zeit in dieser Welt. Ich behauptete kühn, dass meine Aufgabe noch nicht erfüllt sei und hatte doch nur eine begrenzte Vorstellung von dem was dies bedeuten könne.
Heute weiß ich, dass es weit mehr für mich zu tun gibt und dafür bin ich unermesslich dankbar.”
Dwarosch legte seine Stirn gegen die Mirlaxas. Der Allvater wusste, was er meinte. Weitere Worte waren unnötig.
Liebevoll umarmte er das kleine, zerbrechliche Wesen in seinen Armen, die ihm in diesem Moment eben jene Welt bedeutete und Mirlaxa, die ihm gegenüber schon immer über eine gewisse emotionale Auffassungsgabe verfügt hatte, erwiderte die Umarmung und legte ihren Kopf auf seiner Schulter ab.
Warm und weich war das kleine Kind in seinen Armen, eine beruhigende, lebensvolle Präsenz, ganz im Hier und Jetzt verankert, wie es die Art von kleinen Kindern war. Das kleine Mädchen seufzte glücklich und grub sein Köpfchen in die dichte Mähne des Oberst.

Marbolieb lauschte den glücklichen Geräuschen ihrer Tochter, sich gewiss, dass Dwarosch beide Hände mit dem quirligen Kind beschäftigt haben würde.
Sie legte ihre Hände auf ihren Schenkeln übereinander, spürte ihrem Atem nach und richtete einen stillen Dank an den Schmied der Götter, der sie heute in seinem Heim willkommen hieß.
Mirla war glücklich mit Dwarosch - und auch dem Oberst gab das Kind Halt und Sicherheit, und, vielleicht wichtiger noch, einen Grund für ein geregeltes Leben.
Sie liebte ihre Tochter aus ganzem Herzen - und den oftmals brummigen, eigenbrötlerischen Zwergen kaum weniger. Mirla würde es gut haben an der Seite ihres Ziehvaters im Haus des Vogts von Senalosch - ein unbeschwertes Wohlleben erwartete sie, umgeben von ihrem Dado und seinen Gefährten, die das Kind liebten und umsorgen würden, als gehöre es zu ihrer eigenen Sippe.

Sie würde beide schmerzlich vermissen.

Doch blieb ihr keine Wahl, seit ihr Dwarosch den Befehl des Barons überbracht hatte, sich ab dem Herbst wieder in Calmir um ihren eigenen Tempel zu kümmern.
Geliebte Dinge - und das war die Zeit in Senalosch samt ihrer Tochter und ihrem Liebsten - gehen zu lassen war eine der bittersten Lektionen, die ihr Glaube bereithielt.
Sie betete, dass sie daran nicht scheitern würde. Denn Dwarosch seinerseits würde sein Regiment und seine Sippe nicht aufgeben, um mit ihr nach Calmir zu übersiedeln. Andererseits diente er nicht dem Schweigsamen, sondern dem Gnadenlosen, so dass dies in sich schlüssig war. Sie hatte gute Arbeit geleistet - sehr gute sogar. Nach ihrem Ermessen war nichts mehr von dem Zaudern und Schrecken mehr in ihm, das damals seine Begegnung mit dem Dämon hervorgerufen hatte, und das Saatkorn des Mordbrenners, das dessen Diener gepflanzt hatte, war endgültig gerodet und verdorrt.
Harte Arbeit war es gewesen, doch von Erfolg gekrönt.
Er brauchte sie nun nicht mehr.

Und wenn er irgendwann einen Weg um seinen beharrlichen Zwergenschädel gefunden hätte, so würde er vielleicht selbst erkennen, was sein Bauch lange schon wusste.
Die Sache mit der Selbsterkenntnis. Ein schwieriges Spiel und ein gefahrvoller Weg, brachte er doch allzu oft Antworten, vor denen man viel zu lange die Ohren verschlossen hatte. Sie wäre überaus glücklich an der Seite der beiden geblieben - gleich, ob sie benötigt wurde oder nicht.

Still war es in der Halle - bis auf das Kichern ihrer Tochter, ein unbestimmtes Rascheln und die Atemzüge der beiden Männer. Wie es wohl Argmin erging in seiner nächtlichen Wacht, allein mit sich und der prüfenden Nähe der Sturmherrin? Würde er siegen - über sich selbst, seine Zweifel, seine Unvollkommenheit? Oder den einfachen Weg wählen?

Nachdem er sein Gebet beendet hatte, waren seine Augen soweit an die Dämmerung gewöhnt, dass er sich umsah und in einem der vielen Winkel, die die unregelmäßige Grundfläche des Tempels bildete, sah er einen kleinen Schrein. Das musste der Schrein für den Weltenschöpfer sein, denn die Nische war augenfällig mit mehr zwergischen Ornamenten verziert als der Rest des Tempels.
“Das ist der Angrosch-Schrein”, er deutete in die Richtung. Dann erhob er sich aus den Knien und steuerte in die Richtung des Schreins.

Der Schrein war kunstvoll gearbeitet, ein Basaltblock mit eindeutig zwergischen Mustern. Er schien alt, uralt zu sein - und vermutlich seinen Ursprung anderswo, nicht im Tempel, zu haben. Der schwarze Basalt war ja das Markenzeichen des Koschs und wurde von den Menschen und den Angroschim gleichermaßen aus den Hängen des Gebirges gebrochen und diente vielen Gebäuden als Fundament. In einer besonderen, aber sehr selten Form konnte er sogar die Macht Madas bändigen.

Allerdings war der Block hier aus dem normalen Basalt gebrochen und zeichnete sich durch seine tiefschwarze Farbe mit feinen Einsprenkelungen aus. Er war von den vielen Berührungen der Gläubigen blank poliert und daher die vor vielen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden in den Stein geschlagenen Runen und Ornamente ebenfalls geglättet und an manchen Stelle fast nicht mehr sichtbar. Grimmgasch begann zu bereuen, dass er beim Aufbruch zu diesem Rundgang durch die Stadt seine Laterne im Tempel der göttlichen Leuin zurückgelassen hatte, er hätte gerne versucht die Zeichen dieses alten Altar zu entziffern. So konnte er nur ebenfalls - wie die meisten anscheinend vor ihm - mit den Fingerspitzen die Kerben der Ornamente und Runen abfahren.

Das Abfahren der ineinander verschlungenen Linien, die Bilder und Schriftzeichen bildeten, wirkten beruhigend auf ihn. Er fühlte wie die Kraft der Allvatern durch seine Fingerspitzen in seinen Köper flossen. ER war hier bei ihm, ER war in ihm.
Nachdem er schon vor dem Altar des Schmiedegottes gekniet hatte, ging er auch nun vor dem Schrein des Allvaters auf die Knie. Dann begann er laut in der Sprache seiner Ahnen laut zu beten:
”Oh Allvater, Schöpfer der Welt,
wir sind hier heute vor Dir erschienen um unseren Dank für den Schutz unser bisherigen Pilgerreise auszusprechen.
Wir wissen, dass es nur durch Dein Eingreifen und das der Götter der Gigrim möglich war das Übel in Ishna Mur letztendlich aus unserer Welt zu bannen.
Ich bin nur ein geringer Deiner Diener, aber ich hoffe, dass Du unseren Dank verspürst und uns auch für die weiteren Etappen unserer Pilgerfahrt Deinen Schutz gewährst.
So sei es!”

Dwarosch, der noch eine ganze Weile mit Mirlaxa und neben sich Marbolieb vor dem Altar des Hauptschiffes des Tempels verweilt hatte, trat mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm und der untergehakten Marbolieb hinter Grimmgasch. Und auch hier tat es der Oberst dem Geweihten gleich und kniete nieder.
„Und Allvater“, fügte Dwarosch, der die Worte Grimmgaschs vernommen hatte, an diese an, „vergessen wollen wir nicht unsere Dankbarkeit für die Überfahrt über den Großen Fluss. Auch im Namen meiner Soldaten. Wir, deine Kinder sind glücklich sie trotz aller Widrigkeiten unbeschadet überstanden zu haben. Der Schrecken ist mir noch in dieser Stunde präsent. Ich erkenne DEINE Mahnung an dem uns bestimmten Platz in diesem Ereignis.“

An dieser Stelle schien es schon, als sei der Oberst fertig, als hätte er alle Worte gesagt, die er offen an Angrosch richten wollte, doch dann erhob er erneut seine Stimme - nicht für sich, sondern für seinen jüngeren Bruder, der vor ihm kniete.
„In Ishna - Mur, das Jahrhunderte leer und verlassen war, wird durch ihn nun wieder DEIN Wort verkündet. Gewähre DEINEM ergebenen Diener die Einblicke in die Konstruktion deines Weltenplans, die notwendig sind, damit auch er seinen Beitrag dazu leisten kann die Völker der Angroschim auf das bevorstehende Zeitalter vorzubereiten. Auch er besitzt eine Stimme, die gehört werden wird, wenn es um die weitere Entwicklung, das Wachstum Isnatoschs geht.
Wir Kinder der Eisenberge, der Wiege unserer Rasse, danken dir für eine neue Blüte.“
Die Boroni hatte unterdessen, mehr aus Gewohnheit denn aus Erwartung, den Boden um sie herum abgestastet. Von hunderten Füßen blankpolierte Steine, die mit sehr sauber gefügten, dünnen Fugen aneinanderstießen, erzählten ihre Fingerspitzen. Und offensichtlich erst vor kurzem gefegt. Der Tempel war gut in Schuss gehalten - aber kein Wunder, wenn er sogar einen eigenen Novizen besaß, der sicher einen Teil der Arbeit mit übernahm.
Sie legte ihre Hände zurück in ihren Schoß und überließ sich wieder ihren Gedanken. Ihre Freunde würde sie bei ihrem laut vorgetragenen Gebet nicht stören, nachdem sie ihren eigenen Dank still an den Erbauer der Welten gerichtet hatte. Indes verstand sie vom Rogolan so gut wie nichts.

Nachdem Grimmgasch sein Gebet beendet hatte, blieb er noch einige Zeit vor dem Schrein tief in Gedanken versunken knien. Dann erhob er sich, räusperte sich und fragte seine Begleiter: “Seid ihr bereit, weiter zu gehen?” Marbolieb lauschte auf Dwarosch, geduldig wartend, was er sagen würde, und nickte selbst knapp, nicht sicher, ob das einer der Männer bemerken würde.
Doch der Oberst registrierte ihre Geste sehr wohl und brummte seine Zustimmung erst, nachdem er sich sicher war, dass Marbolieb ihrerseits bereit war aufzubrechen.

Als sie alle so weit waren, ging Grimmgasch voraus zur doppelflügigen Tempeltür, drehte sich dort noch einmal zum Altar um und verneigte sich. Danach wiederholte er die Bewegung in Richtung des Angrosch-Schreins.
Nun er entriegelte er die Tür, öffnete sie für seine Gefährten, wartete bis diese durch das Portal geschritten waren, um sie dann hinter sich wieder ins Schloss fallen zu lassen.
“Kennt ihr den Weg zum Badehaus oder sollten wir einen Passanten fragen?” meint Grimmgasch zu seinen Begleitern als sie vor dem Tempel stehen. Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, da kam auch schon ein Angroschim mit leicht schwankendem Schritt aus der Richtung des Havener Tors auf die Gruppe zu.
“Freund!” rief ihn Grimmgasch auf Rogolan an. “Sag uns doch bitte, wo man hier baden kann.”
Der von einem leichtem Hauch aus Bier und Pfeifentabak umwogte Zwerg, versuchte sich auf den Angrosch-Priester zu fixieren. “Hä?”
“Wir suchen ein Badehaus, kennst Du den Weg?”
“Latürnich!” lallte der Angesprochene und wankte weiter seinen Weg.
“Bei Angrosch Klöten!” schimpfte Grimmgasch, erstaunt über die ‘präzise’ Antwort des Betrunkenen. “Willst Du uns aus den Weg verraten?” “Jorp!”

Er rülpste laut, dann versuchte er erneut Grimmgasch zu fixieren.
“Du muss’ einfach nach da, dann da lang”, erklärte er und wedelte dabei mit den Armen in der Gegend herum, was vermutlich die Richtungen zum Ziel anzeigen sollte. “Und dann nochma’ um’me Ecke. Da wo’s stink’, isses richtig!” Grimmgasch musste kichern, ob dieser ausgezeichneten Beschreibung und mit einem “Angrosch möge Dir Deinen Heimweg zeigen!” setzte er sich in der Richtung, die der Angroscho zuerst gedeutet hatte, in Bewegung.
Nach weiteren Ecken und der Befragung einiger - zum Glück - wenige alkoholisierten Passanten, steht die Gruppe in direkter Nähe zu den Schwefelquellen vor einem Badehaus. Der Geruch nach fauligem Schwefel ist schon fast überwältigend.

“Wir sind da”, fasste Grimmgasch das Ergebnis ihres Spaziergangs zusammen. “Aber ich befürchte, wenn wie hier aus dem Bad kommen, riechen wir nicht so gut wie jetzt.

Wollen wir trotzdem hinein?” fragte er skeptisch blickend seine Gefährten.
Marbolieb, der noch immer das Geräusch der vielen Münzen aus dem Hotel in den Ohren klang, schüttelte vorsichtig den Kopf. Grimmgasch nahm das Kopfschütteln der blinden Boroni wahr. Ihre Meinung sprach ihm aus dem Herzen. In einem Becken in dieser übelriechenden Brühe zu baden, war nicht nach seinem Geschmack.

Mit einem Schnüffeln in Richtung des Eingangs des Badehauses und danach einem angeekelten Schaudern blickte er zu Dwarosch. “Ich glaube Schwester Marbolieb würde es genauso wie ich wohl vorziehen dort nicht zu baden.”, war sein fragendes Resümee. “Wir können ja einfach noch ein wenig spazieren - in einem anderen Teil der Stadt … .”
“Hm”, Dwarosch zuckte mit den massigen Schultern und wirkte unschlüssig. “Gut”, beschied er dann. “Ich ergebe mich der Mehrheit.”
Bevor Dwarosch sich doch noch zu einem Bad in dem Stinkepfuhl entschieden hätte, hatte sich Grimmgasch schon abgewandt und ging mit langsamen Schritte wieder gen Firun durch die Straßen.

Nach kurzer Zeit kam die Gruppe wieder an der zentralen Wehranlage der Stadt vorbei in der die gräfliche Residenz und die Garnison der Garde untergebracht war. Anscheinend führte jede Straße der Stadt immer wieder auf diesen Punkt.
“Hier sind wir heute schon oft genug vorbei gekommen”, versuchte Grimmgasch die letzte halbe Sanduhr eingeschlafene Gespräch in der Runde wieder in Gang zu bringen.
Aber der Blick auf die müde in Marboliebs Armen liegende Mirla ließ ihn schnell wieder verstummen. Er wollte die Kleine nicht wecken. Daher flüsterte er noch zu Dwarosch als sie den Platz vor der Garnison überquerten: “Hier trennen sich für heute unsere Wege, Meister Dwarosch. Ich wünsche Euch und Schwester Marbolieb eine angenehme Nacht. Wir sehen uns Morgen im Tempel.”
Gedankenverloren nickte er Marbolieb zur Verabschiedung zu, es fiel ihm immer wieder auf, dass die junge Frau sich nicht wie ein Blinde bewegte und er es immer wieder vergaß.
Verlegen raunte er Marbolieb noch ein “Möge Euer Herr über Euch wachen!” zu, dann bog er vom Marktplatz in Richtung des Rondra-Tempels ab und verschwand rasch in der zunehmenden Dunkelheit.



Der Feiertag des Heiligen Hlûthar von den Nordmarken (21. Rondra)

Haus Koschblick
Nach einer langen, traum- und ereignislosen Nacht erwachte am nächsten Morgen Mirla als erstes - und wenige Augenblicke später Dwarosch, als eine energische Kinderhand in seinen Bart glitt, an dem mit den prächtigsten Bartperlen geschmückten Zopf zog und ‘Dado! Auf! Hunger!’ skandierte. Strahlend vor Freude darüber, dass sie es geschafft hatte, selbst aus ihrem Kinderbett zu entkommen, lachte das kleine Mädchen ihren Ziehvater an.

Ihre Mutter schaffte es, trotz des Lärms noch einige Atemzüge Schlaf zu ergattern, ihre leicht gebräunten Züge ruhig und ihre langen, dichten Wimpern ein zarter Strich auf ihrem schön geschnittenen Gesicht. Ihr Mundwinkel zuckte, als sie das energische Aufbegehren ihrer Tochter vernahm, und sie kuschelte sich glücklich tiefer in die so traumhaft weichen, glatten und wohlduftenden Kissen, aus denen nicht ein einziger Halm herausstach und piekste.
Dwarosch indes zog seine Tochter ohne die Augen zu öffnen in seine breiten Arme und barg sie an seiner haarigen Brust. Er steckte seine Nase in Mirlaxas weichen Haare und nahm ihren Duft in sich auf. Er liebte diese Momente mit ihr - sie waren ein Geschenk der Götter. Ob nun Angrosch, oder Travia, die den Menschen wohl auch so etwas wie die Göttin der Familie war, für diese Wonne verantwortlich war wusste er nicht. Danken tat er beiden und der Weg nach Tobrien, der für ihn schon feststand, würde ihn in Rommilys auch in IHR höchstes Haus führen - wegen Mirlaxa.

Doch all diese Gedanken verdrängte der Oberst rasch aus seinem Kopf, grübeln wollte er ganz sicher nicht, denn zu kostbar war jener Moment. “Wir werden dir wohl ein richtiges Bett schreinern lassen müssen was?”, fragte er anstatt rhetorisch und öffnete die Augen, während er den Kopf zur Seite bewegte, um zu Marbolieb zu sehen, die noch friedlich neben ihm lag.
Ja, Mirlaxa wuchs schnell und eroberte sich ihre Welt, ganz so, wie es für ein Kind sein sollte, auch wenn er davon nicht viel verstand. Er jedenfalls würde jeden Entwicklungsschritt freudig erwarten, auch wenn dies hieß, sie Stück für Stück in die Eigenständigkeit zu entlassen. Menschenkinder wurden schnell erwachsen, leider.

Wenig später, man hatte sich gewachsen und angekleidet, nachdem Marbolieb erwacht war, hatten die drei rasch auch schon ihr Frühstück hinter sich gebracht und waren geschniegelt und gestriegelt bereit zum Aufbruch in den Tempel der Leuin. Der große Tag ihres Gefährten war gekommen und alle brannten darauf zu erfahren, wie Argmin die Nacht überstanden hatte.



Im Rondra-Tempel

Nachdem Grimmgasch von der abendlichen Runde durch Gratenfels zurück in den Rondra-Tempel gekehrt war, hatte ihm eine der Tempelwachen, die hier in Hlûthars Halle auch des Nachts die Tore bewachten, durch eine Seitentür eingelassen und ihn in die Schlafkammer, in der er seine Sachen abgelegt hatte, geführt.
Müder sank er auf das harte Bett im Schlafsaal nieder und war dann - nach einem letzten Gedanken an Argmins Prüfung - schnell eingeschlafen.
Aus seinem tiefen Schlaf wurde er durch ein wiederholtes Räuspern geweckt.
Vor dem Bett des Angroschpriesters stand groß und aufrecht Cassjarella sich mehrfach laut räuspern.
“Guten Morgen Hochwürden!” grüßte sie Grimmgasch als der Zwerg endlich aufgewacht war. Das schelmische Funkeln in ihren Augen konnte sie nicht schnell genug verbergen als Grimmgasch müde blinzelnd zu ihr hoch blickte. “Hochwürden Bodia wünscht Euch zu sprechen.”

Dann blickte sie auf die um das Bett unordentlich verstreut liegenden Kleidungsstücke des Zwergs, hob die rechte Augenbraue kurz. “Ich warte für der Tür. Bitte beeilt Euch, Schwester Bodia wartet nicht gerne.”
Sie machte auf dem Absatz kehrt und was aus der Tür bevor sich Grimmgasch im Bett aufgerichtet hatte.
Gähnend streckte sich Grimmgasch, dann schob er erst den einen nackten Fuß unter der Decke hervor, dann den anderen und langsam kam auch der Rest des Angroscho zum Vorschein. Müde tappte er durch den Raum zum kleinen Waschtisch und tauchte sein Kopf in das kalte Wasser.
‘Ah, das ist gut!’

Nachdem er mit der Morgenwäsche fertig war, schlüpfte er in seine Kleidung - da er noch nicht mit einer Zeremonie rechnete, ware es die Kleider vom Vorabend und nicht sein schwere Metall besetzte Robe. Mit einem letzten Gähnen öffnete er die Tür und trat auf den Gang.
“Gut!” war alles was Cassjarella sagte, als Grimmgasch in den Gang trat. Sie hatte mit verschränkten Armen vor der Tür gewartet, drehte sich jetzt ohne nach Grimmgasch zu sehen um und ging voraus bis zu Bodias Arbeitszimmer. Nach einem Klopfen öffnete sie umgehend die Tür und ließ Grimmgasch eintreten. “Angrosch und Rondra zum Gruße!” sagte Grimmgasch als er in das Zimmer trat und sich am Tisch, hinter dem Bodia saß, auf einem Stuhl niederließ. “Ihr wolltet mich sprechen?”

Cassjarella schloß die Tür hinter Grimmgasch und stellte sich wie am Vortag auch halb schräg hinter die Hochgeweihte.
“Guten Morgen Meister Grimmgasch!” waren ersten Worte Bodias, die gerade noch Grimmgasch auffordern wollte Platz zu nehmen, aber da saß er schon. “Ich würde gerne mit Euch über die Zeremonie des heutigen Feiertages und der Weihe sprechen.”


Im Allerheiligsten des Rondra-Tempels

Nach der tiefen Dunkelheit der Nacht begannen langsam die ersten Lichtfinger durch die großen Fenster des Allerheiligsten des Rondra-Tempels ihre Spuren auf den Boden zu zeichnen.

Die Nacht war überstanden, es brach der neue Tag an. Der Tag, der so bedeutend für Argmin werden würde.
Seine Augen waren offen, sein Blick noch immer auf die Statue seiner Göttin und Rijsh’alnaar gerichtet. Das Licht der aufgehenden Praiosscheibe berührte sanft und zögerlich das Innere des Tempels, wie ein schüchternen Gast, der zu früh zu einer Einladung erschienen war. Formen und Farben wurden wieder wahrnehmbar und mit dem Zurückweichen der Dunkelheit begann Argmins Geist sich aus der Meditation zu lösen.
Es war wie ein Auftauchen vom Grund eines tiefen Sees, langsam und schwer, doch je näher die Grenze zur Wirklichkeit kam, umso größer war der Drang, aufzutauchen und die Oberfläche zur Realität zu durchbrechen.

Dann kam der Schmerz.

Seine Knie brannten, als hätte man sie in flüssiges Feuer getaucht, und mühsam unterdrückte er einen Aufschrei, biss die Zähne zusammen. ‘Nicht jetzt’, ermahnte er er sich in Gedanken. Er fokussiert sich, ließ den Schmerz zu, hieß ihn willkommen und von ihm vollends zurückreißen in das Hier und Jetzt im Tempel.
Es lagen Stunden hinter ihm, die er in seinem inneren Tempel verbracht hatte. Immer wieder hatte er dort sein Buch der Verfehlungen und Verdienste aufgeschlagen und darüber sinniert, hatte sich den Rezitieren von Hymnen, Lieder und Versprechungen hingegeben und sich vom Sturm seiner Göttin mitreißen lassen, der um seinen inneren Tempel toste. Am Rande seines Bewusstseins hatte er einmal leise Schritte vor der schweren Holztüre vernommen, die kurz lauschend innegehalten hatte, bevor sie wieder verschwunden waren.

Jetzt war er wieder hier. Der Schmerz in seinen Beinen hatte nachgelassen und sein Blick begann wieder scharf zu werden. Das Licht der Praiosscheibe hatte seine Zurückhaltung verloren und erhellte nun den Altarraum dem warmen Licht der Morgendämmerung.
Argmins Blick fiel auf Rijsh’alnaar. Die Klinge funkelte erwartungsvoll und tausendfach brachen sich die Strahlen der Praiosscheibe im Edelstein ihres Knaufs und schickten tanzende Punkte an die Wände des Raumes. Argmin unterdrückte den Impuls nach ihr zu greifen, sie berühren zu wollen. ‘Dank Dir, oh Herrin!’ Argmin sah auf zur löwinnenhäuptigen Statue. Ihn erfüllte ein Gefühl, von unermesslicher Güte erfüllt worden zu sein. Er hatte sich Rondra hingeben, mit allem Sein, mit jeder Faser seines Körpers. Er spürte, Ihre Nähe in sich, spürte Ihre Macht im Schlagen seines Herzens und Ihre Stärke in seine Gedanken und Ihre Zuversicht umgab ihn wie einen Schild und er fühlte sich wie ein Junge, der von seiner stolzen Mutter in die Arme geschlossen wurde. Er fühlte sich angenommen. Hätte sein Herz in diesem Augenblick zu schlagen aufgehört und hätte er die Reise über das Nirgendmeer antreten müssen, so hätte er zurückgeblickt und gewusst, dass er in jenem Augenblick im Tempel die Erfüllung gefunden hatte.
Und Argmin war zufrieden und glücklich.

Dann wurde ihm mit einem Mal bewusst, wann er war. Dies war der Tag, an dem er eintreten würde in die Reihen Krieger der Leuin! Heute würde er seine Weihe empfangen! Die Erkenntnis überrollte ihn wie ein Ochsenkarren und für einen kurzen Augenblick flatterte Unruhe in ihm auf, doch er kniete noch immer - er hatte durchgehalten! Dann kamen die Bilder des Vorabends zurück. Dwarosch! Argmin sah zu den Zeichen am Boden. Das Blut war fast schwarz geworden, doch waren die Insignien klar zu erkennen. Wie es dem Oberst wohl gehen würde? Er war in guten Händen und Marbolieb und Grimmgasch würden sich sicher gut um ihn gekümmert haben. Wirr und durcheinander fanden die Erinnerungen ihren Weg zurück in Argmins Geist. Er verwies sie alle aus seinem Kopf und suchte wieder seine Ruhe. Er wusste, dass Ritterin Cassjarella und Schwertschwester Bodia jeden Augenblick die Türe öffnen würden.
‘Heiliger Hlûthar! Die Nacht endet, unsere Wacht wird dauern an. Ich grüße diesen Tag mit Deinem Namen. Deine Taten sein mir Beispiel, wenn ich je zu wanken drohe. Zu Deinem Andenken will ich standhaft sein und Tagen vollbringen, voller Ehr. Mein Tag beginnt und ich ehre ihn mit Deinem Namen.’ Argmin rief in die Heilige Klinge der Rondra. Ihm zu danken und ihn zu ehren war ihm ein Anliegen, denn der Heilige Hlûthar war es, der ihn berufen hatte, zweimal. ‘heil Dir, Rondra, Sturmleuin! Wenn ich zaudere, sende mir den Mut des Heiligen Hlûthars. Drohe ich zu zweifeln, sende mir die Tapferkeit des Heiligen Hlûthars. Blenden mich Falschheit und Lüge, sende mir den Rat des Heiligen Hlûthar. Wanke ich im Angesicht von Übermacht, sende mir die Kraft des Heiligen Hlûthar. Entleihe mir, oh Göttin, die Heilige Flamme Deines Göttlichen Zorns, um zu streiten zu Deinem Wohlgefallen - ich bleibe standhaft und halte Wacht!’ Die Worte in Gedanken beruhigten den Novizen. ‘So sei es - bei meinem Blute und meinem Leben!’, schwor er sich selbst und Rijsh’alnaar erwiderte seinen Schwur und ein erwartungsvolles silbernes und rotes Funkeln überflutete den Raum.

Langsam krochen die Sonnenfinger weiter über den Boden bis Argmin auf einmal Geräusche außerhalb der Allerheiligsten wahrnahm. Es waren Schritte, die sich näherten, Schritte von einer größeren Gruppe von Menschen, Schritte von schweren Stiefeln, Schritte, die sich im Gleichschritt der großen inneren Doppeltür zum Tempel näherten.
Und dann wieder Stille.

Auf einmal riß ein Gongschlag aus der Höhe des Tempeldachs durch die Stille, ihm folgte ein zweiter, dritter … insgesamt hallten sieben Gongschläge durch die Halle.
Sieben, die Zahl Hlûthars, schoss es Argmin durch den Kopf.

Und nach dem siebten Gongschlag wurden die großen Türen vom inneren Teil des Tempels und auch von außen aufgerissen. Und durch den Gang hinter dem inneren Doppeltor trat jetzt eine Prozession in Doppelreihe in die Halle, die beim Eintreten in den Tempelraum den Hymnus des Heiligen Hlûthar anstimmten.
Angeführt wurde die Gruppe von zwei Rondrianern mit gezogenen Rondrakämmen vor den Körper gehalten.
Dahinter folgen zwölf Novizen und Akoluthen, die lange, armdicke Kerzen in den Händen trugen.
In der Mitte hinter dieser Gruppe folgt dann die junge Geweihte Wulftrud, die einen breiten ledernen Gürtel in den Händen trug. Hinter dieser Sulvana, einen grünen Mantel mit drei aufgestickten Löwen vor sich haltend.
Dann folgte Bodia neben Cassjarella, beide in vollem Ornat, aufrecht, gerüstet und gegürtet. Den Abschluss der Prozession bilden vier Akoluthen, die weitere Kerzen in den Händen halten.

Die Gruppe ging singend um den Tempel herum, in jeder der zwölf Nischen blieb einer der Kerzenträger stehen. Die letzten vier Kerzenträger bauten sich an den Ecken des Hauptaltars auf. Die beiden Geweihten mit den Artefakten nahmen vor dem Hauptaltar Aufstellung. Bodia und Cassjarella aber traten vor Argmin.
In diesem Moment verklangen die letzten Worte des Chorals und die Stille legte sich über den Tempel.

Bodia breitete die Arme aus und wandte sich mit lauter Stimme Argmin zu: “Argmin von Wirselbach, Du hast Deine letzte Prüfung bestanden!”
Ein begeistertes “Heil Dir Rondra, Himmelsleuin! So sei es!” erschallte aus allen Kehlen der anwesenden Rondrianer.
Da in der Zwischenzeit auch die Außentore des Tempels geöffnet wurden waren, traten nun auch weitere Gäste der Weihe, unter ihnen Marbolieb, Mirla, Dwarosch und Grimmgasch den Tempelraum. Da Grimmgasch durch Bodia eingeweiht wurde, führte er seine Reisegefährten bis hinter den immer noch knienden Argmin.

Dann begann Bodia mit dem morgendlichen Göttinnendienst, der sich an diesem Tag speziell natürlich mit den Taten des Heiligen Hlûthar beschäftigte, ihre knappe Predigt ging um Standhaftigkeit und Selbstaufgabe im Dienst der Siegesschenkerin. Sie zeigte die Wichtigkeit des Dienstes für die Sturmherrin auf, dass den Schutz von Schwächeren und des Glaubens als höchstes Ziel umfasste.
Mit einer Wiederholung des Hymnus der Heiligen Hlûthars endete der normale Gottesdienst des Tages.

Nun war es wieder Bodia, die sich Argmin zuwandte.
“Erhebe Dich, Page Argmin!
Du bist vor die Göttin getreten, um IHR zu zeigen, dass Du würdig bist IHRE Weihen zu empfangen und IHR Dein Leben zu widmen. Ist dieses Dein freier Wille?”

Es dauerte einen Augenblick, bis Argmins taube Beine ihm zu Diensten waren und er sich langsam erhob. “Mein Wille ist frei und ungebunden, wie mein Leben. Beides will ich IHR schenken, ohne Zweifel, ohne Zögern. Jetzt und für alle Ewigkeit.”

Bodia nickte militärisch knapp auf diese Bestätigung.
“Du weißt, dass Du für die Aufnahme in den Kreis der Diener der Himmelsleuin zwölf der Herrin Rondra gefällige Questen erfolgreich abgeschlossen haben musst. Neun Deiner Questen sind bereits bezeugt und in den Annalen der Tempels festgehalten.
Es fehlen noch drei Questen, die hier und heute vor der Göttin dargelegt und bezeugt werden müssen, damit die Voraussetzungen der Weihe erfüllt sind.
Kannst Du, Page Argmin, diese Questen und Zeugen hier und heute vorbringen?”

“Das kann ich und das werde ich.
So vernehmt meine zehnte Queste, die mich nach Calbrozim führte, wo ich vor den Toren Seine Hochwürden Grimmgasch 'Friedenswahrer' groscho Kagannto, jetzt Angroschgeweihter aus Ishna Mur, damals noch Novize, kennenlernte, den ich als Zeuge meiner Aufgabe benenne.
Ihr, Schwester Bodia, hab mich nach Calbrozim geschickt. damit ich dort meine Weihewaffe in Empfang nehmen sollte, die dort in Auftrag gegeben worden war. Doch es ergab sich, dass Seine Hochwürden Grimmgasch, zusammen mit Väterchen Lagorasch und Seine Wohlgeboren Borindarax, Sohn des Barbaxosch, gräflicher Vogt von Nilsitz sowie der edlen Dame Deryalla von Harsteig im Auftrag der Herzogenmutter selbst nach Calborzim gekommen waren, um nach einem Artefakt des Flussvaters zu suchen. Und wie das Schicksal der Götter es wollte, hatte Meister Raxarim genau jeden Edelstein in den Knauf der Waffe geschmiedet, die mir als Weihewaffe angedacht war, und so schloss ich mich der Gruppe von Vogt Borindarax an und kämpfte an ihrer Seite in den Tiefe der Zwergenfeste, bis wir das Schwert dem Fürst der Muscheln, dem Heerführer des Flussvaters übergeben konnte, damit der Pakt zwischen ihm und den Nordmarken wieder erneuert werden konnte.”
Der junge Mann machte eine kurze Pause und wartete, bis Cassjarella fertig geschrieben hatte und ihn auffordernd ansah.

“Meine elfte Queste führte mich zur Opferschlucht im Edlengut Sturzenstein und zum dortigen Wellenheiligtum des Flussvaters. Seine Wohlgeboren Borindarax hatte mich gebeten, ihn dorthin zu begleiten, zusammen mit Hochwürden Lagorasch und Hochwürden Grimmgasch, den ich auch hier als Zeugen benenne. Seltsame Dinge gingen dort vor, steigende Wasserfluten hatten die Pilger vertrieben. Wir drangen tief in die dortigen Höhlen vor und erreichten das Heiligtum, wo Hochwürden Lagorasch den Fürst der Muscheln rufen konnte. Und ein zweites Bündnis wurde dort geschlossen und besiegelt, zwischen den Angroschim und den Menschen mit dem Flussvater, denn Lagorasch wurde zum Hüter des Heiligtums und ich zum Boten des Muschelfürsten ernannt. Und der Heerführer des Flussvaters überreichte mir als Siegel unseres Eides jene Waffe, die hier liegt und nun den Namen Rijsh’alnaar trägt.”
Nachdem die Ritterin seine Worte aufgezeichnet hatte, nickte sie ihm zu, fortzufahren.

“Meine zwölfte Queste führt mich in die Bergwacht Ishna Mur.
Ihre Gnaden Marolieb, Oberst Dwarosch, Fräulein Mirla und Hochwürden Grimmgasch nenne ich als Zeugen, denn sie traf ich auf der Reise nach Ishna Mur, zu der mich der gräflicher Vogt von Nilsitz, Seine Wohlgeboren Borindarax, Sohn des Barbaxosch, bat.
Lang war unser Weg und wunderbar die Hallen von Ishna Mur, die sich mit neuem Leben zu füllen beginnen, doch gefährlich war das, was wir in den Tiefen fanden. In einer verborgenen Kammer kämpften wir gegen unruhige Geister und gegen einen Elementar des Feuers, das die Geister nicht gehen lassen wollten. Ich kämpfte Seite an Seite mit Ihre Gnaden Marbolieb, Hochwürden Grimmgasch und Oberst Dwarosch und seine Krieger und gemeinsam konnten wir das Wesen besiegen und vertreiben. Als das Wesen verging, ließ es einen Brocken unheiligen Metalls zurück, dessen böse Aura die Hallen von Ishna Mur weiter vergiftet. Zwar war beschlossen, ihn zu reinigen, doch wurde uns bewusst, dass der Einfluss des Brockens zu groß war und so entschlossen Hochwürden Grimmgasch, Ihre Gnaden Marbolieb und ich uns dazu, die Reinigung vor Ort, im Tempel des Angrosch von Ishna Mur durchzuführen. Das Wirken der drei Götter durch unsere Hände zerstörte schließlich den Brocken und verbannten das Böse damit aus Ishna Mur und dies war der Augenblick, da Hochwürden Grimmgasch, Ihre Gnaden Marbolieb und ich schworen, eine Pilgerfahrt zu Ehren der drei Götter zu beginnen, um Sie zu preisen und Ihnen zu danken.”

Während Argmin seine letzten benötigten Questen der Hochgeweihten darlegte, die von Cassjarella in dem dicken Questenbuch des Tempels mitgeschrieben wurden, wurde zu jeder der Queste nach anwesenden Zeugen gerufen.

“Hochwürden Grimmgasch, Ihr wurdet für drei dieser Questen als Zeuge benannt”, rief Bodia nun den Angroscho auf. “Tretet vor und schwört, dass die geschilderten Geschehnisse der reinen Wahrheit entsprechen!”
Grimmgasch trat vor die Hochgeweihte und begann mit lauter Stimme zu sprechen: “Ich, Grimmgasch groscho Kagannto, genannt ‘Friedenswahrer’, Geweihter des Weltenschöpfers, Tempelvorsteher des Heiligtum der Bergwacht Ishna Mur, bestätige die Worte des hier anwesenden Argmin von Wirselbach und schwöre, dass sie der Wahrheit entsprechen.
Ich schwöre bei Angrosch, meinem Herrn!”

Ohne einen Moment zu zögern trat nun der Oberst mit Marbolieb am Arm vor und ergriff mit seiner tiefen, raumgreifenden Stimme wie selbstverständlich das Wort.
“Ich, der Sohn des Dwalin, der ich Dwarosch gerufen werde und der Faxarasch-Sippe entstamme, bezeuge hier und jetzt die letzte seiner Questen.
Die Geschehnisse um die Zehnte und die Elfte, wurden mir vom Urenkel des Rogmarog von Isnatosch - dem Sohn des Barbaxosch so berichtet, wie Argmin sie wiedergegeben hat. Borindarax war dabei - in Calbrozim, ebenso wie im Heiligtum des Flußvaters. Dies alles bezeuge ich im Namen des Herren der Neun Streiche - dem Sohn des Weltenschöpfers und der Sturmherrin.” Die kleine Geweihte lauschte schweigend, bis sie sicher war, dass Dwarosch geendet hatte. Dann schloss sie ihre Finger um den wuchtigen Arm des Mannes, nickte und flüsterte mit leiser Stimme “Ich ebenso.”

Nachdem Cassjarella mit der Mitschrift der Questen und den Namen der Zeugen fertig war, sprach sie mit lauter Stimme: ”Hochwürden Bodia, der hier anwesende Page hat zwölf Questen im Sinne der Himmelsleuin abgeschlossen. Er ist würdig die Weihen zu empfangen!”
Wieder tönte ein “Heil Dir Rondra, Himmelsleuin! So sei es!” durch den Tempel.

Bodia nickte freundlich Argmin zu.
“Nun, Page Argmin, stelle Dich Deinem letzten Kampf als Page!”
Mit etwas leiserer Stimme sagte sie direkt zu Argmin: “Es ist eigentlich die Aufgabe des Tempelvorstehers und Tutors des Pagen diesen Kampf durchzuführen, aber ich bin mir sicher, dass Du es mir nicht übel nimmst, wenn Schwester Cassjarella für mich ihr Schwert führt.” Die Genannte legte das Buch der Questen auf den Sockel des Altars, hob Rijsh’alnaar auf und reichte Argmin den Rondra-Kamm. Dann trat sie zwei Schritt zurück und zog mit einer geschmeidigen Bewegung ihren Rondrakamm aus der Rückenscheide.

Und dann begann sie die sieben rituellen Streiche Hlûthars gegen Argmin zu führen. Die sieben Streiche wurden in Gratenfels schon den Novizen im ersten Jahr im Tempel noch mit Holzschwertern im wahrsten Sinne des Wortes eingebläut, so dass Argmins Abwehr, ohne das er weiter darüber nachdenken musste, immer an der richtigen Stelle saß und alle sieben Streich Cassjarellas, deren Wucht sich von Streich zu Streich verstärkte, parierte. Nach dem siebten Streich salutierte Cassjarella und trat dann wieder an ihre Position an Bodias Seite zurück.

“Tadellos!” kommentierte Bodia.

“Page Argmin von Wirselbach, knie nieder!” forderte ihn Bodia wieder auf. Als sich der junge Rondrianer vor die Hochgeweihte gekniet hatte, begann Bodia mit dem eigentlichen Weiheritus.
“Du hast Dich in Deiner Zeit als Novize nach als würdig vor der Herrin und der Kirche bewährt und wurdest angenommen, so sollst Du nun die Weihe empfangen!
Seit alters her leisten wir den Schwur von Nebachot vor der Göttin und ihren Dienern - sprich mir nach: Herrin des Krieges, Beherrscherin des Sturmes,
vor dir leiste ich dieses Gelübde:
Mein Schwert ist an meiner Seite,
aufrecht und stolz trage ich deine Farben,
von heute an, wie auch an allen folgenden Tagen.
Mit Wort und Tat werde ich dir dienen und
deine Worte in die Länder Deres tragen.
Verleihe meinem Herzen Stärke und zugleich die nötige Milde,
dass ich mich des Verlassenen annehme,
dem Irrenden recht rate,
den Unwissenden lehre,
für den Unmündigen spreche,
dem Armen helfe,
den Schwachen stärke,
den Gefallenen aufrichte,
den Unterdrückten rette,
den Wehrlosen zu kämpfen lehre,
dass ich standhaft sei und meine Feinde fordere
und niemals eine Herausforderung ablehne,
dass ich segne, die deines Segens bedürfen,
wohl tue denen, die dich verehren
und allem Leben so viel Gutes in deinem Namen erweise als ich kann,
stets der Ehre genüge und durch mein Bestreben die deine mehre.
Ich werde meiner geistlichen Obrigkeit Ehrerbietung erweisen und
verträglich gegenüber meinen geweihten Brüdern und Schwestern sein.
Niemals soll mein Vertrauen in dich wanken,
noch wird mein Wille dir zu dienen schwinden.
In allem unterstelle ich mich deinem göttlichen Befehl,
unterwerfe mich von ganzem Herzen den Lehren deines Glaubens
und werde dieselben standhaft bewahren, sie mutig bekennen und
befolgen, solange ich lebe.
Dein göttlicher Wille, oh Herrin, sei mir Befehl, jetzt und
bis ans Ende aller Zeit.”
[Quelle: Rondra-Vademecum, Das Weihegelübde, S. 47f]

Als Argmin diesen Schwur geleistet hatte, nickte Bodia zufrieden und eh sich Argmin versah, bekam er eine schallende Ohrfeige von Bodia. “Als Page Argmin von Wirselbach bist Du vor mich getreten, als Knappe Argmin Rijsh’alnaar erhebst Du Dich nun!”
Die Augen der älteren Frau funkelten freudig und stolz in dem sonst reglosen, strengen Gesicht. Rot zeichneten sich die Finger Schwertschwester Bodias auf Argmins Wange ab, als sich ihr Schützling erhob und sich aufzurichten begann.
Ein leichter Schwindel überkam ihn und weiße Blitze zuckten durch seine Sicht. Ruhig lag Bodias Blick auf ihn, feste Punkte in der verschwimmenden Welt, dann verdrehte sich das Innere des Tempels in einem kaleidoskopartigen Farbenspiel und es gab es kein oben und kein unten mehr. Als ob eine Sturmbö ihn erfasste hätte, riss es ihn in die Höhe, er glitt durch das Mauerwerk, dann verschwand Gratenfels wie eine Miniaturstadt in einem Kinderspiel unter ihm und er tauchte in weißen Wolken ein, die ihn umgaben wie ein weiches Leinentuch. Dunkel wurde es und das Nirgendmeer funkelte schwarz in der ewigen Nacht, bis ein grelles Leuchten die Finsternis durchbrach und ein Gleißen und Glitzern sich erhob, wie der Aufgang mayriadenfacher Praiosscheiben und es erklang ein Singen und der Klang von Fanfaren und Argmin sah eine Feste aus Licht und Sturm und Stahl und er betrat die gewaltige Halle und sie alle waren da - Geron der Einhändige, Leomar der Löwengleiche, Ardare, Thalionmel Löwenschwert, Bogumil und Yppolita. Und Hlûthar Silberklinge grüßte ihn wie einen Freund und führte ihn die Treppen hinauf, wo der große Famerlor saß, gewaltig anzusehen, doch klein im Vergleich zu dem Thron aus Licht, neben dem der Drache Platz genommen hatte und Argmin hörte, wie sein Name gerufen wurde, aus tausendfacher Kehle, und er hörte das Schlagen von Schwerter auf Schilden und das Stampfen der Lanzen und Speere. Dann floß das Licht um ihn, hüllte ihn ein, drang ihm durch Augen, Mund und Nase, in seinen Leib und seine Seele und das Tosen des Sturms und das Brüllen der Löwin ertönte und Argmin öffnete den Mund und schrie vor Freude und Erfüllung das eine Wort, für das sein Leben stehen würde, von nun an und für alle Zeiten: “Rondra!”

Noch immer blickten Bodias Augen ihn ruhig an, als Argmins Blick wieder klar wurde und er sich ganz erhoben hatte. Niemand der Anwesenden schien mitbekommen zu haben, was ihm widerfahren war, nur um die Mundwinkel der Frau Bodia spielte ein wissendes Lächeln und sie nickte ihm leicht zu.

Kaum hatte sich Argmin erhoben, da traten von hinten zwei Novizen an ihn heran und rissen ihm den weißen Wappenrock, mit dem er am gestrigen Abend von Cassjarella eingekleidet wurde, von den Schultern und legten ihn den grünen Mantel mit den drei schwarzen Leuen über die Schulter und er spürte, dass sie ihm einen Gürtel umlegten, dessen Schnalle von Bodia geschlossen wurde.
Argmin spürte das Gewicht des Mantels auf seinen Schulter und sah in Bodias Augen für einen Augenblick Stolz aufblitzen und er fühlte sich durchflutet von der Wärme eines Sohnes, der in den Augen seiner Mutter etwas Großes geleistet hatte.
Kaum hatte Bodia den Gürtel geschlossen, kamen aus allen Kehlen Hurra- und Jubelrufe und die Hochgeweihte der Halle des Heiligen Hlûthar gratulierte dem neuesten Geweihten ihres Tempels als erste. “Willkommen, im Kreis der Diener der Donnernden!”
Dann drückte sie voller freudiger spontaner Emotion Argmin fest an sich. Argmin war überrascht von der Reaktion seiner Mentorin und Lehrerin, dann erwiderte er die Umarmung. “Ich danke Euch, Schwertschwester, für Eure Geduld und Eure Motivation.”, sagte er leise zu ihr. “Für alles.”
“Es war mir eine Ehre! Und das Ergebnis zeigt dass es alle Mühen wert war.” raunte ihm die Hochgeweihte ins Ohr. Danach trat Cassjarella zu Argmin und gratulierte ihm. “Du hast Dich als würdig erwiesen, Bruder! Ich freue mich, dass Dich der Ruf der Göttin erreicht hat.” Der junge Mann blickte sie für einen Augenblick stumm und berührt an. Er hatte Cassjarella gestern erst kennengelernt, doch bedeuteten ihm ihre Worte viel. “Ich danke dir für Deinen Beistand und Deine Ruhe”, erwiderte er der Ritterin. “Nun wie sagt man in meiner Heimat: La non per!” Sie drückte ihm fest die Hand und trat dann beiseite um den weiteren Gratulanten Platz zu machen.

Als Grimmgasch bemerkt hatte, dass die Zeremonie sich dem Ende näherte, hatte er sich langsam näher an Argmin herangearbeitet und war nun der dritte, der dem frischgebackenen Geweihten seine Glückwünsche aussprach.
”Das hast Du gut gemacht, Euer Gnaden Argmin!” sagte er mit breitem Grinsen während er seinem Freund die Hand schüttelt. “Ich freue mich, dass Dein Wunsch in Erfüllung gegangen ist!”
“Grimmgasch! Freund, Weggefährte…” Argmin versagte die Stimme, als er in die Augen des Angroscho sah. Grimmgasch kannte das Gefühl der göttlichen Erfüllung noch sehr gut aus seiner Weihe, die ja auch nur ein paar Monate vorher stattgefunden hatte, und wusste daher nur zu gut, wie sich Argmin gerade fühlt, daher gab er ihm nur einen freundschaftlichen Klaps auf den Art und trat mit feuchten Augen beiseite, um dem nächsten Platz zu machen.
“Nach dem Kampf in der tiefen Halle von Ishna Mur hatte ich niemals Zweifel, dass dieser Tag kommen würde”, sprach Dwarosch, der als nächster, zusammen mit Marbolieb an den frisch geweihten Argmin herantrat.
“Ich bin stolz Teil deines Weiheritus gewesen zu sein und es erfreut mein Herz dich nun am Ende dieses, deines langen Weges vor mir stehen zu sehen.

Nun tu mir den Gefallen und beug dich zu mir herab, damit ich dich brüderlich umarmen kann.”
Dwarosch lachte und Argmin tat es auch, als er dem Oberst den Gefallen tat und der alte Zwergenkrieger und der junge Geweihte der Leuin sich in die Arme schlossen.
“Ich danke Dir. Von ganzem Herzen.” Und er erwiderte die Umarmung voller Freude. “Es war mir eine große Ehre, diesen Augenblick mit dir zu teilen, Dwarosch. Möge aus unsere Bande etwas großes entstehen!”
Als der Oberst seine Glückwünsche ausgesprochen hatte, trat Marbolieb einen Schritt auf den Ort zu, an dem sie Argmin vermutete. Sie streckte beide Hände in Richtung des jungen Geweihten aus, in der Hoffnung, dass der neue Bruder im Glauben sie ergreifen würde. Argmin nahm ihre Hände in die seinen und drückte sie fest.

Die Geweihte strahlte und umarmte ihren großen Glaubensbruder kurzerhand.
“Ich freue mich mich für dich, Euer Gnaden!” lächelte sie, und ihre Augen leuchteten.
“Möge dein Weg immer auf Rondras Pfaden führen und eure Verbindung niemals wanken, auf dass sie am Ende reiche Frucht trägt.” Tränen voller Freude füllte Argmins Augen und verwischten für einen Augenblick seine Sicht. Bodia, Grimmgasch, Dwarosch, Marbolieb - er war umgeben von den Menschen, die sein Werden begleitet und ihn geprägt hatten. Sein Körper war erfüllt von Freude, Stolz und einer überbändigen Energie, ihm war, als wäre er ein Gefäß, das kurz vor dem Überlaufen war, mit etwas, das die Welt verändern konnte - und wollte. Ihm wurde schwindlig, er musste kurz den Kopf schütteln, um wieder klar sehen und denken zu können. Die Rufe und Gratulationen drangen an sein Ohr, er schüttelte Hände und nahm Glückwünsche entgegen und sah in freudige Augen. Und doch war ihm, als würde sein Körper das alles alleine machen, während sein Geist ihm zusah, und er spürte, dass da etwas anderes bei ihm war, in ihm, ein neuer Teil, etwas, das erwacht war, eine andere Präsenz, die ihn ebenfalls willkommen hieß wie einen Bruder, verschlungen und verwoben mit ihm, untrennbar für alle Zeit. All das strömte auf ihn und es war, als ob die Welt um ihn herum farbenfroher, lebendiger wäre, als ob seine Augen alles etwas schärfer wahrnehmen würde, als ob Geräusche klarer, Gerüche deutlicher und Berührungen intensiver wären.

Nachdem alle Anwesenden im Tempel Argmin gratuliert hatten, ergriff Bodia noch einmal das Wort: “Ich würde mich freuen, wenn alle Anwesenden sich zu Mittagsstunde im Refektorium einfinden könnten, dort wollen wir auf das Wohl unseres neuen Bruders anstoßen!”

Die Weihefeier

Im Refektorium des Tempels war zur Mittagszeit zur Feier des Tages groß eingedeckt. Die irdenen Teller und Becher standen vor jedem Platz, und aus der Küche drangen verheißungsvolle Düfte.
Der neue Bruder in der Gemeinschaft der Leuin erhielt einen Ehrenplatz am Tisch der Tempelvorsteherin, neben ihm war Platz für seine Weihezeugen vorgesehen.
Als Argmin den Raum betrat, erschollen Hochrufe der Geweihten und Gläubigen, und das kräftige Klopfen der Becher auf den schweren Tischplanken ließ den Raum dröhnen. Die meisten der anwesenden Geweihten waren in schlichte weiße Roben gekleidet mit der roten Löwin auf der linken Brust. Ihren Rang konnte man an den unterschiedlichen Fibeln erkennen mit denen die Roben geschlossen waren. Alle Langwaffen waren in Waffenständern vor dem Eingang des Refektoriums abgelegt
An Bodias Tisch saß neben der Hochweihten bereits Cassjarella. Beide Frauen erhoben sich und winkten Argmin mit vollen Humpen in der Hand zu sich.

Hinter Argmin betrat jetzt auch Grimmgasch den Saal. Auch er hatte die Zeit nach der Weihe genutzt sich wieder aus der schweren Festrobe zu schälen und war jetzt wieder in seiner bequemen Reisekleidung gekleidet.
“Ein Bier, ja das ist doch jetzt genau das richtige!” brummte er halblaut, so dass es seine Reisegefährten aber verstehen konnten. Marbolieb umfasste mit beiden Händen ihren Bierkrug und nippte vorsichtig daran.
Mirla war begeistert auf den Schoß ihres ‘Dado’ gekrabbelt und versuchte, aus dessen Humpen den Schaum zu erhaschen. Das kleine Mädchen war glücklich und am Ort seiner Wünsche und tat dies deutlich hörbar kund.

Ein leises Lächeln flackerte über Marboliebs Lippen. Sie freute sich für ihre Tochter und gönnte ihr die ganze Liebe und Aufmerksamkeit des Zwergen aus ganzem Herzen - und war froh darum, dass Dwarosch diese so großzügig über das kleine Menschenkind ausschüttete. Mirla würde behütet und sehr geliebt aufwachsen - kein besseres Schicksal hätte sie für ihr kleines Mädchen erhoffen können. Sie würde gewiss glücklich sein.
Mühevoll klammerte sie sich an ihr Lächeln.
Schließlich war dies doch ein freudiger Tag. Ihr Bruder im Glauben war vor sein Göttin getreten und als ihr Diener angenommen worden - und verstärkte so die Schar der Streiter für die Zwölfe um eine einzelne, kostbare Seele.

Zu gerne wollte sie diesen Tag mit Argmin feiern - der wackere junge Mann hatte das redlich und unter vielen Mühen verdient.
Sie erinnerte sich noch zu gut an ihre eigene Weihe, nicht ganz fünf Götterläufe zuvor. Keine große Feier hatte es gegeben, nicht üblich war so etwas in der Kirche des Schweigsamen. Aber sie hatte zu ihrer Einkleidung ihr erstes Paar Schuhe erhalten und die tiefschwarze Robe der Diener des Raben, die sie seitdem voller Stolz trug. Vor allem jedoch die Freude und das schiere Glück, das sie bis zur letzten Pore erfüllte und sie zum ersten Mal in ihrem vollkommene, glückselige Entrückung von allen irdischen Beschwernissen, das bedingungslose Einssein mit dem Unergründlichen, war ihr noch eine überaus glückselige Erinnerung, die sich tief in ihren Geist eingebrannt hatte und sie noch immer wärmte.

So nahm sie noch einen kleinen Schluck des malzigen Bieres, hauptsächlich, um ihren Händen zu tun zu geben, und lauschte, ihr Lächeln fest im Gesicht, den Gesprächen und Feiern ihrer Tischgenossen.
“Sag Argmin”, hob der Oberst zu sprechen an, nachdem auch er vom Bier gekostet hatte. “Wie sehen nun, da du deine Weihe erhalten hast, für die kommenden Götterläufe aus?”
Der junge Mann hielt mit beiden Händen seinen Humpen fest, um das Zittern seiner Hände zu kontrollieren. Nachdem er im Tempelraum all die Gratulationen hinter sich gebracht hatte, hatte er sich zurückgezogen, um zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken ordnen zu können. Er hatte versucht zu meditieren, doch es war ihm schwer gefallen, sich in seinen inneren Tempel zurückzuziehen und so hatte er sich in Schwertübungen versenkt, um sich abzulenken. Damit war die Erschöpfung gekommen und sein Geist hatte sich beruhigt.
Er fühlte sich noch immer benommen, wie von einem leichten Rausch beflügelt und entrückt, und ihm fehlte das vertraute Gewicht von Rijsh’alnaar, die nun am Waffenständer am Eingang des Saales hing und ihm aufmunternd zufunkelte.

“Nach Baburin will ich, der sechsarmigen Statue der Göttin huldigen, dort, wo Ihr und Ihrem Sohn und Ihrem Gemahl ein Tempel errichtet wurde. Und nach Khunchom, wo der Tempel der Göttin und von Angrosch steht. Und nach Wirselbach zurück, um nach Vater und Mutter und meiner Schwester zu sehen. Und aufbrechen will ich, um Rondras Wort zu verkünden und in Ihrem Namen zu kämpfen … aber wonach mein Herz wirklich begehrt, mein Freund, ist, mit Dir und Marbolieb und Grimmgasch weiter zu reisen, denn das erfüllte mich die vergangenen Monde. Die Götter haben mir Bilder und Visionen geschickt, die ich nicht wirklich zu deuten mag. Du und ich sind verbunden im Blute - der Herr der Schlachten und die Sturmgöttin haben uns zusammengeführt. Unser Weg ist noch nicht zu Ende.” Er nahm einen Schluck aus seinem Humpen. Das Bier war kalt und köstlich. “Was die Göttin in den kommenden Götterläufen für mich bereithält, weiß nur Sie alleine. Und vielleicht Schwertschwester Bodia. Ich selbst sehe mich nicht in einem Tempel. Zumindest noch nicht.”

Er nahm wieder einen Schluck. Das kühle Nass tat gut, aber er merkte, dass er mit leerem Magen trank und nahm sich vor, nur gemächlich weiterzutrinken - Argmin mochte es gar nicht, betrunken zu sein. Das Gefühl des Verlustes der Kontrolle über sich selbst war ihm zuwider, auch wenn er einen guten Schluck in angenehmer Gesellschaft durchaus schätzte.
Der Oberst schmunzelte über das was das Herz des Jungen begehrte. Es waren schöne Worte, die den alten Zwergen gefielen. Auf jeden Fall waren sie ein Ausdruck der Freundschaft, die Dwarosch ebenso empfand und eben deshalb rührten die Worte ihn.
“Argmin”, antwortete der Zwerg im vertrauten Ton. “Du und ich werden uns wiedersehen, davon bin ich überzeugt. Außerdem, du weißt ja wo du mich findest. Meine Jahre der Wanderschaft, in denen es mich ständig in die Fremde gezogen hat, sind vorbei. Deine hingegen beginnen erst und das ist gut so. Männer und Frauen wie du werden gebraucht. Vergiss nur nie wo deine Wurzeln liegen und kehre hin und wieder zu ihnen zurück.

Mit Nilsitz wird dich der Wellenkamm - Rijsh’alnaar - immer verbinden und vom Heiligtum des Flussvaters bis nach Senalosch ist es nicht weit. Im Haus des Vogts wirst du immer willkommen sein und einen warmen Platz am Kamin, ebenso wie ein Bett haben. Komm dorthin und berichte Borax und mir von deinen Reisen. In ihm, ebenso wie in mir, wirst du immer einen aufmerksamen Zuhörer besitzen.”
Dwarosch hob den Humpen und stieß mit dem Rondrageweihten an. “Möge die Leuin über deine Wege wachen, Bruder.”
“Und möge der Schnitter es gnädig mit Dir halten und Dir Ruhe gönnen, Bruder.” Sie tranken beide aus ihren Pötten. “Ich würde Deine Gesellschaft vermissen, und so will ich jeden Götterlauf, wenn ich zum Heiligtum reise, nach Senalosch gehen, um Dir - und auch Borindarax - meine Aufwartung zu machen.” Argmin blickte in die heitere Gesellschaft um sie herum. “Dann lass uns diesen Abend genießen. Soll er kein Abschied sein, sondern der Beginn von etwas neuem!”

Nach einer kurzem Pause fuhr er fort und deutete mit seinem Krug auf Mirla und Marbolieb. “Wohin wird es sie ziehen?”
Ein schwerer Seufzer entrann der Kehle des Obersts. Dunkle Schatten lagen auf einmal auf seinen Zügen, als er antwortete. “Marbolieb geht zurück nach Calmir, Mirlaxa bleibt hingegen bei mir. Sie wird im Haus des Vogts aufwachsen, in Senalosch zur Schule gehen und dort auch eine Ausbildung machen, so hoffe ich. Ihr stehen viele Wege offen. Zumindest ihr kann ich zu einer sicheren Zukunft verhelfen.” “Bitte entschuldige meine unbedachte Frage, mein Freund.” Er legte dem Angroscho seine Hand auf die Schulter. “Bitte verzeih. Es freut mich sehr, dass Mirla...xa ihre Zeit bei Dir verbringen kann. Du bist ihr ein wunderbarer Vater. Sollte ich eines Tages Kinder haben, will ich für sie da sein, wie Du für sie. Lass uns darauf trinken, Dwarosch. Vor der Leuin und Kor und Angrosch - auf die Zukunft der Kinder und darauf, dass wir dazu beitragen, diese Welt für sie lebenswert zu machen. “ Er streckte dem zwerg seinen Humpen entgegen und als sie angestoßen hatten, nahm er einen tiefen Schluck, um diesen Spruch zu besiegeln.

Im weiteren Verlauf des Gespräches wurde neben einem sehr üppigen und nahrhaftem Mahl auf sehr viele - ebenfalls zum Teil sehr üppige (vulgo: stark alkoholhaltige) Getränke gereicht.
Und Argmin wurde aufgefordert bei jeder Runde, die im Saal ausgeschenkt wurde ebenfalls mitzutrinken.
Ein Blick zu Bodia, die ebenfalls an diesen Runden teilnehmen musste, zeigte ihm, dass die Hochgeweihte immer nur einen winzigen Schluck nahm und im Gegensatz zu dem üblich begleitenden Toast “Für Rondra leert den Becher!” nicht ihren Becher vollständig austrank. Im Gegensatz dazu kippte Cassjarella jeden Becher, der dem neuen Geweihten gewidmet war, mit großen Schlucken herunter. Nach einiger Zeit merken die Gefährten, die ja ebenfalls an ihrem Tisch sitzen, dass die Geschichten, die die Geweihte bisher zum Besten gab, ein wenig zögerlicher und unzusammenhängender werden und auch ihre Stimme ein wenig unverständlicher wurde.

Nur Grimmgasch fiel es nicht auf, denn er sprach ebenso wie die Erzpriesterin dem Schnaps mit großem Durst und vollen Krüglein zu. Und so klangen in seinen Ohren die Erzählungen Cassjarellas als durchaus flüssig erzählt. Und auch seine Kommentare, die er zu den Abenteuern der horasischen Geweihten abgab, waren in ihren Ohren ebenfalls vollkommen verständlich - in den Ohren derjenigen, die sich nicht so mit dem Schnaps und Bier abgegeben haben, allerdings nur wie unzusammenhängendes Lallen klangen.
‘Wie ein Novize nach seinem ersten Rauschkrauterlebnis’ schoss es der Boroni durch den Kopf und ihre Mundwinkel kräuselten sich vergnügt nach oben. Sie nippte an ihrem schon halb leeren Bierhumpen und leckte sich den Schaum von den Lippen, während sie den begeisterten und glücklichen Schilderungen der Geweihten am Tisch lauschte. Sie feierten mit diesen Heldengeschichten ihren neuen Bruder im Bunde und hießen ihn willkommen im Kreis der Geweihten - nun kein Novize mehr, kein Kind, sondern ein vollwertiger Bundesbruder, der seinen Platz in ihren Reihen einnahm.

Am Rande des Lärmens hörte sie die hohe Stimme Mirlas, die begeistert ‘Dado! Mehr!’ jauchzte und mit was auch immer sie gerade tat hörbar ihren Spaß hatte.
Allen um sie herum ging es gut und sie waren zufrieden - was die Boroni gleichfalls glücklich machte. Sie hob ihren Krug, lächelte, und sagte leise ‘Auf Dich, Argmin’, ehe sie einen Schluck genoss und weiter den begeisterten und längst nicht mehr deutlichen Heldengeschichten der Zecher am Tisch folgte.
Der Oberst tat das, was er bei solchen Anlässen immer tat - er sprach zunächst ausgiebig den aufgetischten Speisen zu und ließ sich dabei von nichts und niemandem hetzen oder aus der Ruhe bringen. Das er dabei hin und wieder den Krug hob, um einem Trinkspruch entsprechend zu würdigen und mit den anderen anzustoßen, tat seiner Gemütlichkeit keinen Abbruch. Dwarosch war zünftige Feiern und auch eine Menge Bier und Gebranntem gewohnt, auch wenn er ihnen seit der Heimkehr aus Mendena und der Befreiung von der Saat der Siebtsphärischen, weitaus seltener zusprach.

Als er schließlich satt und zufrieden war, war es dann das kleine Menschenkind, dass die ganze Zeit artig neben Dwarosch gesessen und das er fortwährend mit einem Teil seines Tellers versorgt hatte, welches seinen Bewegungsdrang für diesen Tag anscheinend noch nicht ausreichend gedeckt hatte. Ohne viel federlesens kletterte sie an ihrem sitzenden Dado hoch und landete kurz darauf mit ein bisschen Hilfe auf dessen breiten Schultern.
Mirlaxa gluckste augenblicklich, da sie nun auf Augenhöhe zu all den anderen Menschen am Tisch war und diese erwiderten das Lachen des Mädchens entsprechend. Das Mädchen aber wuselte in Dwaroschs Haaren herum und frisierte den Oberst auf für die Umsitzenden äußerst amüsante Art und Weise.

Nach und nach wurden die Stimmen im Saal lauter und heiterer und in einer Ecke begannen eine Gruppe Rondrianer beiderlei Geschlecht mit mehr oder weniger kraftvollen Stimmen Choräle zur Ehre der Himmerlsleuin zu schmettern. Wieder etwas später wandelten sich die Themen über Lieder über Helden und Abenteuer zu den auch mit einem gewissen Pensum an Alkoholgenuss noch zu singenden (und allgemein bekannten) Trinkliedern.

Als dann alle Speisen von den Akoluthen abgetragen worden waren, begann sich auch die Sitzordnung ein wenig zu lockern.
So wurde dann auch Cassi von einigen der Geweihten an deren Tisch gerufen und sollte auch dort einige ihrer Abenteuer zum besten geben. Ihr Gang wirkte bei dem Tischwechsel lange nicht so torkelig wie man es nach dem Konsum von Bränden erwarten würde.
Sie setzte sich an den Tisch und begann ein paar blutige Taten aus ihrem Leben zu berichten. v Grimmgaschs Kopf neigte sich derweil langsam aber sicher der Tischplatte entgegen und mit einem dumpfen Plumps war der junge Angroschprister an der Tafel eingeschlafen.

Am Tisch an den sich Cassi gesetzt hatte, entstand eine lautstarke Diskussion und Cassis Stimme wurde lauter und auch zorniger - allerdings klang sie auch deutlich nüchterner. So wie es sich anhörte glaubten die Rondrianer am Tisch der Erzpriesterin ihre Geschichten nicht ganz. “Armdrücken!” war nun zu hören und Cassi saß plötzlich auf der einen Seite des Tisches und ein vierschrötiger Rondra-Anhänger der Landgräflich-Gratenfelser Ehrengarde auf der anderen Seite. Alle anderen und auch noch weitere Gäste von den Nachbartischen bauten sich um die beiden Kontrahenten auf.
Ihr Gegner, ein vierschrötiger Kerl Ende der Zwanzig mit Bürstenhaarschnitt, kantigem Gesicht und einem Oberkörper, dass ein Schrank neidisch geworden wäre, ließ seine Finger knacken und beäugte Cassi vom Scheitel bis zum Gürtel. “Na, wenn de dich da nich übernimmst!” nuschelte er mit breitem Grinsen, wischte nochmal über den Tisch und nickte anerkennend, als rechts und links der Kampffläche eine Kerze aufgestellt und angezündet wurde - als kleine Ermunterung an jeden, der zu unterliegen drohte und sich die Haut ansengen würde.

“Denn komm mal, du Hübsche! Leondris Brettschnids wird Dir mal zeigen, was wir hier mit Aufschneidern machen!” Die Angesprochene zwinkerte dem Gardisten zu und meinte dann: “Nur um die Ehre oder auch um ein paar Dukaten, mein liebster Leondris?” Mit einer recht gelangweilten Gest warf sie einige Dukaten auf den Tisch. Diese führte dazu, dass auch die meisten der Umstehenden kleine oder größer Geldbeträge auf Cassjarella oder Leondris zu wetten begannen. Keinesfalls nur arme Schlucker waren die Geweihten und Gläubigen, und so hatte sich rasch ein kleiner Hügel golden und silbern blinkender Münzen vor den beiden gebildet.

In diesem Moment meldete sich Sulvana, die nach Argmin jüngste Geweihte des Tempel, und erklärte sich zur Schiedsrichterin über den Wettkampf.
“Bei drei beginnt ihr!” ordnete sie an nachdem die beiden jetzt die Plätze eingenommen hatten. “Eins - zwei - drei!” In Cassis Augen blitzte kurz ein kleiner spöttischer Blitz auf als sie zu drücken begann. Leondris nahm ihren Druck auf und begann mit einem breiten, siegessicheren Grinsen den Arm der Geweihten in Richtung der brennenden Kerze zu drücken.
Mit einem “Upps! Das ist warm!” erhöhte Cassi nun ihrerseits den Druck und die Arme standen wieder in der Mitte des Tisches. Aber anscheinend war das alles, was Cassjarella aufzubieten hatte, denn schon wieder wurde ihr Arm in Richtung der Kerze gedrückt. Kurz vor der Kerze wiederholte Cassi nun wieder das Kraftstück und wieder standen die Arme senkrecht. So ging es einige Male hin und her, während sich auf der Stirn Leondris die Schweißperlen sammelten, wirkte Cassjarella beinahe entspannt.
Und dann war mit einem schnellen Ruck der Wettstreit beendet. Leondris schrie auf als die Kerze stinkend und kokelnd die Haare auf seinen Handrücken verbrannte.
Cassi grinste breit.

Sulvana erhob die Arme und rief mit lauter Stimme: “Der Sieger ist klar: Ihre Gnaden Cassjarella!” Sie schob Cassjarella den Berg mit den Münzen zu. “Das gehört Dir, Schwester!”
Die stand auf, umarmte die junge Geweihte und küsste sie sehr innig. Dann zählte sie ihren Einsatz aus dem Berg Münzen und meinte dann zu den Anwesenden: “Ich will mich nicht auf eure Kosten bereichern, aber ihr hättet mir schon meine Geschichten glauben können!”
Und zu Sulvana sagte sie: “Schwester, nimm Du das Geld und nutze es für die Novizenkasse. Soll diesen eine gute Ausbildung zuteil werden!” Dann ging sie wieder zurück an den Tisch der Hochgeweihten. Kurz bevor sie ihren Platz erreichte, stolperte sie über ein Fuß Grimmgaschs, der nach hinten unter den Stuhl rausragte und landete mit einem “Hoppla, pardauz!” auf Marboliebs Schoß.
Die fuhr erschrocken auf, jäh aus ihren Gedanken gerissen, wollte aufspringen und sackte unter dem beträchtlichen Gewicht der Rondragweihten mit einem hörbaren Ächzen wieder zurück auf ihren Platz. Erschrocken und mit fahrigen Händen tastete sie nach dem Körper, der jäh auf ihr materialisiert war, identifizierte irgendwann eine Nase, ein Gesicht, und holte tief Luft. “Wer seid ihr?” besann sie sich auf das Naheliegendste.
“Na, meine Süße! Pass auf Deine Finger auf!” wies sie die Geweihte zurecht, die versuchte sich auf dem Schoß der Boroni wieder aufzurichten. “Ich bin es Cassjarella!”
Ob die Nennung ihres Namens nicht wirklich ausreichend war, kam ihr nicht in den Sinn.
Marbolieb zog ihre Hand aus dem Gesicht der Frau, erwischte bei dem Versuch, deren Umrisse einzuordnen, dafür aber andere Teile ihrer Anatomie, was in einigen Sekunden hastigen Sortierens endete. Die Frau lag wie Wackersteine auf ihr und ihr Atem roch deutlich nach dem genossenen Brannt. Und sie war deutlich größer und schwerer als die zierliche Boroni, das hatte sie nun ebenfalls bemerkt.

“Wer seid ihr?” Wiederholte sie die Frage, die durch den Namen allein keinesfalls beantwortet war. Grimmgasch war von Cassis Tritt und dem nachfolgende Geschrei der beiden Frauen kurz aufgewacht, legte seinen Kopf auf die Unterarme und war gleich wieder eingeschlafen.

Eigentlich gefiel Cassjarella wo sie gelandet war, aber die schnuckelige Frau war wohl anderer Meinung. “Nun beruhige Dich doch, ich bin Cassjarella d’Isliquor!” wiederholte sie.
“Hmpf.” klang es unüberzeugt ob des glückseligen Genuschels. Marbolieb rang nach Luft, als sich die Hand der Frau auf ihrer Brust abstützte. Sie schnaufte, als sie es nicht schaffte, das Gewicht auf ihrem Schoß irgendwie zu verlagern und lernte dabei die Konturen der anderen genauer denn zuvor kennen. Obwohl sich Cassjarella langsam aufgerappelt hatte, blieb sie noch ein wenig auf Marboliebs Schoß sitzen, musterte die blinde Boroni noch ein wenig, um dann Dwarosch zuzuraunen: “Meister Zwerg, Ihr habt einen guten Geschmack!”.
Dann stand sie mit einem “Verzeiht, Schwester, er war mir nicht unangenehm.” auf und setzte sich auf ihren alten Platz. Vollkommen verdattert lauschte Marbolieb den Worten der angesäuselten Frau und schüttelte den Kopf, als könne das Klarheit schaffen. Sie tastete, um überhaupt etwas zu tun zu haben, nach ihrem Bier, das den Aufprall des freundlichen Geschosses nicht überstanden hatte, seufzte, schmunzelte, zuckte die Schultern und schob ihre Hände in ihre Ärmel. Auch da waren sie aufgeräumt.
Cassi bemerkte als Marbolieb über den Tisch tastete, dass sie mit ihrem Schwung das Bier der Boroni umgestoßen hatte und rief einem der Akoluthen zu: “Bringt zwei Humpen für mich und Schwester Marbolieb!”
Wenig später kam der Angerufene an und stellte zwei Humpen vor Cassjarella und zwei vor Marbolieb ab. “Wohl sein!” Die fischte nach dem Humpen, nahm sich vorsichtig, als niemand widersprach, den ersten und trank vorsichtig einen großen Schluck auf das Erlebnis. “Wohlschmecken.” wünschte sie. “Und vielen Dank.”
“Euch auch Wohlschmecken, Dienerin des Ewigen!” prostete ihr Cassjarella zu. “Das Bier hier ist recht gut, auch wenn es nicht an das Ferdoker des kleines Volkes heranreicht.” Sie prostete Dwarosch zu. “Leider ist es dem Bruder des Allherren wohl zu schnell zu Kopf gestiegen”, ergänzte sie mit Blick auf den schlafenden Grimmgasch.
“Und Ihr schöne Herrin der Träume braucht Euch nicht zu bedanken, heute geht alles auf die Tempelkasse.” “Deshalb ist es nicht weniger wert.” Lächelte Marbolieb und kostete genussvoll einen tiefen Schluck. Zu viel war nicht gut - aber das Ereignis gerade eben hatte sie durstig gemacht.

“Wie viel hat Bruder Grimmgasch denn vernichtet?”
“So wie es aussieht mindestens einen Humpen mehr als er vertragen kann”, antwortete Cassjarella während sie noch einen tiefen Zug aus dem Humpen nahm. “Aber ich glaube er wird sich auch morgen nicht mehr an die genaue Anzahl erinnern können. Aber Du kannst ihn ja mal fragen …”
Marbolieb schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. “Ich glaube nicht, dass er mir Auskunft geben könnte.”
“Auf jeden Fall ist dadurch mehr für uns über, nicht wahr!” freute sich die Rondrageweihter und begann damit den zweiten Humpen zu leeren. “Mir reicht ein Humpen.” schmunzelte die Boroni, deren Sache Völlerei nicht war - vielleicht auch mangels Gelegenheit. “Aber das hier ist sehr lecker.” Sie tastete über den Tisch und stieß auf ihren zweiten Humpen. “Ihr habt Euer Bier doch noch gar nicht angerührt.”
“Oh nein, Schwester!” leise lachte Cassjarella auf. “Den hat der Akoluth für Dich da gelassen. Du sollst ja nicht auf dem Trockenen sitzen.” “Aber ich habe doch schon einen Humpen!” Lächelte die Geweihte. “Das reicht doch.” “Man kann doch nie genug von den Humpen haben!” widersprach die Rondrarianerin. “Auf einem Bein kann man doch auch nicht stehen. Und es wäre doch schade, wenn das gute Bier schal würde!”

“So schnell kann ich das gar nicht trinken!” protestierte Marbolieb. Sie grübelte. “Ihr kommt nicht aus den Nordmarken, Euer Ehrwürden, oder?” “Dann solltest Du üben, Schwester, wer weiß, ob es nicht der letzte Krug sein könnte. Denn die Erben des Dämonenmeistern sind noch nicht alle geschlagen und eine dieser Kreaturen kann schneller vor Dir stehen als Dir lieb ist”, ihre Miene verdüstert sich für einen Augenblick als die Bilder der Vergangenheit vor ihr auftauchen - nur das nahm Marbolieb nicht wahr.
“Und zu Deiner Frage: nein, ich bin auf Isliquor groß geworden, einem kleinen Weingut am Yaquir nördlich von Vinsalt, mit dem mein Vater - der wie Du ein Diener des Schweigsamen war - belehnt wurde. Was ja auch meinen Namen erklärt.” Dann musste sie wieder leise lachen.
“Vielleicht erklärt das auch ein wenig meinen großen Durst.”
“Wein mag ich auch.” lächelte die Boroni. “Doch das klingt, als wärt ihr selbst euer größter Kunde gewesen.” Mit der Erwähnung ihres Weinkonsum musste Cassjarella den Kopf schütteln. “Nein, das auch wieder nicht. Aber Du lernst schon in jungen Jahren einen guten von einem schlechten Tropfen zu unterscheiden. Das gut wirft einen schönen Ertrag ab, von dem ich am wenigsten etwas brauche. Da ich ja im Auftrag der Göttin unterwegs bin und meistens in den Tempeln verweile.
Hat aber auch den Nachteil, dass ich sehr selten zuhause bin, aber Melina sorgt dafür, dass alles wächst und gedeiht.” Versonnen nahm Cassjarella einen weiteren tiefen Schluck aus ihrem zweiten Humpen. “Melina ist eure Verwalterin?”

“Ja”, antwortete die Angesprochene mit einem glücklichen Lächeln. ‘Und nicht nur das …’ fügte sie in ihren Gedanken hinzu. Marbolieb sann einige Augenblicke nach und das Lächeln wich aus ihren Zügen, in dem Maße, wie ihre Miene sich verfinsterte. “Ihr seid bereits einmal einem Siebtsphärigen begegnet?”
“Nun ja”, Cassjarellas Gesicht verfinsterte sich wieder, “meine Aufgabe führten mich nach Tobrien und dort ist es immer noch sehr leicht für diese niederhöllischen Kreaturen in unserer Sphäre zu agieren. Und dort bin ich mehreren von ihnen begegnet und - wie Du sehen kannst - letztendlich siegreich geblieben.

Und diese Siege haben mir dann zum zweiten Weihegrad verholfen. Ich danke der Leuin, dass ich den Sieg davon getragen habe, aber der Preis war hoch.” “Das ist er stets.” Die Stimme der Boroni wurde leise und ihre Züge hatten alle Leichtigkeit verloren. “Niemand geht unbeschadet aus einer solchen Begegnung hervor.” Sie schwieg einige Augenblicke. “Wenn ihr einmal darüber reden mögt, kommt zu mir. Morgen. Oder später.” Wenn die Rondrianerin wieder nüchtern war. “Hab Dank für Dein Angebot, aber die Herrin und die Stärke meines Glaubens sind mir Trost genug.” Cassjarellas Stimme klang wieder nüchtern und fest. “Ich muss mich diesen Ängsten stellen, denn dann kann ich sie besiegen, auch wenn es noch lange dauern wird bis sie besiegt sind.” Marbolieb nickte still auf die Worte der anderen Geweihten. Sie hatte ein Angebot gemacht, keine Forderung, und ihre Schwester im Glauben würde verfahren, wie sie es für gut befand, und wohl damit tun. Sie nahm einen Schluck aus dem Humpen, der tiefer ausfiel als unbedingt nötig, und schob danach ihre Hände wieder in die weiten Ärmel ihrer Robe. Sie würde niemanden bedrängen.
Das Bier sorgte dafür, dass ihr wohlig warm wurde, und sie überließ sich, ein undeutbares Lächeln auf den Lippen, wieder den Geräuschen der fröhlichen Zecher um sie herum.

Argmin genoß die Freude und die Ausgelassenheit im Refektorium. Er hob den Becher und rief “Für Rondra leert den Becher!” wann immer dazu Anlass gegeben wurde, doch versuchte er sich zurückzuhalten und es der Schwertschwester gleich zu tun, dem Bier nur in Maßen zuzusprechen und in Gedanken bat er die Schöne Tochter um Beistand und rücksichtsvolles Wohlwollen für diesen Tag. Das reichhaltige Essen hatte gut getan und seinen Bauch gefüllt und den sich anbahnenden Rausch zurückgedrängt. Als Cassjarella aufstand, hatte er das Gespräch mit Schwertschwester Bodia gesucht und ihr von den letzten Monden erzählt und seiner Reise mit Grimmgasch, Marbolieb und Dwarosch. Er spürte, dass sie immer noch verhalten und zurückhaltend war, was den Kor-Söldner betraf, und so war es ihm ein Anliegen, ihr von der gemeinsamen Zeit mit ihm zu erzählen und der heitere Augenblick schien ihm dafür richtig, dieses heikle Thema anzusprechen. Bodia hatte sich die Erzählungen ihres jüngsten Bruders im Tempel angehört, einige Male zustimmend genickt, einige Male nur mit gerunzelter Stirn gelauscht, aber darüber hinaus keine Wertung ob der Erzählung Argmins abgegeben.
Eine lange kircheninterne Streitfrage ließ sich, ihrer Meinung nach, nicht an einem Einzelfall entscheiden, und auch nicht während einer sehr feuchtfröhlichen Feier. Für heute war der korgefällige Kriegsmann zu Gast an ihrem Tisch, und sie hieß diesen willkommen in ihrem Tempel - eine Sache, die sie noch vor kurzem so nicht erwartet hätte.
Für heute war dies genug - mehr würde die Zeit zeigen.

Der Oberst selbst lauschte den Erzählungen des jungen Geweihten, nickte hier und da und zeigte an den amüsanteren Stellen seiner Reiseberichte durch ein ehrliches Lächeln, wie sehr auch ihm die Gemeinschaft mit dem Diener der Leuin bedeutete. Er selbst jedoch blieb stumm.
Dwarosch hatte nach Argmins letzter Prüfung, ihrem Kampf, deutlich gemacht, wie seine Haltung zur Kirche der Rondra war. In seinem laut vorgetragenen Gebet, durch die Wahl seiner Worte an die Leuin, hatte er klar und unmissverständlich Stellung bezogen. Ob Bodia bereit war einen Schritt in seine Richtung zu tun würde sich jedoch erst zeigen müssen. Bedrängen würde er sie nicht. Dwarosch nahm sich jedoch fest vor, ihr einen Brief zu schreiben, wenn sie wieder in Senalosch seien würden. Manche Dinge brauchten halt Zeit.


Das Ende aller Dinge

Stille, schwere, fast greifbare Ruhe und der süße Geruch von Räucherkräutern empfing die Gäste, in der von wenigen, schweren Kerzen nur unzureichend ausgeleuchteten Kapelle des Unausweichlichen. Das vorherrschende Zwielicht empfing sie bereitwillig und die nüchterne Gestaltung, ja die Prunklosigkeit des Sakralbaus deutete auf die Gerechtigkeit hin, die ER versprach. Vor IHM waren alle gleich. Niemand trat mit weltlichen Titeln oder Schätzen vor IHN. Ein jedwedes Wesen musste sterben. Und der Tod machte keinen Unterschied.
Sie alle, die die Pilgerreise angetreten waren, waren gemeinsam gekommen, um zu IHM zu beten, der am Ende aller Wege stand. An alle anderen ihnen zuvorderst bedeutenden Göttern hatten sie ihre Worte gerichtet, ER war der letzte zu dem sie sprechen würden, zum Herrn der letzten Dinge.

Dwarosch, der die Pilgerreise lange mit Skepsis betrachtet hatte, war es gewesen, der den Besuch im Dunklen Haus zu Gratenfels angeregt hatte. Für ihn war dieser letzte Weg, vor dem Antritt der Heimreise ‘unausweichlich’, so sein Wortlaut und niemand hatte sich dieser Logik entziehen können.
Grimmgasch wirkte noch ein wenig übermüdet (und verkatert) als er am Morgen von seinen Reisegefährten aufgefordert wurde mit in den Tempel der Totengottes zu gehen. Das Frühstück ließ er lieber ausfallen, lange hätte es sich vermutlich auch nicht in seinem Magen gehalten, daher war er auch mehr oder weniger schnell bereit seinen Gefährten zu folgen.
Die frische Luft auf dem Weg tat ihr übriges und so war Grimmgaschs Kopf dann wieder klar als sie den Eingang des Dunklen Hauses erreichten.

Auch der Oberst war schweigsamer als sonst. Ob dies aber an einem vermeintlichen Brummschädel lag, der er durchaus im Bereich des Möglichen lag, nach all dem Bier, dem sie am Vortag zugesprochen hatten, oder ob es doch ‘nur’ dem Tempel des Boron geschuldet war blieb offen.
Auf dem Weg zum Dunklen Haus jedenfalls, hatte Dwarosch Mirlaxa, die ein gutes Stück des Weges an der Hand des Angroschos gelaufen war, mit knappen Worten erklärt, dass man im Hause des Herrn des Todes still sein musste und nicht herumtollen konnte.
Das kleine Menschenkind hatte ihrem Ziehvater aufmerksam zugehört und immer wieder genickt. Inwieweit dies jedoch vorhalten würde war ungewiss. Auf einen müden Blick Grimmgaschs zu Dwarosch hin hatte der Oberst nur milde lächelnd mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass es einen Versuch wert war.

Im Sakralbau setzte Dwarosch Mirlaxa, die er das letzte Stück getragen hatte, ab und nahm sie an die Hand, um dann gemessenen Schrittes mit ihr und Marbolieb, welche er untergehakt am anderen Arm führte, nach vorn zum Altar zu schreiten.
Vor der Erhöhung, auf der sich das Allerheiligste befand, hielt er kurz inne.
“Stufen”, raunte Dwarosch Marbolieb zu, um sie dann sicher zum Altar, einem fein geschliffenem Basaltblock zu führen. Dort knieten sie nieder.

Die Boroni fühlte den harten Stein unter ihren Knien und lauschte der tiefen, dauernden Ruhe, die fast körperlich fühlbar den Raum erfüllte. Das tiefe, gleichmäßige Atmen des Zwergen an ihrer Seite glitt in den Hintergrund, ebenso wie das unruhige Rascheln ihrer Tochter.
Vorhanden.
Doch hier und jetzt nicht wirklich von Belang.
Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, ließ ich kommen und gehen, ruhig und gleichförmig wie der Schlag ihres Herzens. Endlich wieder ein Besuch im Haus des Unergründlichen.
Lange, sehr lange war der letzte her.
Zu lange.

Zwar gab es wohl auch in Senalosch einen Schrein des Herrn des Schweigens, doch hatte sich bislang nie die Gelegenheit ergeben, ihn zu besuchen. Zusätzlichen Aufwand, was fast alles um ihre Person bedeutete, wollte sie ihrem großzügigen Gastgeber, der sie und den Oberst beherbergte, nicht bescheren. Wenige Bedienstete nur besaß der Vogt in seinem Haus, und diese hatten samt und sonders einen vollständig ausgefüllten Tag, auch ohne dass ihre Bitten diesen verkomplizierten. Das schafften schon Mirlas Unternehmungen - übergenug für alle beide. Die arme Topaxandrina, die Haushälterin des Vogtes, bewältigte ganz allein den Haushalt und die Küche für fast ein Dutzend Männer - und hatte auch noch versucht, sich Mirlas und ihrer Mutter anzunehmen, wofür ihr Marbolieb einen Teil des Spülens, Putzens und Waschens abgenommen hatte - was vollkommen ausreichte, sie von früh bis spät zu beschäftigen. Für Dinge darüber hinaus blieb keine Zeit.
Dennoch war es eine gute Zeit in Senalosch gewesen - mit einem dichten Dach über dem Kopf, immer einem Feuer im Kamin und regelmäßigen, ausreichenden und wohlschmeckenden Mahlzeiten. Mit dem Oberst an ihrer Seite. Und ihrer Tochter. Die gemeinsame Zeit war ein unerwartetes und um so kostbareres Geschenk gewesen.
Wie alles auf Deren nicht von Dauer.
Nach der Rückkehr aus Gratenfels würde sie dem Befehl des Barons, den ihr Dwarosch überbracht hatte, folgen müssen und allein in ihren eigenen Tempel zurückkehren.


Zurück in die stille Umarmung des Herrn der letzten Dinge.
Dessen Geschenk, Frieden von Körper und Geist, sie bereits jetzt mit offenen Armen willkommen hieß. Die beiden Jahre in Senalosch hatten sie Dinge gelehrt, die sie zuvor kaum erahnt hatte, die ihr jedoch das Loslassen, was doch das größte Ziel ihrer Kirche war, bitter schwer machten und ihr Herz bluten ließen.
Liebe und Endlichkeit waren mit teuerster Münze bezahlte Erkenntnis.

Und so blieb ein tiefer, schmerzender Stachel, auch wenn sie wusste, dass ihr Herr, der größte und endgültigste aller Heiler, auch diesen vergessen machen würde, irgendwann, zu der Zeit, die er für die Rechte erachtete.
Grimmgasch kniete sich neben seinen Reisegefährten auf dem schwarzen Stein nieder und begann leise - denn hier waren laute Gebete, wie er sie sonst aussprach, sehr unüblich - zu beten. Nach einigen Atemzügen bemerkten seine Gefährten, dass ihm der Kopf langsam auf die Brust fiel und nun doch Geräusche von dem Angroschgeweihten zu hören waren. Aber es waren keine Gebete, sondern leises Schnarchen. Dwarosch, der neben Marbolieb und mit Mirlaxa an der Hand ebenfalls auf die Knie gegangen war, räusperte sich. Als dies zu keinem Erfolg führte, seufzte der Oberst mit einem fast schon amüsierten Unterton und klapste Grimmgasch gegen die Schulter.
Derart aus der Ruhe gerissen, schreckte der Priester des Allvaters hoch und wäre dabei fast vorüber gefallen. Ein Auflachen ob der Komik der Situation konnte Dwarosch verhindern, das freche Grinsen jedoch nicht - dies war eine Geschichte, die er Mirlaxa in Grimmgaschs Gegenwart sicher oft erzählen würde, wenn sie alt genug war, zu begreifen, was es hieß, dass ‘Boron seinen Segen aus vollen Händen über seinen Bruder ausgeschüttet’ hatte.
Nach dieser Maßregelung von Dwarosch lief der Ertappte so rot an, dass man kaum noch einen Unterschied zwischen dem kupferroten Haaren und den Wangen erkennen konnte.

Dankbar nickte Grimmgasch stumm dem Oberst zu und bemühte sie den Rest des Tempelbesuchs wach zu bleiben.
Dann jedoch, als der Angroschgeweihte sich gefangen und dem breitschultrigen, einstigen Söldner stumm zugenickt hatte, zog Dwarosch Mirlaxa vor sich, umarmte seine Ziehtochter und legte seine Stirn gegen ihren Hinterkopf um zu beten.
Sofort war sein Geist von ernsten Gedanken erfüllt, von allerlei Sorgen und auch Ängsten.
Stumm rief der Oberst der Unergründlichen an, bat ihn, dass er Marbolieb zur Seite stehen möge, wenn sie ihre einsame Wacht in Calmir aufnehmen würde. Bat, ja flehte IHN wie so oft zuvor an, ihr das Augenlicht zurückzugeben, ohne jedoch mit ihrem Schicksal zu hadern, obgleich er es innerlich tat.

Aber auch Dank brachte Dwarosch vor den Herrn des Todes - dafür, dass er Teil der Pilgerfahrt sein durfte und das er einiges hatte lernen dürfen, auch über sich selbst auf dieser Reise. Er wusste zwar nicht, welcher der Götter alles so gefügt hatte, wie es geschehen war, doch Dwarosch war der Meinung, dass auch IHM ihr Dank gebührte.
Der Oberst stand in SEINER Schuld, das würde er immer.

Argmin kniete neben Grimmgasch und war tief in sein Gebet an den Dunklen Vater vertieft. Er dankte dem Schweigsamen, dass Er bisher den Seelenraben nicht zu ihm senden musste, auch wenn er den Tag nicht fürchtete, da er die Reise über das Nirgendmeer antreten würde. Sein Kopf war schwer, seine Gedanken träge und gedämpft und er schalt sich selbst einen Narren, seine Vorsätze so sträflich missachtet zu haben, auch wenn der gestrige Tag zu feiern wert gewesen war. So zwang er sich selbst zur Disziplin und sprach in Gedanken ein Gebet des Dankes und eine Bitte um Führung. ‘So fürchte ich mich nicht, denn ich bin ein Krieger der Rondra und Sie bestimmt meine Zukunft. Kein Zurück gibt es, nur nach vorne führt mein Weg. Ich danke Dir, Schweigsamer, für den Schutz Deiner Schwingen über Dwarosch, Grimmgasch, Marbolieb, Mirla und mich. Kein Zweifel, kein Zaudern, keine Angst liegt in mir, sondern Freude auf das, was vor mir liegt. Ich fürchte nicht den Tag, da Du Deinen Raben zu mir schickst, sondern werde ihn willkommen heißen, doch gib mir die Zeit meine Aufgabe hier auf Dere zu erfüllen, für Rondra, für Dich, für Alveran. Ich bitte Dich, oh hoher Herr, schenke mir Weisheit und Weitsicht meinen Weg zu erkennen, denn unergründlich sind Eure Visionen für mich.’
Schweigen war die Antwort, die Argmin erhielt, und nur das Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren, auf- und abschwellend wie die Brandung eines gewaltigen, unendlich tiefen, dunklen Meeres.

Und der Rest ist Schweigen

Die hellen Straßen von Gratenfels empfingen ihn mit ihrem lauten Treiben und verdrängte die dunkle Stille des Tempels des Schweigsamen. Argmin lächelte, als er Mirla an der Händen von Dwarosch und Marbolieb in ihrer kindlichen Unschuld lachen sah, gefolgt von Grimmgasch, dem der vergangene Tag noch anzusehen war. Und doch war es ihm schwer ums Herz, denn er wusste, dass dieser Moment der Ruhe vergehen würde und ihre Reise weitergehen müsse. Er wartete, um diesen Augenblick nicht zu vertreiben und versuchte ihn aufzunehmen und mahnte sich, ihn nie zu vergessen, dann trat er zu ihnen.
“Ich möchte Euch danken, dass ihr diesen weiten Weg mit mir gegangen seid. Mein Herz ist erfüllt mit Stolz, Euch meine Freunde nennen zu dürfen.” Eine leichte rötliche Wärme legte sich in sein Gesicht, als er so offen vor ihnen sprechen konnte. “Ich wünschte, wir könnten den Frieden und die Freude der letzten Tage noch lange genießen, doch wie wir es in Ishna Mur den Götter schworen, ist unsere Reise noch nicht zu Ende. Die Sturmherrin und der Schnitter haben uns zusammengeführt, Dwarosch. Du hast mir gezeigt, dass Kor weit mehr ist, als der blutrünstige Schlächter, für den Er weitläufig gehalten wird, und aus unserem Blutschwur soll ein Grundstein werden, dass Rondra und Kor gemeinsam fechten gegen die Finsternis. Als Dein Spieß mich traf, hatte ich eine Vision, die ich nicht zu deuten vermag. Ich sah den Schmied in einem Tempel des Angrosch und ich verstehe nicht, was die Götter von Alveran mir damit sagen wollten.” Trotz seines immer noch nicht vollständig abgeklungenen Brummschädel muss Grimmgasch lachen. “Oh, Freund, Argmin, wenn das alles ist, dann ist das aber ein sehr vager Fingerzeig.
Erinner Dich an Ishna Mur. Dort steht ein Amboss in der heiligen Halle des Weltenschöpfers. Genauso wie in Senalosch und selbst hier in Gratenfels stehen Ambosse im Tempel des Herrn Ingerimm.”
Er kratzte sich an seinem Hinterkopf.

“Wenn ich genau drüber nachdenke, kenne ich keinen Tempel des Weltenherrschers und seines zwölfgöttlichen Bruders den ich während meiner Novizenzeit besucht habe, der keinen Amboss hatte.
Gab es noch etwas Besonderes an das Du Dich erinnern kannst?”
“Alles bleibt vage, wie die Erinnerung an einen Traum. Wenn ich versuche, mich zu erinnern, wird es blaß und ungenau… Ich sah umgestürzte Stelen und einen Tempel mit den Glyphen des Angrosch, in dem der Schmied stand und sein Bart war reines Feuer. Ich sah eine bodenlose Grube und ich sah einen Steinkreis, der wie die aufragenden Zähne eines Riesen sich in den finsteren Himmel streckte. Und das Hämmern des Schmiedes auf seinem Amboss erfüllte mich bis in das Mark meiner Knochen.”
Grimmgasch überlegte ein wenig, welcher der Tempel des Weltenherrschers es sein könnte. Ihm fielen immer noch mehrere ein, die in Frage kämen, denn weder Amboss noch ein Feuerschacht waren Alleinstellungsmerkmale. Aber heute war anscheinend noch ein wenig Stroß in seinem Kopf, dass seine Gedanken dumpf und langsam ablaufen ließ.

Plötzlich hatte er noch einmal die Beschreibung seines großen Freundes vor Augen und damit war es eigentlich klar. Hier in Aventurien gab es nur einen Tempel, der alle Punkte erfüllte!
“Du sagst, dass Du den Himmel gesehen hast? Somit hat der Tempel kein Dach!
Und dann stand dort ein Steinkreis, wie Zähne eines Riesen?” Grimmgasch nickte zuversichtlich.
“Du hast von Schlund geträumt! Da bin ich mit sehr sicher!
Was meint Ihr, Meister Dwarosch? Wart Ihr schon einmal dort?”

Der Oberst nickte. “Oh ja, das war ich. Das Heiligtum am Schlund ist einzigartig. Seine schiere Präsenz lehrt jeden Besucher Ehrfurcht. Es ist einer jener Orte, an dem man den Atem dem Allvaters spürt, ebenso wie man seinen Herzschlag in den Hammerhöhlen vernehmen kann. Der Tempel liegt an der Innenseite des Vulkans, besitzt ein Kuppeldach, wenn ich mich recht entsinne”, bei diesen Worten blickte Dwarosch kurz zu Grimmgasch. Dann fuhr er fort. “Der Kreis aus Menhiren steht jedoch außerhalb, am Wegesrand zum etwa zwei Meilen messenden Krater, aus dem beständig gelblicher Dampf emporsteigt. Der Boden und die Luft sind kochend heiß. Die Lungen brennen ob der Hitze und der Dämpfe. Geysire drohen einem die Haut zu verbrüchen, wenn man unachtsam ist und ihnen zu nahe kommt.”
Dwarosch blickte Argmin fragend an. “Hilft dir das weiter?”
“Ja, so ist es!” bestätigte der Angroschgeweihte.

“Das ist der Tempel aus meiner Vision!”, sagte Argmin und nickte. “Ich erinnere mich an die Fontänen aus Feuer und glühender Erde und das Schlagen des Hammers wie das Klopfen eines Herzens. Es zog mich dorthin, zu jenem Amboss, an dem der Schmied mit dem Bart aus Feuer stand. Sag an, Grimmgasch, mag dies ein Fingerzeig des Angrosch sein, dorthin zu ziehen, Ihm dort zu huldigen als zweiten Wegstein unserer Pilgerreise? Aber … dieser Schlund soll weit im Osten liegen, am Raschtulswall... ” Der Rondra-Geweihte sah Dwarosch an und fuhr fort. “Die Götterschwinge wurde dort neu geschmiedet und an den Schwertkönig übergeben, der sie in der Schlacht an der Trollpforte führte…” Der Oberst nickte nachdenklich. Auch er sann darüber nach was Argmins Traum zu bedeuten hatte und was ihn mit jenem dem Angrosch-Kult so heiligen Ort verbinden könnte. Demzufolge dauerte es einige Herzschläge, bevor Dwarosch antwortete.
“Das Heiligtum im Schlund liegt in der gleichnamigen Grafschaft Schlund in Garetien. Und ja, eben dort wurde Siebenstreich geschmiedet, bevor die Götterklinge in der dritte Dämonenschlacht, von einem der Gezeichneten geführt die siebenzackig- blasphemische Krone Borbarads zerschlug und dabei selbst zerstört wurde.”

Bestätigend nickte Grimmgasch zu den Erklärungen des Oberst, dann meinte er zu Argmin: “Du weißt, dass wir Angroschim sehr selten träumen. Aber Du bist scheinbar von den Zwölfen gesegnet Träume und Visionen zu haben.
Und daher denke ich schon, dass Deine Vision ein Fingerzeig der Unsterblichen ist, der uns die nächste Station unserer Reise aufzeigt.” Dann blickte er nach einer kurzen Pause der Überlegung seine Reisegefährten einen nach dem anderen lange und ernst an. “Wenn das so ist und der Schlund unser nächstes Ziel ist. Wann und wo wollen wir mit der Reise beginnen? Wir sind im Hochsommer und im Schlund kommt der Herbst und der Schnee sehr früh.”
Marbolieb sann einige Augenblicke nach. “Ich muss bald zurück nach Calmir.”
Sie hob um Entschuldigung heischend die Schultern.
“Was haltet ihr von nächstem Sommer? Das ist eine gute Zeit zu reisen.” Und vor allem war es dann warm.

“Das wäre besser als in dem kommenden Herbst entgegen zu reisen.” stimmte ihr Grimmgasch zu. “Wir sollten Ende Peraine aufbrechen.” schlug er vor. “Aber wo treffen wir uns? Argmin, wo meinst Du, dass Du bist? Und Ihr, Schwester? In Calmir, in Eurem Tempel?”
Marbolieb nickte. Sie sah keine Aussicht, diesen Zustand in den nächsten Monden zu ändern.
“Ich werde dort sein.” antwortete sie.
“Das wäre besser als in dem kommenden Herbst entgegen zu reisen.” stimmte ihr Grimmgasch zu.
Und dann quer durch Almada und Garethien, gen Perricum - so weit weg von daheim war Argmin noch nie gewesen. Er berührte sanft den Knauf von Rijsh’alnaar und spürte ihr vertrautes Gewicht. Er dachte an die sechsarmige Rondra, denn Baburin lag nur 100 Meilen südwestlich von Perricum, und am liebsten wäre er sofort aufgebrochen.
Grimmgasch hielt dem Rondrageweihten die eine Hand hin und tastet mit der anderen Hand nach der von Marbolieb. “Dann lasst es uns versprechen: Nächsten Sommer pilgern wir zum Raschtulswall!”

Und so gaben die drei Geweihten sich die Hände und schworen bei Boron, Angrosch und Rondra ihre Pilgerfahrt im nächsten Sommer fortzusetzen und gen Osten zu reisen, zum Raschtulswall-Gebirge, um dort beim Tempel im Schlund Angrosch zu huldigen.

Und für einen kurzen Augenblick schien die ganze Welt den Atem anzuhalten und auf die Gruppe zu blicken, die dort in Gratenfels vor dem Tempel des Schweigsamen stand, dann durchbrach das helle Lachen Mirlas das Innehalten, deren unschuldiger Lebenseifer ihnen allen ein willkommener Begleiter gewesen war.


Trauer und Freude spiegelte sich auf den Gesichtern der Gefährten, als sie sich Lebewohl sagten.. Ein beschwerlicher Weg lag hinter hinten, ein schmerzvoller Abschied lag vor ihnen, doch sie würden sich wiedersehen und ihre Reise fortsetzen.

~ Ende Teil 1 ~